Die Seele der Zeit - Jacob Needleman - E-Book

Die Seele der Zeit E-Book

Jacob Needleman

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf der Suche nach der eigenen Zeit – wer ist das nicht? Doch immer ausgefeiltere Methoden des Zeitmanagements scheinen uns dabei nicht weiterzuhelfen. Jacob Needleman lädt uns deshalb auf sympathische und nachdenklich stimmende Weise ein, die Seele unserer Zeit wiederzuentdecken. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 167

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jacob Needleman

Die Seele der Zeit

Aus dem Amerikanischen von Jochen Lehner

FISCHER Digital

Inhalt

Spirit Herausgegeben von Stephan [...]Für Miles und HarleneVorwortErster Teil Es war einmal1 Der Mann mit den sanften braunen AugenPhiladelphia 1952Zeit und LeidenschaftAlles hat seine ZeitDie Lüge der ErinnerungSchicksal und die wirkliche ZukunftDer erste BlickWer sind Sie?2 Zeit – ein neues FragenDie wirkliche VergangenheitDie Zeit des Herzens3 Zeit: Problem, Frage und GeheimnisDie Geschichte von KirzaiEin anderes ErinnernDie Geschenke der Zeit4 Die Zeit und das SelbstArjunas EntmutigungZweiter Teil Wirkliche Zeit5 Vom Roman zur WirklichkeitDie ZeitnotDie Unterweisungen des HermesZeit-Diebe6 Was tun?Eile und MußeZukunftsangst und SorgenDie Zeit und die Seele7 Eine Übung für den Anfang8 Die andere TürDie Kunst des SinnensUnsterblichkeit und das Meer der NichtexistenzDie große WundeDer dritte AnsatzDie AnkunftDie große AntwortEin neues Wünschen9 »Sie fangen gerade erst an«Literaturempfehlungen

Spirit Herausgegeben von Stephan Schuhmacher

Für Miles und Harlene

Vorwort

Dieses Buch wendet sich an alle, die unter Zeitnot leiden. Also an jedermann. Die Gesellschaft, in der wir leben, lockt uns in die Falle zu vieler Unternehmungen, zu vieler Pflichten, zu vieler Wahlmöglichkeiten und zu vieler Gelegenheiten, die alle wahrgenommen sein wollen. Am Ende eines Jahrhunderts der auf Zeitersparnis ausgerichteten Erfindungen sehen wir uns der Zeit selbst beraubt. »Wir haben uns«, wie Jeremy Rifkin sagt, »mit zeitsparenden technischen Apparaturen umgeben und stehen doch vor einem entmutigenden Wust nicht ausführbarer Pläne, nicht einzuhaltender Verabredungen, nicht umzusetzender Zeitpläne und nicht einzuhaltender Termine.«[1] Das ist die neue Armut, die Armut unseres Wohlstands. Es ist unsere Hungersnot, die Hungersnot einer Kultur, der Dinge wichtiger sind als die Zeit, der die Außenwelt wichtiger ist als die Innenwelt.

Es ist zur quälenden Frage unserer Zeit geworden. Was einst als Zeichen des Erfolgs galt – vielbeschäftigt zu sein, viel Verantwortung zu tragen, viele Eisen im Feuer zu haben –, wird jetzt zunehmend als Plage empfunden. Es führt zu nichts und wird von immer mehr Menschen als sinnlos erlebt.

Und damit ist auch schon gesagt, wo unser Problem mit der Zeit liegt: Es ist eine Sinnkrise. Verschwunden ist nicht die Zeit, sondern sinnvolle Zeit. Nicht die Technik oder der zunehmende Einfluß des Geldes, nicht der weltweite Kapitalismus ist schuld an der Zeitnot. Unser Problem mit der Zeit ist nicht technischer oder gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher oder psychologischer, sondern metaphysischer Natur. Es geht um die Frage, welchen Sinn das Leben überhaupt hat. Dieses Buch möchte aufzeigen, welcher Zusammenhang zwischen unserer Zeit-Pathologie und der Stellung des Menschen im universalen Plan der Dinge besteht. Die Weisheitslehren der Welt sprechen jede auf ihre Weise von dem, was wir Seele oder Geist, das Zeitlose, das Ewige im Menschen nennen können. Es wird aber jetzt darum gehen, sich diesen alten Ideen auf praktische Weise zu nähern, damit echte Schritte zu einer Lösung möglich werden. Worte und Ideen allein, wie heilig und tief sie auch sein mögen, werden uns nicht befähigen, unser Problem mit der Zeit wirklich anzugehen. Andererseits können richtig aufgenommene Worte, sorgfältig erwogene Ideen, mit offenem Herzen gehörte und betrachtete Geschichten und Bilder uns zum Fühlen der Beziehung zwischen den Fragen unseres Daseins und dem Problem unseres Lebens in der Zeit verhelfen – und dann werden Ideen ihren richtigen Platz finden. So jedenfalls habe ich dieses Buch geschrieben. Erzähltes und Bildhaftes geht uns auf ganz andere Weise ein als Begriffe und Analysen. Und so sollte diese Erkundung der Zeit und der menschlichen Seele vielleicht wie alle wahren Geschichten mit den altvertrauten, aber plötzlich bedeutungsschwangeren, zeitschwangeren Worten »Es war einmal« beginnen.

Erster Teil Es war einmal

1 Der Mann mit den sanften braunen Augen

Mir schwebt ein Roman vor, den ich gern schreiben würde. Sein Held ist ein Mann von fünfzig Jahren – so alt war ich selbst, als ich von dieser Geschichte zu träumen begann. Sein Leben ist in der Krise, wie mein eigenes damals war, und durch einen Zauber wird er in die Zeit zurückgeschickt, um sich selbst als Sechzehnjährigem zu begegnen. Der Held heißt Eliot Appleman.

Ich sage »Roman«, aber eigentlich ist es das für mich nicht. Denn existiert der sechzehnjährige Eliot/Jacob (oder Jerry, wie ich genannt werde) nicht eigentlich noch? Und ist es nicht möglich, wieder zu ihm zurückzufinden? Zeit? Zeit ist sicherlich nicht das, wofür wir sie halten. Über so viele Dinge haben wir irrige Anschauungen; wie könnten wir uns einbilden, das größte aller Mysterien zu verstehen, die Zeit?

Der Held meiner Geschichte, Eliot Appleman, ist Psychiater. Ich selbst bin Professor der Philosophie. Eliot und ich gehen davon aus, daß wir unter die Oberfläche menschlicher Belange blicken können. Er ist darin geschult, die Psyche nach verborgenen Mustern abzusuchen; und ich, der Philosoph, sehe die Welt als Gewebe von Erscheinungen, hinter dem große Gesetze am Werk sind, die zu erkennen es dessen bedarf, was die alten Lehrer Weisheit genannt haben.

Im Verlauf dieser Geschichte muß der ältere Eliot erfahren, daß er sein Leben nicht im Fahrwasser halten kann, ohne sich mit Herz und Geist einer Wirklichkeit zu öffnen, die der wissenschaftlich geschulte »Dr. Appleman« als mystisches Phantasiegebilde betrachten würde.

Auch dem entspricht wieder mein eigenes Leben, wenn auch gleichsam spiegelbildlich: In einem kritischen Abschnitt meines Lebens wurde mir klar, daß man mit großen metaphysischen Themen wie dem der Zeit nicht weit kommt, ohne die schwere Arbeit der Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten, der eigenen inneren Leere auf sich zu nehmen.

Philadelphia 1952

Am häufigsten träume ich von den Eröffnungsszenen des Romans, von der ersten Begegnung der beiden Eliots. Der junge Eliot sitzt mit einem ein Jahr älteren Mädchen in einem Restaurant in Philadelphia. Sie heißt Elaine. Er verliebt sich zum erstenmal in seinem Leben.

Es ist Samstag nachmittag, das letzte Wochenende des Sommers. Im »Turin Grotto« ist viel los. Überall sieht man Kellner in schwarzen Jacketts flitzen. Der ältere Eliot richtet es so ein, daß er einen Tisch neben den beiden jungen Leuten bekommt. Sie sind ganz ineinander versunken und bemerken ihn gar nicht. Mit angehaltenem Atem lauscht er ihrem Gespräch und beobachtet sie aus dem Augenwinkel.

Von dem Lehrer, der ihn in die Zeit zurücksandte, hat Eliot keine besonderen Instruktionen über die Gesetze der Zeitreise erhalten. Vor lauter Staunen über die ihm gebotene Möglichkeit war es ihm nicht in den Sinn gekommen, Fragen zu stellen.

Er kommt zurück, um sich selbst in einem Augenblick seines Lebens zu betrachten, den er als entscheidend und richtungbestimmend empfindet. Nichts wurde ihm darüber gesagt, ob er in die Vergangenheit eingreifen und die Zukunft beeinflussen darf. Bald begreift er auch, warum darüber nichts gesagt wurde: Es ist nicht notwendig. Die Ereignisse unseres Lebens sind so engmaschig verknüpft, unser ganzes Leben spielt sich in einem so ungeheuer weiten Geflecht von uns unsichtbaren Vorgaben ab, daß kein Mensch die wahren Wendepunkte seines Lebens kennen kann, die Wegkreuzungen, an denen Wandel und neue Sinngebung möglich werden. Ohne diese Kenntnis können wir an unserem Leben ruhig hier und da drücken oder ziehen, es wird nicht mehr dabei herauskommen als eine vorübergehende Unruhe, die sich bald wieder glättet wie Haut über einer kleinen Wunde. Die Veränderungen, die wir in unserem Leben anstreben, sind meist nicht mehr als kleine Kratzer am Körper der Zeit.

Was Eliot am Nebentisch mitbekommt, ist ein ziemlich stürmisches Gespräch, in dessen Verlauf die junge Frau zu weinen beginnt. Bis jetzt ist der ältere Eliot von der bloßen Tatsache seines Hierseins noch so überwältigt, daß er sich den jungen Eliot nicht einmal anzusehen traut. Ich möchte den Augenblick des ersten Blickkontakts der beiden Eliot ganz besonders herausarbeiten. Der jüngere wird sich instinktiv abwenden, ohne zu wissen warum – wie ein Zurückzucken vor etwas brennend Heißem. Der ältere wird eine zärtliche Traurigkeit empfinden, den Anflug einer Art von Liebe, für die er keinen Namen hat. Ich möchte diesen Augenblick als ein Beispiel dessen gestalten, was in uns vorgeht, wenn wir unser gewohntes Zeitempfinden, und sei es nur für einen Augenblick, durchbrechen. Was wir so unscharf Gedächtnis nennen, ist in Wahrheit die Oberfläche eines Vermögens, das in seiner Tiefe die einzige Hoffnung für die Menschheit und für uns als einzelne darstellt. Aber wir sind darauf abgerichtet und begnügen uns damit, an der Oberfläche des Gedächtnisses zu bleiben. Doch hier, an der Oberfläche, bleiben wir Gefangene der Zeit.

Der ältere Eliot ringt um eine objektive Haltung, während er den tränenreichen Anschuldigungen der jungen Frau lauscht. Er weiß sehr wohl, wie sie sich auf den jungen Eliot auswirken werden und was das für seine gesamte Zukunft bedeutet. Es ist aber kein Wissen, das irgendwie ins Gewicht fiele.

Er hatte geglaubt, er erinnere sich gut an gerade diese Szene. Jetzt sieht er, daß er sich beileibe nicht gut erinnert. Das also hat sie in Wirklichkeit gesagt! So also hat sie sich tatsächlich verhalten! Kein Wunder, daß er so hilflos war!

Dann nimmt sie sich plötzlich eine Zigarette. Der junge Eliot kramt in seinen Taschen nach Streichhölzern. Der ältere zögert keinen Augenblick und streckt die Hand mit seinem Feuerzeug aus. Die junge Frau blickt ihn aus dunklen Augen an, während sie ihre Zigarette in die Flamme hält und den ersten Zug macht. Etwas strömt machtvoll zwischen ihnen. Seine Hand streift ihre, als er sie wieder zurückzieht.

Zeit und Leidenschaft

Das Herz des Älteren schlägt heftig, und er kehrt abrupt an seinen Tisch zurück, denn ein wehes Gefühl von Kummer und Leidenschaft will Besitz von ihm ergreifen. Gefühle, die zu unserem Wesen gehören, ändern sich nicht. Sie werden überlagert, aber großes Fühlen geschieht nicht in der Zeit. Es ist immer jetzt, es weiß nichts von Zukunft und Vergangenheit.

Womit also nehmen wir das Verstreichen der Zeit wahr? Ist Zeit nur eine Konstruktion des Denkens – des vom Fühlen abgekoppelten Denkens? Aber nichts scheint doch realer und beständiger zu sein als die Zeit und ihr Verstreichen. Nichts wirkt beengender als die Zeit. Und nichts scheint stärker als unser Impuls zu leben, länger zu leben, ewig zu leben und nicht in der Endlosigkeit der Zeit zu verschwinden. Haben wir so wenig Zeit, weil wir uns so wenig echte Leidenschaft zugestehen?

Die junge Frau läuft aus dem Restaurant, und der junge Eliot bleibt ratlos und verzweifelt am Tisch sitzen. Doch als der Ältere zögernd zu ihm hinübergehen will, wirft er plötzlich Geld auf den Tisch und stürzt hinter der Frau her aus dem Lokal. Der Ältere bleibt an seinem Tisch sitzen und versucht ganz ruhig sein Wasser zu trinken und sich vor Augen zu halten, weshalb er durch die Zeit zurückkam: um zu studieren, um zu verstehen.

Alles hat seine Zeit

Schon vor langer Zeit wurde gesagt, daß es Zeit als solche gar nicht gibt. Was wir Zeit nennen, ist eine Abstraktion; für Philosophen etwas zum Analysieren, für Wissenschaftler etwas, das sie in ihren Gleichungen verwenden können. Zeit als solche ist nicht zu sehen und nicht zu spüren. Sie geht aber in alles ein, wie der Prediger Salomo sagt. Alles, jedes Ding, hat seine ganz eigene Zeit. Und wir werden das Problem der Zeit niemals lösen, wenn wir diese uralte Wahrheit nicht verstehen. Wir werden am »Management« unserer Zeit scheitern, wir werden unsere Vergangenheit nicht verstehen, und wir werden unsere Zukunft nicht in die Wege leiten können, ohne die einmalige Tönung der Zeit in jedem realen menschlichen oder kosmischen Ereignis verstanden zu haben – und damit sind Ereignisse gemeint, die Breite, Länge, Liebe und Haß, Licht und Raserei, Energie, Bedeutung, Kampf und das Schweigen des universalen Gesetzes in sich tragen. Dieses Universum, diese Galaxis, diese Erde, dieser Körper, den wir unser eigen nennen, sie alle leben und atmen und fühlen und haben Geist – und sind daher mit Zeit getränkt. Nicht nur wir lieben und hassen, säen und ernten. Alle Dinge tun es, jedes auf seine Weise. Was der Prediger über das Menschenleben sagt, gilt eigentlich für alles, was unter Gottes Hand, das heißt »unter der Sonne« existiert.

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.

Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,

würgen und heilen, brechen und bauen,

weinen und lachen, klagen und tanzen,

Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen,

suchen und verlieren, behalten und wegwerfen,

zerreißen und zunähen, schweigen und reden,

lieben und hassen, Streit und Friede hat seine

Zeit.[2]

Die Lüge der Erinnerung

Szenenwechsel zum Nachmittag des gleichen Tages.

Der ältere Eliot steuert einen Wagen durch die Stadt. Er weiß – er erinnert sich –, wo der jüngere Eliot zu finden ist.

Der junge Eliot ist nach Hause unterwegs und geht, ohne viel auf seine Umgebung zu achten, in der drückenden Augusthitze eine breite Allee entlang. Der ältere Eliot verlangsamt die Fahrt, als er sich seinem niedergeschlagen dahertrottenden jüngeren Ich nähert. Für einen Augenblick denkt er an das, was er zurückließ, als er den Weg zurück in die Zeit antrat. Dort war er auf Schritt und Tritt mit den Lügen zusammengestoßen, aus denen sein Leben bestand. Der zwischen ihm und seiner Frau stets gewahrte Anschein von »ein Herz und eine Seele« konnte das tatsächliche Fehlen einer echten Verbindung zwischen ihnen nicht mehr überdecken. Das junge Herz in seiner Brust hatte sich schon lange daran gewöhnen müssen, von Bildern und Resignation zu leben. Und was die Kinder betraf, so war seine natürliche Liebe zu ihnen immer wieder gehemmt worden durch Vorstellungen, wie ein Vater zu sein habe und wie Kinder gegenüber ihrem Vater zu sein haben: Lügen, die sich abwechselnd als Schuldgefühle und Groll zeigten. Sein Beruf? Wie lange mochte es her sein, daß er einen seiner psychiatrischen Patienten wirklich gehört oder gesehen hatte? Lügen in der Gestalt von Techniken, die als Aufmerksamkeit daherkommen. Was war aus dem Verlangen nach Wahrheit geworden, das ihn zu dieser Arbeit hingezogen hatte, wo war die Liebe zum Wirklichen, die in den Gesetzen des Geistes die Gesetze Gottes sah? Lebte dieser junge Arzt wohl noch – irgendwo in ihm, irgendwo in der Zeit?

Mit plötzlicher Klarheit, fast erschrocken, sieht er die selbstmitleidvoll hängenden Schultern des jüngeren Eliot, und der Anblick geht ihm durch Herz und Seele und macht ihm das Wesen dieses für ihn so typischen Empfindens bewußt. Dieser kurze Augenblick genügt dem geschulten Psychiater, um zu erkennen, daß weder seine eigenen Erinnerungen noch die seiner Patienten so echt und so tief sind, wie sie sein müßten. Mein Gott, denkt er, als er den Wagen neben dem Jungen zu langsamer Fahrt abbremst, ich habe mich nie wirklich erinnert; niemand hat es je getan. Was für ein Selbstbetrug. All das Erinnern ist nichts weiter, als die Arbeit eines kleinen Teils unseres Geistes, der zufällige Gedanken und Gefühle mit verstreuten, beliebigen Brocken aus der Vergangenheit vermengt. Wir haben uns niemals tief genug erinnert. Wir sind nie wirklich zurückgegangen in der Zeit. Wir haben die Wurzeln unserer selbst nie mit ganzem Geist wahrgenommen.

Schicksal und die wirkliche Zukunft

Jetzt hat der junge Mann den dunkelgrünen Wagen bemerkt, der langsam neben ihm herfährt. Die Beifahrertür wird geöffnet.

»Kann ich Sie mitnehmen?« fragt der Fahrer.

Eliot war noch nie per Anhalter unterwegs gewesen und hatte sich noch nie von Unbekannten mitnehmen lassen. Aber jetzt steigt er ohne das geringste Zögern ein und zieht die Tür zu. Einen Augenblick lang will es ihm selbst merkwürdig erscheinen. Vielleicht, denkt er, war ich so mit meinem Kummer beschäftigt, daß für Befürchtungen oder ganz normale Vorsicht kein Platz war. Vielleicht war es auch etwas anderes.

Der Wagen fährt an. »Wohin möchten Sie?«, fragt der Fremde.

Wie wird sich die Szene nun entwickeln? Wie läßt sich verstehen, was beim ersten Kontakt mit unserem Schicksal in uns geschieht? Schicksal – das Wort hat seine Bedeutung für uns verloren, ist zum Klischee geworden, gehört in den Bereich »Aberglaube«. Aber angenommen, es gibt wirklich so etwas wie Schicksal, Fatum, Fügung. Angenommen, es gibt unter unserem täglichen Kampf mit der Zeit, unserem angstvollen Bemühen, unser Leben zu steuern, eine tiefe Strömung, die etwas Essentielles in uns einer vorherbestimmten Zukunft zuträgt. Und was könnte das in uns sein, das da unter der Oberfläche der uns bekannten Zeit lebt oder zu leben versucht, leben möchte; das ans Tageslicht unseres Bewußtseins durchbrechen möchte, um dort – vielleicht – mit uns zu wachsen? Was geschieht in uns, wenn wir zum erstenmal fühlen, daß etwas Tieferes in uns selbst uns ruft, uns begegnen möchte, und nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von der Zukunft her – einer Zukunft, die wir uns in unseren vollgestopften und verwickelten Minuten, Stunden und Tagen nicht einmal vorstellen können, die aber eigentlich das ist, was uns bitter mangelt, wenn wir in Zeitnot sind.

Auf die Frage, wohin er möchte, würde der junge Eliot am liebsten »Ganz egal« antworten. Aber er sagt: »Heim.«

Er versinkt wieder in seinen Gefühlen über Elaine, und es wird ihm nicht einmal ganz bewußt, daß der Fremde offenbar den Weg kennt. Weshalb wollte sie ihn wegschieben, und weshalb machte dieses Wegschieben, daß er nur noch mehr an ihr hing, noch mehr als sonst zu törichten Versprechen bereit war, die sein Leben zerstören würden?

Der Wagen brummt den grünen East River Parkway entlang in Richtung North Philadelphia. Durch die offenen Fenster weht feuchtwarme Luft mit den Düften des späten August herein.

Er wird durch die Stimme des Fremden aus seinen Gedanken gerissen: »Die Schule fängt bald wieder an, nicht wahr?«

Eliot wendet den Kopf und blickt ihn an: untersetzt, breitschultrig; kleine, sehnige Hände am Lenkrad. Sein Haar, das er eher lang trägt, und der Bart sind von verschossenem Braun, mit vielen grauen Strähnen durchsetzt. Der junge Eliot schätzt ihn zutreffend auf um die Fünfzig.

Etwas Warmes und Beruhigendes breitet sich in ihm aus, und er antwortet dem Fremden sogar auf dessen beiläufige Fragen über die Schule. Aber seine Aufmerksamkeit ist von Gedanken an Elaine gefangen. Natürlich weiß er nicht, daß seine Zukunft da neben ihm sitzt und seine augenblickliche Gelöstheit zum Teil durch die unterschwellige Ahnung bedingt ist, daß nichts von dem, was er befürchtet, sich einstellen wird. Er ist sich nicht bewußt, daß seine bangen Gefühle gegenüber seiner eigenen Zukunft vollständig auf Einbildung beruhen – oder vielmehr aus einem Teil Wahrheit auf hundert Teile Einbildung. Wissen kann er das nicht, aber immerhin nimmt er verwundert wahr, wie leicht er für einen Augenblick von seiner Pein befreit werden kann. Und natürlich wendet er seine Aufmerksamkeit gleich wieder Elaine zu; in gewissem Sinne läßt er selbst zu, daß seine Aufmerksamkeit abermals von Befürchtungen und Vorstellungen vereinnahmt wird.

An dieser Stelle möchte ich die Geschichte zum ersten Mal unsere allgemeine Zeit-Pathologie erkunden lassen – und das beträfe hier zunächst unser gebrochenes Verhältnis zur Zukunft. Unter der Oberfläche unserer ewig sorgenvollen Gedanken, unseres verbissenen Bestrebens, die Zukunft in Gedanken vorherzusehen und zu manipulieren, und all der unnötigen Aktionen, die zu Recht Zeitverschwendung