Das Kuckucksei - Val McDermid - E-Book

Das Kuckucksei E-Book

Val McDermid

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Beschreibung

In Manchesters Clubszene kennt sich die abgebrühte Kate Brannigan bestens aus. Aber in der Fertilisationsforschung? Von ihrer besten Freundin Alexis lässt Kate sich überreden, den Tod der Ärztin aufzuklären, der Alexis ihre Schwangerschaft zu verdanken hat – und stößt dabei auf illegale Machenschaften …

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Val McDermid

Das Kuckucksei

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelEpilog

Für Fairy, Lesley und all die anderen lesbischen Mütter, die belegen, dass Muster da sind, um gesprengt zu werden. Und für Robyn und Andrew und Jack.

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1. Kapitel

Am Tag, als Richards Todesanzeige im Manchester Evening Chronicle erschien, wusste ich, dass ich es nicht länger aufschieben konnte, Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Aber zuvor musste ich noch etwas anderes tun. Mit einer Polaroidkamera in der Hand stand ich in der Tür zum Wohnzimmer des Mannes, der drei Jahre mein Liebster gewesen war, und begutachtete das Chaos. Langsam schwenkte ich das Objektiv durch den Raum und hielt sorgfältig jedes Detail des Schlachtfeldes fest, Abschnitt für Abschnitt. Dieses Mal wollte ich mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Richard mochte weg sein, doch das bedeutete nicht, dass ich mich auf unnötige Risiken einließ. Privatdetektivinnen, die das tun, haben genauso gute Aussichten auf Rente wie die Angestellten von Robert Maxwell.

Nachdem ich in allen Einzelheiten festgehalten hatte, wo was in diesem Zimmer lag, das ein Spiegelbild meines eigenen Heims nebenan war, machte ich mich an das Mammutprojekt. Als Erstes sortierte ich grob vor: Bücher, Zeitschriften, CDs, Kassetten, Promotion-Videos – der ganze Plunder, der sich im Laufe eines Rockjournalistenlebens ansammelt. Dann kam die Feinarbeit. Die Bücher räumte ich alphabetisch ins Regal. Ebenso die CDs. Die Kassetten packte ich in eine Box, die Richard dafür gekauft hatte, als es mir eines Sonntags gelungen war, ihn zu Ikea zu schleifen – das Neunziger-Jahre-Äquivalent zum Verlobungsring. Ich hatte die Box sogar für ihn zusammengebaut, aber er benutzte sie nie, stattdessen zog er seine wahllos über den Boden verstreuten Stapel und Haufen vor. Ich unterdrückte eine von der Erinnerung ausgelöste Gefühlsanwandlung und machte verbissen weiter. Die Zeitschriften verstaute ich im Wintergarten, der hinter unseren beiden Bungalows lag und diese fester verband, als wir es je für unser beider Leben gewollt hatten.

Ich lehnte mich an die Wand und sah mich im Zimmer um. Wenn es heißt: »Ein Scheißjob, aber irgendwer muss es tun«, wieso glauben wir dann nie wirklich, dass es an uns hängenbleibt, die Suppe auszulöffeln? Ich seufzte und zwang mich weiterzumachen. Ich leerte Aschenbecher, in denen noch Reste von Richards Joints lagen, sammelte Kugelschreiber und Bleistifte ein und stopfte sie in die abgesägte Sapporo-Bier-Dose, die er dafür benutzte, seit ich ihn kannte. Ganz vorsichtig, um sie nicht noch mehr durcheinanderzubringen, als sie ohnehin schon waren, nahm ich die gesamten Notizblöcke, Zettel und Umschläge, auf die er lebenswichtige Telefonnummern und Zitate gekritzelt hatte, und trug sie in das Zimmer, das er als Büro benutzte, wenn es nicht gerade von seinem neunjährigen Sohn Davy während seiner regelmäßigen Besuche belegt war. Ich türmte alles auf einen verdächtig ähnlichen Stapel, der bereits den Schreibtisch zierte.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, war ich verblüfft über das Ergebnis. Das Zimmer sah fast aus, als könnte ich mich darin wohl fühlen. Ohne den üblichen Müll war sogar das Muster des alten marokkanischen Teppichs sichtbar, der fast den ganzen Boden bedeckte. Und auf den Sofas konnten ausnahmsweise die fünf Personen Platz nehmen, für die sie konstruiert waren. Ich bemerkte zum ersten Mal, dass in der Mitte des Couchtischs eine Glasplatte war. Schon ewig hatte ich versucht, ihn dazu zu bewegen, das Zimmer in einen halbwegs zivilisierten Zustand zu bringen, aber er hatte sich immer geweigert. Obwohl ich mir meinen Wunsch nun endlich erfüllt hatte, konnte ich nicht behaupten, dass es mich glücklich machte. Es ging mir nicht aus dem Kopf, aus welchem Grund ich das hier tat und was noch vor mir lag. Richards Todesanzeige war nur das erste Glied in einer Kette von Ereignissen, die mich auf eine verdammt härtere Probe stellen würden als das Aufräumen eines Zimmers.

Ich erwog, den Teppich zu bürsten, fand dann aber, dass das zu viel des Guten wäre. So was zählt zu jenen Aktivitäten nach dem Tod eines geliebten Menschen, die von anderen als etwas wunderlich empfunden werden. Und einen wunderlichen Eindruck wollte ich nicht machen. Ich ging zurück in mein Haus und tauschte Trainingshose und T-Shirt, die ich zum Putzen getragen hatte, gegen etwas, das besser zu einer trauernden Witwe passte. Einen anthrazitfarbenen Wollwickelrock vom Ausverkauf bei French Connection und einen schwarzen Lambswool-Rollkragenpullover, den ich nur erstanden hatte, weil ich darin aussah wie der Tod. Es gibt Momente im Berufsleben einer Detektivin, in denen sie besser einer Ohnmacht nahe wirkt als wie Wonder Woman kurz vorm Abheben.

Ich wollte gerade die Tür zum Wintergarten hinter mir schließen und in Richards Haus zurückgehen, als seine Klingel den völlig unpassenden Gitarrenriff von Eric Claptons Layla von sich gab. »Scheiße«, murmelte ich. Du kannst noch so gründlich sein, irgendwas vergisst du immer. Ich wusste nicht mehr, welche anderen Titel auf Richards Twenty-Great-Rock-Riffs-Klingel zur Auswahl standen, aber es musste doch etwas Angemesseneres geben als Claptons jaulende Gitarre. Vielleicht was von den Smiths, dachte ich geistesabwesend, während ich versuchte, das Gesicht einer Frau aufzusetzen, die gerade ihren Partner verloren hat. Wie sollte ich denn aussehen, überlegte ich für eine Sekunde. Was trägt die sehr betrübte Frau diese Saison auf ihrem Gesicht? In Zeiten gefärbter Wimpern kannst du nicht mal Rinnsale von Wimperntusche bemühen.

Ich atmete tief durch, hoffte das Beste und öffnete die Tür. Die Journalistin, die im Manchester Evening Chronicle über Kriminalfälle berichtet, stand vor der Tür, ihr schwarzes Haar erinnerte mehr denn je an eine Explosion in einer Perückenfabrik. »Kate«, rief Alexis, meine beste Freundin, und umarmte mich. »Ich kann’s nicht fassen«, fuhr sie stockend fort. Sie trat zurück, um mich anzusehen, Tränen in den Augen. So viel zum Thema abgebrühte Reporterin. »Warum hast du uns nicht angerufen? Ich hab’s in der Zeitung gesehen – Kate, was zum Teufel ist passiert?«

Ich schaute hinaus. Auf der Straße war alles ruhig. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern, zog sie entschlossen ins Haus und machte die Tür zu. »Nichts. Richard geht es gut«, sagte ich und führte sie durch den Flur.

»Wie bitte?«, fragte Alexis. Sie blieb stehen und sah mich stirnrunzelnd an. »Wenn es ihm gutgeht, warum habe ich dann gerade in der Abendzeitung gelesen, dass er tot ist? Und wenn es ihm gutgeht, warum ziehst du hier diese Baby’s-in-Black-Show ab, wo du weißt, dass du in dieser Farbe aussiehst wie Frankensteins Braut?«

»Wenn du mich mal zu Wort kommen lässt, erkläre ich es dir«, erwiderte ich und ging ins Wohnzimmer. »Ich versichere dir, Richard ist gesund und munter.«

Alexis blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und blickte in die makellose Ordnung des Zimmers. »Oh nein, ist er nicht«, widersprach sie, und durch ihren starken Liverpool-Akzent zog sich Misstrauen wie der Streifen durch die Zahnpasta. »Es geht ihm nicht gut, wenn er sein Wohnzimmer so hinterlässt. Er hat zumindest einen Nervenzusammenbruch. Was zum Teufel ist hier los, KB?«»Ich glaub’s einfach nicht, dass du die Traueranzeigen liest«, meinte ich und ließ mich aufs nächstbeste Sofa fallen.

»Tu ich sonst auch nicht«, stellte sie richtig und sank in das gegenüberliegende Sofa. »Ich war auf der Wache unten in Moss Side und hab auf die Stellungnahme des diensthabenden Inspectors zu einem Vorfall gewartet, bei dem es um eine Uzi und einen toten Rottweiler ging, und die haben derart lang gebraucht, dass ich bis auf die Anzeigen für Tanzveranstaltungen alles gelesen habe. Und das ist gut so. Was ist los? Wenn er nicht tot ist, was hat ihn veranlasst, derart auszuklinken?« Sie bohrte ihren nikotingelben Zeigefinger in die Zeitung.

»Ich habe die Anzeige in die Zeitung gesetzt«, antwortete ich.

»Auch eine Möglichkeit, ihm mitzuteilen, dass es aus ist«, unterbrach Alexis, bevor ich weiterreden konnte. »Ich dachte, ihr beide wärt euch einig gewesen?«

»Sind wir uns auch«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Um die Probleme in meiner Beziehung mit Richard auszubügeln, hätte die gesamte Belegschaft einer Großwäscherei einen Monat gebraucht. Wir brauchten wesentlich länger.

»Also, was ist los?«, fragte Alexis angriffslustig. »Was ist so wichtig, dass wir alle fast einen Herzinfarkt erleiden, weil wir denken, der Goldjunge hätte den Löffel abgegeben?«

»Kannst du nicht ein einziges Mal deine journalistischen Übertreibungen weglassen?«, seufzte ich. »Du weißt und ich weiß, dass niemand unter sechzig die Todesanzeigen liest. Ich musste real existierende Namen und Adresse benutzen, und ich dachte, da Richard bis Ende der Woche nicht in der Stadt ist, könnte ich seine nehmen, ohne dass jemand etwas merkt«, erklärte ich. »Und er wird es nicht merken, es sei denn, du erzählst es ihm.«

»Das hängt davon ab, ob du mir mitteilst, wozu das Ganze dient«, sagte Alexis verschlagen. Jetzt, da sie eine mögliche Story witterte, war die Empörung über einen Augenblick verschwendeten Mitgefühls nur mehr eine blasse Erinnerung. »Ich meine, er wird merken, dass etwas los ist«, fügte sie hinzu und machte eine vielsagende Geste durchs Zimmer. »Ich glaube nicht, dass er weiß, dass der Teppich ein Muster hat.«

»Ich habe vorher Fotos gemacht«, berichtete ich. »Wenn ich fertig bin, werde ich alles wieder so herrichten, wie es war. Er wird überhaupt nichts merken.«

»Er wird, wenn ich ihm die Annonce zeige«, konterte Alexis. »Raus mit der Sprache, KB. Was für eine Schau ziehst du hier ab? Warum spielst du die trauernde Witwe?« Sie lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. So viel zu meinen sauberen Aschenbechern.

»Kann ich dir nicht verraten«, sagte ich zuckersüß. »Berufliche Schweigepflicht.«

»Gequirlter Mist«, höhnte Alexis. »Du sprichst mit mir, KB, nicht mit den Bullen. Los, komm schon. Oder das Erste, was Richard sieht, wenn er nach Hause kommt …«

Ich schloss die Augen und murmelte einen alten Zigeunerinnenfluch. Nicht, dass ich etwa Romani konnte; ich hatte mich nur schon zu oft geweigert, glückbringendes weißes Heidekraut zu kaufen. Glauben Sie mir, ich weiß genau, was diese alten Zigeunerinnen sagen. Ich wägte meine Möglichkeiten ab. Ich konnte davon ausgehen, dass sie bluffte, und hoffen, dass sie Richard nichts erzählte. Schließlich taten die beiden ständig so, als empfänden sie im beruflichen Feld nichts als Verachtung füreinander, und führten das bei jeder Gelegenheit auf persönlicher Ebene fort. Andererseits behagte mir der Gedanke nicht, Richard erklären zu müssen, dass ich für die Bekanntgabe seines Todes verantwortlich war. Ich gab nach. »Das muss aber unter uns bleiben«, sagte ich ungnädig.

»Warum?«, fragte Alexis.

»Weil es mit ein bisschen Glück in ein oder zwei Tagen ein Fall fürs Gericht sein wird. Und wenn du es vorher rausposaunst, werden die Ganoven mit dem nächsten Zug aus der Stadt verschwinden, und wir werden sie nie schnappen.«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zu Melodramatik neigst, KB?«, fragte Alexis grinsend.

»Und das sagt eine Frau, die ihre heutige Story mit ›Verdeckter Ermittler stürmte bei einer Razzia im Morgengrauen das Liebesnest eines Großdealers‹ eröffnet hat, wo wir beide wissen, dass ein paar Typen von der Drogenfahndung bloß die Wohnung von der Freundin eines drittklassigen Dealers auseinandergenommen haben«, bemerkte ich kritisch.

»Tja, nun, du musst schon ein bisschen aufpeppen, sonst würgen die Flitzpiepen in der Redaktion es ab. Aber darum geht es jetzt nicht. Ich will wissen, warum Richard angeblich tot ist.«

»Das ist eine lange und komplizierte Geschichte«, startete ich einen letzten Versuch, ihr das Interesse zu nehmen.

Alexis grinste und blies betont langsam einen Schwall Rauch durch ihre Nasenlöcher. Puff der Zauberdrache hätte sich auf der Stelle zu einem Trainingskurs angemeldet. »Klasse«, schwärmte sie. »Solche Geschichten mag ich am liebsten.«

»Mein Klient ist Inhaber einer Steinmetzwerkstatt«, berichtete ich. »Es sind die größten Anbieter für Grabsteine in South Manchester. Sie haben sich an uns gewandt, weil sich Leute beschwert haben, sie hätten für Grabsteine bezahlt, die sie nie bekommen haben.«

»Jemand hat Grabsteine geklaut?«

»Schlimmer«, sagte ich und meinte es ernst. Meiner Ansicht nach ging es hier wirklich um komplette Arschlöcher. »Die Firma, die mich angeheuert hat, wurde eher beiläufig Opfer einer ganz miesen Betrügerei. Soweit ich bis jetzt herausgefunden habe, sind mindestens zwei Leute beteiligt, ein Mann und eine Frau. Sie tauchen an der Tür der Hinterbliebenen auf und behaupten, sie kämen von der Firma meines Klienten. Sie verwenden Visitenkarten mit Logo, Adresse und Telefonnummer dieser Firma, alles absolut koscher. Das Einzige, was nicht stimmt, ist, dass die Namen auf den Karten meinem Klienten völlig unbekannt sind. Sie benutzen nicht die Namen seiner Angestellten. Aber diese beiden sind gerissen. Sie kommen immer abends, außerhalb der Geschäftszeiten, also können Misstrauische die Sache nicht durch einen Anruf im Büro meines Klienten überprüfen. Und sie kommen allein. Ohne schweres Geschütz. Wo eine Frau gestorben ist, taucht die Frau auf. Wo es ein Mann ist, der Kerl.«

»Was ist ihre Masche?«, fragte Alexis.

»Sie machen auf nett und mitfühlend, dann erklären sie, sie besuchen die Leute jetzt lieber zu Hause, weil das Aussuchen eines angemessenen Grabsteins in den eigenen vier Wänden leichter fällt. Dann bringen sie ein Sonderangebot ins Spiel, gerade so, als würden sie eine Doppelverglasung oder so was verkaufen. Du weißt schon, nach dem Motto: einzigartige Gelegenheit, Sondertransport von italienischem Marmor oder Granit aus Aberdeen, Sie könnten zu denen gehören, die wir als Referenz anführen, begrenzte Stückzahl.«

»Ja, ja«, stöhnte Alexis. »Und wenn man nicht heute unterschreibt, dann ist die Gelegenheit futsch, stimmt’s oder hab ich recht?«

»Du hast recht. Diese armen Socken, deren Leben ohnehin schon in Trümmern liegt, weil sie gerade Partnerin oder Partner, Ehemann oder Ehefrau, Mutter oder Vater, Sohn oder Tochter verloren haben, werden ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, damit so ein verschlagenes Arschloch losgeht und sich noch einen Designeranzug oder ein Scheiß-Mobiltelefon kauft«, sagte ich wütend. Ich kenne natürlich die Regel, persönliche Gefühle aus der Arbeit rauszuhalten, aber es gibt Fälle, in denen cool und unbeteiligt zu bleiben nicht von gesundem Menschenverstand zeugen würde, sondern eher von Unmenschlichkeit. Das hier war so ein Fall.

Alexis zündete sich noch eine Zigarette an und schüttelte den Kopf. »Richtige Scheißkerle«, meinte sie angewidert. »Eins-a-Betrüger. Die nehmen also das Geld und verschwinden auf Nimmerwiedersehen, und dein Klient darf dann die Scherben aufsammeln, wenn der Grabstein eine Fata Morgana bleibt.«

»So ungefähr. Die beiden sind wirklich skrupellose Schweine. Ich habe ein paar von den Betroffenen befragt, und einige haben erzählt, die Frau ist tatsächlich mit ihnen zum Geldautomaten gefahren, um Bargeld für eine Anzahlung zu holen.« Ich schüttelte den Kopf, als ich an die Mienen der Opfer dachte. Sie zeigten eine ganze Palette von Gemütszuständen, einer jammervoller als der andere. Zunächst Trauer, dann der Zorn, übers Ohr gehauen worden zu sein, dazu eine Mischung aus Scham und Groll, weil sie darauf reingefallen waren. »Und es hat überhaupt keinen Sinn, ihnen zu versichern, dass selbst eine ausgekochte Zynikerin wie ich denen auf den Leim gegangen wäre. Denn wahrscheinlich wäre ich das, das ist das Schlimmste daran«, fügte ich bitter hinzu.

»So ist das mit der Trauer«, bestätigte Alexis. »Das Letzte, das du erwartest, ist, über den Tisch gezogen zu werden. Überleg mal, wie viele Familien jahrelang nicht miteinander reden, weil irgendjemand unmittelbar nach einem Todesfall etwas Ungeheuerliches gemacht hat, wenn alle erschüttert sind und das Gefühl haben, ihr Hirn würde zusammen mit ihren Gefühlen durch den Fleischwolf gedreht. Nachdem Theresa, die zweite Ehefrau meines Onkels Joe, den Pelz meiner Großmutter auf deren Beerdigung getragen hatte, war sie für die Familie gestorben. Mein Vater erlaubte meiner Mutter fast zehn Jahre nicht, Weihnachtsgrüße zu schicken. Bis Onkel Joe selbst an Krebs erkrankte, der arme Kerl.«

»Tja, aber zu wissen, dass diese Leute nicht einfach extrem leichtgläubig waren, macht es für sie auch nicht leichter. Meiner Meinung nach ist das Einzige, was ihnen vielleicht helfen könnte, die Verantwortlichen dingfest zu machen.«

»Was ist mit den Bullen? Haben sie die nicht verständigt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nur ein oder zwei Leute. Die meisten haben nur meinen Klienten angerufen. Der Stolz. Die Leute wollen nicht, dass alle denken, sie kämen nicht zurecht, bloß weil sie jemanden verloren haben. Besonders, wenn sie gerade anfangen, sich langsam zu erholen. Das heißt, alles, was die Gummiknüppel haben, sind ein paar Einzelfälle.« Es war unnötig, einer Kriminalreporterin zu sagen, dass das bei der Kripo nicht gerade höchste Priorität haben würde, denn die Polizei war mit einer wahrhaften Seuche von Crack und Waffen befasst, obwohl die Gangs angeblich Waffenstillstand geschlossen hatten.

Alexis lächelte zynisch. »Nicht gerade die Art Paradefall, um den die Helden von der Kripo sich reißen. Die würden erst davon Notiz nehmen, wenn eine Reporterin wie ich über die Geschichte stolpert und dazu ein paar Schlagzeilen verfasst. Dann müssten sie den Arsch hochbekommen.«

»Dazu ist es jetzt zu spät«, sagte ich entschlossen.

»Lumpenpack«, sagte Alexis. »Also hast du Richards Todesanzeige reingesetzt, um sie zu ködern und hochgehen zu lassen?«

»Das scheint die einzige Möglichkeit, sie zu schnappen«, erklärte ich. »Nach allem, was die Opfer erzählen, ist klar, dass sie nach den Traueranzeigen vorgehen. Richard ist nicht in der Stadt, er zieht mit irgendeiner Band rum, also dachte ich mir, ich schaukle das so, dass er vom Missbrauch seines Namens gar nichts mitbekommt. Wenn alles nach Plan läuft, sollte innerhalb der nächsten halben Stunde jemand hier sein.«

»Gut ausgedacht«, meinte Alexis zustimmend. »Hoffentlich funktioniert es. Warum hast du nicht Bills Name und Adresse benutzt? Er ist doch noch in Australien, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wollte ich, aber er kommt heute Nachmittag zurück.« Bill Mortensen, Geschäftsführer von Mortensen & Brannigan, Privatdetektei und Sicherheitsberatung, war die letzten drei Wochen in Australien gewesen, seine zweite Reise nach Down Under innerhalb von sechs Monaten, eine Tatsache, die für mich langsam nach mächtigem Ärger roch. »Er wird sein Haus erst mal zum Jetlag-Erholungsgebiet erklären. Blieb also Richard. Tut mir leid, dass du umsonst zum Kondolieren gekommen bist. Und es tut mir leid, wenn es dich aus der Fassung gebracht hat«, fügte ich hinzu.

»Schon in Ordnung. Ich denke, ich habe nicht wirklich geglaubt, dass er tot ist. Es schien mir der schlechte Scherz eines kranken Hirns zu sein, vor allem, weil ich mir nicht erklären konnte, warum du mir nichts gesagt hast. Wenn du verstehst, was ich meine. Wie auch immer, ich bin nicht umsonst gekommen. Ich wollte sowieso reinschauen. Ich muss dir was erzählen.«

Aus irgendeinem Grund sah Alexis mir plötzlich nicht mehr in die Augen. Sie schaute sich unsicher im Zimmer um, als wären Richards Wände eine Quelle der Inspiration. Dann wandte sie den Blick langsam von dem nicht mehr strahlend weißen Anstrich ab und begann in ihrer Handtasche zu wühlen, einer enormen Handtasche, die meine wie ein Abendtäschchen aussehen ließ. »Na, schieß los«, drängte ich ungeduldig nach einer längeren Stille, in der Alexis eine neue Packung Zigaretten zutage gefördert, aufgemacht und sich eine angezündet hatte.

»Es geht um Chris«, hauchte sie geheimnisvoll. Wieder Stille. Chris, Alexis’ Lebensgefährtin, arbeitet als Architektin in einem Gemeinschaftsbüro. Es scheint, als wären die beiden schon länger zusammen als Mickey und Minnie. Sie haben kürzlich ihr Traumhaus fertiggestellt, jenseits der Grenzen der Zivilisation, wie wir sie kennen, als Teil eines Eigenbauprojekts. Und jetzt schlug Alexis den Ton an, den BBC-Sprecherinnen verwenden, wenn ein Mitglied der königlichen Familie gestorben ist oder sich von der oder dem Angetrauten getrennt hat.

»Was ist mit Chris?«, fragte ich nervös.

Alexis fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sah mich dann von unten her an. »Sie ist schwanger.«

Bevor ich etwas sagen konnte, gab die Türglocke wieder dröhnend den Layla-Riff von sich.

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2. Kapitel

Ich schaute sie an, und sie schaute mich an. Was ich sah, war echtes Glück, begleitet von einem Anflug Besorgnis. Was Alexis sah, fürchte ich, war jede einzelne zahnmedizinische Behandlung, die ich je hatte über mich ergehen lassen. Bevor ich meine Stimmbänder entwirren konnte, war Alexis aufgestanden und begab sich in Richtung Wintergarten. »Das wird dein Trickbetrüger sein. Ich verschwinde besser«, verkündete sie. »Ich geh durch dein Haus raus. Ruf mich später an«, rief sie, während sie davonrauschte.

Überrumpelt genug, um auszusehen wie jemand, dessen ganze Familie durch einen absurden Unfall ausgelöscht wurde, stapfte ich noch ganz fassungslos zur Vordertür. Der Typ draußen sah aus wie der Lehrling eines erstklassigen Bestattungsunternehmens. Dunkler Anzug, weißes Hemd, das in der Straßenbeleuchtung wie eine Waschpulverreklame strahlte, schlichte dunkle Krawatte. Sogar sein Haar war glänzend schwarz wie seine Schuhe. Das Einzige, was die Vollkommenheit des Bildes beeinträchtigte, war seine Haut, die nicht leichenblass war, sondern eine leichte Bräune aufwies, wie sie sich die meisten im April nicht leisten können. »Mrs. Barclay?«, fragte er mit tiefer würdevoller Stimme.

»Ja?« Ich versuchte meine Stimme zittrig klingen zu lassen.

Eine Hand schob sich in seine obere Jackentasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Will Allen, Mrs. Barclay. Mein herzlichstes Beileid«, sagte er, gab mir aber noch nicht die Karte.

»Sind Sie ein Freund von Richard? Jemand, mit dem er arbeitet – gearbeitet hat?«

»Leider nicht, Mrs. Barclay. Ich hatte nicht das Glück, Ihren verstorbenen Mann zu kennen. Nein, ich komme von Greenhalgh & Edwards.« Er überreichte mir die Karte mit einer eleganten Handbewegung. »Könnte ich einen Moment ungestört mit Ihnen sprechen?«

Ich schaute auf die Karte. Ich erkannte sofort, dass sie von einem der Automaten stammte, die es an Autobahnraststätten gibt. Die von der Raststätte Hilton Park an der M6 sind die besten, sie haben eine wirklich hübsch strukturierte Oberfläche. Wirf drei Pfund in den Schlitz, wähle ein Logo, tippe den Text ein, und du bekommst sechzig Visitenkarten. Niemand stellt Fragen. Eines der großen Mysterien des Universums ist, dass die Verbrecher die Möglichkeiten der neuen Technologien weit schneller erkennen als die gesetzestreuen Bürgerinnen und Bürger. Während die meisten Leute den Visitenkartenautomaten auf dem Weg zur Toilette noch vorsichtig beäugen, stehen die bösen Jungs schon Schlange, um sich mit gefälschten Visitenkarten auszurüsten. Dieses Beispiel geduldigen Papiers hier erzählte mir, dass Will Allen bei der Firma Greenhalgh & Edwards, Werkstatt für Grabmalkunst, The Garth, Cheadle Hulme, Seniorberater in Bestattungsangelegenheiten war. »Kommen Sie lieber herein«, bat ich ausdruckslos und trat einen Schritt zurück, um ihn vorbeizulassen. Ehe ich die Tür schloss, sah ich Alexis aus meinem Haus kommen und fröhlich in meine Richtung winken.

Allen steuerte aufs Wohnzimmer zu, die einzige offene Tür im Flur. Ich war nicht so weit gegangen, das ganze Haus zu putzen. »Kommen Sie weiter«, bat ich und wies ihn zum Sofa, von dem Alexis gerade aufgestanden war. Er setzte sich und zog dabei sorgsam seine Hose an den Knien zurecht. Bei Licht betrachtet sah sein anthrazitfarbener Anzug nicht nach Marks & Spencer, sondern eher nach Jasper Conran aus. Witwen ausnehmen war offensichtlich ein einträgliches Geschäft.

»Danke, dass Sie mir erlauben, mit Ihnen zu sprechen, Mrs. Barclay«, sagte Allen, und seine Stimme ging über vor Mitgefühl. Sein Haar war sorgfältig geschnitten, sein Gesicht glatt rasiert, seine beunruhigende Ähnlichkeit mit John Cusack ziemlich entwaffnend. »Kam der Tod Ihres Mannes völlig unerwartet?«, fragte er mit einem betroffenen Zusammenziehen der Augenbrauen.

»Autounfall«, antwortete ich und unterdrückte ein Schluchzen. Schauspielen ist harte Arbeit. Ich war beinahe überzeugt, dass Kevin Costner jeden Dollar der Millionen, die er für einen Kinofilm bekommt, verdiente.

»Tragisch«, psalmodierte er. »Ihn in der Blüte seiner Jahre zu verlieren. Tragisch.« Wenn er so weitermachte, würde ich bald nicht mehr spielen. Ich würde tatsächlich anfangen zu weinen. Und nicht vor Kummer.

Ich beäugte nochmals seine Visitenkarte. »Ich verstehe nicht ganz, Mr. Allen. Weshalb sind Sie hier?«

»Meine Firma erzeugt qualitativ hochwertige Gedenksteine für geliebte Menschen, die von uns gehen. Die besondere Qualität ist gerade für jemanden wie Sie, der einen Ehepartner so jung verloren hat, wichtig. Sie werden sichergehen wollen, dass, was immer Sie zur Erinnerung an ihn wählen, mehr ist als bloß etwas, das die Zeiten überdauert.« Sein feierliches Lächeln verdiente beinahe ein Echtheitszertifikat. Wäre ich tatsächlich eine von Trauer gebeugte Witwe, wäre ich zu diesem Zeitpunkt bereits halb in ihn verliebt.

»Aber das Beerdigungsinstitut sagte, sie würden das alles für mich erledigen«, mimte ich die Vernünftige-aber-Verwirrte.

»Früher haben wir uns darauf verlassen, dass Bestattungsunternehmer uns an die Leute weiterempfehlen, aber wir haben festgestellt, dass dies nicht wirklich zu zufriedenstellenden Lösungen führt«, teilte Allen vertraulich mit. »Wenn ein Begräbnis arrangiert wird, gibt es so viele verschiedene Dinge zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen ist es schwierig, einem Gedenkstein die ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen, die ihm zukommen sollte.«

Ich nickte. »Ich verstehe, was Sie meinen«, erwiderte ich schwach. »Nach einiger Zeit verschwimmt einfach alles.«

»Und genau deshalb haben wir beschlossen, dass ein radikales Umdenken nötig ist. Ein Grabstein ist ein bleibendes Denkmal, und für uns, die Hinterbliebenen, ist es wichtig, dass er die Liebe und den Respekt symbolisiert, die wir für die Person, die wir verloren haben, empfinden. Greenhalgh & Edwards sind der Ansicht, dass es unglaublich wichtig ist, in Ruhe in Ihrem eigenen Heim zu entscheiden, wie Sie Ihres lieben Mannes gedenken wollen, ohne dabei durch die verschiedenen Einzelheiten für die Trauerfeierlichkeiten abgelenkt zu werden.«

»Ich verstehe«, meinte ich. »Das klingt angemessen, finde ich.«

»Das denken wir auch. Sagen Sie, Mrs. Barclay, haben Sie sich für eine Beerdigung oder eine Feuerbestattung entschieden?«

»Keine Feuerbestattung«, entgegnete ich entschlossen. »Ein richtiges Begräbnis, das hätte Richard gewollt.« Aber erst, wenn er wirklich tot wäre, fügte ich in Gedanken hinzu.

Er ließ die Schlösser seiner Aktentasche, die er neben sich aufs Sofa gestellt hatte, aufschnappen. »Eine exzellente Wahl, wenn ich das so sagen darf, Mrs. Barclay. Es ist wichtig, einen Ort zu haben, an dem Sie richtig trauern können, einen Platz, um sich zu sammeln und sich mit Mr. Barclay verbunden zu fühlen, was bestimmt noch sehr lange Zeit der Fall sein wird, da bin ich sicher. Nun, da wir noch in der Probephase unseres neuartigen Kundenservice sind, können wir Ihnen unsere hochwertigen Gedenksteine zu einem bedeutend niedrigeren Preis anbieten als die Bestattungsinstitute. Das heißt also, Sie bekommen mehr für Ihr Geld. Ein Gedenkstein, der zunächst Ihre finanziellen Möglichkeiten zu übersteigen schien, wird plötzlich erschwinglich. Denn wir wollen doch alle nur das Beste für unsere Lieben«, fügte er mit vor Einfühlung triefender Stimme hinzu.

Ich kämpfte gegen den nahezu unüberwindbaren Wunsch an, ihm die Hoden abzureißen und sie in Nickel zu fassen – zum Gedenken an seinen unglaublichen Opportunismus –, und nickte schwach. »Ich glaube schon.«

»Dürfte ich wohl die Gelegenheit nutzen, um Ihnen unser Sortiment zu zeigen?« Die Aktentasche war so offen wie sein Gesichtsausdruck. Wie konnte ich ablehnen?

»Ich weiß nicht …«

»Es besteht absolut keine Verpflichtung, obwohl es natürlich in Ihrem Interesse ist, dasjenige Angebot zu wählen, das Ihnen das meiste für Ihr Geld bietet.« Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf und setzte sich zu mir; wie durch Zauberei hatte er eine Mustermappe aus seiner Aktentasche in der Hand. Hätte er den Pfad der Tugend gewählt, hätte er mit diesem Trick der neue David Copperfield werden können.

Er schlug die Mappe vor mir auf. Ich starrte auf eine gewöhnliche Granitplatte. Die Buchstaben sahen nicht aus wie in Stein gemeißelt, sie klebten eher darauf wie Letraset. »Das ist unser einfachstes Modell«, sagte er. »Aber sogar das ist aus feinstem schottischem Granit, der nach traditionellen Methoden abgebaut und von den Handwerkern unserer Firma eigenhändig bearbeitet wird.« Er nannte einen Preis, der mein Tageshonorar wie Hosenknöpfe erscheinen ließ. Er legte den Ordner auf meinen Schoß.

»Ist das mit oder ohne Preisnachlass?«, fragte ich.

»Wir schreiben die Preise immer ohne Rabatt an, Mrs. Barclay. Der Preis, den Sie zu zahlen hätten, ist also um zwanzig Prozent günstiger. Und wenn Sie sich entschließen, noch heute eine Anzahlung zu leisten und einen Scheck auszustellen, kann ich Ihnen weitere fünf Prozent Skonto gewähren, das hieße, Sie zahlen ein Viertel weniger.« Er legte seine Hand auf meine und tätschelte sie sanft.

In diesem Augenblick wurde die Tür mit Wucht aufgerissen. »Vorsicht mit dieser Tüte, da ist die scharf-saure Suppe drin«, hörte ich eine vertraute Stimme rufen. Ich schloss kurz die Augen. Jetzt wusste ich, wie Maria Magdalena am Ostersonntag zumute gewesen war.

»Kate? Du hier?« Richards Stimme erreichte das Zimmer einige Sekunden vor ihm selbst. Er erschien in der Tür, eine duftende Plastiktüte in der einen und einen qualmenden Joint in der anderen Hand. Er blickte ungläubig in sein Wohnzimmer. »Was zum Teufel ist hier los? Was hast du mit meinem Zimmer gemacht?«

Er betrat den Raum, gefolgt von zwei bulligen Neo-Punks, jeder mit einer vertrauten Plastiktragetasche vom Chinesen. Das war das einzig halbwegs Normale an ihnen. Beide trugen schwere schwarze Arbeitsstiefel, die bis halb über die Waden geschnürt waren, abgerissene schwarze Leggins und dicke, knielange Kilts mit Schottenmuster. Darüber hingen schwarze Großvaterhemden mit strategisch angebrachten Rissen, die mit Kiltnadeln und keltischen Broschen zusammengehalten wurden. Diagonal über die Brust hatte jeder eine Schärpe in Schottenkaro, wie sie die Tänzer bei diesen grauenhaften Pseudo-Folklorevorführungen im schottischen Fernsehen zu Hogmanay tragen, um die Herzen der Exilschotten zu wärmen, während wir anderen in unseren Champagner kotzen. Der links von Richard hatte leuchtend rotes Haar, auf dem Oberkopf lang und locker, an den Seiten kurz geschnitten. Der andere hatte einen dauergewellten Irokesenschnitt in Regenbogenfarben. Jeder war groß genug, um eine eigene Postleitzahl zu verdienen. Sie sahen aus wie Rob Roy, eingekleidet von Vivienne Westwood. Will Allen glotzte die drei entgeistert an.

Die Tüte mit dem chinesischen Essen und Richards Kiefer fielen runter, als ihm die Verwandlung des Zimmers richtig bewusst wurde. »Mensch, Brannigan, ich dreh mich mal fünf Minuten um, und du machst Schrott aus der Wohnung. Und wer zur Hölle sind Sie?«, funkelte er Allen an.

Allen versuchte etwas Ähnliches wie ein Lächeln. »Ich bin Will Allen. Von Greenhalgh & Edwards, Werkstatt für Grabmalkunst. Wegen Mr. Barclays Gedenkstein?«

Richard runzelte die Stirn. »Mr. Barclays Gedenkstein? Sie meinen, so wie Grabstein?«

Allen nickte. »Das ist zwar nicht das Wort, das wir bevorzugt verwenden, aber Sie haben recht, so wie Grabstein.«

»Mr. Richard Barclay, sagten Sie?«

»Das ist richtig.«

Richard schüttelte ungläubig den Kopf. Er steckte seine Hand in die Innenseite seiner Lederjacke und zog einen Presseausweis mit seinem Foto heraus. Er hielt es Allen hin.

»Sehe ich Ihrer Meinung nach tot aus?«

Allen stand auf, seine Mappe entzog sich meinem Zugriff. Er warf sie in die Aktentasche, schnappte diese und drängte sich an Richard und den beiden keltischen Kriegern vorbei. »Ach, Scheiße«, fluchte ich, sprang auf und stürzte hinter Allen zur Tür hinaus.

»Komm zurück, Brannigan, du schuldest mir eine Erklärung«, hörte ich Richard brüllen, als ich schon bei der Tür war. Allen rannte den Weg zu den Parkplätzen hinunter. Ich hatte meine Autoschlüssel nicht dabei, eine Verfolgungsjagd war das Letzte, womit ich gerechnet hatte. Doch Allen war mein einziger Anhaltspunkt, und er war dabei, mir zu entwischen. Ich musste etwas tun. Ich rannte hinter ihm her, froh, dass die einzig annehmbaren schwarzen Schuhe in meinem Schrank flache Pumps gewesen waren. Als er sich einem silberfarbenen Mazda näherte, gingen dessen Lichter an, und ich hörte das Klicken der ferngesteuerten Türverriegelung. Allen hechtete ins Auto. Der Motor sprang sofort an. Noch so eine Errungenschaft der modernen Technik, die den Bösen das Leben erleichtert. Er setzte mit heulendem Motor zurück, wendete und fegte aus der Sackgasse, in der ich wohne. Leute, die ihn zufällig mit qualmenden Reifen auf die Hauptstraße rasen sahen, würden ihn für einen etwas indiskreten Autodieb halten.

Ich seufzte niedergeschlagen und ging zum Haus zurück. Ich hatte zwar sein Autokennzeichen, aber ich wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass mich das nicht viel weiter bringen würde. Dafür waren diese Leute zu professionell. Wenigstens hatte ich das Ganze auf Band, sagte ich mir. Ich hielt inne. Nein, hatte ich nicht. In der Aufregung um Alexis’ Besuch und dem Schock ihrer unglaublichen Mitteilung hatte ich vergessen, die Abhörmikros, die ich in Richards Wohnzimmer installiert hatte, einzuschalten. Die ganze Aktion war ein Reinfall.

Und nicht nur das, ich musste mich mit einem wütenden und sehr lebendigen Richard auseinandersetzen, der inzwischen mit verschränkten Armen und finsterer Miene in der Tür stand. Ich unterdrückte ein Seufzen und ging auf ihn zu. Hätte ich Absätze an meinen Schuhen gehabt, ich hätte sie schleifen lassen. »Ich weiß, mit einer Neo-Punkband auf Tour zu gehen ist in deinen Augen ein schlimmeres Schicksal als der Tod, aber deshalb brauche ich noch lange keinen Grabstein«, meinte Richard sarkastisch.

»Es war beruflich«, erklärte ich müde.

»Soll ich dafür auch noch dankbar sein? Da ist ein Mann in meinem Wohnzimmer – zumindest dachte ich, es wäre mein Wohnzimmer, aber wenn ich es mir so ansehe, bin ich da gar nicht mehr sicher. Vielleicht bin ich irrtümlich ins falsche Haus geraten? Wie auch immer, da ist so ein schleimiger Kotzbrocken in meinem Wohnzimmer, sitzt auf meinem Sofa und diskutiert meinen Grabstein mit meinem Mädchen –«

»Partnerin«, warf ich ein. »Ich bin neunundzwanzig, erinnerst du dich? Kein Mädchen mehr.«

Er ignorierte mich und fuhr mit dem Schub einer Dampfwalze fort. »Anscheinend weil ich angeblich tot bin. Und ich soll ruhig und gelassen sein, weil es beruflich war?«, brüllte er.

»Lässt du mich rein, oder soll ich Tickets verkaufen?«, fragte ich ruhig und deutete mit dem Daumen in Richtung Nachbarschaft. Ich musste nicht erst hinsehen, um zu wissen, dass mittlerweile ein halbes Dutzend Fenster belegt waren. Die Fernsehserien waren in letzter Zeit so grässlich gewesen, dass die Leute sich beim Nachbarschaftsgucken gegenseitig ausstachen.

»Dich reinlassen? Warum? Kommt als Nächstes der Bestattungsunternehmer? Eine Sarglieferung, oder was?«, fragte Richard und schob seinen Kopf vor, so dass wir praktisch Nase an Nase standen. Ich registrierte, dass sein Atem süßlich nach Marihuana roch, und sah die goldenen Sprenkel in seinen haselnussfarbenen Augen. Sich auf Kleinigkeiten zu konzentrieren ist eine gute Methode, um mit Ärger fertig zu werden.

Ich stieß ihn in die Brust. Nicht fest, gerade genug, um ihn wegzuschieben. »Ich erklär’s dir drinnen«, zischte ich durch die Zähne.

»Na, auf das Märchen bin ich gespannt wie ein Klostrang«, knurrte Richard, drehte sich auf dem Absatz um und drängte an den zwei Neo-Punks vorbei. Die beiden lehnten hinter ihm an der Wand und taten krampfhaft so, als wären sie viel zu cool, um sich dafür zu interessieren, dass neben ihnen ein Krieg tobte.

Ich folgte ihm ins Wohnzimmer und nahm wieder meinen Platz ein. Richard setzte sich mir gegenüber, zwischen uns der Kaffeetisch. Er fing an, den Inhalt der drei Tüten auf den Tisch zu räumen. »Essschalen und Stäbchen sind in der Küche«, sagte er zu seinen gigantischen gälischen Gorillas. »Erste Tür rechts im Flur. Das heißt, wenn sie die nicht auch ausgeräumt hat.« Der Rote verschwand auf der Suche nach Esswerkzeug. »Ich hoffe nur, dass es gut ist, Brannigan«, fügte Richard drohend hinzu.

»Es riecht gut«, erwiderte ich strahlend. »Yang Sing, stimmt’s?«

»Vergiss den blöden Chinesen!« Ich wartete auf den Ruck, der anzeigt, dass die Welt sich zu drehen aufhört. Vergiss den blöden Chinesen? Und das von dem Mann, der meint, etwas ohne Sojasauce könne keine Nahrung sein? »Was wollte dieser Schleicher?«, insistierte Richard.

»Mir einen Grabstein aufschwatzen«, antwortete ich, als der Rote zurückkam und Schüsseln, Stäbchen und Löffel vor uns abstellte. Ich schnappte mir einen Karton mit scharf-saurer Suppe und einen Löffel.

»Das habe ich gemerkt. Aber warum hier? Und warum meinen Grabstein?« Richard brüllte beinahe.

Der Punk mit dem Iro und sein Kumpel tauschten besorgte Blicke. Der Rote nickte. »Hör ma’«, sagte der Iro. »’s is’ vülleicht nich’ so ’n heißes Timing, Richard, ey, verstehste, ey?« Der Glasgow-Akzent war stark genug, um damit eine Brücke zu errichten, die die ganze Zivilisation, die sie hervorgebracht hatte, überdauern würde. Nachdem ich seine Aussage decodiert hatte, konnte ich ihm nur zustimmen.

»Wir könnten ja schon ein andermal wiederkommen«, pflichtete der Rote mit dem gleichen Akzent bei. Das akustische Spiegelbild.

»Was soll das, wiederkommen, ihr seid jetzt hier«, sagte Richard. »Haut rein. Sie liebt Publikum, nicht wahr, Brannigan?« Er häufte gebratene Nudeln und Sojabohnensprossen in seine Schale, fügte einige Stücke duftende gefüllte Ente hinzu und setzte ein paar Wan-Tan-Garnelen obendrauf, dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück und begann zu mampfen. »Also, warum bin ich tot?«

So macht er das immer mit mir. Sobald ich die Möglichkeit hätte, meinen gerechten Anteil von einem chinesischen Essen abzubekommen, stellt Richard diese Art Fragen, die lange und komplizierte Antworten erfordern. Er weiß ganz genau, dass meine Mutter mich unfähig gemacht hat, mit vollem Mund zu sprechen. Gegen manche Vorschriften kannst du ankämpfen, andere gehen in Fleisch und Blut über. Zwischen ein paar Löffeln scharf-saurer Suppe, die so feurig war, dass sie meine Nebenhöhlen freimachte, setzte ich ihn ins Bild.

Dann, als Richard gerade zu konzentriert mit seinen Essstäbchen zugange war, um etwas zu erwidern, ging ich in die Offensive. »Und alles wäre gelaufen wie geschmiert, wenn du nicht zur Tür reingeplatzt wärst und meine Tarnung hättest auffliegen lassen. Zwei Tage zu früh, wenn ich das bemerken darf. Du solltest in Milton Keynes sein mit einer Band, deren Name sich anhört, als wäre er per Zufall aus dem Wörterbuch der Neandertaler-Grunzlaute ausgewählt worden. Wie war er noch mal? Blubber? Grapsch? Furz?«

»Proll«, murmelte Richard mit Glasnudeln im Mund. Er schluckte. »Aber wir reden jetzt nicht von mir, der vorzeitig in sein eigenes Haus zurückgekommen ist. Wir reden über diese Schweinerei«, sagte er und schwenkte seine Essstäbchen durch die Luft.

»Es ist sauberer und aufgeräumter, als es je war«, erwiederte ich hart.

»Das is’ schlecht, ey«, murmelte der Iro. »He, Chefin, glaubste nich, du solltest mal deine Chakras harmonisieren lassen? Der Energiefluss im dritten is’ ziemlich blockiert.«

»Halt die Klappe, Nissen. Nich’ alle sind auf Erleuchtung und so«, meinte der Rote und versetzte ihm einen Stoß in die Seite, der bei den meisten Menschen drei gebrochene Rippen verursacht hätte. Nissen grunzte nur.

»Du hast noch immer nicht gesagt, warum du früher zurückgekommen bist«, beharrte ich.

»Eigentlich aus zwei Gründen. Aber nach allem, was ich hier vorgefunden habe, frage ich mich, warum ich über den einen überhaupt nachgedacht habe«, antwortete Richard, als wäre das eine Erklärung.

»Muss ich raten? Tier, Pflanze, Mineral?«

»Ich hatte das nötige Material für die Artikel über Prall zusammengetragen, und dann bin ich auf diese Burschen hier gestoßen. Jungs, das ist Kate Brannigan, und obwohl es nicht so aussieht – sie ist Privatdetektivin. Kate, das ist Lois E. Kamm, Frontmann der neuen Glasgower Top-Punkband Lois E. Kamm und die grindigen Bälger.« Der Rote nickte feierlich und deutete mit seinen Essstäbchen einen Gruß an. »Und Nissen, der Drummer der Band.« Nissen schaute von seiner Schale auf und nickte mir zu. Ich nahm mir einen Augenblick Zeit, um zu überlegen, ob die Gitarristen wohl Seppo Rhö und Schorf hießen.

»Sehr angenehm«, sagte ich. »Richard, ich bin natürlich hocherfreut, den Abend mit Lois und Nissen zu verbringen, aber warum genau hast du sie mitgebracht?« Taktgefühl, gute Manieren und Diskretion hatten ihr Verfallsdatum überschritten. Nebenbei bemerkt, Lois und Nissen sahen nicht aus, als würden sie etwas als Angriff werten, ehe nicht die Ziegel flogen.

»Meine gute Tat für dieses Jahr«, erwiderte er lässig. »Sie brauchen eine Detektivin, und du hast noch nie einen Fall abgelehnt.«

»Einen bezahlten Fall«, murmelte ich.

»Wir werden bezahlen«, sagte Lois.

»Etwas«, fügte Nissen bedeutungsvoll hinzu.

»Für deine Mühe«, fügte Lois noch bedeutungsvoller hinzu.

»Warum braucht ihr eine Detektivin?«, fragte ich. Es wäre nicht das erste Mal, dass Richard mich in etwas reinritt, und wenn ich zustimmte, wollte ich wenigstens vorher Bescheid wissen.

»Jemand versucht uns auszulöschen«, platzte Lois heraus.

»Du meinst …?«, fragte ich.

»Wie deutlich willst du’s?«, forschte Nissen. »Sie versuchen uns auszuradieren. Uns alle zu machen. Uns zu Geschichte zu machen. Uns auf die nächste Stufe des Karma zu befördern.«

Nissens Worte schienen unzweideutig. Ich hatte angebissen, keine Frage.

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3. Kapitel

Das hier war eindeutig interessanter, als die Grabsteinsache wieder aufzuwärmen. Ich würde auch später noch Zeit haben, mich darüber zu ärgern. Sich mit ernsthaft bedrohten Menschen zu befassen, auch wenn es nahezu unverständliche Glasgower Musiker waren, schien mir ein weit besserer Zeitvertreib, als über meine Fehlschläge zu grübeln. »Euer Leben ist in Gefahr?«, fragte ich.

Nissen sah Lois an und schüttelte dabei mitleidig den Kopf. Lois sah Richard an und zog hilfesuchend die Augenbrauen hoch. »Nicht so direkt«, meinte Richard. »Wenn Nissen von Ausgelöschtwerden spricht, dann meint er das metaphorisch.«

»Richtig«, bestätigte Nissen. »Dichterische Freiheit und so.« Mein Interesse sank schneller als ein Gewehrlauf, der mit Clint Eastwood konfrontiert wird.

»Soll heißen, jemand will uns beruflich fertig machen«, ließ Lois verlauten. »Für uns wird’s langsam heißer als für ’n Red Pudding.«

»Was ist Red Pudding?«, fragte Richard. Ich war ihm dankbar dafür; wir Detektivinnen stellen unsere Unwissenheit nicht gerne zur Schau.

»Scheiße, verdammt«, stöhnte Nissen.

»Was erwartest du von ’nem Land, in dem die Fish & Chips-Buden nur Fisch und Fritten verkaufen?«, sagte Lois. »Es is’ wie Wurst, nur rot, und es is’ Hafermehl drin, und es wird frittiert, okay? In Backteig«, fügte er für uns Angelsachsen noch hinzu.

Ich wollte nicht weiter nachfragen. Ich hatte mich bis jetzt nicht von dem Schock erholt, den ich einmal beim Bestellen einer Pizza an einer schottischen Fritten-Bude erlitt. Angewidert und entsetzt hatte ich zugesehen, wie der Budenbesitzer sie gekonnt faltete und in die Fritteuse legte. Nein, ich habe sie nicht gegessen. Ich habe sie an die Möwen verfüttert und beobachtet, wie sie danach in den Wellen versanken. Ihre Fähigkeit, die Schwerkraft zu überwinden, war mit einem Mahl dahin. »Diese metaphorische, dichterisch freie, berufliche Bedrohung besteht jetzt genau worin?«

»Kurz gefasst, die Jungs werden sabotiert«, sagte Richard.

»Jedes Mal, wenn wir ’n Gig haben, überklebt so ’n Arsch all unsre Plakate«, berichtete Lois. »Irgendwer hat die Veranstalter angerufen und gesagt, sie soll’n keine Karten für unsere Auftritte mehr verkaufen, weil sie ausverkauft sind. Und dann kommen wir zu so ’nem Gig, und da sind so gut wie gar keine echten Fans da.«

»Aber da is’ immer ’ne Busladung besoffener Neonazis, die den Laden kurz und klein schlagen und den Gig abwürgen«, warf Nissen verbittert ein. »Jetz’ dürfen wir bei der Hälfte aller coolen Veranstaltungsorte im Norden nich’ auftreten, und wir werden mit den Fascho-Ärschen, die unsere Gigs versauen, in einen Topf geworfen. Unsre Freunde und Förderer fangen an sich zu beschweren, dass da was an unserer Musik sein muss, was gehirnamputierte Rassisten antörnt, wenn diese Typen uns von einem Ort zum anderen folgen.«

»Dabei sagen die Texte der Jungs das genaue Gegenteil.« Richard, wie immer mit der wahrhaft entscheidenden Information. »Selbst dein PC-Freundeskreis hätte daran nichts auszusetzen.«

»Der einzige PC-Freund, den ich habe, ist der nebenan mit dem Pentiumprozessor«, parierte ich. Zu meiner Überraschung brachen Lois und Nissen in schallendes Gelächter aus.

»Der war gut«, meinte Lois. »Wie auch immer, gestern Abend hat dem Fass den Boden ausgeschlagen. Wir hatten diesen Gig in Bedford, und während wir drin waren und zusahen, wie die übliche Schlägerabordnung den Laden zerlegte, hat so ’n Oberarsch unseren Transit abgefackelt.«

»Habt ihr das der Polizei gemeldet?«, fragte ich. Ich Dummchen. Die Jungs schauten mich grimmig an und schüttelten den Kopf. Richard rollte die Augen gen Himmel und seufzte durchdringend. Ich versuchte es noch mal. »Das klingt für mich nach systematischer Hetzkampagne. Die Polizei hat die Möglichkeiten, so was effektiv zu verfolgen. Und sie kostet nichts«, fügte ich hinzu.

»Ey, hast du nich’ gesagt, sie kann ihr’n Arsch von ’nem Loch im Boden unterscheiden?«, wollte Nissen von Richard wissen. »›Habt ihr das der Polizei gemeldet‹«, äffte er mich grausam nach. Das letzte Mal, dass ich mich so verhöhnt fühlte, war mit neun Jahren, als ich gezwungen wurde, auf dem Geburtstagsfest meiner besten Freundin das ausrangierte Partykleidchen meiner Cousine zu tragen. Es war aus gelber Kunstfaser mit blauen Rosen drauf, komplett mit knisterndem Petticoat. »Scheiße, ey, guck uns doch an. Wenn wir auf die Wache gehen, verhaften die uns. Wenn wir denen erzählen, wir werden belästigt, bepissen die sich vor Lachen. Ich glaub nich’, dass das die Lösung is’, Chefin.«

Lois nahm das letzte pikante Rippchen und stand auf. »Komm, Nissen«, sagte er. »Ich will die Frau nich’ in Verlegenheit bringen. Richard, ich weiß, du hast’s gut gemeint, aber deine Chefin, ey, bringt’s offensichtlich nich’. Du weißt, wie sie sind, die Frauen heutzutage. Sie können nich’ zugeben, dass es Sachen gib’, die se nich’ auf die Reihe kriegen.«

Das reichte. Zähnefletschend versetzte ich: »Ich bin niemandes Chefin, und ich bin durchaus fähig, mich um diese Ansammlung von Drecksäcken zu kümmern, die zweifellos ihre guten Gründe haben, hinter Lois E. Kamm und den grindigen Bälgern her zu sein. Ihr wollt, dass sich jemand darum kümmert, ich kümmere mich drum. Null Problemo.«

Als ich sah, wie Richard und Lois ein komplizenhaftes Lächeln tauschten, hätte ich sie am liebsten mit dem eingesprungenen Halbkreistritt niedergestreckt, den ich beim Thaiboxen gelernt hatte. Aber erst mal richtig reingelegt, hat es keinen Sinn, sich noch weiter zu ärgern. »Ich denke, jetzt sind wir quitt«, sagte ich zu Richard. Er grinste. »Ich brauche aber mehr Informationen.«

Lois setzte sich wieder. »Alles fing mit den Plakaten an«, begann er und streckte dabei seine langen Beine von sich. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dies würde eine lange Geschichte werden.

 

Es war kurz nach Mitternacht, als Lois und Nissen Richard und mich verließen. Wir starrten uns über den Couchtisch hinweg an. Es hatte eine Weile gedauert, die ganze Geschichte zu verstehen, mitsamt Nissens Exkursen über den Zusammenhang von Rockmusik und Politik, unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsradikalen und der Unterdrückung der schottischen Bevölkerung. Der einzige Punkt der Geschichte, über den ich nicht hinweggehen konnte, war, dass es ganz klar jemand auf sie abgesehen hatte. Jeder einzelne Vorfall im Katastrophenkatalog der Grindigen Bälger konnte wegdiskutiert werden, nicht aber diese Häufung von Zwischenfällen, die die letzten Wochen der Band geprägt hatten.

Sie waren aus ihrer Heimatstadt Glasgow nach Manchester gekommen, heutzutage die Hauptstadt der britischen Alternativmusikszene. Sie glaubten dadurch ihrem Ziel einen Schritt näher zu kommen, die Bay City Rollers der Neunziger zu werden. Nun waren die Jungs drauf und dran, das Handtuch zu werfen und nach Schottland zurückzukehren. Sie waren verunsichert, weil sie sich so schnell so erbitterte Feinde gemacht hatten, und baten mich herauszufinden, was hinter der Kampagne steckte. Dann, nahm ich an, würden sie ihre Freunde zusammentrommeln, und eine Armee schottischer Krieger würde über einen armen überraschten Schurken aus Manchester herfallen. Ich war nicht ganz sicher, auf wessen Seite ich stand.

»Wirst du den Fall übernehmen?«, fragte Richard.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn sie das Geld haben, habe ich die Zeit.«