Das kinematographische Verfahren in Robert Musils Erzählungen - Constanze Meier - E-Book

Das kinematographische Verfahren in Robert Musils Erzählungen E-Book

Constanze Meier

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Beschreibung

Magisterarbeit aus dem Jahr 2001 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,6, Ludwig-Maximilians-Universität München (Institut der deutschen Philologie), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Zielsetzung dieser Untersuchung besteht in der Herausstellung kinematographischer Verfahrensweisen in ausgewählten Texten Robert Musils (1880-1942). Dies setzt zunächst die Klärung der Frage voraus, auf welche Weise Musil dem Kino begegnete und welche Aspekte ihn dazu veranlassten, theoretische Überlegungen über das neue Medium anzustellen, denen er Einlass in sein dichterisches Schaffen gewährte. Die perzeptionsorientierte Umwälzung entlang des Entwicklungsprozesses der neuen, kulturellen Institution um 1900 ermöglicht eine Wahrnehmung anderer Wirklichkeiten, die sich im visuellen Bewusstsein manifestieren. Das hat zur Folge, dass innerhalb der zeitgenössischen Literatur mit dem ,neuen Sehen‘ Interessengebiete berührt werden, die angesichts des zur Verfügung stehenden Sprachmaterials eine Umgestaltung des gewohnten Sehraumes beinhalten. Der erste Teil dieser Arbeit gibt Einsicht in die Besonderheiten der mechanischen Errungenschaft des Kinematographen, da die schrittweise Angleichung der Apparatur an das optische Bewegungssehen einerseits und die Verfremdungsmöglichkeiten der aufgenommenen Wirklichkeit andererseits Ausgangspunkte für Musils Infragestellung menschlicher Wahrnehmung darstellen. Diesem Einblick werden seine dichtungstheoretischen und ästhetikorientierten Überlegungen gegenübergestellt, wobei hier überwiegend auf die beiden Essays „Skizze der Erkenntnis des Dichters“ (1918; 8; 1025) und „Ansätze zu neuer Ästhetik - Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“ (1925; 8; 1137) zur Herausstellung seines Interesses an der Übertragung von Wahrnehmungsdaten zurückgegriffen wird. Musils Auseinandersetzung mit der Gestalttheorie und der experimentellen Psychologie bilden hierbei die Vorbedingung zum Verständnis des ,anderen Zustandes‘, dessen Konzeption seinen filmtheoretischen Erwägungen zugrunde liegt. Die Kombination von technischen Grundlagen des Kinematographen und erlebnisverarbeitenden Prozessen in der Perzeption bilden Ansatzpunkte, mit denen sich eine ,kinematographische Erzähltechnik‘ in Musils Texten feststellen lässt. Entsprechend wird im zweiten Kapitel das ,kinematographische Erzählen‘ allgemein definiert und auf Musils erzähltechnisches Verfahren übertragen. Die für den Nachlaß zu Lebzeiten von ihm ausgearbeiteten Prosaskizzen „Triedere“, „Die Maus“ und „Das Fliegenpapier“ werden im zweiten Kapitel, die Erzählung „Grigia“ aus dem Novellenband [...]

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Inhaltsverzeichnis
1 ROBERT MUSIL UND DIE BEDEUTUNG DES KINEMATOGRAPHEN IN SEINER ZEIT.
1.1 ABRISS DER ENTWICKLUNG DES KINEMATOGRAPHEN.
1.2 ROBERT MUSILS VERHÄLTNIS ZUR KINEMATOGRAPHIE
1.3 DICHTUNGSTHEORETISCHE REFLEXIONEN.
1.4 ÄSTHETISCHE REFLEXIONEN ÜBER DEN FILM.
1.4.1 Gestalttheorie.
1.4.3 Nachbildwirkung.
2.1 KINEMATOGRAPHISCHES VERFAHREN - EINORDNUNG UND DEFINITION.
2.2 DIE SKIZZEN NACHLAß ZU LEBZEITEN.
2.2.1 Triedere (1926)
2.2.1.1 Physiognomie der Dinge.
2.2.1.2 Raum
2.2.1.3 Zeit
3.2 FUNKTION DER ERZÄHLPERSPEKTIVEN
3.3 WAHRNEHMUNGSWELT
3.4 RAUM.
3.5 ZEIT
4. ZUSAMMENFASSENDES FAZIT.
1 Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire.“ In: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des

Page 1

Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät 14

Magisterstudiengang Neuere Deutsche Literatur am Institut für Deutsche Philologie

Das kinematographische Verfahren in Robert Musils Erzählun-

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Das im Verstand angekommene Wirkliche ist schon nicht mehr Wirkliches. Unser Auge zu denkend,

zu intelligent.

Zwei Arten von Wirklichem: 1. Das rohe Wirkliche, so wie es ist, von der Kamera aufgezeichnet; 2.

das, was wir wirklich nennen und verformt sehen durch unser Gedächtnis und aufgrund falscher

Berechnungen.

Problem. Sehen machen, was du siehst, durch die Vermittlung einer Maschine, die es nicht sieht,

wie du es siehst.

Robert Bresson

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Einleitung

Die Zielsetzung dieser Untersuchung besteht in der Herausstellung kinematographischer Verfahrensweisen in ausgewählten Texten Robert Musils (1880-1942). Dies setzt zunächst die Klärung der Frage voraus, auf welche Weise Musil dem Kino begegnete und welche Aspekte ihn dazu veranlassten, theoretische Überlegungen über das neue Medium anzustellen, denen er Einlass in sein dichterisches Schaffen gewährte.

Die perzeptionsorientierte Umwälzung entlang des Entwicklungsprozesses der neuen, kulturellen Institution um 1900 ermöglicht eine Wahrnehmung anderer Wirklichkeiten, die sich im visuellen Bewusstsein manifestieren. Das hat zur Folge, dass innerhalb der zeitgenössischen Literatur mit dem ,neuen Sehen‘ Interessengebiete berührt werden, die angesichts des zur Verfügung stehenden Sprachmaterials eine Umgestaltung des gewohnten Sehraumes beinhalten.

Der erste Teil dieser Arbeit gibt Einsicht in die Besonderheiten der mechanischen Errungenschaft des Kinematographen, da die schrittweise Angleichung der Apparatur an das optische Bewegungssehen einerseits und die Verfremdungsmöglichkeiten der aufgenommenen Wirklichkeit andererseits Ausgangspunkte für Musils Infragestellung menschlicher Wahrnehmung darstellen. Diesem Einblick werden seine dichtungstheoretischen und ästhetikorientierten Überlegungen gegenübergestellt, wobei hier überwiegend auf die beiden Essays „Skizze der Erkenntnis des Dichters“ (1918; 8; 1025) und „Ansätze zu neuer Ästhetik - Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“ (1925; 8; 1137) zur Herausstellung seines Interesses an der Übertragung von Wahrnehmungsdaten zurückgegriffen wird. Musils Auseinandersetzung mit der Gestalttheorie und der experimentellen Psychologie bilden hierbei die Vorbedingung zum Verständnis des ,anderen Zustandes‘, dessen Konzeption seinen filmtheoretischen Erwägungen zugrunde liegt.

Die Kombination von technischen Grundlagen des Kinematographen und erlebnisverarbeitenden Prozessen in der Perzeption bilden Ansatzpunkte, mit denen sich eine ,kinematographische Erzähltechnik‘ in Musils Texten feststellen lässt. Entsprechend wird im zweiten Kapitel das ,kinematographische Erzählen‘ allgemein definiert und auf Musils erzähltechnisches Verfahren übertragen. Die für denNachlaß zu Lebzeitenvon ihm ausgearbeiteten Prosaskizzen „Triedere“, „Die Maus“ und „Das Fliegenpapier“ werden im zweiten Kapitel, die Erzählung „Grigia“ aus dem Novel-lenbandDrei Frauenim dritten Kapitel im Hinblick auf die erarbeiteten Resultate aus dem ersten Teil untersucht. Zur Vermeidung von Wiederholungen geht es in der Untersuchung der Novelle „Gri-

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gia“ vor allem darum, Erzähltechniken heraus zu arbeiten, die in den vorhergehenden Prosaskizzen noch nicht zur Sprache kamen. Obgleich sich die Analyse um eine Vollständigkeit bemühte, sollte dieser Gesichtspunkt zugunsten einer besseren Überschaubarkeit berücksichtigt werden Die Auswahl der Texte erfolgte im Hinblick auf die zeitliche Nähe der jeweiligen Veröffentlichungen zu der Entstehung des für diese Arbeit grundlegenden Essays „Ansätze zu neuer Ästhetik“. Darüber hinaus bieten diese Texte ein breites Spektrum an Möglichkeiten zur Herausstellung kinematographischer Verfahrensweisen.

Die Forschungsliteratur bezüglich der Anwendung kinematographischer Techniken in Musils Werk beschränkt sich auf eine geringe Anzahl von Untersuchungen, die aber wichtige Ausgangspunkte für diese Arbeit bilden. Rußegger bezieht sich anhand eines Querschnitts von Textbeispielen in seinem Buch „Kinema Mundi. Studien zur Theorie des ,Bildes‘ bei Robert Musil“1u.a. auf Musils dichterische Aufbereitung seiner Konfrontation mit dem Medium Film. Dabei hebt er hervor, dass in Musils Werk nicht von einer bloßen Adaption filmspezifischer Gestaltungsmittel auszugehen sei. Vielmehr müsse die Frage nach Musils geistiger Auseinandersetzung mit ideologischen Wirklichkeitskonstrukten aufgeworfen werden, die durch das neue Medium thematisiert würden. Christoph Hoffmann nimmt in seinem Werk „,Der Dichter am Apparat‘: Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942“2Musils Wissen über Zusammenhänge von experimenteller Psychologie und Medientechnik zum Anlass, sein dichterisches Schaffen auf einen technischen Kontext als historische Bedingung hin zu befragen. Neben ausführlichen Erläuterungen zeitlicher Entwicklungen innerhalb der experimentellen Psychologie werden ausgewählte ,Textapparate‘ Musils hinsichtlich der Effekte von Medien und Maschinen einer Analyse unterzogen. Christian Dawidowski bezieht sich in seiner Untersuchung „Die geschwächte Moderne. Robert Musils episches Frühwerk im Spiegel der Epochendebatte“3in dem Unterkapitel „Raumzeitliche Entstellung: Die Überlegenheit des Kinos“4auf die Frage nach Raum-zeitlichen Wirklichkeitsstrukturen, welche das neue Medium aufwirft. Anhand ausgewählter Texte Musils werden vor allem Verfremdungseffekte in der Verarbeitung von Wahrnehmungsdaten herausgestellt.

1Rußegger, Arno: „Kinema Mundi. Studien zur Theorie des ,Bildes‘ bei Robert Musil“ Wien, Köln, Weimar 1996

2„,Der Dichter am Apparat‘: Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942“ Mün-

chen 1997 (Musil-Studien 26)

3Dawidowski, Christian: „Die geschwächte Moderne. Robert Musils episches Frühwerk im Spiegel der Epochen-

debatte“. Hrsg. Martin Bollacher u.a.. Frankfurt a. Main 2000 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur Bd. 54)

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In Ewout van der Knaaps Untersuchung „Musils filmischer Blick - Notsignale auf dem Fliegenpapier“5wird bezüglich des Prosatextes „Das Fliegenpapier“ besonders Musils Faszination für szientifische Aspekte der Perzeption einerseits und assoziative Zusammenhänge in der Wahrnehmung andererseits herausgestellt.

Zuletzt sei hier Alexander Honolds Beitrag:„Auf dem Fliegenpapier: Robert Musil im Ersten Weltkrieg“6genannt. Neben einer Darstellung des historischen Kontextes der Prosaskizzen „Die Maus“, „Das Fliegenpapier“ und „Triedere“ aus demNachlaß zu Lebzeitenweist Honold auf filmische Gestaltungsmittel innerhalb dieser Texte hin.

Ein wesentlicher Aspekt dieser Untersuchung besteht darin, von einer Eigenständigkeit der vorliegenden Texte Musils auszugehen. Daher werden Querbezüge zu demMann ohne Eigenschaftenoder anderen Werken Musils bewusst ausgegrenzt. Es wird hauptsächlich auf oben genannte Essays und auf ausgewählte Tagebucheintragungen zur Erfassung zugrunde liegender Überlegungen Musils zurückgegriffen.

4ebd. S. 60-76

5Knaap, Ewout van der: „Musils filmischer Blick - Notsignale auf dem Fliegenpapier“ In: Poetica 30. 1998. S. 165-

178

6Honold, Alexander: „Auf dem Fliegenpapier: Robert Musil im Ersten Weltkrieg“. In: Literatur für Leser 20. 1997,

S. 224-239

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1 Robert Musil und die Bedeutung des Kinematographen in seiner Zeit

1.1 Abriss der Entwicklung des Kinematographen

Wenn man die Anfänge des Mediums Film bestimmen will, muss zunächst eine Unterscheidung zwischen der medialen Institution Kino mit der besonderen apparativen Anordnung des Kinematographen einerseits, und der Entwicklung der formal-ästhetischen Möglichkeiten des Films andererseits gemacht werden. Das Aufkommen der ersten etablierten Vorführhäuser lässt sich auf das Jahr 1905 datieren.1Die Anerkennung des Films als eine eigenständige Kunst hingegen vollzog sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa innerhalb eines langen Prozesses, der bis in die zwanziger Jahre hineinreichte.

Die sogenannte Kino-Debatte2beschäftigte sich mit der Frage nach möglichen Repräsentationsformen, die auf der einen Seite Authentizität und Objektivität durch die Orientierung an der ‚Natur‘, auf der anderen Seite die Möglichkeit fiktionaler Gestaltung beinhalteten. Diese Unterscheidung lässt sich schon in eine Zeit zurückverfolgen, in der die Brüder Louis und Auguste Lumière die Erfindung des Amerikaners Thomas Edison für sich nutzbar machten. Der ,Kinetoscope‘ ist der Vorläufer des Kinematographen, ursprünglich ein Guckkasten, in dem eine Serie auf Glasplättchen gedruckter Bilder durch eine Kette zusammengehalten wurde und der mit einer Handkurbel von einer Einzelperson zu bedienen war, so dass bewegte Bilder sichtbar wurden. 1895 wurde er durch die Brüder Lumière mit dem Ziel weiterentwickelt, Vorführungen vor einer großen Öffentlichkeit stattfinden zu lassen. Die vorgeführten Filme beschränkten sich auf die abgefilmte Wirklichkeit.

1Dabei lagen verschiedene Formen des präsentierten Programms vor: In den ersten Jahren nach 1895 waren die

Filmvorführungen Teil eines großen Unterhaltungsprogramms, welches Kleinkunst, Artistik und Kabarett beinhal-

tete. Neben dem Jahrmarkt-und Wanderkino kombinierte das ,Varieté-Theater‘ die Filmvorführung mit künstleri-

schen Attraktionen noch bis zum Beginn der Tonfilmzeit ab Ende der zwanziger Jahre. Vgl. dazu: Korte, Helmut;

Faulstich, Werner: „Der Film zwischen 1895 und 1924: ein Überblick“. In: „Fischer Filmgeschichte Bd. 1“Hrsg.:

ders., Frankfurt a. Main 1994. S. 13-47; hier S. 13/14

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Ab 1896 wurde das in der kinematographischen Technik liegende Illusionspotential von dem Theaterbesitzer und ‚Magier‘ Georges Méliès, der bis 1914 rund 1200 Filme produzierte, beispielsweise durch den Stoptrick oder die Mehrfachbelichtung für die fiktionale Gestaltung weiterentwickelt. Neben der Kino-Debatte wurde auch in moralischer Hinsicht das neue Medium einer kritischen Beobachtung unterzogen. Erstmals bot sich die Möglichkeit einer ungewohnten Sichtbarmachung menschlicher Körper, was anfangs als skandalös empfunden wurde. In dem Aufsatz „Der Kinematograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkt”, von Konrad Lange 1912 verfasst, heißt es: „Und gerade deshalb entbehren diese Films jedes künstlerischen Wertes: Sie sind Natur in photographischer Aufnahme, nur roher und gemeiner als man sie jemals zu sehen bekommt, gleichzeitig in gewisser Hinsicht lügenhaft gefälscht. Es ist mir vollkommen unbegreiflich, wie künstlerisch empfindende Menschen eine Volksunterhaltung, die derartiges bietet, überhaupt ernstnehmen, überhaupt künstlerisch werten können.“3

Einerseits wird kritisiert, dass der Film ,nur‘ die Realität abbildet, andererseits wird auf die Verfremdungsmöglichkeiten hingewiesen, die jedoch nicht als künstlerisches Mittel (an)erkannt werden. Diese Kritik basiert vorwiegend auf der damals noch fehlenden Ausdruckssprache für bestimmte formale Aspekte innerhalb des Films.

Im Hinblick auf die Erwartung eines erzählerisch gehaltvollen Kunstwerkes konnte das Kino bis 1920 mit gegebenen formalen Mitteln diesem Anspruch sicherlich nicht Genüge leisten. Das Vernachlässigen von narrativen Momenten und der Verzicht auf die Darstellung einer zeitlichen, örtlichen und kausalen Kontinuität von Handlungsabläufen ließ das kritische Publikum, darunter auch Schriftsteller4, eine skeptische Haltung gegenüber dem neuen Medium einnehmen. Um so mehr erkannte man in der Kinematographie ein Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis, mit dem in verschiedensten Bereichen der Naturwissenschaften wie beispielsweise in der Geographie, Bota-2Vgl.dazu Kaes, Anton (Hrsg.): „Kino-Debatte - Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909 - 1929“. Tübin-

gen 1978

3Lange, Konrad: „Der Kinematograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkt“. In: „Flugschrift zur Aus-

druckskultur“ S. 12-50

4Die Reaktion Intellektueller auf das neue Medium ist durchaus als ambivalent zu charakterisieren. Während bei-

spielsweise Georg Lukács 1911 im Film zwar eine „neue Schönheit“ sah, die sich nicht in „alte unpassende Kate-

gorien einordnen“ lasse, aber auch nicht den Stellenwert eigentlicher Kunst erreiche, greift Walser von

vornherein die Typisierung der handelnden Figuren und die damit einhergehende Trivialität der Einzelschicksale

an, die sich meist ins Tragikkomische wenden, um am Ende einen moralischen Abschluss zu finden. Vgl. Georgen,

Jeanpaul (Hrsg.): „Walter Ruttmann. Eine Dokumentation. Berlin: Freunde der Deutschen Kinemathek o.J.“ 1989,

S. 20 und Walser, Robert: „Kino”. In: „Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm.“ Hrsg.: Güttinger,

Fritz, Frankfurt a. Main 1984, S. 58

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nik und Zoologie durch Zeitraffer und Zeitdehnung bedingt visuell erfassbare Vorgänge sichtbar gemacht werden konnten.

Um die Besonderheit der neuen mechanischen Errungenschaft des Kinematographen herauszustellen, ist es an dieser Stelle von Vorteil, einen Blick auf einige historische Eckdaten seiner Entwicklung zu werfen.

Die Erfindung der Photographie im frühen 19. Jahrhundert stellt die Voraussetzung für die Erzeugung bewegter Bilder dar. Die Camera obscura5ermöglicht Louis Daguerre 1839 die erste praktische Weiterentwicklung der Photokamera (Daguerreotypie). Zeitgleich wird die Reproduktion der Photographie durch William Henry Fox Talbots System der Negativ-Aufzeichnung und Positiv-Wiedergabe gewährleistet.61878 gelingt es Eadweard Muybridge, mit einer Vielzahl von hinterein-andergeschalteten Photoapparaten eine Folge von Bewegungsmomenten in gleichbleibenden Intervallen ohne Verwischung sichtbar zu machen. „In der Darstellung der Sequenzen von Muybridge wird der Betrachter mit einem Bewegungsablauf konfrontiert, den er in der Realität gar nicht sehen kann. Er sieht die photographische Folge nicht in ihrem perspektivischen Ablauf, sondern betrachtet die Bewegung aus einer gleichzeitigen, durch die Positionen der Kameras bedingten Standortveränderung. Das bewegte Objekt ist bei jeder Aufnahme parallel zur Bildfläche photographiert worden und zwingt den Betrachter bei jedem Bild zum Nachvollzug einer Neueinstellung. Die Folge der zu sehenden Bewegung ist dadurch leicht verzögert.“7

Das Bestreben, eine Projektionsapparatur zu entwickeln, welche den Fluss der äusseren Bilder der optischen Wahrnehmung mechanisch approximativ angleicht, hat den Ausbau des Kinematographen zur Folge, der den Filmtransport durch den Fortschaltmechanismus, beim klassischen Projektor bestehend aus Malteserkreuz und Stiftscheibe, ermöglicht. 16-, 18-, oder 24-mal in der Sekunde leistet der Apparat eine Akkordarbeit von Stillstand und Bewegung, um die Illusion eines Ablaufs von Bewegung zu erzeugen. Um 1908 wird den flimmerstarken Projektionen Abhilfe geleistet, indem eine rotierende Scheibe den Lichtausfall des Projektors exakt in der Zeit, in welcher der Film transportiert

5Vorläufer der Photokamera. Schon im 13. Jahrhundert in China und Griechenland entwickelt. In dem mit einem

kleinen Loch versehenen dunklen Kasten werden durch das gebündelt einfallende Licht Bilder von außen auf die

innere Projektionsfläche seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend abgebildet. Das Bild gewinnt durch die später

am Loch eingesetzten Linsen an Schärfe. Vgl. Monaco, James: „Film verstehen“. Hrsg.: Ludwig Moos. Hamburg

1995. S. 67

6ebd. S. 70

7Schnelle-Schneyder, Marlene: „Photographie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstellung im 19.

Jahrhundert“. Marburg 1990, S. 75

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wird, verdeckt, so dass Serien von ruhenden Bildern zu sehen sind. Das Funktionieren der filmischen Bewegungsillusion ist damit auf der technischen Seite gewährleistet.8Zugleich wird die Differenz zwischen dem Blick des Menschen und der technisch erschlossenen Erscheinung der Dinge größer.

Bei gleichzeitiger Angleichung des Kinematographen an die optische Bewegungswahrnehmung findet durch technische Verfremdungsmöglichkeiten wie der Großaufnahme, der Zeitlupe, des Zeitraffers, der Überblendung oder der Möglichkeit des Rückwärtslaufs eine Irritation in der Wahrnehmung statt. Der Film trägt insofern zu einer Veränderung in der konditionierten Perzeption bei, als dass Erscheinungen nun auf eine andere Weise zu speichern und zu verarbeiten sind, als es bisher mit den menschlichen Sinnen möglich war.