Das kleine Frankfurter Weihnachtsbuch - Andreas Heinzel - E-Book

Das kleine Frankfurter Weihnachtsbuch E-Book

Andreas Heinzel

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Beschreibung

Die Weihnachtszeit lässt niemanden kalt. Und da jeder die Festtage auf andere Weise erlebt, sind die Geschichten des Frankfurter Satirikers Andreas Heinzel diesmal nicht nur lustig oder bissig, sondern auch emotional und nachdenklich. Es geht um gestresste Großstadtmenschen, um gutgemeinte Attenta-te, um einmalige Chancen auf ein Comeback und um alte wie junge Protagonisten, die ihre große Liebe finden oder wiederfinden. Das kleine Frankfurter Weihnachtsbuch zeigt, wie empfänglich die Menschen gerade an Weihnachten für große Gefühle sind. Es wird gelacht, geweint und gestritten. Doch eines haben alle Geschichten gemein-sam: In jeder von ihnen findet sich ein gewisser Zauber, den es so nur in der Adventszeit gibt. Ein Buch, das die Zeit bis Heiligabend verkürzt und unter jeden Christbaum gehört.

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Seitenzahl: 221

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Andreas Heinzel

DAS KLEINEFRANKFURTER WEIHNACHTSBUCH

eISBN 978-3-948987-54-1

Copyright © 2022 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Olaf Tischer

Covermotiv: © lukbar/istock

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Das Buch

Zwei wildfremde Menschen, die an Heiligabend im Fahrstuhl steckenbleiben. Ein Kind, das mit besten Absichten fast einen Mann ums Leben bringt. Und eine Rocklegende, die die Chance auf ein einmaliges Comeback bekommt. Eine alte Dame findet ihre Jugendliebe wieder, ein Zwölftklässler erhält ein unvergessliches Weihnachtsgeschenk und ein Student wird als Weihnachtsmann gecastet.

Das alles und vieles andere mehr erzählt Andreas Heinzel in seinem kleinen Weihnachtsbuch. Geschichten, die das Herz erwärmen und Lust auf das Fest der Liebe machen.

„Wie konnte Frankfurt in der Weihnachtszeit nur so lange ohne dieses Buch auskommen? Für mich gehören die anrührenden, lebensnahen, überraschenden und wundervollen Geschichten von Andreas Heinzel ab jetzt genauso dazu wie der zauselige Christbaum vor dem Römer.“

Tim Frühling

Der Autor

Andreas Heinzel wurde 1962 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem 2016 im Mainbook Verlag veröffentlichten Romandebüt Die Monarchos folgte mit der schrägen Provinzposse Herr Neumann will auf den Olymp drei Jahre später sein zweiter satirischer Roman.

Zu den Anthologien Ein Viertelstündchen Frankfurt 3 und 4 trug er Kurzgeschichten bei und war 2020 Mitinitiator des literarischen Online-Projekts Der Nächste, bitte!, an dem sich 17 bekannte Autorinnen und Autoren beteiligten.

Nach dem 2021 erschienenen Band satirischer Short Storys Eine Stadt dreht durch legt er mit Das kleine Frankfurter Weihnachtsbuch seine zweite Sammlung Kurzgeschichten vor.

Andreas Heinzel hat zwei Kinder und lebt mit seiner Frau in Frankfurt.

Für alle, die noch an den Zauber der Weihnacht glauben.

INHALT

Suzie and the Handcheese

Die Stunde der Wahrheit

Volltreffer

Der Wintergabenbringende

Scrooge

Das Geschenk

Martha und die stille Nacht

Das Weihnachtsspiel

SUZIE AND THE HANDCHEESE

Elke drückte die knarzende Holztür zum Garten auf und stapfte in ihren ausgelatschten Chucks durch den Kies. Der Eimer mit den Weizenkörnern und den darunter gemischten Küchenabfällen war verflixt schwer und zog sie zur Seite, das war kein Spaß für ihre kaputte Hüfte.

Gleich hinter dem Haus, an dessen efeuberankten Mauern der Putz abplatzte, war bereits mächtig Leben in der Bude. Jagger hatte sie vor einer guten Stunde viel zu früh geweckt, doch sie nahm es ihm nicht übel, das war nun mal sein Job, eigens dafür hatte sie ihn sich zugelegt. Elke öffnete das Gatter, dessen Drahtgeflecht sie bei Gelegenheit ausbessern musste und schippte zwei, drei Kellen des Futters auf den Boden. Die Hühner hatten sie bereits erwartet und staksten kopfnickend auf sie zu.

Während sich die Damen gierig über das Frühstück her machten, steckte Elke den Kopf ins Hühnerhaus und entdeckte im Stroh zwei braungesprenkelte Eier, die ihr, die Vermutung lag nahe, Madonna und Cher zum Dank für ein sorgenfreies Leben hinterlassen hatten. Tina und Janis, die alten Hennen, die sie noch von ihrem Vorgänger übernommen hatte, legten hingegen nur noch selten, aber Elke focht das nicht an. Es ging ihr nicht um die Eier, sie hatte Freude an den Viechern, daher durften sie bis ans Ende ihrer hoffentlich noch langen Tage im Stall nach Körnern und Gemüseresten picken. Eines Morgens würde Elke sie im Sand liegend vorfinden, genau wie Joni, die im August vergangenen Jahres an Altersschwäche gestorben war. Sie hoffte nur, dass ihren Hühnern ein Ende wie das von Cocker erspart blieb, diesem Prachtkerl von einem Hahn, der plattgedrückt auf dem Kühlergrill eines Sattelschleppers das Zeitliche gesegnet hatte, oben an der Hauptstraße, auf der es mehr Verkehr gab als es einem flugunfähigen Federvieh guttat. Eitel und launisch wie sein Vorgänger, war Jagger ihm ein würdiger Nachfolger geworden. Elke hatte ihn gleich am Wochenende nach Cockers tragischem Unfall von einem Bauern in der Wetterau gekauft, denn einen Hahn im Korb brauchte ein Hof nun mal, davon war Elke überzeugt, und war dieser auch noch so klein wie der ihrige.

In der Werkstatt schräg gegenüber, dessen mürrisch wirkender Besitzer vor ein paar Monaten zwei verfallene Stallungen des alten Bauernhofs angemietet hatte und dort an sechs Tagen in der Woche alte Kisten wieder flottmachte, war um diese Uhrzeit noch nichts los. Kowaljow kam pünktlich um acht Uhr dreißig und schraubte in der Regel bis in den späten Abend hinein in den Eingeweiden der maroden Kundenfahrzeuge herum.

Elke streckte sich, gähnte mit weit aufgerissenem Mund und ließ sich die aufgehende Oktobersonne ins Gesicht scheinen. Sie genoss die wärmenden Sonnenstrahlen, die letzten Grüße des sich verabschiedenden Sommers, danach würde es wieder für lange Zeit kalt, nass und dunkel werden und, wie jeden Herbst, begännen mit zunehmender Feuchtigkeit ihre Gelenke zu schmerzen. Altweibersommer wurden Tage wie diese genannt. Nun, sie war ein altes Weib, daran gab es keinen Zweifel, demnach war es ihr Sommer, damit konnte sie gut leben, sehr gut sogar.

Als sie im Begriff war, ins Haus zurückzukehren, kam ein Wagen langsam und vorsichtig den kleinen Weg von der Hauptstraße hinuntergefahren, gerade so, als suchte er etwas oder wäre sich nicht sicher, richtig abgebogen zu sein. Ein Saab mit matt verwitterter weinroter Lackierung. Einer von Kowaljows Problemfällen, vermutete Elke und öffnete die Haustür, als der Fahrer zu hupen begann. Sie wandte sich um, hielt die Hand schützend vor die Augen und versuchte, gegen das blendende Sonnenlicht das Gesicht des Fahrers zu erkennen. Ein Mann, graue Haare, Sonnenbrille, der nun anhielt, den Motor abstellte und ausstieg. Wie es aussah, wollte der Typ gar nicht zum Russen. Nein, offensichtlich wollte er zu ihr.

Elke ging auf ihn zu, bis das Dach der Werkstatt die Sonne verbarg und sie den Fremden deutlich vor sich sah. Nein, dachte sie, das war unmöglich, das konnte er nicht sein. Olli lebte irgendwo im Süden, zumindest war das die letzte Information, die sie vor ein paar Jahren von ihrem Manager erhalten hatte.

„Hallo Suzie“, sagte der Grauhaarige und trat mit geöffneten Armen auf sie zu.

„Petzer?“, fragte Elke ungläubig zurück. „Oliver Petzloff?“

Der Grauhaarige lächelte und nahm die Sonnenbrille ab. „Besser so?“, fragte er.

Kein Zweifel, der Mann, der vor ihr stand, war derselbe Mann, mit dem sie zusammen die Bühne geteilt hatte, irgendwann vor vielen Jahren, in einem anderen Leben. Er hatte noch immer diesen warmen, freundlichen Blick, doch waren seine Augen müde geworden. Auch an ihm war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen.

„Mein Gott, Petzer. Das nenne ich mal eine Überraschung. Was machst du hier? Willst du zum Russen? Der ist noch nicht da“, sagte Elke.

„Russe? Welcher Russe? Nein, eigentlich war ich auf dem Weg zu dir.“

„Zu mir? Warum?“

„Komm, lass dich erst mal umarmen. Ist lange her, ne.“

Petzer trat einen Schritt näher und nahm Elke in die Arme. Er roch nach kaltem, französischem Rauch, ein vertrauter Geruch, Petzer hatte niemals anders gerochen.

„Hier lebst du also“, sagte er und betrachtete das in die Jahre gekommene Backsteinhaus. Von den Fensterläden platzte die jägergrüne Farbe ab, an einem Fensterbrett hatte sich vor Kurzem erst eine Ecke gelöst und offenbarte eine frische steinerne Wunde. Die Dachrinne über der Haustür war von flächigem Rost überzogen, was an einer Stelle bereits zu einem murmelgroßen Loch geführt hatte, durch das sich bei schlechtem Wetter das Regenwasser ins Blumenbeet darunter ergoss. Und der Efeu, den Elke an und für sich mochte, fraß sich mehr und mehr ins Mauerwerk, wo er langsam aber sicher dessen Substanz zersetzte. Es ließ sich nicht leugnen, dass das Haus renovierungsbedürftig war, doch um die notwendigen Maßnahmen in die Wege zu leiten, fehlte Elke die Zeit, das Geschick und, was sie nur ungern preisgab, auch das Geld.

„Nicht gerade ein Palast, ne.“ Petzers Stimme war mit den Jahren eine Oktave tiefer gerutscht und hatte einen torfigen, rauchigen Klang angenommen. Vermutlich eine Folge der vielen Selbstgedrehten, die er sich in jeder freien Minute auf Vorrat gedreht hatte. Hochprozentiges schloss Elke als Ursache aus. Weder zeigten die Wangen oder die Augen verräterische Rötungen noch roch Petzer nach Alkohol. Er hatte auch früher nur sehr selten etwas Stärkeres als Apfelwein getrunken, den allerdings häufig, und bei einem oder zweien blieb es in der Regel nicht.

„Mir gefällt das Haus. Und es ist meins“, antwortete Elke und löste sich aus der Umarmung. „Aber vermutlich bist du nicht gekommen, um mit mir über meine Wohnsituation zu reden, oder?“

„Nein“, lächelte der Grauhaarige. „Vielleicht hast du ja einen Kaffee für mich, dann erzähle ich dir alles.“

Sie gingen ins Haus, wo es ähnlich chaotisch aussah wie in Elkes seit Jahren ungeordnetem Privatleben. In der Spüle der Küche, die sich gleich rechts des Flurs befand, türmte sich Geschirr: Gläser vor allem, nur wenige Teller, kaum Töpfe. Auf der Küchenanrichte thronte neben ein paar Teedosen und einem Holzbrett voller Krümel eine fette, getigerte Katze. Elkes halbherzigem Befehl, den Platz umgehend zu verlassen, folgte Sissi, die auf diesen Namen noch nie gehört hatte, mit blasierter Ignoranz.

Linker Hand des Korridors ging es zum Wohnzimmer, in das Elke nun ihren alten Weggefährten bat. Auf dem Esstisch zwischen dem Fenster und dem zum Fernseher ausgerichteten Sessel lagen stapelweise Tageszeitungen und Magazine, manche davon mit bunten Klebestreifen versehen. Hinter jedem der Streifen verbargen sich Artikel, die Elke aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen interessiert hatten und die sie zu einem späteren Zeitpunkt noch lesen wollte. Die Exemplare, die auf dem Tisch keinen Platz mehr fanden oder zu den ältesten Archivstücken zählten, lagerten vor den Bücherregalen oder auf dem Teppich neben dem Sofa.

Was Petzer als Erstes ins Auge stach, war die Tatsache, dass Elke kein einziges Bild aufgestellt oder aufgehängt hatte. Weder Aufnahmen von Elke selbst noch von ihrer Familie, so sie denn eine hatte, wovon auf den ersten Blick nicht auszugehen war. Keine einzige Urlaubserinnerung mit Freunden und schon gar keine Bilder von einem ihrer Auftritte. Nicht ein Foto, das sie auf den Bühnen in Offenbach oder der Jahrhunderthalle zeigte, keins von Rock am Ring oder einem der vielen Festivals im Ausland. Petzer hatte Fotos von ihr mit den Stones, mit Udo, mit Freddy und den Scorpions. Keins davon war zu sehen, auf keines schien Elke Wert zu legen. Dabei hatte sie mit so vielen wirklich Großen auf der Bühne gestanden und nach den Zugaben mit ihnen im Backstage Bereich gefeiert – und das beileibe nicht zu knapp.

„Das ist also deine Wohnung“, stellte Petzer fest.

„Dachtest du, ich würde bei den Nachbarn einsteigen, um dir Kaffee anzubieten?“ Sie kehrte mit zwei Tassen aus der Küche zurück und sah den Grauhaarigen wartend an, bis Petzer endlich begriff und die Zeitungen, die den Tisch blockierten, zur Seite räumte.

„Sieht nicht gerade wie die Wohnung eines Rockstars aus, ne.“

„Ich bin kein Rockstar.“

„Stimmt, du bist eine Ikone, Suzie.“

„Und ich bin auch nicht Suzie, ich bin Elke.“

„Aber du warst Suzie.“

Elke schlürfte an ihrem Kaffee und lächelte. „Das war in meinem ersten Leben. Heute füttere ich Hühner und bin glücklich.“

„Warst du es damals nicht?“

„Doch, die Zeit war großartig. Wir hatten sehr viel Spaß.”

„Und ob wir den hatten, ne“, antwortete Petzer.

Oliver Petzloff, dessen Spitzname nicht von seinem Nachnamen herrührte, sondern von der Tatsache, dass er einen Schoppen wie kein zweiter trinken … petzen … konnte, war Anfang der Achtziger Jahre Schlagzeuger in Elkes Band Suzie and the Handcheese gewesen.

Der Name war die Hommage an eine von Elkes Lieblingsbands, eine Punkband aus London, gewesen. Gemeinsam mit dem Gitarristen Björn Meinert und dem Bassisten Dave Whitehead spielten sie Musik, die sie selbst als Hessenpunk bezeichneten. Sie hatten sogar einen richtig großen Hit, für den sie Mitte der Achtziger Jahre eine goldene Schallplatte bekamen. Laber ned! landete in den deutschen Hitparaden ganz oben und schaffte es als Stop that shit! auch völlig überraschend bis auf Platz vier der britischen Charts – der einzige Erfolg der Band auf der Insel.

Als die Frankfurter Studios in den Neunzigern allerdings dazu übergingen, ebenso tanzbare wie eintönige Discohits zu mischen, bedeutete das für den Punk aus Bockenheim das Aus. Die letzte Single der Band, Ich lach mich schepp, erreichte nicht einmal mehr die Top 100 der deutschen Hitparaden und wurde kaum gespielt. Folglich verschwand die Platte direkt in der Versenkung, und die Band gleich mit ihr mit. Und so überraschte es niemanden, als Elke nach der letzten, wegen der geringen Nachfrage in kleine Hallen verlegten Tour das Ende von Suzie and the Handcheese verkündete.

„Also gut, raus mit der Sprache: Warum bist du hier?“, fragte Elke und beäugte den Gast auf dem Sofa. „Ich möchte dir einen Vorschlag machen, den du nicht ablehnen kannst, ne“, antwortete Petzer mit heiserer Stimme.

„Da bin ich aber mal gespannt. Erzähl.“

„Was hältst du davon, wenn wir uns noch einmal zusammentun und ein letztes Mal richtig abräumen?“

„Davon halte ich gar nichts.“

„Kein neues Album, Suzie, keine Tournee, nichts dergleichen. Ein einziger Song, das war’s.“

„Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass wir nach mehr als dreißig Jahren aus dem Nichts heraus eine neue Platte aufnehmen, und dass das am Ende auch noch ein riesiger Erfolg wird, weil die ganze Welt nur auf eine Reunion von Suzie and the Handcheese gewartet hat?“

„Genau das glaube ich, ne“, sagte Petzer.

Elke stand auf, pustete in die Kaffeetasse und sah aus dem Fenster. Kowaljow war in der Zwischenzeit eingetroffen und steckte bis zur Nierengegend im Motorraum eines Volvos. Die ölverschmierte Hose des Russen hing auf halbmast. Kein schöner Anblick, schon gar nicht am frühen Morgen.

„Wir schreiben einen Weihnachtssong, Suzie. Auf hessisch.“

Zwei Stunden später klingelte der Pizzabote an der Haustür, Elke nahm die Kartons entgegen und schleppte sie ins Wohnzimmer, wo sich ihr Schlagzeuger selbstzufrieden auf dem Sofa fläzte. Petzer hatte ihr in aller Ausführlichkeit berichtet, dass die Kelterei Höhlmann zu einem Song Contest, wie es heute so schön hieß, aufgerufen hatte und dabei nicht nur fünfzigtausend Euro für den Sieger springen lassen, sondern auch die Kosten der Produktion übernehmen würde. Als Schirmherr der Aktion hatte sich die Hitwelle Frankfurt zur Verfügung gestellt: Der Radiosender versprach, den hessischen Weihnachtssong in Heavy Rotation zu nehmen und ihn zwischen zwanzig und dreißig Mal pro Woche zur besten Sendezeit zu spielen, sodass er im günstigsten Fall auf Platz eins der deutschen Charts klettern würde. Das zumindest war der Plan.

Es verstand sich von selbst, dass Apfelwein zumindest eine Statistenrolle im Songtext übernehmen sollte, ansonsten gab es keine weiteren Auflagen des Sponsors zu erfüllen. Die Wahl des Sieger-Demos oblag dem Radiosender, der plante, den Siegertitel durch das Votum einer Fachjury sowie einer Online-Abstimmung der Hörer zu küren.

„Und bis wann brauchen die den Song?“, fragte Elke.

„Bis zum einunddreißigsten Oktober. Wir haben noch vier Wochen.“

„Ich weiß nicht, Petzer. Wir haben ein halbes Leben lang keine Musik gemacht.“

„Ich schon. Während du aufs Land gezogen bist, habe ich die ganze Zeit als Studiomusiker gearbeitet, ne. Ich bin voll im Geschäft, Suzie.“

„Und warum willst du eine Leiche beatmen, wenn du so viel Erfolg hast?“

„Leiche beatmen“, lachte Petzer und kramte den Tabakbeutel aus der Tasche. „Das ist gut, Suzie, das trifft es auf den Punkt, ne. Darf ich?“

„Nicht hier, Petzer. Lass uns rausgehen.“

Draußen war es bereits angenehm warm geworden. Elke und Petzer saßen auf zwei Küchenstühlen, die sie vor die Tür gestellt hatten. Petzer blies langsam und gleichmäßig den Rauch aus der Lunge und starrte auf die abgewetzten Lederschuhe, die aus der schwarzen Jeans hervorlugten.

„Seit wann weißt du es?“, fragte Elke.

„Drei Wochen“, antwortete Petzer. „Eine Routineuntersuchung. Ich dachte, sie hätten mich vielleicht verwechselt, denn mir geht’s gut, wirklich gut. Keinerlei Beschwerden. Haben sie aber nicht, ne.“

Elke strich ihm beruhigend übers Bein.

„Vielleicht hab ich ja Glück, und die Therapie schlägt an.“

„Das wird sie, Oliver, verlass dich drauf. Du weißt doch: Too old to Rock ’n’ Roll, too young to die.“

„Wir sind nicht zu alt für Rock ‘n‘ Roll, Elke. Wir starten nochmal durch und landen in den Charts“, antwortete Petzer und ergriff ihre Hand. „Wirst sehen, ne.“

Als Petzer sie wenig später verließ und Elke dem alten Saab nachblickte, der langsam und fast geräuschlos um die Ecke des Hofs bog, begann sie zu weinen. Was für einen Unterschied ein paar Stunden ausmachen konnten. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an den alten Schlagzeuger gedacht, und jetzt liefen ihr seinetwegen Tränen über die Wangen. Petzer war Teil eines Lebens gewesen, das Elke seit vielen Jahren hinter sich gelassen hatte, ein Leben, in dem sie Suzie war. Doch als er vorhin neben ihr gesessen hatte, fühlte sie sich ihm so vertraut, als wären sie nie getrennte Wege gegangen.

Nie hatte sie daran gedacht, dass Petzer sterben könnte, warum auch? Sie dachte nicht mal über ihren eigenen Tod nach. Wenn sie aus der Zeitung erfahren hätte, dass Petzer nach einem Schlagzeugsolo mit Herzversagen zusammengebrochen wäre, hätte es sie nicht gewundert. Eher unwahrscheinlich wäre hingegen gewesen, ihn in einem Hotelpool treibend aufzufinden, die weit aufgerissenen Augen auf den Grund des Beckens gerichtet, in der Hand die leere Flasche eines billigen Fusels. Aber Blasenkrebs? Welcher Rockmusiker starb denn auf der Onkologie einer Uniklinik? Nein, das war nicht das Ende, das sie sich für Petzers Eintrag bei Wikipedia wünschte, einen derart profanen Tod hatte er nicht verdient. Dann lieber mit einem letzten Nummer-Eins-Hit in Erinnerung bleiben.

„Hey Kowaljow“, rief Elke. „Deine Hose hängt runter, ich kann deine Ritze sehen.“ Der Russe blickte auf und winkte ihr freundlich zu. Nach wie vor verstand er Deutsch nur in Bruchstücken, und wenn, dann ging es im Gespräch um defekte Auspufftöpfe und Zylinderkopfdichtungen, weniger um die Wahrung der Kleidungsetikette.

Vier Tage später kauerte Elke eingesunken auf der durchgesessenen Ledercouch im Eingangsbereich des Tonstudios, das Petzer für die Aufnahme des Demos gebucht hatte und überflog einen Songtext.

„Und?“, fragte Petzer und setzte sich neben sie. „Wie findest du’s? Wenn du etwas ändern willst, können wir das jederzeit tun, noch haben wir Zeit.“

„Nein, nein, es ist okay.“

„Okay? Also, wenn’s nur okay ist, lassen wir’s lieber gleich.“

„Nein, ich meine, es ist gut, denke ich. Ich kann das nicht richtig beurteilen, Petzer, mir hat schon lange keiner mehr Lyrics geschrieben. Meinst du wirklich, das wird was?“

„Aber natürlich wird das was. Wir passen wie die Faust aufs Auge, Suzie. Wenn einer einen hessischen Weihnachtshit hinbekommt, dann wir. Willst du mal hören, wie ich mir das vorgestellt habe?“

Petzer bat Bernd, den Tontechniker, das Demo abzuspielen, das er ihm letzte Nacht hochgeladen hatte. Die Hand des Tonmanns fuhr mit der Maus über das geschäumte Pad und zielte mit dem Cursor auf eine der digitalen Tonspuren, die aussahen wie die in einem See gespiegelte, himmelblaue Silhouette einer Berglandschaft. Er bewegte den Cursor zum Anfang der Spur und tippte auf die Leertaste, woraufhin sich ein vertikaler Strich langsam und gleichmäßig nach rechts bewegte. Als die Marke nach einem ruhigen, akustischen Einstieg den Refrain und damit das erste Hochgebirge erreichte, wummerte Petzers unverkennbarer, klassischer Midtempo-Beat aus den Boxen über dem Mischpult. Dazu spielte die E-Gitarre ein paar leicht schiefe Riffs, die großartig klangen, und Daves Bass begleitete das Ganze mit einer typischen, ungewöhnlichen Tonfolge.

„Ich stelle mir das Ganze ein bisschen wie die Ärzte vor, weißt du, was ich meine? So ein richtig fetter Chorus, dass die Leute mitsingen können, ne.“

Natürlich wusste sie, was Petzer meinte; es fiel schwer, bei dem Song stillzusitzen. Elke nickte mit dem Kopf, das Ganze klang wuchtig und gut tanzbar. Sie summte eine Melodie dazu und blickte wieder auf den Text, der mit einem Mal lebendig wurde, sich vom Papier zu lösen und mit der Musik zu verbinden schien. Petzers Zeilen passten gut zur mitreißenden Musik, die in voller Lautstärke durchs Studio schallte.

„Jetzt kommt die Bridge“, sagte Petzer. Einem Dirigenten gleich gab er der Audiospur ein Handzeichen, und tatsächlich wechselte genau in dem Augenblick die Tonart. Als der Refrain ein zweites Mal erklang, sang er die Zeilen mit, die perfekt zu den wummernden Akkorden der E-Gitarre passten: „Weihnachten am Main. Sinn die Straaße weiß un’ die Schoppe heiß, dann ham’mer Weihnachten am Main.“

Der Schlagzeuger grinste zufrieden.

„Das wird gut, Suzie, ich sag’s dir, das wird gut, ne. Willst du mal? Du kannst gleich reingehen. Bernd, passt das für dich?“

„Kein Problem. Suzie, wenn du magst? Ich wäre bereit.“

Der Tontechniker wirbelte mit dem Cursor über den Monitor, kopierte dies hierhin und jenes dorthin und hatte in Windeseile eine Spur für den Gesang angelegt, die er unter Suzie 01 auf der Festplatte sicherte.

Elke sah ihm fasziniert zu. Als sie vor ein paar Jahrzehnten ihre letzten Aufnahmen gemacht hatte, hantierte der Mann im Studio noch mit Tonbandsenkeln, die er wie durch ein Wunder auseinanderhalten konnte, obwohl sie einander wie ein Ei dem anderen glichen.

„Also gut, dann werde ich mal was versuchen“, sagte sie, nahm den Songtext und ging in den Aufnahmeraum hinter der Glasscheibe. Sie setzte den Kopfhörer auf, stellte das Mikrofon auf die richtige Höhe und sang ein paar Takte, damit Bernd den Lautstärkepegel einstellen konnte.

„Gib Bescheid, wenn du soweit bist“, hörte Suzie Bernds Stimme über die Kopfhörer. „Es beginnt mit einem Auftakt. Du kannst sofort einsteigen“, sagte Petzer, der neben Bernd hinter der Scheibe saß. „Wir geben dir einen Einzähler.“

„Okay“, antwortete Elke. „Kannst du’s mir nochmal vorspielen?“

„Klar“, sagte Bernd. Dann hörte sie die klare, gezupfte Gitarre, die die ersten Strophen begleitete und fast noch besser klang als über die großen Boxen im Studio. Als nach einer kurzen Verzögerung wieder die brachialen Gitarrenakkorde einsetzten, gab sie Bernd ein Zeichen. Das genügte ihr, mehr brauchte sie nicht zu hören. Sie hatte den Song schon im Kopf.

„Gut“, unterbrach sie die Musik. „Ich weiß, wann ich dran bin. Lass uns anfangen. Ich singe einfach, wie ich es mir denke, okay?“

„Genau so, Suzie. Läuft.“

Die Musik begann aufs Neue, und Elke zählte mit. Als Petzers Schlagzeug den gleichmäßigen Rhythmus unterbrach, setzte die Sängerin von Suzie and the Handcheese zur ersten Strophe ein:

„Wenn am Römerberg e Bäumsche steht un de Typ am Stand sei Mandle brät, wenn de Ostwind durch die City weht, dann ham’mer Weihnachten am Main. Wenn de …“

„Stop, stop, Suzie“, hörte sie Petzers Stimme. „Das ist schon super. Aber fast ein bisschen brav, ne. Ich dachte mir das ein bisschen rotziger, weißt du, was ich meine? Bisschen weniger Elke, bisschen mehr Suzie, gell!“

„Alles klar, gleich nochmal“, antwortete Suzie. Wieder ging der Beat los, wieder zählte Suzie mit und setzte ein. Diesmal wandelte sie ihre Stimme, sie klang nun rauer, echter.

„Viel besser“, fand auch Petzer, als sie die ersten Takte eingesungen hatte. „Ich sehe schon, wir verstehen uns wie gestern, Suzie, super. Gleich nochmal. Und spiele ruhig ein bisschen mit den Worten. Phrasiere das Ganze, stell dir vor, wir wären auf der Bühne, ne.“

Von Take zu Take fand sich Elke besser zurecht. Im Studio spürte man förmlich, wie sie die alte Sicherheit zurückgewann, gerade so, als wäre sie erst gestern mit der Band aufgetreten. Mit jeder Aufnahme verwandelte sich Elke mehr in die Suzie, die sie mal gewesen war, und ganz offenkundig hatte sie nichts verlernt. Ihre Stimme klang kraftvoll und kernig wie eh und je. Und nur der Tatsache, dass sie nach wie vor dieselbe akribische Perfektionistin war – die die Plattenfirma schon früher gefürchtet hatte, da jede Stunde im Studio bares Geld kostete – war es geschuldet, dass es einen halben Tag dauerte, bis auch Elke endlich mit einem der zahlreichen guten Takes zufrieden war.

Am späten Nachmittag erschienen Björn mit einem über und über beklebten Gitarrenkoffer und Dave, der walisische Bassist mit seinem inzwischen schlohweißen Pferdeschwanz. Sie begrüßten Elke herzlich, dann nahm sie gemeinsam mit Björn die Begleitstimmen für den Chorus auf. Schnell stellten sie fest, dass sie wie früher beinahe instinktiv miteinander harmonierten. Beide hatten darauf bestanden, gemeinsam am Mikrofon zu stehen, und bereits die zweite Aufnahme war so klar und sauber, dass Bernd sich dagegen sperrte, weitere Versuche zu machen.

„Besser werdet ihr nicht“, sagte der Tontechniker und winkte die beiden zu sich. „Ihr könnt es euch anhören.“

„Viel zu clean für hessischen Punk“, sagte Petzer, als sie die Aufnahme abhörten. „Früher wart ihr wilder.“

„Wir können gerne nochmal“, sagte Björn, der Schlagzeuger hielt ihn jedoch zurück. „Quatsch“, antwortete er. „War Spaß. Ihr wart gut, super gut. Wir lassen es exakt so, oder? Können wir es ein letztes Mal hören, Bernd?“

„So oft Ihr wollt, kein Problem.“

„Gut, dann lehnt euch mal zurück, ne. Hier kommt Hessens neue Weihnachtsnummer eins: Weihnachten am Main von Suzie and the Handcheese.“

Während die anderen Mitglieder der Band konzentriert auf den Monitor starrten, schloss Elke die Augen und wartete auf den Beginn der Musik. Bernd markierte die Spuren der Aufnahmen, dann klickte er auf die Maus und der Song setzte ein:

Wenn am Römerberg e Bäumsche steht

Un de Typ am Stand sei Mandle brät

Wenn de Ostwind durch die City weht

Dann ham’mer Weihnachten am Main

Wenn im Schoppe Zimt und Nelke schwimme

Un die Leut dehaam ihr Tännsche trimme

Wenn in jeder Stubb die Kerzsche glimme

Ham’mer Weihnachten am Main

Weihnachten am Main

Sinn die Straaße weiß un’ die Schoppe heiß

Dann ham’mer Weihnachten am Main

Wenn’s nach Lebkuch riescht an jeder Ecke

Un die Kinner ihre Wünsche checke

Wenn de Opa sucht sei Thermodecke

Ham’mer Weihnachten am Main

Wenn die Leute durch die Kaufhäus renne

Weil se all scho ihr Geschenke kenne

Wenn am Schoppekranz vier Kerze brenne

Ham’mer Weihnachten am Main

Weihnachten am Main

Sinn die Straaße weiß un’ die Schoppe heiß

Dann ham’mer Weihnachten am Main.

Un’ im Fernsehn läuft des Aschebrödel, bis mer’s nemmer sehe kann

Und schon in elf Monat’ un’ paar Woche fängt des alls von vorne an!

Weihnachten am Main

Sinn die Straaße weiß un’ die Schoppe heiß

Dann ham’mer Weihnachten am Main

Weihnachten am Main

Sinn die Straaße weiß un’ die Schoppe heiß

Dann ham’mer Weihnachten am Main

Weihnachten am Main

Tun die Gänsche ebe bange um ihr Lebe

Dann ham’mer Weihnachten am Main

Als der letzte Akkord verklungen war, sahen sich die vier an und strahlten. Sie klangen wirklich gut. Vielleicht hatte Petzer recht, und der Song würde tatsächlich durch die Decke gehen. Das lag jetzt nicht mehr in ihrer Macht, das würden der Sender und die Hörer entscheiden. Elke und ihre Band hatten in jedem Fall ihr Bestes gegeben, und das allein war wichtig.

„So, Bernd, jetzt streust du mir noch ein paar Sleigh Bells und ein bisschen Flitter drüber, damit’s nach Weihnachten klingt, okay?“

„Wird gemacht, Petzer. Ich verziere euch das mit Zuckerguss, dann lad ich’s euch hoch.“

Der Tonmann drehte sich mit dem Sessel zum Mischpult und versank in den Untiefen seines Klangarchivs, dabei pfiff er den Song vor sich hin. Im Ohr blieb er jedenfalls, dachte Elke. Dann packte sie ihre Jacke und machte sich auf den Heimweg. Alles Weitere würde Petzer in die Wege leiten. Noch heute würde er sicher die Plattenfirma kontaktieren, ihnen die Aufnahme schicken, gleichzeitig ginge eine Kopie des Ganzen an die Hitwelle Frankfurt