Das kleine Bücherdorf: Frühlingsfunkeln - Katharina Herzog - E-Book
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Das kleine Bücherdorf: Frühlingsfunkeln E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

Es wird Frühling im kleinen Bücherdorf: Frühlingsgefühle, alte Geheimnisse und neues Glück in Swinton-on-Sea – dem Ort, wo die Bücherliebe wohnt. Zweiter Band der Bücherdorf-Serie von Bestsellerautorin Katharina Herzog.  Niemand würde vermuten, dass die toughe Shona nicht nur ein Café in Swinton führt und fantasievolle Cupcakes backt, sondern auch einen Blog betreibt, in dem sie nie abgeschickte Briefe veröffentlicht. Einer dieser Briefe ist von ihr selbst. Sie hat ihn an Alfie, ihren verstorbenen Freund, geschrieben, an dessen Tod sie sich schuldig fühlt. Womit sie allerdings nicht gerechnet hätte: Eines Tages bekommt sie eine Antwort darauf, und der unbekannte Schreiber scheint sie besser zu kennen, als ihr lieb ist. Nathan Wood, Bestsellerautor und das Enfant terrible von Swinton, hat den Ort vor Jahren verlassen, nach dem Tod seines besten Freundes Alfie. Shona, Nathan und Alfie waren von Kindheit an unzertrennlich, doch irgendwann wurden die Dinge kompliziert – und schmerzhaft. Als Nathan nach einigen wilden Jahren in Edinburgh nun unerwartet nach Swinton zurückkehrt, möchte er Shona endlich seine Gefühle gestehen. Doch dafür müsste er enthüllen, was er damals getan hat …  Leseglück und Frühlingszauber: Die bezaubernden Bücherdorf-Romane von Bestsellerautorin Katharina Herzog erzählen von romantischen Verwicklungen und sind eine Liebeserklärung an das Lesen.

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Seitenzahl: 389

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Katharina Herzog

Das kleine Bücherdorf: Frühlingsfunkeln

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Was du nicht aufgibst, hast du nie verloren.

 

Niemand würde vermuten, dass die toughe Shona nicht nur ein Café in Swinton führt und fantasievolle Cupcakes backt, sondern auch einen Blog betreibt, in dem sie nie abgeschickte Briefe veröffentlicht. Einer dieser Briefe ist von ihr selbst. Sie hat ihn an Alfie, ihren verstorbenen Freund, geschrieben, an dessen Tod sie sich schuldig fühlt. Womit sie allerdings nicht gerechnet hätte: Eines Tages bekommt sie eine Antwort darauf – und der Verfasser scheint sie besser zu kennen, als ihr lieb ist …

Nathan Wood, Bestsellerautor und das Enfant terrible von Swinton, hat den Ort vor Jahren verlassen, nach dem Tod seines besten Freundes Alfie. Shona, Nathan und Alfie waren von Kindheit an unzertrennlich, doch irgendwann wurden die Dinge kompliziert – und schmerzhaft. Als Nathan nach einigen wilden Jahren in Edinburgh nun unerwartet nach Swinton zurückkehrt, möchte er Shona endlich seine Gefühle gestehen. Doch dafür müsste er enthüllen, was er damals getan hat …

Vita

Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie. Sie liebt es, ihre Leser:innen an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist oder Kent zu entführen und diese Schauplätze auch selbst zu bereisen. Mit ihren Romanen schrieb sie sich nicht nur in die Herzen ihrer Leser:innen, sondern eroberte auch die Bestsellerlisten. «Frühlingsfunkeln» ist nach «Winterglitzern» der zweite Band einer Serie rund um das kleine Bücherdorf Swinton-on-Sea, die bezaubernde Liebesgeschichten mit einem einzigartigen Schauplatz verbindet. 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Anne Fröhlich

Zitat aus dem Songtext von Wie schön du bist © Sony/atv Music Publishing Allegro (germany) I, Miss Cee Publishing Gmbh

Songwriter: Peter Plate / Daniel Faust / Sarah Connor / Ulf Sommer

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Sabina Wieners

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01374-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Ich seh dich.

Mit all deinen Farben

Und deinen Narben

Hinter den Mauern (…)

Weißt du denn gar nicht,

Wie schön du bist?

 

Wie schön du bist aus Sarah Connor: Muttersprache

PrologShona

Die Luft roch nach Frühling und Abenteuer. Leise öffnete Shona das Fenster und kletterte hinaus. Kein Geräusch war zu hören. Die Äste der alten Eiche erstreckten sich bis zu ihrem Zimmer. Shona kletterte auf den größten und stabilsten davon.

Im Spätsommer hatte Dad den Baum zurückschneiden wollen. Doch dann war zum Glück schneller als gedacht ein kalter, nasser Herbst gekommen, und er hatte das Vorhaben verworfen.

Shona lauschte noch einmal in das Haus hinein, und als sie sich sicher sein konnte, dass die Luft rein war, hangelte sie sich die Äste hinunter. Wenn ihr Vater wüsste, wie oft sie das tat, dann wäre der Baum schneller gefällt, als sie bis drei zählen könnte, dachte sie. Und dann hätte sie bis in alle Ewigkeiten Hausarrest.

Geduckt schlich Shona durch den Vorgarten. Ihr Fahrrad lehnte am Zaun. Die Kette müsste dringend mal wieder geölt werden, aber zum Glück hatte Dad einen tiefen Schlaf und hörte das Quietschen nicht. Und Graham war die Woche über im Internat.

Shona trat kräftig in die Pedale. Für Ende März war es ein ungewöhnlich warmer Tag gewesen, das Thermometer hatte über zwanzig Grad angezeigt, aber jetzt, nach Mitternacht, drang die Nachtluft kühl durch ihr Shirt und ihre dünne Hose.

Bevor sie den Weg in die Hügel antreten konnte, musste sie aber noch in die Main Road. Dort, in einem schmalen pistazienfarbenen Häuschen, wohnte ihr Freund Nate, und Shona fuhr durch einen Torbogen in den Hinterhof. Das Haus lag im Dunkeln, aber in Nates Zimmer brannte noch Licht. Bestimmt lag er auf seinem Bett und las. Oder er schrieb an seinem Buch. Nate wollte nämlich Schriftsteller werden. Shona konnte diese Liebe zum Schreiben nicht nachvollziehen, für sie waren schon Aufsätze eine Qual, und sie erlebte Abenteuer lieber selbst, als darüber zu lesen. So wie heute Nacht!

Shona klopfte gegen Nates Fensterscheibe, klingeln konnte sie um diese Zeit schließlich nicht mehr. Aber drinnen regte sich nichts. Shona versuchte es ein zweites Mal.

Endlich! Nate schob die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. Seine sonst so ordentlich gescheitelten Haare waren ganz zerzaust.

«Was machst du denn so spät noch hier?», fragte er. Wenn Nate erst einmal seine Zahnspange los war und seiner Mum verbot, ihm weiterhin seinen braven Streberhaarschnitt zu verpassen, würde er gar nicht so schlecht aussehen. Kein Vergleich zu Alfie natürlich, aber okay!

«Hast du Alfies Nachricht denn nicht gelesen?» Treffpunkt, 23:30 Uhr bei mir, hatte ihr Freund heute Nachmittag geschrieben.

«Doch … aber Mum und Dad … Sie sitzen immer noch im Wohnzimmer und schauen fern. Wenn sie in mein Zimmer kommen und ich nicht da bin, werden sie total ausflippen.»

«Dann dürfen sie es eben nicht merken. Leg ein paar Kissen unter deine Bettdecke! Dann werden sie denken, dass du schläfst. Ich habe das auch gemacht.»

«Ich weiß nicht …»

«Nathan Wood», sagte Shona streng. «Du wirst doch eine Dame nicht um diese Zeit allein in die Hügel fahren lassen.»

Sie sah, wie Nate mit sich rang. «Gut», stieß er hervor. «Ich mach’s.»

Ein paar Minuten später holten sie sein Fahrrad aus dem Schuppen, und schon bald hatten sie Swinton hinter sich gelassen und waren auf dem Weg in die Hügel.

«Weißt du, wieso Alfie will, dass wir zu ihm fahren?», keuchte Nate. Sein Rad hatte nur drei Gänge, außerdem war er nicht der Sportlichste.

«Nein.» Wahrscheinlich war es nur mal wieder eine von Alfies spinnerten Ideen. Komisch fand Shona nur, dass er heute auch nicht in der Schule gewesen war. Sylvie ließ ihn normalerweise nicht blaumachen.

Sylvie war Alfies Oma. Vor ein paar Jahren hatte Alfie eigentlich nur die Sommerferien bei ihr verbringen sollen, aber irgendwie hatte seine Mum, die in London als Schauspielerin arbeitete, vergessen, ihn wieder abzuholen. Und so war Alfie nach den Ferien in Nates und Shonas Klasse gekommen. Eigentlich wäre er schon eine Klasse höher gewesen, aber in London hatte er nicht besonders oft den Unterricht besucht. Das wusste Shona von ihrem Dad, der es wiederum von Sylvie erfahren hatte. Alfie selbst sprach nicht gerne über seine Zeit in London. Und noch weniger gern redete er über seine Mutter. Er besuchte sie nie und sie ihn auch nicht.

«Wenn sie tot wäre, würde das keinen Unterschied für mich machen», hatte er einmal gesagt. Das war an seinem zwölften Geburtstag gewesen, als sie eine Floßfahrt auf dem River Bladnoch unternommen hatten. Nicht nur Nate hatte bei diesen Worten sichtlich geschluckt, sondern auch Shona. Sie wusste schließlich nur allzu gut, dass es sehr wohl einen Unterschied machte. Denn Alfie konnte seine Mum jederzeit besuchen, wenn er seine Meinung änderte. Er müsste sich dazu nur in den Zug setzen.

Shona konnte das nicht. Ihre Mum war nämlich gestorben, als sie gerade einmal sechs Jahre alt gewesen war.

Nate war wirklich zu beneiden! Molly war zwar unglaublich streng, aber immerhin war sie noch da. Zwar musste Nate jeden Abend sein Zimmer aufräumen und vor jeder Mahlzeit beten, aber dafür brachte seine Mutter ihm von ihrer Arbeit in Bob’s Bakery immer jede Menge Leckereien mit. Außerdem backte sie die besten Kuchen und Torten, und manchmal durfte Shona ihr dabei helfen.

 

Alfies Gartenhütte lag versteckt hinter zwei großen Kirschbäumen, die jetzt – Ende März – bereits erste Knospen trugen und sich schon bald in ihrer vollen Pracht präsentieren würden. Shona liebte die Zeit der Kirschblüte, auch wenn es sie immer ein bisschen traurig machte, dass sie nur so kurz war. Schon nach wenigen Tagen wehte der Wind die filigranen, rosafarbenen Blütenblätter davon und erinnerte daran, dass alles vergänglich und nichts Schönes von Dauer war.

Alfie saß vor der Hütte auf der grünen Bank und schaute über die dunklen Umrisse der Hügelkuppen aufs Meer hinaus. Schwarz und funkelnd lag es hinter den Marschwiesen im Mondlicht. Shona sah, dass er auf einem Grashalm kaute. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde der Grashalm in seinem Mund durch eine Zigarette ersetzt werden, dachte sie. Wahrscheinlich wäre das schon längst geschehen, gäbe es in Swinton einen Automaten. Doch Zigaretten gab es nur im Laden von Jack Pebbles, und der verkaufte sie nicht an Minderjährige. Den immer schlecht gelaunten Jack Pebbles zu beklauen, würde nicht einmal der mutige Alfie wagen.

«Da seid ihr ja endlich!», sagte er, als sie näher kamen, und spuckte den Grashalm aus.

«Wieso warst du heute nicht in der Schule?», fragte Shona.

«Und wieso sollten wir zu dir kommen?», fügte Nate schwer atmend hinzu. Es täte ihm wirklich gut, etwas weniger von Mollys Gebäck zu essen, dachte Shona.

«Ich muss euch was erzählen.» Alfie rutschte ein Stück zur Seite, damit Nate und Shona sich neben ihn setzen konnten. Dann schob er die Hände in die Taschen seiner überweiten Baggyhose und streckte seine langen Beine aus. «Meine Mum war heute da.» Sein Gesichtsausdruck wirkte steinern.

«Deine Mum!» Nate blieb der Mund offen stehen. Auch Shona konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Alfies Mum war immer so etwas wie ein Gespenst gewesen. Dass sie jetzt auf einmal leibhaftig hier aufgetaucht sein sollte, war irgendwie gruselig. Und noch gruseliger war das, was Alfie jetzt mit tonloser Stimme hinzufügte: «Sie wollte, dass ich wieder zu ihr nach London ziehe.»

«Nein!»

Shona war sich nicht sicher, ob sie dieses Wort wirklich ausgestoßen hatte oder ob sie es nur laut gedacht hatte. Alfie sollte nach London ziehen! London, das so weit weg war! Sie würde ihn nie wiedersehen – oder zumindest nur noch selten. Dann würde sie nur noch Nate haben. Nate, der lieber in Büchern über Abenteuer las, als sie selbst zu erleben, und der nachmittags manchmal nicht zum Spielen rauskam, weil er für die Schule lernte. Freiwillig …

Seit Alfie in Swinton-on-Sea war, war ihr Leben so viel aufregender geworden. Er durfte nicht wieder fortgehen!

Alfie erzählte, seine Mum sei eine ganze Zeit lang in einer Klinik gewesen. Weil sie immer so traurig war. Dass sie jetzt aber wieder gesund sei. Dass sie wieder einen Job hatte, nicht als Schauspielerin, sondern in dem Blumenladen einer Freundin. Und sie hatte einen neuen Freund, einen Banker, und dessen Haus sei groß genug, dass Alfie wieder bei ihr wohnen konnte.

«Aber da mache ich nicht mit, sie kann mich schließlich nicht zwingen», sagte Alfie, und erst jetzt merkte Shona, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Sie atmete auf, doch ihre Erleichterung währte nur kurz, denn Nate sagte: «Aber sie ist deine Mum. Sie könnte es schon, wenn sie es unbedingt wollte, oder?» Er sah Alfie abwartend an.

«Nein, so eine Mutter ist Claudia nicht. Sie war ja die ganze Zeit froh, wenn sie mich möglichst wenig zu Gesicht bekommen hat.» Alfie zog eine Grimasse. «Ich glaube sowieso, dass die ganze Sache mehr von ihrem neuen Typen ausgeht als von ihr. Der will unbedingt einen auf glückliche Familie machen. Aber das kann er knicken. Bevor ich bei ihm wohne, haue ich lieber ab!»

«Wenn es wirklich so weit kommen sollte, dann haue ich mit dir ab!», sagte Nate, und Shonas Augenbrauen schossen nach oben. Was war denn in ihn gefahren? Wahrscheinlich hatte er Molly noch nicht gebeichtet, dass er seine letzte Mathematikarbeit verhauen hatte. Was auch immer der Grund für Nates ungewohnte Waghalsigkeit war – jetzt schaute er durch seine dicken Brillengläser zu ihr auf. Zwar war er in den vergangenen Wochen ganz schön gewachsen, aber ein kleines Stück überragte sie ihn immer noch. Du bist dran!, sagte sein eindringlicher Blick.

«Ich natürlich auch», murmelte Shona, schaffte es aber nicht, Nates Blick standzuhalten, und Alfie konnte sie schon gar nicht anschauen. Klar, sie wollte nicht, dass Alfie wegzog! Allein der Gedanke, dass er Swinton wieder verließ, sorgte dafür, dass ihr Herz sich wie ein kalter, schwerer Klumpen in ihrer Brust anfühlte. Alfie war ihr allerbester Freund, sogar noch ein kleines bisschen mehr als Nate, aber mit ihm weggehen, wenn es wirklich so weit kommen sollte … Eigentlich wohnte sie gern hier! Dad nervte zwar manchmal, doch ohne sie hätte er ja gar niemanden mehr, der sich um ihn kümmern konnte!

Alfie schien ihre Zurückhaltung zum Glück nicht aufzufallen. «Das würdet ihr echt machen?», sagte er und wirkte ganz gerührt.

«Klar!» Nate nickte eifrig. «Wir sind doch Freunde! Und Freude sind immer füreinander da. Das müssen wir uns schwören. – Los, steht auf!» Er stieß Shona den Ellbogen in die Rippen, sprang auf und hob die Hand. «Hiermit schwöre ich, Nathan Wood, immer für euch da zu sein. Egal, was passiert», sagte er feierlich.

Alfie hatte inzwischen ebenfalls die rechte Hand zum Schwur erhoben. «Hiermit schwöre ich, Alfie Byrnes, immer für euch da zu sein. Egal, was passiert», wiederholte er Nates Worte. Es musste ihm wirklich elend gehen, denn in der Regel war er es, der bei ihnen den Ton angab.

Shona atmete einmal tief durch, und dann schwor auch sie.

«Und jetzt alle zusammen!», kommandierte Nate. Sie alle fassten sich bei den Händen.

«Hiermit schwören wir, immer füreinander da zu sein. Egal, was passiert.» Ihre Worte hallten in der stillen Nacht wider. Über ihnen funkelten die Sterne, der Wind ging sacht durch die Kirschbäume, und obwohl er hier oben auf den Hügeln immer ein bisschen kälter war als unten im Dorf, wurde es Shona auf einmal ganz warm.

Zwar hoffte sie immer noch, dass sie nicht dazu gezwungen sein würde, mit den beiden abzuhauen und Dad allein zu lassen, aber mit zwei Freunden, die schworen, immer für sie da zu sein, ganz egal, was passierte, konnte einem im Leben ja wirklich nichts Schlimmes passieren, oder?

18 Jahre später

Kapitel 1Shona

«Hallihallo!» Liams Glatzkopf erschien im Türspalt, und erschrocken schlug Shona den Laptop zu. Was machte der denn um diese Uhrzeit schon hier?

«Habe ich dich bei etwas ertappt?», fragte er amüsiert.

Shona verdrehte die Augen. «Ja, bei der Steuererklärung», log sie.

«Erinnere mich nicht daran!» Liam verzog das Gesicht. «Ich musste meinem Steuerberater hoch und heilig versprechen, ihm dieses Mal nicht erst kurz vor Weihnachten die Unterlagen zu schicken.»

«Wie kommt es, dass du mir jetzt schon die Ehre erweist? Es ist gar nicht deine Zeit!» Normalerweise tauchte Liam immer erst am frühen Nachmittag bei ihr im Café auf, um einen Espresso zu trinken und einen Cupcake zu essen.

«Im Craft ist gerade nichts los, und ich wollte dir das hier vorbeibringen.» Er zog einen Flyer aus der Tasche seiner blütenweißen Kochschürze und legte ihn auf ihren Laptop. «Davon hat heute früh jemand einen ganzen Stapel im Restaurant abgegeben, und ich dachte, es könnte dich interessieren.»

Shona warf einen Blick in den Prospekt. Werbung für eine Tortenmesse. Sie trug den wahnsinnig kreativen Namen Bake a Cake und fand am ersten Aprilwochenende in Edinburgh statt.

«Ich glaube nicht, dass ich Zeit habe, dorthin zu gehen.» Lust hätte sie schon … Es wäre schön, sich ein bisschen inspirieren zu lassen. Und mal aus Swinton rauszukommen. An ihren letzten Urlaub konnte sie sich schon gar nicht mehr erinnern. Aber seit Isla auf die Idee gekommen war, einen Instagram-Account für das Sweet Little Things einzurichten, hätte Shonas Tag doppelt so viele Stunden haben können! Nicht nur, dass sich das Café vor allem an den Wochenenden zu einem richtigen Besuchermagneten entwickelt hatte, auch ein Café in Newton Stewart war auf ihre Cupcakes und Cakepops aufmerksam geworden und wollte nun zweimal in der Woche von ihr beliefert werden. Außerdem ein Supermarkt, aber dem hatte sie schweren Herzens absagen müssen. Nein, sie hatte definitiv keine Zeit dafür, nach Edinburgh auf die Messe zu fahren! Energisch schob Shona den Prospekt weg.

«Schade!» Liams Stirn legte sich in kummervolle Dackelfalten. «Dann wirst du ja auch keine Zeit für den Backwettbewerb haben. Der Gewinner bekommt nicht nur 2500 Pfund, sondern auch einen Vertrag für ein Backbuch. Kennst du den Blueberry Verlag?»

Ja, den kannte sie. Der Verlag war nicht nur auf fantasievolle Torten, sondern auch auf aufwendig dekoriertes Kleingebäck spezialisiert, und sie hatte selbst zwei Bücher aus seinem Programm im Regal stehen.

Hm! Shona biss sich auf die Unterlippe. Auf einmal erschien ihr der Wettbewerb gar nicht mehr so uninteressant. Ein Backbuch herauszubringen, eins, auf dem ihr Name stand und das ihre Rezepte enthielt, davon träumte sie nämlich insgeheim schon, seit sie mit Molly das erste Mal einen Christmas Cake gebacken hatte. Sie hatten ihn mit weiß glitzerndem Fondant verziert, auf das sie Tannen aus grün eingefärbtem Marzipan gestellt hatten. Nate hatte dann die ganze Dekoration gegessen und sich danach übergeben. Wie viele Jahre war das schon her? Oh Gott, schon über zwanzig! Shona zog den Flyer wieder heran.

«Ich wusste, dass ich dich damit kriege.» Liam rieb sich vergnügt die Hände. «Und natürlich würde ich mich opfern und dich nach Edinburgh begleiten.» Er klappte den Flyer auf und tippte auf eine Stelle. «Hier steht alles!»

Wer dekoriert die schönste Torte? Ob Motivtorte, Zuckerfloristik oder geschnitzte Torte – wir suchen die talentierteste Tortenkünstlerin/den talentiertesten Tortenkünstler 2022! Mitmachen kann jeder, der unsere Lieblingskalorien kunstvoll verpacken kann und für den eine Torte mehr als nur ein Dessert ist. Das diesjährige Motto lautet «Wo die Liebe wohnt».

Shona schnaubte. Angesichts des verlockenden Preises hatte sie zwar gerade eine Nanosekunde lang darüber nachgedacht, sich der Herausforderung zu stellen und trotz ihres Zeitmangels an dem Wettbewerb teilzunehmen, aber angesichts dieses bescheuerten Mottos verwarf sie diesen Gedanken wieder. Wo die Liebe wohnt? Wo sollte sie denn schon wohnen? Wenn überhaupt irgendwo, dann in einem Fliegenpilz. Man vergiftete sich nämlich, wenn man davon naschte.

«Es geht wirklich nicht.» Shona stand auf. «Torten sind keine Törtchen, und ich weiß vor lauter Arbeit momentan gar nicht, wo mir der Kopf steht.» Durch die offene Bürotür zeigte sie in die Backstube, wo sich Hunderte von Cupcakes auf Blechen übereinanderstapelten. «Die müssen alle in den nächsten Stunden verziert werden. Halb Swinton hat für morgen Herztörtchen bei mir bestellt.»

«Du Arme! Soll ich dir helfen?»

«Nein, lass mal lieber!» Shona konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Liam war ein begnadeter Koch, und seine Desserts waren auch ganz passabel, aber dass er es mit seinen Pranken schaffte, das rosafarbene Frosting auf die Cupcakes zu spritzen und dann auch noch die winzigen burgunderroten Zuckerherzchen in die schaumige Masse zu drücken, das konnte sie sich wirklich nicht vorstellen. «Du hast für den Valentinstag morgen doch sicher auch noch einiges vorzubereiten!»

«Ja, aber um dich zu unterstützen, meine Schöne, würde ich meine eigene Arbeit hintanstellen!» Liam legte eine Hand auf sein Herz und sah sie treuherzig an.

Shona unterdrückte ein Lächeln. «Du bist ein furchtbarer Schleimscheißer! Und jetzt geh, mach deine Arbeit und lass mich meine machen!»

Sie brachte Liam noch nach draußen. An den Türrahmen gelehnt, sah sie ihm nach, wie er über die Straße ging und im Craft verschwand. In der Hand hielt sie immer noch den Flyer von der Tortenmesse. Wie nett von ihm, ihr den Prospekt vorbeizubringen, auch wenn es für sie nicht infrage kam, an dem Wettbewerb teilzunehmen. Shona wusste zwar, dass Liam nicht nur ihr seine Liebe beteuerte, sondern das bei jedem halbwegs ansehnlichen weiblichen Wesen unter dreißig tat, aber er war wirklich ein guter Freund. Und der einzige, der ihr geblieben war …

 

Im Café war inzwischen eine Menge los. Alle Tische waren besetzt, und dazwischen wuselte Isla mit einem Tablett herum. Für ihre Verhältnisse war sie heute richtiggehend konservativ gekleidet: enge schwarze Hose, hohe Stiefel, weiße Rüschenbluse und darüber eine gestreifte Weste.

«Kommst du zurecht?», fragte Shona.

«Na klar!», antwortete Isla in ihrer saloppen Art, die bei den Gästen so gut ankam.

Shona war froh, dass Isla ihren Job im Friseursalon Anfang des Jahres gekündigt hatte, um im Mai eine Stelle als Social-Media-Beraterin für eine Whiskey-Destillerie bei Edinburgh anzutreten. Denn die Zeit bis dahin überbrückte sie damit, im Sweet Little Things auszuhelfen. Shona musste unbedingt zusehen, dass sie bald einen Ersatz für Isla fand, denn ohne Aushilfe würde sie die Arbeit überhaupt nicht mehr bewältigen können. Jedenfalls nicht, wenn sie nachts mehr als vier Stunden schlafen wollte.

Es war schon verrückt, was aus dem ehemaligen Swinton-Café geworden war. Als Shona es vor vier Jahren von der Vorbesitzerin Olivia übernommen hatte, hatte das Café ausgesehen wie viele Cafés in Großbritannien: ein bisschen verstaubt, mit Vorhängen aus Brokat, Tapeten mit Goldornamenten und Ölbildern an den Wänden.

Shona hatte das Nostalgisch-Traditionelle am Swinton-Café immer sehr gemocht, aber besonders gut besucht war es trotz Olivias exzellenter Torten und Kuchen nie gewesen. Nur selten hatte sich jemand dorthin verirrt, der kein Einheimischer war. Und daran hatte sich auch erst einmal nichts geändert, nachdem Shona das Café übernommen hatte.

«Wundert dich das wirklich?», hatte Isla spöttisch gefragt, als Shona ihr damals ihr Herz ausgeschüttet hatte. «Es ist alles so dunkel und oll hier!» Mit angeekeltem Gesicht hatte sie eine der olivgrünen Troddeln zwischen Zeige- und Mittelfinger genommen, die an den Raffhaltern der Vorhänge hingen. «Das Café sieht aus, als ob schon William Wallace hier seinen Kuchen gegessen hätte.»

«Jetzt übertreib mal nicht!», protestierte Shona. Der schottische Freiheitskämpfer hatte im dreizehnten Jahrhundert gelebt.

Doch Isla ließ sich nicht beirren. «Und auch wenn ich weiß, dass du immer alles sauber hältst …», sie strich mit dem Zeigefinger über einen der goldverschnörkelten Bilderrahmen, «… wirkt es so, als wäre hier schon seit Monaten nicht mehr abgestaubt worden. Du brauchst dringend ein anderes Branding.»

Zu diesem Zeitpunkt hatte Shona zwar noch nicht gewusst, was ein Branding war, aber sie hatte trotzdem widerstrebend zugestimmt, dass Isla mal «ein bisschen was ausprobierte». Irgendetwas musste passieren, denn lange hätte sie das Café so nicht mehr halten können.

Aber dass dieses Ausprobieren aus dem altehrwürdigen Café einen weiß-rosa Prinzessinnentraum machte, in dem nur noch das Einhorn vor der Tür fehlte, damit hatte Shona nicht gerechnet. Und auch nicht damit, dass Islas Konzept tatsächlich funktionierte. Vor allem seit sie Shona dazu überredet hatte, nebenbei ein paar Dekoartikel anzubieten und statt auf Torten und Kuchen auf Cupcakes und Cakepops zu setzen. Torten und Kuchen sind nur was für alte Leute, hatte Isla gemeint. Shonas Einwand, dass es davon aber eine ganze Menge in Swinton gebe, hatte sie nicht gelten lassen. «Die können ja zu Sally gehen», hatte sie gesagt. Die Besitzerin des Old Bank Bookstore verköstigte ihre Kundschaft schon seit Längerem auch mit Tee, Kaffee und Kuchen.

 

Bevor Shona sich wieder an die Verzierung ihrer Herztörtchen machte, setzte sie sich noch einmal kurz an ihren Laptop. Kurz bevor Liam in ihr winziges Büro geplatzt war, war nämlich auf der E-Mail-Adresse ihres Blogs What I wanted to tell you ein neuer nicht abgeschickter Brief eingegangen. Und obwohl sie inzwischen mehrere solcher Briefe pro Woche bekam, konnte sie es jedes Mal kaum erwarten, sie zu lesen.

Gut, dass sie es vorhin noch schnell genug geschafft hatte, ihren Laptop zuzuklappen! Liam hatte nämlich trotz seiner Körperfülle die nervige Fähigkeit, sich lautlos wie eine Katze anzuschleichen. Nicht auszudenken, wenn er einen Blick auf ihren Blog erhascht hätte! Niemand sollte wissen, wer sich hinter What I wanted to tell you verbarg, deshalb betrieb sie den Blog unter einem Pseudonym. Miss Lettrix war eine Wortschöpfung aus Letter und Matrix – inspiriert von Shonas Lieblingsfilm.

Einen Moment ließ Shona die Hände auf dem Deckel des Laptops ruhen, bevor sie ihn aufklappte. Niemand sollte wissen, dass sie Miss Lettrix war, das würde zu viele Fragen aufwerfen. Und genauso wenig sollte jemand erfahren, dass der erste der nie abgeschickten Briefe auf diesem Blog von ihr selbst stammte.

Shona ging auf die Seite von What I wanted to tell you. Der neueste Brief kam von einer Emmy aus Nevada. Emmy hatte ihn ihrer Highschool-Liebe geschrieben, sich aber nicht getraut, den Brief abzuschicken. Nun wollte Emmy, dass Shona ihn auf ihrem Blog veröffentlichte. Warum, hatte Emmy ihr nicht verraten, aber Shona wusste, dass es guttat, lange zurückgehaltene Worte letztendlich doch noch freizulassen. Um anderen Menschen zu zeigen, dass sie nicht allein waren mit ihren Problemen, Träumen und Sehnsüchten. Um sie zu ermutigen, ihre Briefe trotz ihrer Ängste doch noch abzuschicken. Und weil man darauf hoffte, dass die Worte die Person, für die sie bestimmt waren, doch noch irgendwie erreichten: so unmöglich das in Shonas Fall auch war!

Lieber M.! In zwei Wochen schon sind wir mit der Schule fertig, und unsere Wege werden sich endgültig trennen,

begann Emmy, und Shona spürte, wie sich ein wehmütiges Lächeln auf ihre Lippen schlich. Das Mädchen wirkte noch so jung. Wenn sie den Brief eben erst geschrieben hatte, war sie gerade mit der Schule fertig geworden. Im selben Alter war Shona ungefähr gewesen, als sie mit Alfie zusammengekommen war. Sie las weiter:

Ein Paar sind wir schon länger nicht mehr, aber ich möchte dir trotzdem dafür danken, dass du die letzten vier Jahre fast jeden Tag in meinem Leben gewesen bist. Du warst der erste Junge, dem ich mein Herz geschenkt habe, und der erste, der es gebrochen hat. Und obwohl ich immer noch nicht alle Bruchstücke wiedergefunden habe, bedauere ich es keine Sekunde, deine Freundin gewesen zu sein. Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir im letzten Jahr Das Schicksal ist ein mieser Verräter zusammen geschaut haben? Du mochtest den Film nicht, aber für mich ist er einer der besten Filme überhaupt, und in einer meiner Lieblingsszenen sagt Angus zu Hazel Grace:

«Man kann sich nicht aussuchen, ob man verletzt wird, aber man kann mitbestimmen, von wem. Ich bin glücklich mit meiner Wahl.» Das bin ich auch!

Weiter kam Shona nicht. Hatte sie bereits bei den ersten Sätzen von Emmy gespürt, dass ihre Augen ein kleines bisschen feucht geworden waren, verschwammen die Worte auf dem Bildschirm nun endgültig. Zwar kannte Shona Das Schicksal ist ein mieser Verräter nicht, aber diese Worte der Filmfigur Angus an diese Hazel Grace … die waren schön. Genau wie Emmys Worte an den anonymen M.

Hätte sie sich damals auch bei Alfie bedankt, dass er der Erste gewesen war, der ihr das Herz gebrochen hatte? Und das immer und immer wieder? Sicher nicht! Aber sie würde auch keinen einzigen Tag mit ihm missen wollen.

Schluss! Für solche Sentimentalitäten hatte sie heute wirklich keine Zeit! Shona klappte energisch den Laptop zu. Erst wenn der letzte Cupcake perfekt verziert war, würde sie ihn wieder öffnen und Emmys Brief zu Ende lesen. Kopfschüttelnd stand sie auf. Was für ein Idiot dieser M. sein musste, ein Mädchen wie sie erst zu verletzen und es dann auch noch gehen zu lassen! Aber da war er leider keine Ausnahme. Die Briefe, die Shona bekam, deuteten traurigerweise nur selten auf ein Happy End hin.

Mit einem Seufzer ging Shona in die Backstube. Herzförmige Cupcakes, so weit das Auge reichte, warteten hier darauf, von ihr verziert zu werden. So viel Liebe! Sie wischte sich noch ein letztes Mal mit den Zeigefingern über die Augenwinkel, dann nahm sie Puderzucker, Puddingpulver und die inzwischen angewärmte Butter aus dem Regal und machte sich an die Arbeit.

Kapitel 2Shona

«Du gehst mit Bonnie Belle raus? Wann kommst du denn zurück?»

Oh nein! Shona schloss einen Moment die Augen. Paul hatte gehört, wie sie das Haus verlassen hatte. Dabei hatte sie sich doch so bemüht, leise zu sein! Schicksalsergeben hob sie den Kopf und schaute nach oben in den ersten Stock, wo ihr Vater aus dem Fenster schaute.

«Ich weiß es nicht. Brauchst du unbedingt eine genaue Uhrzeit?», fragte sie weitaus geduldiger, als sie sich fühlte.

«Nein, nein!» Er winkte ab. «Nur wegen dem Mittagessen. Bist du um eins wieder zurück?»

«Dad, es ist jetzt zehn Uhr. Was glaubst du denn, wie lange ich mit Bonnie Gassi gehe? Die will doch jetzt schon am liebsten wieder in ihren Korb.» Shona tätschelte der schokofarbenen Labradorhündin den Kopf. Bonnie war um die Nase schon ganz grau, und jeden Tag schienen neue graue Haare dazuzukommen.

«Du bist dann also wieder zurück?»

«Ja-a!» Ihr Dad brauchte unbedingt wieder eine sinnvolle Beschäftigung. Nachdem in Swinton vor zwei Jahren die Polizeidienststelle geschlossen worden war, hatte er beschlossen, die Rolle des Hilfssheriffs einzunehmen, und patrouillierte mehrmals am Tag durch das Dorf. Aber die Polizeidienststelle war nun mal nicht ohne Grund geschlossen worden. Abgesehen davon, dass die Spinner-Schwestern jeden Samstag um neun von ihrem Cottage in den Hügeln ins Dorf fuhren, um einzukaufen, und dabei hin und wieder ein Verkehrsschild umfuhren oder ein Auto schrammten (Sylvie hatte keinen Führerschein, und Evie sah kaum noch etwas), passierte in diesem Kaff ja nie etwas.

Außerdem spielte Dad Babysitter für seinen Enkel Finlay, wenn der nicht in der Schule war und ihr Bruder Graham arbeitete, und absolvierte einen Onlinekochkurs. Er ging regelmäßig mit Tyson in die Hundeschule und spielte jeden Mittwochabend im Craft Bridge. Aber trotz all dieser Tätigkeiten schien er noch genug Zeit zu haben, um jeden von Shonas Schritten genau zu beobachten. Sie musste unbedingt ausziehen! Das hätte sie schon vor Jahren tun sollen, aber da sie wusste, wie ungern ihr Vater allein wohnte, war sie bei ihm geblieben. Jetzt musste aber eine wohnliche Veränderung her! So konnte es nicht weitergehen!

«Hast du heute Abend eigentlich ein Date?», fragte ihr Vater.

«Ja, mit Netflix», antwortete Shona.

«Aber es ist Valentinstag! Selbst ich habe ein Date.»

Shona atmete tief ein und aus. «Du passt auf Finlay auf. Mit einem Achtjährigen ‹Mensch ärgere Dich nicht› zu spielen, würde ich nicht als Date bezeichnen.»

«Immerhin bin ich nicht allein, und du solltest es auch nicht sein! Willst du vielleicht mitspielen?»

Nein, so konnte es definitiv nicht mehr weitergehen! Und dieses Gespräch würde sie nicht fortsetzen.

«Ich bin zum Mittagessen wieder da», sagte sie. «Komm, Bonnie!» So schnell es die alte Hündin erlaubte, verließ Shona den Garten und machte sich auf den Weg in die Main Road.

Die Hauptstraße von Swinton-on-Sea mit ihren vielen kleinen Läden verlief gerade wie mit dem Lineal gezogen durch den Ort, sodass Shona von einem Ende zum anderen schauen konnte. Außer der Main Road mit ihren Geschäften gab es in Swinton einen Marktplatz vor dem großen Rathaus, eine Kirche mit angrenzendem Friedhof, eine Whiskey-Destillerie, die allerdings schon seit Jahrzehnten stillgelegt war, und etwas außerhalb einen Golfplatz. Man hätte meinen können, dass Shonas Heimatdorf ein ganz normales verschlafenes Küstendörfchen war, doch es gab etwas, das den Ort einzigartig machte. Denn Swinton war nicht einfach irgendein Dorf, sondern es trug den Titel Schottlands nationale Buchstadt. Und das ganz offiziell!

 

Alles hatte mit Edward Fox begonnen, einem verschrobenen Engländer, dem Großvater von Grahams verstorbener Frau Patricia. Als er vor ein paar Jahrzehnten nach Swinton gezogen war, um dort einen Laden für antiquarische Bücher zu eröffnen, die er in ganz Schottland zusammenkaufte, hielten ihn die meisten Einwohner für total verrückt. Doch da der alte Fox eine gute Nase für Raritäten hatte, was sich schnell herumsprach, konnte er schon bald einen zweiten Laden aufmachen. Weitere Buchhändler folgten seinem Beispiel und ließen sich in Swinton nieder, und als die britische Regierung 1998 einen Wettbewerb um den Titel nationale Bücherstadt ausschrieb, errang Swinton den Sieg. Davor hatte das Dorf viele Jahre schwere Zeiten durchgemacht. Durch seine Lage am Meer war es früher ein richtiges Handelszentrum gewesen, aber durch den Bau einer Zugstrecke und neue Straßen war der Hafen irgendwann überflüssig geworden. Ende der Achtziger hatten dann auch noch die Molkerei und die Destillerie schließen müssen, und auf einmal waren eine ganze Menge Leute ohne Job dagestanden.

Durch den Wettbewerbssieg erreichte Swinton einen neuen Aufschwung, denn der Fremdenverkehr brachte eine neue Einnahmequelle. Auf einmal war Swinton für Bücherliebhaber aus aller Welt interessant. Alle wollten Schottlands nationale Bücherstadt und ihre Buchhandlungen – inzwischen waren es elf – besuchen. Zur Zeit der von Rosie organisierten Literaturfestivals, die im Mai und im September stattfanden, platzte das Dorf fast aus allen Nähten, so viele Menschen fanden sich zu den Veranstaltungen ein.

 

In den Sommermonaten tummelten sich immer viele Touristen auf der Main Road und sogar in den kleinen Nebenstraßen, zu dieser Jahreszeit jedoch ging es in Swinton noch recht ruhig zu. Als Erstes schaute Shona im Café vorbei. Selbst wenn sie sich wie heute ausnahmsweise einmal freinahm, weil sie am Tag zuvor bis spät in die Nacht in der Backstube gestanden hatte, konnte sie nicht aus ihrer Haut.

Shona schaute durch das Fenster hinein. Im Sweet Little Things schien alles in Ordnung zu sein. Es waren nur ein paar Tische besetzt, und Isla stand hinter der Theke und arrangierte Cupcakes auf rosafarbenen Etageren mit rosafarbenen Herzen darauf. Diese kitschigen Dinger hatte Shonas Aushilfe erst im Januar bestellt. Genau wie Herzkonfetti für die Tische, Sitzkissen in Herzform, Herzgirlanden, Herzkerzen …

Rosie hatte nämlich im vorletzten Jahr beschlossen, dass die Geschäfte den Touristen auch in dieser mauen Übergangszeit zwischen Winter und Frühling einen Anreiz bieten müssten, nach Swinton zu kommen – und so hatte sie den Februar kurz entschlossen unter das Motto Monat der Liebe gestellt.

Tatsächlich konnte sich Shona momentan nicht über zu wenig Arbeit beklagen, Liam war dank seines fünfgängigen Menüs der Liebe an allen Wochenenden des Monats ausgebucht, und selbst Graham meinte, dass der Februar im Reading Fox in puncto Liebesromane sein umsatzstärkster Monat sei.

Außerdem kam es Shona so vor, als schlenderten zurzeit auffällig viele glückliche Pärchen Händchen haltend durch die Main Road. Die meisten kannte sie nicht. Das aber, das gerade turtelnd das Reading Fox verließ, schon!

Wie immer sahen Graham und Vicky aus, als wären sie Hauptdarsteller in einer Hollywood-Schmonzette. Vicky mit ihrer kühlen hellblonden Schönheit schaffte es, selbst Wollpullover, Jeans und derbe Boots irgendwie nach Haute Couture aussehen zu lassen. Graham machte sich überhaupt keine Gedanken um sein Aussehen. Mit seiner Brille und dem Dufflecoat, den er seit Jahren trug, sah er aus, als käme er direkt aus dem Hörsaal. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – ließ er alle Frauenherzen höherschlagen. Jetzt legte er den Arm um Vickys Schultern, und sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Vicky war Ende des letzten Jahres nach Swinton gekommen und hatte für ein paar Wochen als Aushilfsbuchhändlerin im Reading Fox gearbeitet. Dabei hatten Graham und sie sich so sehr ineinander verliebt, dass sie Anfang des Jahres bereits wiedergekommen und geblieben war. Seitdem hatte Shona die beiden kaum eine Minute ohneeinander gesehen.

Jetzt kamen Graham und Vicky in ihre Richtung! Shona trat schnell hinter den Postkartenständer, der vor Nancy Butchers Postbüro stand, und griff wahllos nach einer Karte. Zwar gönnte sie ihrem Bruder Graham sein Glück von ganzem Herzen, aber nach einer Nacht voller Herz-Cupcakes war diese Disney-Liebe heute ein bisschen zu viel für sie. Außerdem fühlte sie sich neben der zarten Vicky immer so plump und unförmig wie eine dieser russischen Holzpuppen!

Zu spät. Shona hatte es versäumt, auch Bonnie hinter den Postkartenständer zu ziehen. Nun kamen die beiden geradewegs auf sie zu.

 

«Hey!» Vicky strahlte über das ganze Gesicht, als sie Shona begrüßte.

«Sollte ich da etwas wissen?» Graham zeigte amüsiert auf die Postkarte in Shonas Hand.

Sie drehte die Karte um und starrte auf das Bild. Ein Bärenpärchen war darauf zu sehen. Ein großer Bär hielt den kleineren fürsorglich im Arm, und darunter stand: Du bist mein Verbündeter, mein bester Freund, mein engster Vertrauter und meine große Liebe.

Puh! Das war starker Tobak!

«Nein, äh …», stotterte Shona. Himmel, wie sollte sie diese Karte nur erklären? Sie konnte schlecht zugeben, dass sie sich hinter dem Kartenständer vor Vicky und Graham versteckt hatte, weil diese offensichtliche Verliebtheit ihr an Tagen wie heute einen Zuckerschock verursachte. «Die Karte ist für Finlay. Weil er doch Bären so gerne mag. Und ich dachte, wo doch heute Valentinstag ist, könnte doch ich als Tante …»

«Das ist ja wirklich eine süße Idee von dir.» Vickys Lächeln wurde doch tatsächlich noch eine Spur breiter, während Grahams gekräuselte Lippen verrieten, dass er Shona kein Wort glaubte.

Shona stöhnte leise auf. Jetzt musste sie diese Karte auch noch kaufen! Nancy würde sicher nachfragen, für wen sie war, und auch sie würde ihr die Geschichte mit dem geliebten Neffen bestimmt nicht abnehmen. Shonas Ruf als emanzipierte Frau wäre für immer dahin, wenn die Geschichte vom Kauf dieser Karte in Swinton die Runde machte. Und das würde sie, denn im ganzen Dorf – ach, in ganz Schottland! – gab es keine größere Klatschtante als Nancy.

«Was habt ihr zwei denn heute am Tag der Liebe noch so vor?», fragte Shona, um Zeit zu gewinnen.

«Ach, nichts Besonderes!», antwortete Vicky, obwohl ihre leuchtenden Augen etwas anderes sagten. «Wir gehen jetzt noch ein bisschen bummeln, danach muss Graham noch bis nachmittags arbeiten, und ich werde zusammen mit Gertie und Finlay Gerties Pferd Pepper besuchen. Und heute Abend fahren wir nach Castle Douglas und übernachten dort. Graham hat mir ein Dinner in einem französischen Restaurant geschenkt. Paul passt auf Finlay auf.»

«Von Dads Date habe ich schon gehört.» Bei dem Wort Date malte Shona mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft.

«Und was machst du?», fragte Vicky.

Shona fiel es schwer, nicht das Gesicht zu verziehen. «Ich mache mir einen gemütlichen Abend und schaue Netflix-Serien», antwortete sie und bemühte sich dabei um einen vergnügten Tonfall, bevor sie sich in Richtung Ladentür wandte. «Ich gehe dann mal die Karte bezahlen. Für Finlay.» Ohne sich noch einmal zu Vicky und Graham umzudrehen, marschierte sie mit Bonnie in Nancys Postbüro.

Nancy war nicht da, sondern ihre Nichte Lily, die manchmal bei ihr aushalf. Shona fiel ein Stein vom Herzen, und noch mehr freute sie sich, als das Mädchen keine Sekunde den Blick vom Handy löste, während es das Geld für die Postkarte entgegennahm.

Nach dem Stress der letzten Minuten überlegte Shona kurz, ob sie zu Liam ins Craft gehen und dort einen Whiskey trinken sollte. Aber angesichts der Uhrzeit würde der sie sicher komisch anschauen. Außerdem schallte Love von Frank Sinatra aus dem Pub, und so beschloss sie, dass ein Schokoriegel von Pebbles reichen musste. Schon allein, weil sich der alte Griesgram als Einziger aus der Main Road Rosies Liebes-Dogma widersetzt hatte und sein Schaufenster genauso dekoriert war wie immer. Nämlich gar nicht. Ja, ein Schokoriegel wäre jetzt genau das Richtige! Auch wenn sie dafür am Old Bank Bookstore vorbeimusste. Der Laden, in dem die Besitzerin Sally ihrer Kundschaft neben Büchern auch Kaffee und eine kleine Auswahl Kuchen anbot, lag gleich neben dem kleinen Einkaufsmarkt. Im rechten Schaufenster hatte Sally auf rosa Tüll ein paar Liebesromane drapiert. Das linke dagegen sah aus wie immer: Nur ein einziges Buch war darin ausgestellt – und das in dutzendfacher Ausführung. Über 91 Wochen hatte dieser Debütroman auf der Bestsellerliste gestanden, er war in über zwanzig Sprachen übersetzt worden, und im nächsten Jahr würde die Verfilmung davon in die Kinos kommen. Ein Plakat mit einem Porträt des Autors hing über den Büchern.

Kapitel 3Shona

Nate! Obwohl ihre Leben überhaupt keine Berührungspunkte mehr hatten, versetzte sein Anblick Shona jedes Mal aufs Neue einen schmerzhaften Stich. Genau wie die Artikel und Fotos, die Sally aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten und um das Plakat herum aufgehängt hatte. Sie zeigten, dass Nathan Wood ein gern gesehener Gast in Talkshows war – und auf Partys. Auf den meisten Bildern hielt er einen Drink oder eine Zigarette in der Hand und hatte ein bekanntes Model oder eine berühmte Schauspielerin an seiner Seite. Wo war nur der schüchterne, pummelige Nate von früher geblieben? Mit ihrem besten Freund aus Jugendtagen hatte der Mann auf dem Plakat nur noch die dunklen Haare gemeinsam. Und den leicht melancholischen Blick.

«Ende des Jahres erscheint sein zweites Buch.» Shona drehte sich um. Sie war so in Gedanken vertieft gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, dass Eliyah sich neben sie gestellt hatte. Er arbeitete im Buchladen ihres Bruders und sah mit seinen ausgebeulten Cordhosen, Pullunder im Collegestil und riesiger Brille aus wie der Prototyp eines nerdigen Bücherwurms. «Es gibt zwar noch kein Cover und keinen Titel, aber es ist bereits überall gelistet.»

«Ach! Dann ist es endlich so weit!» Shona war überrascht. Es war eine gefühlte Ewigkeit her, dass Nates Debütroman erschienen war.

Eliyah nickte. «Bei Amazon ist das Buch gleich in die Top Hundert eingestiegen. Ich habe es mir auch vorbestellt.»

«Nate hat seine Fans ja auch ganz schön lange darauf warten lassen.» Und seine Zeit lieber mit anderen Dingen als Schreiben verbracht, fügte sie im Stillen hinzu.

«Gut Ding will eben Weile haben», erklärte Eliyah salbungsvoll. Er hatte eine Schwäche für Zitate aus Buchklassikern und Aussprüche von bekannten Persönlichkeiten. «Mit wirklich großen Geschichten ist es eben wie mit großen Weinen: Sie müssen erst reifen.»

«Du immer mit deinen Spruchweisheiten.» Shona verdrehte die Augen.

«Hast du sein erstes Buch eigentlich gelesen?», erkundigte sich Eliyah.

«Ich habe angefangen. Aber ich bin einfach keine große Leserin.» Das stimmte zwar, war aber nur die halbe Wahrheit. Shona hatte sich das Buch gleich an dem Tag gekauft, an dem es erschienen war. Sie hatte sich erhofft, durch seine Geschichte etwas über Nate zu erfahren, Einblicke in seine Gefühlswelt zu erhalten. Schließlich steckte in jeder Geschichte auch immer etwas von ihrem Autor. Das hatte jedenfalls Graham behauptet, und als ehemaliger Lektor musste er es ja wissen.

Allein aus Neugier hätte Shona sich also normalerweise schon durch den Roman gekämpft. Aber die selbstmitleidige Geschichte von dem Loser Ernest, der sich nach der Trennung von seiner Freundin durch die Edinburgher Nachtwelt trank und hurte, hatte sie schon nach einem Drittel so genervt, dass sie das Buch zurück ins Regal gestellt und nie wieder hervorgeholt hatte. Nie hätte sie gedacht, dass Nate einen solchen Schwachsinn schreiben würde! Und noch viel weniger hätte sie gedacht, dass dieser Schwachsinn sich nicht nur gut verkaufen, sondern von den Kritikern auch noch hochgelobt werden würde. Als das faszinierendste Debüt der letzten Jahre hatten sie das Buch bezeichnet, Nates Schreibstil als unkonventionell und authentisch und ihn selbst als Sprachrohr einer neuen Generation.

Auch in Swinton hatte er viele Fans, wie man an Sally und Eliyah sehen konnte. Selbst Graham hatte das Buch als erfrischend und mal etwas anderes gelobt. Kritisch hatte sich eigentlich nur Dad geäußert. «Der Junge muss während des Schreibens betrunken gewesen sein. Oder Drogen genommen haben», hatte er gemutmaßt und damit etwas ausgesprochen, das Shona auch schon durch den Kopf gegangen war. Letztendlich war es wahrscheinlich auch genau so gewesen.

Shona musste an ihre letzte Begegnung denken, irgendwann in der Vorweihnachtszeit. Sie war gerade aus ihrem Café gekommen, als Nate vor dem Haus seiner Eltern geparkt hatte und darin verschwunden war. Statt in dem schicken Oldtimer Sportwagen, den er bei seinem letzten Besuch gefahren hatte, war er in einem verrosteten Kleinwagen gekommen, und genauso heruntergekommen wie sein Auto hatte auch er selbst ausgesehen. Shona konnte nur hoffen, dass die Ankündigung seines zweiten Buches bedeutete, dass er sich wieder einigermaßen gefangen hatte.

«Ich muss jetzt mal weiter!», sagte sie zu Eliyah.

Shona pfiff nach Bonnie, und anstatt bei Pebbles vorbeizuschauen, ging sie an dem Laden vorbei. Auf Schokolade hatte sie auf einmal keine rechte Lust mehr.

 

Sobald Bonnie merkte, wo es hingehen würde, lief sie schnüffelnd und schwanzwedelnd voraus. Sie kannte den Weg und wusste ganz genau, dass an seinem Ende ein Stück Wurst oder Käse auf sie wartete. Evie und Sylvie Spinner, die «Spinner-Schwestern», wie sie im Dorf genannt wurden, freuten sich immer, wenn Shona und Bonnie ihnen einen Besuch abstatteten. Doch bevor sie den Weg in die Hügel erreichten, mussten Shona und Bonnie die alte Steinkirche und den Friedhof passieren. Shona hielt den Blick bewusst nach vorne gerichtet. Zu viele geliebte Menschen lagen auf diesem Friedhof begraben: Mum, Patricia, Alfie …

Alfie. An ihn hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden die ganze Zeit denken müssen. Emmys nicht abgeschickter Brief war der Grund dafür, den sie spät in der Nacht noch zu Ende gelesen hatte. Er hatte eine Wunde offengelegt, von der Shona geglaubt hatte, sie recht gut abgedeckt zu haben. Natürlich war M. nicht losgezogen und hatte sein Mädchen zurückerobert. Was für ein Idiot! Das fanden auch viele der Follower von What I wanted to tell you. Fast achtzig von ihnen hatten den Brief kommentiert. Weil sie Emmys Worte so berührend fanden und ihr dafür danken wollten oder weil sie ihr Mut zusprechen wollten, darauf zu vertrauen, dass irgendwo ein Junge auf sie wartete, der sie mehr zu schätzen wusste als dieser M.

Auch Shonas Brief an Alfie war von vielen Followern kommentiert worden – der Brief, mit dem alles begonnen hatte. Alle hatten ihr versichert, dass sie keine Schuld an Alfies Unfall trug, doch keines der einfühlsamen Worte schaffte es, ihr die Last abzunehmen, die sie seit dem 18. März 2012 mit sich herumtrug.

Shona war froh, als sie den Friedhof hinter sich gelassen hatte und das Ortsschild passierte. Sofort beschleunigte die Labradorhündin ihre Geschwindigkeit und lief voran durch die Hügel. In diesem Tempo dauerte es nicht lange, bis das windschiefe Dach des Bayview Cottages über den Hügelkuppen auftauchte. Bei seinem Anblick musste Shona unwillkürlich lächeln. So viele Erinnerungen waren mit diesem Häuschen verbunden. Auch schmerzliche, aber vor allem viele, viele schöne. Sie war schon viel zu lange nicht mehr bei den Spinner-Schwestern gewesen!

Doch heute warteten weder Sylvie noch Evie auf sie. Und schon gar kein Stück Wurst oder Käse für Bonnie! Das Häuschen sah verwaist aus, keine Wäsche hing an der Leine – und im Vorgarten steckte ein Holzpflock mit einem Schild, auf dem stand: Zu verkaufen!

Zu verkaufen! Fast wünschte Shona, Nancy wäre doch im Postbüro gewesen, denn die hätte ihr sicher davon erzählt, und dann hätte diese Nachricht sie nicht ganz so unvorbereitet getroffen. Sylvie und Evie verkauften ihr Cottage!

Es war nicht so, dass sie die Spinner-Schwestern besonders oft besucht hätte, aber es war jedes Mal schön gewesen, für eine kleine Weile an diesen Ort zurückzukehren, an dem sie die beste Zeit ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte. Eine Zeit, in der ihre Welt noch heil gewesen war. In der Shona noch heil gewesen war und noch nicht von Schmerz und Schuldgefühlen zerfressen.

Obwohl Shona schon ahnte, dass die beiden Schwestern nicht da waren, ging sie den Pfad zum Haus hinauf und klingelte an der Tür. Niemand öffnete.

«Sylvie! Evie! Seid ihr da?», rief sie, für den Fall, dass die beiden irgendwo im Garten waren. Keine Antwort.

Sie wollte sich schon auf den Heimweg machen, als sie hinter dem Fenster im ersten Stock eine Bewegung wahrnahm. Einen Schatten. Vielleicht waren die beiden ja doch da und hatten ihr Klingeln nur nicht gehört? Sie klingelte erneut. Einmal. Zweimal. Dreimal. Doch auch dieses Mal machte niemand auf. Shona drückte die Türklinke hinunter. Das Bayview Cottage war früher niemals abgeschlossen gewesen, doch jetzt war die Tür zugesperrt.

Noch ein paar Minuten stand Shona unschlüssig da. Erst als Bonnie leise winselte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung und setzte sich wieder in Bewegung. Sie musste es einsehen: Das Cottage war leer, Evie und Sylvie waren fort – und den Schatten hinter dem Fenster hatte sie sich nur eingebildet.

Kapitel 4Nate

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