Das kleine Buch der großen Liebe - Jacob Needleman - E-Book

Das kleine Buch der großen Liebe E-Book

Jacob Needleman

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Beschreibung

»Welche Bedeutung unser Leben auch haben mag, es wäre sinnlos ohne die Liebe.« Wir glauben zu wissen, was Liebe ist. Doch: Wissen wir es wirklich? Warum streiten wir? Worauf können wir vertrauen? Das kleine Buch der großen Liebe erklärt uns, was wir wirklich voneinander wollen und bringt uns so dem großen Glück ein Stück näher. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Jacob Needleman

Das kleine Buch der großen Liebe

Aus dem Amerikanischen von Heike Münnich

FISCHER Digital

Inhalt

Erster Teil Die Arbeit der Liebe1. Liebe und WeisheitDie Weisheitslehren2. Zwei Arten der LiebeDie eine und die andere LiebeDie Namen der LiebeVermittelnde LiebeDas gebrochene HerzWas dem Schmerz der Leidenschaft zugrunde liegtWer sind wir beide, du und ich?3. Kommunikation – Gerede oder Gespräch?Zuhören und die Illusion des SelbstausdrucksWas enthalten unsere Wörter?Bewußtes Sprechen4. Warum streiten wir?Was machen wir mit dem Ego?Die bedeutendste Fähigkeit des GeistesMit den Gedanken beginnenWir sind Menschen5. Worauf können wir vertrauen?Was wollen wir wirklich voneinander?Liebe und AufregungWas im anderen ist vertrauenswürdig?Worauf beruht unsere gegenseitige Achtung?Die Transformation des Vertrauens6. Liebe und die Erfahrung von ZeitZwei Arten von ZeitDie Wirklichkeit und die Unwirklichkeit der ZeitLiebe und Präsenz7. Arbeit, Geld, Sex, Macht, Schönheit … das ganz normale LebenEin gemeinsames Leben und eine gemeinsame SucheJenseits des »ganz normalen Lebens«Liebe und die Suggestionskraft des LebensDie langwierige Arbeit der LiebeZweiter Teil Die Weisheit der Liebe8. Unwillkürliche und bewußte LiebeChristentumDer Befehl, zu lieben9. Ethik als LiebeJudentumDie Liebe, die uns zu Menschen machtSteinbildnisseDie Grundlage der MoralVermittelnde Ethik10. Zwei Dichter: Rūmī und RilkeSich der bewußten Liebe öffnenRilke: Die Lehrzeit der Liebe11. Die Macht der unpersönlichen LiebeDie unbekannte Welt der GefühleDie Bhagavad-GītāWas wir über unpersönliche Liebe wissen12. Liebe in die Tat umsetzenBuddhismusZwischen Zeit und EwigkeitSchlußfolgerung in Form einer FrageLiteraturverzeichnis: Im Text erwähnte und weitere Literatur zu spirituellen Aspekten der Liebe

Erster Teil Die Arbeit der Liebe

1. Liebe und Weisheit

Wer wurde noch nie von der Liebe überwältigt, ihren Freuden und ihrem Leid? Wie viele von uns versuchten nicht wieder und wieder nach dem zu greifen, was die Liebe zu versprechen scheint, nur um in Verwirrung, Angst oder Schmerz zurückgewiesen zu werden? Und wie viele geben schließlich auf und finden sich traurig damit ab, das Schauspiel der Liebe nur mehr als Zuschauer zu erleben?

Welche Bedeutung unser Leben auch haben mag, es wäre sinnlos ohne die Liebe. Allein welche Liebe? Nahezu alle Mythen und Legenden und Geschichten über die Liebe handeln von jener Macht der Leidenschaft, die uns zusammenführt – doch was dann?

Neben den großartigen antiken und mittelalterlichen Erzählungen über die Glut der Leidenschaft ist eine der tiefsinnigsten Liebesgeschichten der Welt fast in Vergessenheit geraten. In der Legende von Philemon und Baucis gibt es keinen verzauberten Liebestrank, wie er Tristan und Isolde Erfüllung im Tod finden läßt, und auch keine herzzerreißende Reise ins Reich des Hades, wo Orpheus seine Eurydice durch einen einzigen ungeduldigen Blick für alle Ewigkeit verliert.

Wie ein schwacher Stern, der sich nur einem unverstellten Blick offenbart, scheint der Mythos von Philemon und Baucis in einem hintergründigen Licht, das auf eine andere Wirklichkeit, eine andere Liebe verweist. Und wer will leugnen, daß sich unsere Welt danach sehnt, die Liebe neu zu verstehen; zu verstehen, was es bedeutet, zusammenzuleben, an der Liebe zu arbeiten und niemals aufzugeben? Der Mythos von Philemon und Baucis kann der Ausgangspunkt zur Erforschung dieser Frage sein.

Unsere einzige Quelle ist Ovid, der große römische Chronist der Liebe und Transformation. In seinen Metamorphosen läßt Ovid Lelex sprechen, »reif an Jahren und Weisheit«:

»In dem hügeligen Land von Phrygien wächst eine Eiche neben einer Linde; zusammen sind sie von einer niedrigen Mauer umschlossen. Ich habe die Stelle selbst gesehen …«

In der Nähe, wo es einmal Felder und ein lebhaftes Dorf gab, scheint nur ein See mit schlammigem Wasser geblieben zu sein, an dem Scharen von Sumpfvögeln leben. Jupiter, Herr der Götter und Menschen, besuchte dieses Land einst mit seinem Gefährten Merkur. Als Sterbliche verkleidet, wanderten sie von Haus zu Haus; sie wollten wissen, wer sie empfangen und ihnen Essen und einen Platz zum Ausruhen anbieten würde.

»Die beiden Götter gingen zu tausend Häusern, und tausend Türen waren verschlossen und verriegelt.« Die Götter zwingen sich niemals auf; sie treten nur ein, wo ihnen die Tür offen steht.

Nur ein Haus ist nicht verschlossen – »eine bescheidene Wohnstatt, gedeckt mit Stroh und Schilf aus dem Sumpf«. Baucis, eine gütige alte Frau, und ihr Mann Philemon heißen sie willkommen. Baucis und Philemon sind gleichaltrig; sie haben in ihrer Jugend in dieser Hütte geheiratet und sind »in ihr gemeinsam grau geworden«.

In den alten Geschichten klingt die Bedeutung jeder Begebenheit auf vielen Ebenen an. Wer interessiert sich heute noch für das Symbol des Ehepaares, das von der Jugend bis ins hohe Alter zusammenlebt? Welche Liebe wird hier dargestellt? Und warum bitten gerade sie und nur sie allein die Götter in ihr Haus?

Baucis und Philemon sind arm, und ihre Armut wird nicht einfach nur erwähnt, wir erfahren auch, wie sie von ihnen empfunden wurde. »Sie bekannten sich zu ihrer Armut.« Sie sahen ihre Armut wie sie war, ohne sie vor sich selbst zu verbergen. Weil sie die Armut annahmen, »erleichterten sie die Bürde ihres Loses«. Gewiß spricht hier die alte Sprache des Mythos nicht nur von materieller Armut.

»Es war kein Unterschied, ob du in diesem Haus nach dem Herrn oder Diener suchtest – die beiden waren der gesamte Haushalt: gleichermaßen befahlen und gehorchten sie.« Warum wird dies ausgerechnet so gesagt?

Die »Himmelsbewohner« werden hereingebeten und müssen sich bücken, als sie durch die niedrige Tür treten. Sie sitzen auf einfachen Holzstühlen, und aus Blättern und trockener Rinde wird ein Feuer geschürt, um sie zu wärmen. Nach viel Geschäftigkeit und freundlichem Geplauder tragen die Gastgeber eine Mahlzeit aus Gemüse, Käse, Beeren und behutsam gebratenen Eiern auf groben Tontellern auf und reichen Wein »mäßigen Alters« herum.

»Als das Essen seinen Lauf nahm, sahen die beiden Alten, daß der Krug, soviel er auch geleert wurde, sich selbst wieder füllte.« Da erkennen Baucis und Philemon die wahre Identität ihrer Gäste und werden von Ehrfurcht und Scheu ergriffen. Schüchtern heben sie die Hände zum Gebet und flehen um Nachsicht für das karge Mahl. Sie besitzen eine einzige Gans als Wächter für ihr kleines Stück Land und wollen den Vogel nun zu Ehren der Besucher töten. Die Gans entkommt und nimmt Zuflucht bei den Göttern, die verbieten, sie zu töten. Nicht die Gans solle vernichtet werden, so sagen sie, sondern die Menschen des Ortes, die keine Götter empfangen wollten. Nur Baucis und Philemon sollten verschont bleiben. Sie werden aufgefordert, ihr armseliges Haus zu verlassen und, begleitet und geführt von den Göttern, einen steilen Berg zu besteigen. »Die beiden Alten taten, wie ihnen geheißen, stützten sich auf ihre Stöcke und kämpften sich den langen Abhang hinauf.«

Baucis und Philemon werden auf eine »höhere Ebene« geführt und sehen jetzt nur noch Wasser, wo einmal Land mit lebendigen Menschen war. Was sind dies für Götter? Erhalten wir nur ein Bild ihrer Bosheit und Rachsucht – oder geht es hier um etwas viel Tieferes, um den Zweck des menschlichen Lebens selbst und die schicksalhaften Konsequenzen des Unwillens der Menschen, diesen Zweck anzunehmen – wie in der Legende von Noah und der Sintflut im Alten Testament?

Inmitten der Zerstörung bleibt als einziges Gebäude das Haus, in dem Baucis und Philemon ihr Leben zusammen verbracht hatten – indem sie sich gegenseitig dienten (wo es weder »Herr noch Diener« gab). Und nun sehen sie erstaunt, wie sich ihre armselige Hütte in einen Tempel für die Götter verwandelt. »Als sie um das Schicksal ihrer Leute weinten, nahm ihre alte Hütte, die selbst für zwei schon klein gewesen war, die Gestalt eines Tempels an, Marmorsäulen ersetzten die alten Holzstützen, das Stroh wurde gelb, bis das Dach aus Gold gemacht schien, die Türen schienen aufs Schönste mit Schnitzereien geschmückt, und Marmor pflasterte den Lehmboden.«

Dann erhebt Jupiter, Sohn des Saturn, seine majestätische Stimme und verspricht, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Wir sehen die beiden Alten zurücktreten und sich flüsternd beraten. Was wünschen sie sich vom Herrn des Himmels?

»Wir bitten darum, deine Priester zu sein, deinem Schrein zu dienen und, da wir in unserem ganzen Leben in glücklicher Eintracht gelebt haben, bitten wir darum, daß uns der Tod im selben Augenblick gemeinsam fortträgt …« Ihr Wunsch wird erfüllt. Den Rest ihres Lebens verbringen sie als Priester des Jupiter im heiligen Raum des Tempels.

Jetzt berichtet Ovid von jener Transformation, die den geheimnisvollen Höhepunkt der Geschichte darstellt. Eines Tages stehen sie, vom Gewicht der Jahre gebeugt, auf den Stufen des Tempels und sprechen über all das, was hier geschehen ist. Plötzlich sieht Baucis an Philemon Blätter sprießen, und Philemon sieht dasselbe bei seiner Frau. »Als die Baumkronen bereits über ihre Gesichter wuchsen, wechselten sie ihre letzten Worte, solange sie noch konnten, und riefen gleichzeitig: ›Lebe Wohl, mein Liebstes!‹ Schon wuchs die Rinde über sie hinweg und versiegelte ihre Lippen. Die thynischen Bauern zeigen noch immer auf die Bäume, die hier Seite an Seite wachsen, Bäume, die einstmals Leiber waren.«

Nahezu alle Erzähler, die wie Bulfinch oder Edith Hamilton diese Geschichte in der Neuzeit wieder aufgegriffen haben, folgen Ovid nicht weiter und beenden sie an dieser Stelle. Hier besitzt das Bild der beiden Liebenden, die in miteinander verflochtene Bäume verwandelt wurden, aber bestenfalls einen bittersüßen Geschmack und wirkt selbst als Symbol grotesk – denn ein Symbol muß auf allen Ebenen stimmig sein, auch auf der wörtlichen Ebene. Es muß eine konkrete, greifbare Wahrheit darstellen, eine Wahrheit über das Leben, das wir sehen, hören und berühren ebenso wie über das unsichtbare Leben, das wir in uns selbst suchen. Doch scheint hier etwas nicht zu stimmen. Warum nicht »und wenn sie nicht gestorben sind …«? Sind denn die Liebenden nicht tatsächlich gestorben? Gibt uns die Geschichte keine Hoffnung über das hinaus, was wir direkt vor unseren Augen mit unseren Sinnen wahrnehmen können?

Es ist ein eigenartiges Märchen. Und dennoch klingt in ihm etwas völlig Neues über die Liebe an. Die meisten Märchen haben ihr Geheimnis – sozusagen ihren Nabel – genau in der Mitte. Hier steht das Geheimnis am Ende. Nach welcher Art von Liebe können wir durch gemeinsames Bemühen im Zusammenleben streben? Was ist das, dem wir im anderen dienen? Und wofür müssen wir uns einander öffnen und den höheren Bereichen außerhalb und in uns selbst, den »göttlichen Bereichen«?

Was sind das für Bäume, die sich ineinander verflechten und niemals sterben? Und warum schließlich beendet Ovid die Geschichte nicht hier, wie die modernen Erzähler, sondern mit folgenden Worten des erzählenden Lelex:

»Diese Geschichte wurde mir von glaubwürdigen alten Männern berichtet, die durch Täuschung nichts zu gewinnen hatten. In der Tat sah ich selbst Kränze in den Zweigen hängen, habe frische dazugehängt und dabei gesprochen:

›Wen die Götter lieben, der ist selbst Gott, und wer verehrt hat, soll selbst verehrt werden.‹«

Die Geschichte endet also mit einem Hinweis auf die wirkliche Bedeutung der Verwandlung der beiden Liebenden. Wenn in den alten Geschichten Sterbliche zu Göttern werden, erfahren wir etwas über die Geburt eines neuen und höheren Selbst, der Seele in uns. Eben dieser inneren Geburt diente die Ehe von Philemon und Baucis.

Die Weisheitslehren

Jetzt müssen wir uns aber unsere eigene Erfahrung ansehen, unsere eigenen Begegnungen mit einem anderen Gott, dem Gott der Liebe, der im Himmel und auf Erden bekannt ist für den Verdruß und das Leid, das die Liebe neben den Freuden und der Leidenschaft mit sich bringt. Gibt es unter all dem, was unsere Kultur über die Liebe zu sagen weiß, auch ein Verständnis dafür, was es bedeutet, die Liebe zu halten, sie aufrecht zu erhalten, damit sie zu mehr dient als einem kurzen Aufglühen des Glücks und die Reise zur Geburt einer neuen, unverfälschten Menschlichkeit in uns unterstützen kann?

Diese Auffassung der Liebe gibt es; sie ist seit undenklichen Zeiten in den Weisheitslehren der antiken Welten überliefert. Aber als sei sie selbst ein ferner Stern, ist sie nicht so leicht zu erblicken unter den künstlichen Lichtern der Zivilisation, die uns so häufig blind machen für die Gegenwart der Sterne … und der Götter.

Was meinen wir überhaupt, wenn wir von »den Weisheitslehren« sprechen? Dieser Begriff wird uns immer wieder leiten, wenn wir über die Frage der Liebe nachdenken. Gibt es wirklich ein aus den alten Welten überliefertes Wissen, das den Namen »Weisheit« verdient?

Hier stehen wir geradewegs vor der Aufforderung, den Göttern unsere Tür zu öffnen. Es stellt sich folgende Frage: Welchen Blick verlangen die Vorstellungen über die menschliche Natur und die Welt ganz allgemein im Herzen der großen spirituellen Lehren und Philosophien? Und welcher Kampf ist nötig, um unser Leben mit diesen Lehren in Einklang bringen zu können?

Es ist nicht schwer, einige der zentralen Lehren der spirituellen Traditionen der Menschheit herauszuarbeiten. Da in der Moderne die Völker einander immer näher kommen, wird es uns leicht gemacht, die Umrisse einer grundlegenden Vision herauszuarbeiten, die offenbar über die Jahrtausende von jeder menschlichen Gemeinschaft in den Begriffen ihrer jeweiligen Kultur formuliert wurde. Schwer zu verstehen jedoch bleibt, warum diese Vision so wenig Einfluß auf die tatsächliche Lebensweise der Menschen besitzt.

Das Geheimnis der »großen Weisheit« liegt also nicht so sehr in ihren Vorstellungen, als vielmehr in der Frage, warum es so schwierig ist, diese in die Praxis umzusetzen. Verstehen wir dies, gewinnen wir auch ein neues Verständnis dafür, was Menschen wirklich voneinander benötigen und einander geben können. Eben jener Dimension der Liebe möchte dieses Buch nachgehen.

Woraus aber, um damit zu beginnen, bestehen die Elemente dieser alten universellen Lehre an den Wurzeln der religiösen und spirituellen Philosophien der Welt? Was lehrt sie uns über das menschliche Wesen und die Welt, in der wir leben müssen? Diese Vision umfaßt eine Unmenge von Vorstellungen über das ganze menschliche Leben und die Welt der Natur. Im Folgenden werden einige ihrer wichtigsten Punkte skizziert.

Im Menschen, so erfahren wir, ist eine großartige Fähigkeit und entsprechend auch eine große Verpflichtung angelegt. Wir sind fähig, uns einem Bewußtsein und einer Dimension des Lebens zu öffnen, die all das überschreiten, was wir gewöhnlich als Glück, Wissen oder Sinn erfahren. Wenn dieses bewußte Leben in uns erwacht, beginnen wir, ganz für uns allein und in unserem tiefsten Wesen, den Sinn des menschlichen Lebens zu verstehen. Wir entdecken, so die Lehren, daß nur dieses bewußte Leben zu der Fähigkeit führt, klar zu denken und die Verbundenheit der Dinge untereinander zu erkennen. Wir entdecken, daß auch die Fähigkeit, auf selbstlose Weise zu lieben, aus diesem selben Bewußtsein fließt.

Diese Lehre über die Innenwelt bildet den Kern der Vorstellungen und Moralysteme der Religionen der Welt. Heutzutage wird uns Religion allerdings zumeist auf eine Weise vermittelt, die uns nicht den geringsten Hinweis auf die Vorstellung einer inneren Welt gibt, geschweige denn auf die Notwendigkeit, in uns selbst den Zugang zu einer anderen und höheren Dimension des Bewußtseins zu entwickeln. Die meisten von uns kennen das Christentum oder irgendeine andere Religion hauptsächlich als Doktrin. Kaum jemals erfahren wir von den praktischen Schritten, die wir für ein der Lehre entsprechendes Leben unternehmen müssen und die uns helfen, die Wahrheit der Religion ebenso »experimentell« bestätigt zu finden wie die Weltsicht der modernen Wissenschaft.[1]

Die religiösen und spirituellen Lehren bestehen nicht nur aus bestimmten Vorstellungen über eine innere Welt, deren Bewußtseinskräften wir uns öffnen müssen, sondern auch auf einem ebenso bemerkenswert umfassenden Wissen über die Außenwelt, das den Entdeckungen der Wissenschaft keineswegs widerspricht. Unsere moderne Wissenschaft scheint heute eine Richtung einzuschlagen, die diese Einsichten in den kosmischen Plan bestätigt; sie enthüllt uns ein unvorstellbar riesiges und unvorstellbar lebendiges, dynamisches Universum, das ohne Unterlaß Welten über Welten entstehen läßt mit einer Fruchtbarkeit und Vollständigkeit, vor denen all unsere Versuche der theoretischen Erklärung kapitulieren müssen.

Nach den alten Kosmologien enthält das Weltall wesentlich mehr Daseinsformen, als die moderne Wissenschaft selbst durch indirekte Rückschlüsse erkennen kann. Schichten von Gesetzmäßigkeiten und Wechselwirkungen umschließen uns wie ein großer Organismus seine Zellen und Gewebe »umschließt«; sie unterstützen oder hemmen uns auf eine Weise, die wir mit den Sinnen nicht erfassen können. Alle Kulturen sprechen in ihrer Mythologie von dieser »vertikalen« Struktur des Kosmos: die semitischen Religionen kennen Engel und Teufel, das alte Ägypten und Griechenland Götter, der Hinduismus Tausende und Abermillionen Gottheiten und Dämonen, der Buddhismus kosmische Schützer und Zerstörer, in den Lehren der amerikanischen Ureinwohner, Afrikaner und anderer Völker wird von den Kräften der Geister gesprochen. In der Sprache mancher Philosophen, wie Plato aus der griechischen Welt oder Maimonides aus dem mittelalterlichen Judentum, wird dieser vertikale Kosmos als ein Universum verschiedener Ebenen des Bewußtseins und des Willens beschrieben, ein Universum, in dem es viele Zwischenstufen zwischen Mensch und absolutem Gott gibt.

Sei die Sprache nun mythologisch, symbolisch oder philosophisch, der Grundgedanke bleibt gleich: die Menschheit ist in einen riesigen, lebendigen Kosmos eingebunden, dessen Dimensionen von Geist und Zweck unsere gewöhnliche Fähigkeit des Denkens und Wollens weit überschreiten. Darüber hinaus spiegelt sich diese gesamte kosmische Ordnung in der menschlichen Psyche. Die vertikale Struktur der inneren Welt ist so unermeßlich, wie die vertikale Struktur des Universums selbst. Wir kennen uns selbst nicht. Wir leben nicht nur, wie uns die moderne Wissenschaft sagt, in einer winzigen Ecke des materiellen Universums, wir leben auch nur in einer winzigen überaus verengten Ecke unseres eigenen inneren Universums. Die Lehren der großen Traditionen ergänzen die Ergebnisse der modernen Wissenschaft, sie zeigen uns die Menschheit als einen Schnittpunkt von zwei Unendlichkeiten – beide fordern uns auf, sie zu erforschen, und erst zusammengenommen verweisen sie uns auf den Platz, den die Menschheit im Plan der Dinge einnehmen sollte.

Wir sind dazu da, in zwei Unendlichkeiten zugleich zu leben – die eine führt uns zum Handeln in der Außenwelt, die andere fordert uns auf, uns der Innenwelt zu öffnen. Alle Lehren sind sich einig: Ob wir sinnvoll, weise und mitfühlend leben können, hängt ganz und gar davon ab, ob wir uns den höheren Bereichen der Innenwelt zu öffnen vermögen oder nicht.

Dieser Grundgedanke und damit verbundene Vorstellungen finden zur Zeit wieder Eingang in unsere Kultur, denn sie entsprechen nicht nur einem wachsenden Bedürfnis jüngerer Menschen, sondern dem von Männern und Frauen jeglichen Alters und jeglichen sozialen Status. Die Beschäftigung mit Lehren und Praktiken wie dem Buddhismus, der jüdischen und christlichen Mystik, dem Sufismus und Hinduismus sowie den spirituellen Traditionen Afrikas und der Ureinwohner Amerikas, um nur einige zu nennen, beschränkt sich nicht länger nur auf Randgruppen von Anhängern des sogenannten New Age. Viele verantwortungsvolle und etablierte Mitglieder unserer Gesellschaft aus der Geschäftswelt, Wissenschaft und Kunst begeben sich heute auf die Suche nach Transzendenz und innerer Entwicklung.