Das könnte Schule machen - Stefan Ruppaner - E-Book

Das könnte Schule machen E-Book

Stefan Ruppaner

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Beschreibung

Ein richtungsweisendes Buch für die Schule von morgen Zur Schule gehen ohne Angst und Stress, dafür mit viel Eigenmotivation, Lernerfolg und Freude? In der vielfach ausgezeichneten Alemannenschule in Baden-Württemberg ist das bereits gelebte Realität. Schulleiter Stefan Ruppaner hat im öffentlichen Schulsystem eine neue Schulform etabliert, ohne Frontalunterricht, ohne feste Prüfungstermine, ohne Klassenzimmer. Stattdessen leben Kinder und Lehrkräfte gegenseitige Wertschätzung, Kreativität, Freiheit und moderne Unterrichtsmethoden, losgelöst von unserem gängigen Schulmodell. In «Das könnte Schule machen» erzählt der Pädagoge, wie seine Schule der Zukunft Realität geworden ist und welche Veränderungen nötig sind, um sie überall möglich zu machen. Denn: Wir brauchen nicht weniger als eine Revolution, um unseren Kindern das Lernen zu ermöglichen, das sie verdienen!

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Seitenzahl: 301

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stefan Ruppaner

mit Anke Willers

Das könnte Schule machen

Wie ein engagierter Pädagoge unser Bildungssystem revolutioniert

 

 

Mit einem Nachwort von Reinhard Kahl

 

Über dieses Buch

Ein richtungsweisendes Buch für die Schule von morgen

 

Zur Schule gehen ohne Angst und Stress, dafür mit viel Eigenmotivation, Lernerfolg und Freude? In der vielfach ausgezeichneten Alemannenschule in Baden-Württemberg ist das bereits gelebte Realität. Schulleiter Stefan Ruppaner hat eine neue Schulform etabliert, ohne Frontalunterricht, ohne feste Prüfungstermine, ohne Klassenzimmer. Stattdessen leben Kinder und Lehrkräfte gegenseitige Wertschätzung, Kreativität, Freiheit und moderne Unterrichtsmethoden, losgelöst von unserem gängigen Schulmodell. In diesem Buch erzählt der Pädagoge, wie seine Schule der Zukunft Realität geworden ist und welche Veränderungen nötig sind, um sie überall möglich zu machen. Denn: Wir brauchen nicht weniger als eine Revolution, um unseren Kindern das Lernen zu ermöglichen, das sie verdienen!

Vita

Stefan Ruppaner ist seit 2005 Rektor der Alemannenschule Wutöschingen, die zu den innovativsten Schulen weltweit gezählt wird. 2019 und 2021 ist sie Preisträgerschule des Deutschen Schulpreises. Die Abkopplung des Lernens von Zeit und Raum wurde hier weitgehend umgesetzt. Stefan Ruppaner gehört zu den Begründern der Schmetterlingspädagogik, die das selbstorganisierte Lernen mit digitalen Werkzeugen ermöglicht. Seit 2017 ist er Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Genossenschaft Materialnetzwerk eG, die sich zum Ziel gesetzt hat, OER-Lernmaterialien zum selbstorganisierten Lernen in höchster Qualität für alle kostenlos zur Verfügung zu stellen.

 

Anke Willers ist Journalistin und Buchautorin. Lange war sie leitende Redakteurin bei der Zeitschrift ELTERN family und hat dort als Kolumnistin über ihren Familienalltag geschrieben. Heute arbeitet sie auch für die BRIGITTE. 2019 erschien ihr Buch «Geht's dir gut oder hast du Kinder in der Schule?», in dem sie von ihrem Dasein als unfreiwillige Hilfslehrerin erzählt. Anke Willers ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in München.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Anne Morgenstern

ISBN 978-3-644-02217-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Prolog Kommen Sie, ich zeige Ihnen unsere Schule!

1. Ganz alte Schule

Vom Lernen (und Nichtlernen)

Vom Lehren und Leiten

2. Das gibt’s doch gar nicht! Ein Film und seine Folgen

3. Das gibt es doch! Die Bodensee-Schule in Friedrichshafen

4. Der Ruppaner hat was vor: Erste Schritte (2008–2011)

Bitte alle recht freundlich: Offene Türen und offene Gesichter

Liebes Kollegium, schaut euch das mal an: Ein pädagogischer Tag im Jahr 2008

Herr Bürgermeister, hätten Sie mal eine Minute? Besuche im Rathaus

Kinder, wir machen was Neues: Kompetenzraster und Lerntheken

5. Der Weg zur Gemeinschaftsschule: Die Wände müssen weg – im Kopf und in den Klassenzimmern

Das Abenteuer beginnt: Georg, kommst mit, wir fahren ins Ministerium!

Was uns lenkt und leitet: Die Haltungsschule von Peter Fratton

Was sich im ersten GMS-Jahr für die Kinder alles veränderte

Coaching statt Unterricht: Neue Werkzeuge und Hilfen für das selbstorganisierte Lernen

Clubs statt Konkurrenz: Werkzeuge und Hilfen für das Lernen in der Gruppe

Graduierung statt Disziplinierung: Hilfen für das Lernen von Regeln, Rücksicht und Social Skills

Was sich für die Lehrkräfte im Alltag veränderte

Nicht mehr jeder für sich, sondern im Team

Nicht mehr vorne, sondern mittendrin

Nicht mehr im 45-Minuten-Takt, sondern im Ganztagsrhythmus

Nicht nur Experten für Mathe und Englisch, sondern ganze Menschen

Weniger Wände, mehr Platz für Ideen: Der Raum als dritter Pädagoge

Wissen to go: Die Digitalisierung unseres Schulalltags

Die Software: Unsere digitale Lernplattform DiLer

Die Hardware: iPads für alle

Der Stoff zum Lernen: Das Materialnetzwerk

6. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Gegenwind: Was macht der da eigentlich genau?

7. Reifeprüfung: Der Aufbau unserer gymnasialen Oberstufe

8. Gewonnen! Erfolge, die niemand mehr wegdiskutieren kann

Ein Preis, der uns jubeln ließ

Ein Virus, das uns nicht kleinkriegte

Eine Abiturpremiere, die uns stolz machte

Ein Medienecho, das in der ganzen Republik gehört wird

9. Wie wir heute arbeiten: Unsere Schmetterlingspädagogik

Mehr Selbsterkenntnis, mehr Teamwork, mehr Kontinuität: Die fantastischen vier

Mehr Flexibilität, mehr Zeit, mehr Freiräume bei der Bewertung: Unsere persönliche Note

Mehr Material. Mehr Vielfalt. Mehr Inspiration. Ein Netz, das uns alle trägt

Mehr Schmetterlinge von Anfang an: Unsere Grundschule

Mehr Kinder, mehr Feedback, mehr Perspektiven: Und was sagt ihr dazu?

10. Was ich auf meiner Reise gelernt habe: Wir brauchen eine Revolution!

Schafft den Unterricht ab!

Rechnet mit dem Unvorhersehbaren!

Lasst euch inspirieren, sucht nach Gleichgesinnten

Fangt mit der Haltung an – nicht mit dem Geld

Nutzt die Spielräume im System

Denkt nie, dass ihr fertig seid

11. Und wie könnte es weitergehen? Die Schule der Zukunft

Nachwort Hellwache Gegenwart

Zeitleiste

Bildteil

Bildnachweis

PrologKommen Sie, ich zeige Ihnen unsere Schule!

An unsere Schule kommen viele Menschen, die sich für Schulgestaltung und Pädagogik interessieren: Eltern, Schulleitungen, ausländische Lehrer, Architektinnen, Leute aus Ministerien und Politik – und Medienschaffende. Und sie alle haben einen Wunsch: Sie möchten begreifen, was wir anders machen an der Schule, deren Rektor ich bin. Warum wir wiederholt mit Schulpreisen ausgezeichnet wurden und immer wieder Filme über uns gedreht werden.

Wir sind eine öffentliche Gemeinschaftsschule, an der ungefähr 900 Kinder von Klasse 1 bis Klasse 13 lernen, vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Seit 1997 heißt unsere Schule Alemannenschule – ein sehr passender Name. Zum einen, weil sie ebendort liegt, wo die Alemannen sich im frühen Mittelalter angesiedelt haben: tief im Süden unserer Republik, am südöstlichen Schwarzwaldrand, da, wo die Schweiz ein kleines Stückchen ins Baden-Württembergische hineinragt und wo ich aufgewachsen bin. Viele Menschen hier sprechen noch Dialekt. Sie rufen «Salli», wenn sie sich begegnen, und «Ade», wenn sie auseinandergehen.

Passend ist der Name aber auch, weil die Alemannen ein ziemlich aufmüpfiges, bunt gemischtes Germanenvolk waren, das sich ständig mit viel größeren und stärkeren Mächten auseinandersetzen musste, um sein Terrain zu verteidigen. Auch ich musste und muss das bis heute immer wieder tun. Und dass ich aufmüpfig bin, wird Ihnen unser Kultusministerium gerne bestätigen. Aber dazu später mehr.

Der genaue Ort, in dem sich unsere Schule befindet, heißt Wutöschingen. Lange Zeit kannte ihn kaum jemand, der von außerhalb kam. Kein Wunder, er ist eher ein größeres Dorf: 7000 Einwohner, ganz normale Leute – Arbeiter, Bauern, Handwerker, wenig Bildungsbürgertum. Es gibt Geschäfte für den täglichen Bedarf, eine Kirche, ein Gasthaus, die Aluminiumwerke – und die Alemannenschule.

Neulich hatte ich wieder einmal Besuch von einer Journalistin, die etwas über unsere Schule schreiben wollte. Sie wartete an einem Freitagvormittag im Sekretariat auf mich – und lernte zuerst unseren Schulhund, Border Collie Luna, kennen. Und dann die blauen Überzieher für die Schuhe. «Die brauchen Sie», erklärte ich ihr, «wir tragen hier Hausschuhe. Das ist leiser und sauberer und schont die Böden und die Möbel, wenn die Kinder es sich zum Lernen gemütlich machen. Das passt besser zu unserem Leitbild als schmutzige Straßenschuhe.» «Leitbild?», kam es erstaunt zurück. Ich merkte, dass sie Erklärungsbedarf hatte und noch nicht viel über uns wusste. Also begannen wir unseren Rundgang im grünen Haus. Es war zehn Uhr morgens. An den Lerntheken standen Kinder unterschiedlichen Alters mit iPads. Andere saßen auf Sitzkissen oder lagen auf unseren bunten Sofas. Manche arbeiteten ruhig, aber die meisten unterhielten sich.

«Wenn man Brüche addieren will, kann man das dann oben einfach zusammenzählen?», fragte Johannes[*] aus der Fünften. Alex* aus der Sechsten erklärte es ihm: «Nur, wenn unten der gleiche Nenner steht. Die Zahlen müssen unten praktisch den gleichen Namen haben, damit sie sich oben treffen und verheiraten können. Wenn der Nenner nicht gleich ist, musst du erweitern – also das geht so!», Alex zückte sein iPad. Als die beiden Jungs mich sahen, fragten sie: «Hallo, Herr Ruppaner, wann fängt die Probe für das Musical heute an?» Dann schüttelten sie mir die Hand. «14 Uhr», sagte ich, «blaues Haus, Inputraum 4, unten.» Und zu meinem Besuch: «Wenn nicht gerade Corona ist, geben wir uns die Hand. Das stärkt die Beziehung. Und das hier ist übrigens unser Marktplatz. Hier kann man sich treffen und laut reden.» «Aha», sagte die Journalistin. «Und wann beginnt der Unterricht?» «Haben wir praktisch nicht mehr! Die Kinder lernen hier unten in altersgemischten Gruppen. Und wenn sie sich vertiefen wollen, also still arbeiten, dann gehen sie hoch ins Lernatelier. Da wird geflüstert.»

Oben zeigte ich ihr die Arbeitsplätze: Jedes Kind hat dort einen eigenen Schreibtisch zum Lernen. «Und wo sind die Lehrer?», flüsterte mein Besuch. Ich deutete auf einen Lernbegleiter, der hinten an einem Tisch stand und einem Kind leise etwas erklärte: «Es arbeiten immer vier Lernbegleiter zusammen. Die Kinder können jederzeit hingehen und fragen, wenn sie mit ihren Aufgaben nicht weiterkommen.» «Woher wissen die denn ohne Unterricht, was sie bearbeiten müssen?», wollte die Journalistin wissen. «Einmal in der Woche bespricht jedes Kind mit seinem Lernbegleiter, welche Bereiche und welche Lernschritte es als Nächstes angehen wird. Also ein Lernbegleiter, ein Kind. Quasi Eins-zu-eins-Betreuung. Wir haben kurze Input-Einheiten und ausgeklügelte Materialpakete für alles, was man nach dem baden-württembergischen Bildungsplan können sollte und darüber hinaus.»

Wir schauten uns weiter im Lernatelier um: Die Kinder, die gerade da waren, lernten ruhig. Pia* saß unter dem Schreibtisch und hatte Kopfhörer auf. Sie übte auf dem iPad Englischvokabeln. Leon* bearbeitete gerade ein Materialpaket zum Thema Textsorten. Und hinten in der Ecke saß Meret* und schrieb einen Gelingensnachweis, auch auf dem Tablet. «Wow, ist das leise hier», stellte mein Besuch beeindruckt fest, «und so aufgeräumt.» Dann wollte sie wissen, was ein Gelingensnachweis ist.

«Gelingensnachweise sind bei uns Tests. Die Kinder schreiben sie immer dann, wenn sie das Gefühl haben, dass sie den Stoff können. Es gibt aber auch mündliche Gelingensnachweise. Oder solche, die mit Engagement zu tun haben.»

«Wie, keine Klassenarbeiten für alle?»

«Nein, keine Klassenarbeiten, keine 45-Minuten-Stunden, keine Klassenzimmer – und ganz wenig Frontalunterricht. Die Kinder lernen wo, was und mit wem sie wollen. Und sie lernen in ihrem eigenen Tempo.»

Mit meinen Besucher:innen komme ich immer irgendwann an diesen Punkt – und ich genieße ihn. Weil die Reaktionen immer ähnlich ausfallen. Die meisten sind verwirrt, verblüfft, und in ihren Augen lese ich noch mehr Fragezeichen: Wie geht das? Eine Schule ohne Klassenzimmer, Klassenarbeiten, richtigen Unterricht. Kann man da denn was lernen? Die Vorhersehbarkeit dieser Reaktionen amüsiert mich. Gleichzeitig kann ich sie verstehen. Denn fast alle, die mich besuchen, haben als Kinder und als Eltern herkömmliche Schulen erlebt. Sie wurden, genau wie ich, geprägt durch Frontalunterricht, Prüfungen, Gleichschritt beim Lernen und Hierarchien mit Befehlsstrukturen.

Wir setzten uns auf das grüne Sofa, das im Lernatelier steht: «Das grüne Sofa im grünen Haus ist mein Lieblingsplatz. Hier bin ich oft und bearbeite meine E-Mails. Manchmal mache ich auch ein Schläfchen.»

Die Journalistin guckte ungläubig. Wohl wegen des Schläfchens. Dann fragte sie: «Haben Sie denn kein Rektorenzimmer? Sie sind doch hier der Chef.»

«Nein, ich brauche kein Rektorenzimmer. Ich bin am liebsten mittendrin unter den Kindern. Und seit wir alle mit iPads arbeiten, kann auch ich meine Aufgaben überall mit hinnehmen.»

Die Journalistin wandte sich an Pia*, die mit den Englischvokabeln unter dem Tisch hockte, und flüsterte ihr zu: «Wie findest du denn das, wenn dein Schulleiter hier auf dem Sofa sitzt?» Pia lachte und sagte, dass sie das schon kenne und es sie nicht störe. Und dann fragte sie mich, wann ich denn endlich mal mit ihr und den anderen Mädchen ein Rädle machen würde. Ich sagte, dass ich gerade «Rücken» hätte und so ein Rädle da sicher nicht so gut sei. Pia kniff die Augen zusammen und stellte trocken fest, dass ich das ja wohl immer vorschieben würde. Die Journalistin fragte Pia, was denn ein Rädle sei, und die erklärte: «An der Turnstange, mit dem Bein, so ein Überschlag.» «Ah, Kniewelle», rief mein Besuch, vergaß zu flüstern und zwinkerte mir zu: «Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass sie mit den Kindern in der Pause an der Turnstange hängen.» «Nein», sagte ich, «Running Gag. Die Kinder wissen, dass da mein Bauch im Weg wäre – aber hier geht es nicht ums Rädle, hier geht es um Kontakt und Beziehung. Und um ein Späßchen zwischendurch.» Die Dame zog die Augenbrauen hoch: «Sie legen offenbar keinen Wert darauf, eine Respektsperson zu sein.» Ich schüttelte den Kopf: «Nicht, wenn Respektsperson bedeutet, dass ständig strenge Ansagen kommen und man Angst haben muss.»

Später haben wir uns dann noch die anderen Gebäude angeschaut. Das blaue, das weiße und das rote Haus. Im weißen Haus zeigte ich ihr unsere Baumhäuser. «Toll!», sagte sie und dass sie davon schon mal ein Foto gesehen hätte – von diesem riesigen Raum mit den eingebauten Stelzenhäusern auf zwei Ebenen, ganz ohne Wände, alles aus weiß lasiertem Naturholz. Ich erklärte ihr, dass es die Baumhäuser nur hier im weißen Haus gibt. Man kann sich dort oben zurückziehen, und es wird in regelmäßigen Abständen rotiert – denn die Baumhäuser sind sehr begehrt fürs Lernen. Vor allem die mit Aussicht ins Grüne. «Das kann ich total gut verstehen», meinte die Journalistin. Und dass sie selbst in den 70er-Jahren in einem windigen Schulzentrum zur Schule gegangen sei, in dem schon wenige Jahre nach Eröffnung die Kunststoffverschalung von der Decke gefallen sei und wahrscheinlich jede Menge Asbest ausgedünstet habe.

Dann musste ich kurz weg, weil sich noch mehr Besuch angemeldet hatte. Eine angehende Architektin wollte sich für ihre Doktorarbeit unser Raum- und Einrichtungskonzept anschauen. Ich reichte die Journalistin für eine halbe Stunde an drei Kinder aus der Mittelstufe weiter, die gerade im blauen Haus an der Lerntheke auf dem Marktplatz standen. Sie erzählte mir später, dass eines der Mädchen doch tatsächlich behauptet hätte: «Wenn ich morgens aufstehe und zur Schule gehe, weiß ich, dass es ein schöner Tag wird.» Und so einen Satz würde sie ja nun schon etwas schräg finden. Interessant, dass sie das schräg findet, dachte ich – und dass sie jetzt vielleicht annahm, ich hätte die Kinder vorher bestochen. Dann wurde mir einmal mehr klar, wie sehr die meisten von uns bei dem Begriff Schule immer noch an Stress und Versagensängste denken. Dabei sollte Schule doch eigentlich ein Ort sein, den man mag, eine Umgebung, in der man sich entwickeln kann.

Doch das konnten wir an dieser Stelle erst mal nicht weiter erörtern. Denn ich wollte meinem Besuch noch das rote Haus zeigen. Das rote Haus ist unser letzter Neubau – extra für die Oberstufe. Er ist 2022 fertig geworden. Hier gibt es nicht nur eine Sporthalle mit Fitnessgeräten, sondern auch naturwissenschaftliche Fachräume, eine lichtdurchflutete Aula und wieder jede Menge gemütlicher Ecken zum Lernen und Vertiefen.

«Das hier ist Ocean, und das ist Cosmos», erklärte ich und zeigte auf die zwei gegenüberliegenden Rückzugsräume, die ich besonders mag. Sie haben Hingucker-Tapeten in beruhigenden Farben. Und gemütliche Sitzkissen zum Hinfläzen. Man entspannt sich schon beim Hineingehen. «Oh», sagte die Journalistin, «das ist ja cool. Und wo sind hier die angehenden Abiturienten und Abiturientinnen?» Ich zeigte auf zwei Schülerinnen, die sich in einem der einsehbaren Coachingräume in Sesseln gegenübersaßen und diskutierten. «Heute ist Freitag – da lernen viele von zu Hause aus. Außerdem haben wir ja auch das Lesecafé, und ohnehin gibt es im Dorf noch jede Menge anderer Orte, an denen man was lernen kann. Und übrigens, heute Nachmittag ist noch Musicalprobe, wir üben ein afrikanisches Stück, ‹Kwela, Kwela!› – wollen Sie zuschauen?» «Gerne», sagte die Journalistin. Aber jetzt brauche sie erst mal eine Pause und müsse das alles im Kopf sortieren. Das sei ja wirklich eine sehr ungewöhnliche Schule, die ich da leiten würde. Ganz anders als das, was sie aus der Schulzeit ihrer eigenen Kinder kenne. Sie würde gerne wissen, wie das denn alles begonnen habe. Bestimmt sei dieses Konzept und diese Art zu lernen nicht vom Himmel gefallen. «Nein», meinte ich, «das ist nicht vom Himmel gefallen. Wirklich nicht. Das ist vielmehr eine ziemlich lange Geschichte!»

Fußnoten

[*]

Alle Kindernamen in diesem Kapitel wurden geändert. Sowie alle weiteren Namen, die in diesem Buch mit einem * gekennzeichnet sind.

1.Ganz alte Schule

Die Schule und ich – wir leben schon ziemlich lange in einer engen Beziehung. Eigentlich sind wir seit meiner Geburt verbunden. Und wir haben uns nie aus den Augen verloren. Allerdings wechselte unser Beziehungsstatus oder sagen wir die Rollen, die ich in dieser Beziehung einnahm, mit den Jahren. Und damit auch das, was Schule für mich bedeutete.

Vom Lernen (und Nichtlernen)

Ich bin hier in der Schwarzwaldgegend, in Höchenschwand, geboren, und schon mein Vater war Lehrer, um genauer zu sein: Rektor der Schule am Ort. Ich war also von Anfang an der Sohn vom Lehrer Ruppaner.

Eingeschult wurde ich Mitte der 60er-Jahre. Und damals hielt man noch nicht viel von innovativen Schulkonzepten, jedenfalls nicht bei uns auf dem Land. State of the Art war der Frontalunterricht. Einer stand vorne, und die anderen hörten zu und nahmen die Aufträge entgegen – je nach Autoritätsgrad der Lehrkraft könnte man auch von Belehrungen oder noch strenger Befehlen sprechen. Die Richtung war klar: von oben nach unten. Und damals war ich unten. Trotzdem bin ich von Anfang an wirklich gern in die Schule gegangen. Ich betone: in die Schule. Nicht in den Unterricht. Das lange Stillsitzen und Zuhörenmüssen, die streng vorgegebenen Arbeits- und Lernabläufe waren mir ein Gräuel. Das fiel mir schwer. Das langweilte mich. Und das konnten die meisten anderen viel besser als ich.

Was ich mochte, war das Drumherum, vor allem die anderen Kinder. Und wenn die Schule aus war, am Nachmittag, trafen wir uns wieder. Wir spielten Fußball, bauten Hütten im Wald und stromerten in der Gegend rum: Wir schauten dem Schuster beim Schuhebesohlen zu und halfen dem Bauern beim Heumachen. Das waren Lebensräume außerhalb der Schule, in denen wir Sachen lernten, ohne überhaupt zu merken, dass wir was lernten. Dabei bekamen unsere Hirne Futter, und wir begegneten Menschen, die unsere Lehrer und Lehrerinnen waren, ohne dass sie irgendwie Pädagogik studiert hatten: Bäckerinnen, Metzger, Bestatter.

Als ich 12 Jahre alt war, zogen meine Eltern um – von Höchenschwand nach Wutöschingen. Um schnell Kontakt im Dorf zu bekommen, bin ich sofort in alle möglichen Vereine gegangen. Und schon bald war ich wieder fest in der Dorfgemeinschaft verankert und habe viele Freunde gehabt. Dieses soziale Eingebundensein habe ich sehr genossen. Ich erinnere mich auch an unzählige Streiche. Einmal, da war ich schon im Gymnasium, haben wir uns aus dem dritten Stock abgeseilt. Wir hatten Jacken und Schals aneinandergeknotet. Irgendwann, kurz bevor ich unten war, kam der Hausmeister – also versuchte ich, wieder hochzukommen, und dabei riss die windige Kleiderkonstruktion. Irgendeine Naht machte schlapp angesichts mehrerer Vorpubertierender, die an ihr gezerrt hatten. Ich landete auf dem Kiesbett über dem Musiksaal. Und nachdem ich mich berappelt hatte – ja, alles noch heil! –, klopfte ich vom Kiesbett aus an die Scheibe. Irgendwer ließ mich rein. Der Musiklehrer fragte konsterniert: «Und, Stefan, wo kommst du jetzt genau her?» «Mir ist die Jacke runtergefallen, die habe ich mir zurückgeholt», sagte ich möglichst beiläufig und so, als sei es das Normalste von der Welt, das Klassenzimmer durchs Fenster zu betreten. Und dann bin ich, ohne weitere Fragen abzuwarten und den Verblüffungseffekt nutzend, mit meinem abgerissenen Jackenärmel quer durchs Klassenzimmer, raus in den Flur und zurück in den dritten Stock.

War ich ein Klassenkasper? Nein. War ich hyperaktiv? Nein, ich war ein ganz normaler Junge mit Bewegungsdrang. War ich schwer erziehbar? Auch nicht. Ich war ein Rabauke, aber ich glaube, ich war ein ganz netter Rabauke. Vor allem aber war ich ein Kind, das offenbar nach Lücken suchte in einem System, das ihm zu wenig Freiheit für Kreativität und eigene Ideen ließ. Ich seilte mich immer wieder ab – ganz konkret an der Schulhausmauer. Aber auch innerlich. So sehe ich das heute.

Meine Leistungen? Waren so lala. Ich bin immer irgendwie durchgekommen. Und anders als mancher Mitschüler – und manche Mitschülerin – war ich so gestrickt, dass die Fünfer, die ich gelegentlich bekam, meinem Selbstbild nicht wirklich nachhaltig schadeten. Ich wusste ja, woran es lag: Ich tat einfach nicht genug, ich war faul, warum sollte ich das also können. Und es war eigentlich ziemlich logisch, dass die Barbara*, die mit mir in einer Klasse war und mit der ich oft von der Schule nach Hause ging, Einser hatte und ich nicht. Denn Barbara übte Geometrie, während ich Fußball spielte. Ich wusste, ich müsste besser zuhören und mehr lernen. Doch dazu hatte ich keine Lust. Das richtige, das spannende Leben, fand ich, war draußen. Und da, wo meine Kumpels waren. Ich hatte auch keine Lust auf Querflöte – obwohl meine Eltern gerne wollten, dass ich im Musikverein ein Instrument lernte. Damit das was wurde, sollte mein großer Bruder mit mir zu Hause üben. Unten im Kinderzimmer nahmen wir das Flöten mit dem Kassettenrekorder auf, stellten auf laut, damit wir ein Alibi hatten und die Eltern oben dachten: Die Jungs sind dran und machen Musik. Doch in Wirklichkeit spielten wir nicht Flöte – sondern Karten.

Heute finde ich es bezeichnend, dass weder Musikverein noch Schule es damals geschafft haben, bei mir wirklich etwas zum Klingen zu bringen und mein Potenzial zu wecken. Denn das wäre eigentlich sehr einfach gewesen. Ich bin ein musikalischer Mensch, und Musik ist eine meiner großen Leidenschaften: Ich höre sie gerne, ich spiele sie gerne, und es freut mich sehr, wenn ich auch andere dafür begeistern kann. Doch das alles entdeckte ich erst mit 16, 17 Jahren, als ich schon fast mit der Schule fertig war.

Da nämlich fragte mich einer meiner Freunde, ob ich Lust hätte, in einer Band mitzuspielen. Sie brauchten einen Saxophonisten – und in drei Monaten stand ein Auftritt an. «Ich kann nur Querflöte», sagte ich. «Wenn du Querflöte kannst, kriegst du auch Saxophon hin», meinte der Freund. Ich habe mir dann ein Saxophon gekauft und angefangen zu üben. Ich wollte unbedingt fit werden für diesen Auftritt. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich etwas wirklich wollte. Und dann habe ich gemerkt: Ich komme schnell voran. Ich kann was, was andere nicht so schnell können. Und das macht wahnsinnig Spaß. Seither mache ich Musik. Bis heute.

Während des Wehrdienstes habe ich als Querflötensolist im Heeresmusikcorps gespielt. Als junger Soldat war ich in einer Big Band in Ulm. Und hier in Wutöschingen kennen sie mich als den Struppi von Popcorn. Popcorn – das ist eine Partymusik-Band, in der ich heute immer noch Bassgitarre spiele und singe. Wir hatten in den vergangenen Jahrzehnten jede Menge Live-Auftritte, waren in der Schweiz, Österreich und sogar in Budapest.

Und immer mal wieder kommen in der Schule Kinder zu mir und sagen: «Du, Herr Ruppaner, ich soll dich schön von meiner Oma grüßen, die war früher öfter bei dir beim Popcorn-Konzert.» Es macht mich noch heute regelrecht betroffen, wenn mir bewusst wird, dass diese lebenslange Leidenschaft für die Musik in der Schule nicht geweckt wurde. Doch die Art, wie man mir im schulischen Umfeld versuchte, die Flötentöne beizubringen, war offenbar kontraproduktiv. Inspiriert haben mich andere. Und das nicht nur in der Musik.

Denn auch, dass ich am Ende mein Abitur geschafft habe, war weniger der Schule zu verdanken, sondern meinem sozialen Umfeld, heute würde man wohl sagen: meiner Peergroup. Ich bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich bei meiner damaligen Freundin, die irgendwann in den Oberstufenjahren fragte: «Stefan, was ist das für ein Verhau auf deinem Schreibtisch und in deiner Tasche?» Sie kaufte mir einen Ordner und sagte: «So, hier sortierst du alles rein, was du an Material hast. Und dann musst du das lernen!»

Danke auch an meinen Freund Erwin, der im technischen Gymnasium ziemlich fit war. «Wieso», fragte ich ihn eines Tages, «kapierst du das in Mathe immer so gut?» «Ich versteh’s auch nicht immer gleich», sagte Erwin da, «ich höre nur länger zu, und wenn ich’s dann verstehe, hast du schon lange abgeschaltet.»

Ich höre länger zu! Das war eine ziemlich gute Erklärung, die mich damals so beeindruckte, dass ich beschloss: Das probiere ich jetzt auch mal aus. Ich wurde besser. Und irgendwie schaffte ich dann mein Abitur.

Vom Lehren und Leiten

Nach dem Abi kam die Bundeswehr – und dann das Studium in Freiburg. Ich wollte Grund- und Hauptschullehrer werden mit Schwerpunkt Grundschule. Ausgerechnet ich? Der Rabauke. Der Aus-der-Reihe-Tänzer. Der Lernmuffel? Ja, gerade ich. Weil ich kein Musterschüler war – und trotzdem immer gern in die Schule gegangen bin. Weil ich alle Kinder verstand, die neugierig waren auf die Welt da draußen. Die vielleicht für irgendwas jenseits der Schule brannten. Dafür aber nicht so für das, was im Unterricht gefragt war. Aber auch, weil ich einfach Kinder mag.

Schon im Studium habe ich gemerkt, dass ich dieser Kinderwelt als Erwachsener noch sehr verbunden und meine eigene Kindheit mir immer nah geblieben war. Als junger Grundschullehrer wurde mir dann bald klar, dass ich wohl so was wie eine Art natürliche Autorität hatte. Die meisten Kinder hörten mir zu, ohne dass ich mich besonders anstrengen musste. Ich machte und mache immer gerne irgendwelche Späßchen mit den Kindern, aber ich kann auch streng sein.

Das mit dem Unterrichten fiel mir auf jeden Fall leicht und lag mir. Und ich hatte keine Probleme damit, mich durchzusetzen. Unabhängig davon, ob es Grundschüler waren oder Erwachsene: Eine Zeit lang war ich Lehrbeauftragter im Seminar in Lörrach, da unterrichtete ich die Referendare und Referendarinnen. Und auch mit ihnen kam ich gut zurecht – weil es mir immer gelang, eine Beziehung aufzubauen zu denen, die mir gegenübersaßen.

Ich glaube, ich habe schon damals intuitiv gespürt, dass es das Lernen fördert, wenn man den Kindern was zutraut. Und dass die beim Lernen auch mal gut allein zurechtkommen. Auch deshalb war ich ein Verfechter der Freiarbeit, ein Konzept, das bereits im Bildungsplan von 1994 zu finden ist und damals ein wichtiger Grundsatz der Unterrichtsgestaltung wurde. Längst nicht alle im Kollegium konnten damit was anfangen: neumodischer Kram, fanden viele. Und dass das sicher wieder so ein pädagogisches Experiment sei, das komme und gehe – wie die Mengenlehre.

Ich hatte Lust auf diese Art der Pädagogik: Ab und zu habe ich ein Schild an die Tafel gehängt. Darauf hatte ich ein großes FS (für freie Stillarbeit oder: flüstern und schleichen) gemalt und einen Kreis drum herum – also das O für Ordnung. Manchmal denke ich, das war der Vorläufer für das, was wir heute in unserer Schmetterlingspädagogik selbstorganisiertes Lernen nennen.

Wenn ich das Schild aufhängte, sagte ich den Kindern immer: «So, jetzt arbeitet ihr mal mit dem Material, das ich euch gegeben hab. Und hinterher sprechen wir drüber. Und wenn ihr die anderen dazu braucht, dann flüstert ihr und schleicht. Ich will, dass es ganz leise ist, denn ich mache jetzt ein Schläfchen.»

Tatsächlich stand hinten im Klassenzimmer ein Sofa. Ich habe mich draufgelegt, aber natürlich nicht geschlafen, sondern die Kinder beobachtet: Sie waren ganz bei der Sache. Sie haben gearbeitet. Sie fanden es toll, dass da mal was anderes passierte als Frontalunterricht, und die meisten nahmen ihre neue Freiheit sehr ernst. Sie waren leise und diszipliniert, ohne dass man sie ständig ermahnen musste.

Irgendwann kam dann der Rektor, Hans Lüber, in die Klasse: fleißige Kinder, aber keine Lehrkraft. «Huch», sagte er, «wo ist denn der Herr Ruppaner?» «Pssst», machten die Kinder, «wir müssen leise arbeiten, der liegt hinten auf dem Sofa und macht ein Schläfchen.» Die hatten sich mit mir verbündet und offenbar volles Verständnis dafür, dass Schule ganz schön anstrengend ist und man sich ab und zu mal ausruhen muss. Und der Rektor: «Oh, dann gehe ich schnell wieder, ich kann ja nachher noch mit ihm sprechen – und ihr arbeitet so toll weiter.»

Natürlich stand ich kurz darauf bei ihm auf der Matte, nicht ganz sicher, was mich erwartete. Aber mein Chef war eher amüsiert angesichts meines ungewöhnlichen Experiments. Nicht nur die Kinder, auch er spielte voll mit. Das war damals in den 90ern eine Erfahrung, die mir später noch öfter in den Sinn kam: weil sie zeigt, dass man nicht so viel Angst haben darf vor Autoritäten. Und auch mal was ausprobieren kann.

Ja, ich habe immer gerne ausprobiert und kleine Alternativen zum normalen Unterricht gesucht. Es hat mir einfach auch als Lehrer Spaß gemacht, Stunden so vorzubereiten, dass sie die Kinder mehr inspirierten als das, was dazu im Schulbuch stand. Rausgehen, was tun, Erfahrungen machen und das Gelernte mit der eigenen Lebenswelt verknüpfen, das fand ich gut. Damals wusste ich nicht, dass auch dieser Ansatz 20 Jahre später ein sehr wichtiger Baustein meiner Pädagogik an der Alemannenschule sein würde: Lernen durch Erleben. Ebenso wenig wusste ich, was die Hirnforschung im neuen Jahrtausend zum Lernen sagen würde: nämlich, dass es Beziehung und Gefühle braucht, um Inhalte im Gehirn zu verankern.

Auch war es damals so, dass bei meinen kleinen Experimenten manchmal was ganz anderes rauskam, als ich beabsichtigt hatte. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Stunde im Heimat- und Sachunterricht. Es ging um Dinosaurier und wann sie wo gelebt hatten. Ich hatte extra draußen auf dem Sportplatz in der Weitsprunggrube die Plastikknochen eines Dinosaurier-Modells vergraben. Ich wollte den Kindern erst ein bisschen was über ausgestorbene Tiere in der Schwarzwaldregion und Paläontologie erzählen – und dann draußen mit ihnen die Knochen ausgraben. Dann würden wir sie wieder zusammensetzen, wie echte Forschende: sozusagen eine Frühform der Erlebnispädagogik – aber innerhalb der normalen Schulstunden. Das würde sicher lustig werden.

Doch bis zum zweiten Teil kamen wir zunächst gar nicht. Denn während wir noch in der Klasse saßen und ich erzählte, merkte ich, wie die Kinder permanent nach draußen guckten – und nicht aufpassten. Irgendwann habe ich gefragt: «Was ist denn da so spannend, geht da etwa ein Brontosaurus mit seiner Familie spazieren?» Die Kinder liefen alle zum Fenster. Ich auch. Draußen war ein Traktor auf dem Feld. Ich dachte: so what?, und wollte wissen: «Was ist jetzt daran so spannend?» «Der fährt gar nicht auf der Straße wie die Autos», sagten die Kinder. «Klar, ist ja ein Traktor, der fährt auf dem Feld», antwortete ich – und begriff erst dann: Die Kinder hatten keine Ahnung, was ein Traktor auf dem Feld machte. Ich hatte eine vierte Klasse mit einem guten Anteil von Kindern mit Gymnasialempfehlungen. Keines von ihnen wusste, dass der Traktor da mit einem Pflug unterwegs war, dass er das Land für die Saat vorbereitete, erst mit dem Pflug und dann mit der Egge – damit etwas wachsen kann und wir später was zu essen haben. Die hatten keine Ahnung von Bodenbearbeitung – und das bei uns auf dem Land.

Dieses Erlebnis hat mich nachhaltig beschäftigt und mir damals durchaus zu denken gegeben. Warum wissen die das nicht? Die haben doch Eltern, die gehen doch mal mit denen spazieren. Ich dachte aber auch: Was vermitteln wir unseren Kindern in der Schule? Da hatte ich eine toll vorbereitete Dino-Stunde, aber das war offenbar komplett an dem vorbei, was die Kinder eigentlich wissen sollten. Die Dino-Knochen haben wir dann später noch ausgegraben – aber vorher sind wir direkt zum Bauern auf den Acker gelaufen, und ich habe ihn gebeten, den Kindern zu erklären, was er da macht. Sicher, das stand nicht im Lehrplan, aber ich erinnere mich gut, dass mir das ein großes Bedürfnis war.

Damals als relativ junger Grundschullehrer wurde mir zum ersten Mal klar, dass die Kinder in meiner Klasse schon ganz anders aufwuchsen als noch ich in meiner Kindheit. Der Radius, in dem sie sich unbeaufsichtigt bewegten und die Umgebung erforschten, hatte sich von 1970 bis 1990 deutlich verkleinert. Weil es damals schon mit der Fremdbetreuung nach der Schule begann. Weil ihre Eltern ängstlicher waren als meine. Und weil es immer mehr Sicherheitsvorschriften gab. Und dieser Trend hat sich bis heute immer weiter fortgesetzt. Das Aluminiumwerk bei uns am Ort ist da ein gutes Beispiel. Früher konnte ich dort einfach mit einer Klasse hin, Hauptschülern zeigen, wie gearbeitet wurde. Um uns herum fuhren die Gabelstapler, und es war viel spannende Betriebsamkeit: Ah, so geht es zu in einer Fabrik! Könnte ich mir vorstellen, da eine Ausbildung zu machen?

Heute geht das nicht mehr so einfach – zu gefährlich! Zu viel Bürokratie, um das zu organisieren mit all den erforderlichen Haftungsausschlüssen. Wir nehmen unseren Kindern die Umwelt – und erschaffen eine künstliche im Klassenzimmer: Das dämmerte mir schon damals. Aber bei dieser Gedankendämmerung blieb es erst mal.

Ich war Beamter – und ich hatte Vorgaben: Schließlich gab es einen Bildungsplan und einen Lehrplan. Und die da oben im Ministerium hatten sich ja sicher was dabei gedacht, als sie den entwickelt haben … Mit dieser Einstellung war ich wahrscheinlich damals typisch als Beamter. Der Beamtenstatus an sich steht ja schon für Befehl und Gehorsam. Ich war 30 Jahre lang in der Gewerkschaft und habe immer dafür gekämpft, dass wir Lehrkräfte Beamte bleiben. Aber heute sehe ich, dass diese Strukturen und Denkweisen auch sehr hinderlich sein können für die Schule. Und sie waren es auch für mich. Klar, hab ich an kleinen Schrauben gedreht – Knochen ausbuddeln, Freiarbeit, Schläfchen im Unterricht, wir sprachen darüber –, aber ich habe nie darüber hinausgedacht. Und ich habe nie das Gesamtsystem infrage gestellt, auch nicht, als ich dann 2005 Leiter der Alemannenschule wurde.

Eine Klassenarbeit war für mich gottgegeben, das Klassenzimmer, die 45 Minuten, der Unterricht, die Noten – und viele weitere Strukturen. Das hatte ich so gelernt, das war eben so. Es handelte sich um Heiligtümer der Gesellschaft – und sind es auch teilweise heute noch, wie dieses Buch zeigen wird.

Es tat mir immer furchtbar leid, wenn ich in meiner Klasse Kinder hatte, die nicht zurechtkamen mit diesen Strukturen. Dann habe ich versucht, sie zu trösten, hab gesagt: «Ach, Max, es gibt Schlimmeres im Leben als zwei Fünfer im Zeugnis.» Aber innerlich habe ich dabei nie die Schule und die Art, wie wir lernten, infrage gestellt, sondern das Kind. Ich dachte: Schule ist nichts für dich.

Dabei ging es oft gar nicht um Intelligenz. Sondern vielleicht darum, dass das Kind einfach nicht ruhig sitzen konnte, reinrief oder anders störte – und ich es deshalb auch mal kurz rausschicken musste. Dass nicht das Kind falsch war, sondern der Unterricht und das System, so weit habe ich zuerst nicht gedacht.

Heute finde ich, dass ich mich – trotz aller Sympathie und Empathie für meine Schützlinge – zu wenig in die Rolle der Kinder versetzt habe. Ich habe zu wenig reflektiert, wie das für sie gewesen ist, wenn da vorne einer steht und seine Macht ausübt und vielleicht sagt: «So, das wird jetzt gemacht», egal ob es Sinn ergibt oder nicht.

Fast bin ich schockiert, dass ich das alles so lange hingenommen habe, dass ich es sogar weiterverbreitet habe an Generationen von Referendaren und Referendarinnen, die nach mir in den Schulbetrieb kamen – und dass mir die Fantasie fehlte, wie es auch anders gehen könnte.

Bis zu diesem Abend im Herbst 2007.

2.Das gibt’s doch gar nicht! Ein Film und seine Folgen

Es ist jetzt 17 Jahre her. Ich hatte einen langen Tag hinter mir und wollte auf dem Sofa mit einem Bier entspannen und Fußball gucken. Deshalb zappte ich am Fernseher durch die Programme. Aber es kam kein Fußball, stattdessen landete ich bei einer Doku, die im Dritten lief: Sie drehte sich um die Frage, wie Bildung in Deutschland gelingen kann. Ich sah Kinder auf dem Weg zur Schule, hörte die musikalische Untermalung mit leicht dramatischen Geigen und Bläsern und fürchtete, das könnte irgendwie anstrengend werden. Also zappte ich wieder weg und suchte weiter nach leichter, sportlicher Kost.