Das KüstenHaus - Gaby Kaden - E-Book + Hörbuch

Das KüstenHaus E-Book und Hörbuch

Gaby Kaden

5,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Sanft strich der Wind über den nackten Körper … Wie kommen zwei nackte Frauenleichen auf den Deich an der Nordseeküste? Wer hat Hinweise an solch subtilen Körperstellen der Toten versteckt? Den Kommissaren um Tomke Evers stehen schwere Zeiten bevor, denn dabei bleibt es nicht. Ihre Recherchen führen sie in das ehemalige Hotel „Zum alten Storchennest“. Was geschieht in diesem Haus ohne Fenster? Prostitution, Menschenhandel oder Schlimmeres? Als klar wird, was den Frauen widerfahren ist, vermuten die Ermittler eine Organisation hinter den Verbrechen. Kommissar Hajo Mertens, der heimlich in dem Haus nachforscht, kommt immer mehr Grausamkeiten auf die Spur und gerät dabei in große Gefahr. Und dann sind da noch Oma Jettchen und Tant’ Fienchen. Ihr Versprechen zu schweigen, erschwert die Arbeit der Kommissare. Tomke selbst sieht sich ganz anderen Herausforderungen gegenüber …

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Seitenzahl: 410

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Zeit:8 Std. 31 min

Sprecher:Torben Sterner

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Wenn die Gier zu groß ist, Menschen nichts wert sind,dann sind wir verloren!

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8442-9

Gaby KadenDas KüstenHaus

Das KüstenHaus ...

... ist – wie ihr bald feststellen werdet – anders als alle seine Vorgänger aus der Reihe meiner Küstenkrimis!

Es war ein langer Weg bis zum fertigen Buch und das Ende eine schwere Geburt. Ich war tief verstrickt in die Handlung, habe oft den Weg zurück in die Wirklichkeit suchen müssen. Zu sehr hat mich die Handlung in ihren Bann gezogen.

Nun ist es vollbracht!

Vorab jedoch stellt sich die Frage:

Klärt sich in Das KüstenHaus, was aus der jungen Kommissarin Miri Blum geworden ist? Hat sie den bösartigen Anschlag der „Drei toten Tanten“ überlebt?

Und Tant’ Fienchen? Auch hier stellt sich diese Frage.

Aber auch: Kann Franziska Gronewald sich tatsächlich entschließen, den neuen Familienbanden wie auch der aufkeimenden Liebe und Ostfriesland eine Chance zu geben?

Und dann ist da Vroni. Wird sie den wasserblauen Augen Siebos erliegen, jetzt, da sich endlich ein Mann für sie interessiert? Nur ist das ausgerechnet a Sau­preiß‘!

Wir werden sehen!

Vor allem aber gibt es neue Fälle, die das kriminalistische Gespür unserer Kommissare fordern und alle bis an ihre Grenzen und darüber hinaus bringen.

Denn nicht nur unheimliche, sondern auch unglaubliche und am Ende tragische Dinge geschehen in dem Haus ohne Fenster.

Lasst euch ein, liebe Leser, liebe Leserinnen und … Verzeiht mir bitte.

Danke

Bevor es losgeht – bevor ihr eintaucht in diesen spannenden Kriminalroman – auch diesmal ein herzliches DANKE­SCHÖN an euch!

Danke, dass ihr mir die Treue gehalten habt.

Nach neun erfolgreichen Küstenkrimis aus Ostfriesland, der Nordseeküste, den Inseln, Carolinensiel und umzu darf ich nun meine Nummer zehn präsentieren – Das KüstenHaus.

Danke an das ganze Team der CW Niemeyer Buchverlage.

Carsten Riethmüller hat wie immer ein geniales Cover kreiert.

Sarah Krasemann gehören meine allerbesten Wünsche!

Danke immer wieder an Kerstin Pabst für konstruktive und hilfreiche Kritik am und im Text.

Danke an meinen zweiten Mitleser Michael Frenz, einen großen Fan und Tippgeber.

Ich darf immer wieder Menschen aus meinem Umfeld nennen, diesmal Dr. Benjes, Gunda und Helmut Schmolke, Inga Mennen sowie Herbert Marx – danke dafür.

Ein ganz großer Dank geht an die Buchhandlungen und Geschäfte, in denen meine Bücher angeboten werden.

Danke an Werner, meinen Mann, für die kritische Unterstützung, an meine ganze Familie, danke für Leah-Sophie, inzwischen vier Jahre alt, die Bereicherung meines Lebens.

Ich danke euch allen – OHNE EUCH WÄRE ALLES NICHTS!

Und, liebe Leserinnen und Leser, bedenkt, dass auch in Das KüstenHaus alles meiner Fantasie entsprungen ist, und nehmt es, wie es gemeint ist, nämlich mit einem Augenzwinkern.

Sanft strich der auflandige Wind von Nord über den Deich, bewegte Gräser und Halme an der Küste, ließ sie ganz leise schaukeln. Sanft strich der Wind auch über die nackten, leblosen Körper, die auf dem Deich im Gras lagen, bewegte goldenes Haar, stellte die feinen Körperhaare auf. Halme neigten sich und fuhren sanft streichelnd über die nackte Haut. Haare leuchteten mit den Strahlen der aufgehenden Sonne um die Wette.

Strafe muss sein!

Der schwarze Van mit den verdunkelten Fensterscheiben stoppte abrupt ab, verließ die Landstraße, bog auf eine lange, sandige Auffahrt, die rechts und links von windgebeugten Bäumen gesäumt war, und gab wieder Gas. Der aufwirbelnde Sand ließ das Fahrzeug sofort in einer dichten Staubwolke verschwinden. Die Scheiben verhinderten einen Blick in das Innere des Wagens, ebenso von drinnen nach draußen. Was sich hinter den dunklen Scheiben wohl verbarg?

Auch Veronika Semmelmayer, die kurz darauf in ihrem gelben Postauto aus entgegengesetzter Richtung kam, bog ab und nahm den Weg über die staubige Auffahrt. Allerdings mit gehörigem Abstand. „Idiot“, schimpfte sie laut vor sich hin, „musst‘ so rasen und so a Sauerei veranstalten? Man sieht ja die Hand vor die Augen nit.“

Im Rückspiegel erkannte sie, dass über die Landstraße ein weiteres Fahrzeug kam. Es fuhr langsam, als wollte es auch auf den schmalen Weg abbiegen. Na, hier ist ja heute was los, wunderte sich Vroni. Doch das Fahrzeug kam nicht hinter ihr her, sondern hielt gegenüber der Einfahrt. Irgendwann konnte Vroni nur noch einen roten Punkt und dann nichts mehr sehen, zu dicht war die Staubwolke.

Ungern, nur sehr ungern, brachte sie die Post zu dem großen Haus, das früher einmal ein Hotel gewesen sein musste. Dieses Haus ohne Fenster – so ganz stimmte das nicht, denn im Erdgeschoss, neben der breiten Eingangstür, gab es rechts und links jeweils ein kleines Fenster – zu dem sie ab und an Briefe oder auch ein paar Päckchen zu liefern hatte, war ihr unheimlich. Es verursachte Vroni ein ungutes Gefühl in der Magengegend, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, wenn sie einem der Bewohner gegenübertreten musste. Auch heute war das so. Sicher lag es an dem dusteren Zustand, der sie hier erwartete, denn die Fenster des Hauses, die zur Auffahrt und dem großen Parkplatz vor dem Haus zeigten, waren, bis auf zwei im Erdgeschoss, zugemauert. Wenn ihr Blick darauf fiel, wenn sie nur daran dachte, spielte ihre Fantasie verrückt, und Vroni malte sich die schlimmsten Verbrechen aus, die dort geschehen könnten. Gerne hätte sie hier einmal Mäuschen gespielt. Aber das war unmöglich. Ein hoher Zaun verhinderte auch nur einen kleinen Blick in den Garten des Hauses. Unheimlich. Vroni fröstelte. Ganz sicher lag es am Haus, aber auch an den Menschen dort, die ihr, schon bevor sie klingelte, entgegenkamen und die Päckchen und Pakete aus den Händen nahmen. So als hätte man sie erwartet oder aus der Ferne kommen sehen. Ob es hier Kameras gab? Vroni hatte noch keine entdeckt.

Drei unterschiedliche Personen waren Vroni bisher hier begegnet. Zwei Männer, einer davon etwas plump und unsicher, der andere stets in Anzug und Krawatte, ganz Geschäftsmann. Außerdem eine Frau. Sicher gehörte die zu diesem Anzugträger, denn zu dem etwas derben Typ passte sie nicht. Sonst hatte sie dort noch niemanden gesehen. Wohnten die alleine in diesem riesigen Haus? Dass es wohl doch einmal ein Hotel gewesen war, konnte sie an der verblassten Schrift an der Vorderfront des Hauses erkennen. „Zum alten Storchennest“ war hier noch zu lesen.

Wortlos unterschrieb man dann auf dem Pad und deutete ihr stumm an zu gehen. Die Postfrau war heilfroh, wenn sie nur Briefe zu bringen hatte. Diese warf sie dann in den Postkasten am Anfang der Auffahrt, gleich bei der Straße. Heute allerdings musste sie zum Haus fahren, denn für die beiden Päckchen neben ihr auf dem Beifahrersitz benötigte sie die Unterschrift des Empfängers. Das wollte sie nun schnell erledigen, es war die letzte Lieferung für heute. Ihr Puls raste schon wieder in Erwartung dessen, was wohl kommen mochte, und der Kälte, die ihr dort entgegenschlug. Doch heute war etwas anders. Heute war noch ein weiteres Fahrzeug auf dem Weg zum Haus. Das hatte es noch nie gegeben. Wer das wohl war?

Vroni hatte sich vorsichtig den Weg durch die Staubwolke gebahnt, parkte wie immer vor der breiten Treppe zum Haus. Noch bevor sie den Motor abstellen konnte, wurde ihre Fahrertür aufgerissen. Ein Hüne mit aufgepumpten Muskeln und sehr kleinem, nicht zum Körper passendem Kopf – er musste aus dem Van gekommen sein – baute sich vor ihr auf und fuhr sie laut an: „Was du willst? Hä?“ Vroni zuckte erschrocken zusammen, wich ein wenig zurück und stotterte: „Post, da …“ Sie zeigte zu den Päckchen neben sich auf dem Sitz. Dann aber hatte sie sich auch schon gefangen und schimpfte ärgerlich: „Hast du sie noch alle, mich so anzubrüllen? I bring die Post, wie man an dem gelben Auto sieht, oder hast‘ Tomaten auf die Augen? So breit wie hoch, aber nix im Hirn. Dösbaddel!“ Der Hüne verstand nicht, suchte nach Worten, meinte dann: „Gib!“

„Nix da, gib! Ich brauche eine Unterschrift von jemandem aus dem Haus, nicht von dir, du Depp!“ Sie griff sich die Päckchen wie auch die bereitgelegten Briefe und schwang ihre Beine aus dem Wagen. Der Hüne allerdings versperrte ihr den Weg. „Gib!“, forderte er sie nochmals auf. Vroni jedoch, die ihren ersten Schrecken überwunden hatte, fauchte ihn an: „Husch, geh ma, Burschi, es pressiert. Machst vielleicht endlich Platz, Sakradi?“ Sie versuchte, sich an dem Mann vorbeizuschlängeln, doch der erwachte aus seiner kurzen Erstarrung, packte sie am Kragen ihrer Jacke und hob sie hoch.

„Gib!“, forderte er erneut. Vroni, die Briefe und Päckchen fest an sich gepresst, zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, schrie aus Leibeskräften, fluchte in tiefstem Bayrisch, einer Sprache, die weder der Hüne noch der aus dem Haus herbeistürzende Mann verstanden.

„Pavel, he, Pavel. Lass’ sie los!“ Der tat wie ihm geheißen, und Vroni landete unsanft auf dem Boden. Noch immer schimpfend rappelte sie sich hoch, klopfte den Staub von der Kleidung und suchte Päckchen und Briefe zusammen. Der Mann aus dem Haus, es handelte sich um den Anzugträger, dem sie schon öfter dort begegnet war, meinte entschuldigend: „Sorry, Pavel beißt nicht, der will nur spielen. Das war Spaß. Er ist neu hier, er kennt Sie noch nicht.“ Noch immer fluchend hielt Vroni ihm das Unterschriftspad hin – noch immer verstand der Mann kein Wort –, er unterschrieb und nahm seine Post in Empfang. Vroni warf ihm ein paar unschöne Worte zu, dem Hünen einen bitterbösen Blick und stieg in ihr Auto. Sie wendete, setzte ein Stück zurück bis kurz vor die Füße der beiden Männer und fuhr mit durchdrehenden Rädern los. Es staubte fürchterlich.

„Strafe muss sein. Das habt’s davon, Deppen, depperte!“, fluchte sie und musste grinsen, als sie sah, dass die Männer in einer Staubwolke verschwunden waren. Lediglich die Figur auf dem Dach des Hauses war noch zu sehen, ein einbeiniger Vogel mit langem Schnabel. Um diesen Schnabel hatte sich ein Band gewunden und wehte im Wind. Was das wohl zu bedeuten hatte?

Auf dem Weg zur Hauptstraße blickte sie immer wieder zurück. Die Staubwolke lichtete sich ein wenig, und Vroni sah, dass der Hüne die seitliche Tür des Transporters öffnete und dort eine Frau ausstieg. Eine Frau, noch eine und … Nun war sie zu weit weg, um mehr erkennen zu können. Drei Frauen aus einem verdunkelten Van? Angekarrt von diesem Hünen. Was machten die dort?

„Und von wegen Spaß! Gspaßig ist was anderes. Seltsam, sehr seltsam!“, schimpfte sie auf dem staubigen Weg vor sich hin.

Der rote Wagen stand noch immer gegenüber der Einfahrt, fuhr aber los, als Vroni näher kam. Die bog in die andere Richtung ab.

Das Haus ohne Fenster wurde ihr immer unheimlicher.

Es hatte eine Weile gedauert, bis Vroni aufgefallen war, dass die Fenster des Hauses zugemauert waren. Aus der Ferne konnte man das nur schwer erkennen. Erst als im vergangenen Dezember noch immer üppig blühende Geranien von den Fensterbänken hingen, bemerkte sie, dass alles nur gemalt war. Fenster, angedeutete Rollläden, Fensterkreuze und die prächtigen Blumenkästen davor. Alles unecht, alles gemalt. Was das wohl zu bedeuten hatte? Was dort wohl vor sich ging?

Seit nunmehr zehn Monaten fuhr sie hier in der Gegend dreimal wöchentlich die Post aus, aber so etwas war ihr noch nicht passiert. Und warum, fragte sie sich erneut auf ihrem Weg zurück zur Poststation, hatte man die Fenster des Hauses zugemauert? Was hatten die Leute hier zu verbergen? Ob sie der Sache mal auf den Grund gehen sollte? Vroni fragte sich weiter, ob es auf der Rückseite des Hauses auch so aussah wie hier an der Vorderfront. Die hohen Zäune rechts und links des Hauses verhinderten einen Blick auf den hinteren Teil und in den Garten des riesigen Anwesens. Der Gedanke daran, einmal hinter diesen Zaun zu schauen, reizte sie sehr.

Seit einem Jahr lebte Veronika Semmelmayer aus dem bayrischen Tuntenhausen nun in Ostfriesland. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, ihr geliebtes Bayern zu verlassen und bei den Saupreißn zu leben. Aber dann hatte sie, angereist, um ihre Freundin Franziska zu retten, Siebo kennengelernt. Den Mann mit den wasserblauen Augen. Vroni seufzte.

Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett zeigte ihr, dass sie sich sputen musste. Siebo erwartete sie sicher schon auf dem Hof. Die Ferienwohnungen waren zurzeit noch alle belegt, es gab viel zu tun. Außerdem stand der letzte Tag der Gerichtsverhandlung gegen Siebos Ex-Frau mit Urteilsverkündung an, und in ein paar Tagen wollten sie heiraten. Sie hatte darauf bestanden, die Verhandlung abzuwarten. Vroni war noch immer erschüttert darüber, wie gemein und brutal Siebos geschiedene Frau gehandelt hatte, und das alles nur aus reiner Gier. Nur im letzten Moment und durch Zufall hatte sie deren Mordversuche an Siebo und dessen Tochter verhindern können und wäre fast selbst zum Opfer geworden. Und jetzt stand tatsächlich ihre Hochzeit mit einem Ostfriesen an. Vroni konnte es noch immer nicht fassen.

Sie betrachtete sich im Rückspiegel und schüttelte den Kopf. Ausgerechnet ein Saupreiß, dazu so a sauberes Mannsbild, wollte so a schiaches Weibsbild, wie sie es war, heiraten. Sie fletschte die schiefen Zähne und streckte ihrer langen Nase die Zunge raus.

„Na gut“, rief sie ihrem Spiegelbild dann zu, „wenn er unbedingt will!“ Vroni gab Gas. „Siebooo, mein Siebooo!“, sang sie laut, glücklich und falsch.

Aber der Sache mit dem unheimlichen Haus würde sie noch auf den Grund gehen. Nach der Hochzeit, überlegte sie. Im Moment gab es anderes zu tun.

Ein perfides Spiel!

Phil, der im Haus ohne Fenster von allen nur „Chef“ genannt wurde, winkte Pavel zu sich. „Bring die Frauen zu Elena, sie wird ihnen ihre Zimmer zuteilen. Sag ihr, sie soll sie schnell für die Präsentation zurechtmachen. Sie müssen topgestylt sein, aber nicht nuttig aussehen. Ich brauche die Bilder spätestens morgen früh. Und dann verschwinde. Ich rufe dich an, wenn die nächste Fahrt ansteht.“

„Ich nicht verschwinde sofort. Zuerst ich muss meine Frau sehen. Drei Wochen nicht gesehen, Chef. Das ist nicht gut für eine Mann.“ Pavel griff sich mit seiner großen Pranke zwischen die Beine und hielt mit der anderen Hand seinen Chef am Arm fest. „Ich bleiben ein paar Tage bei Elena.“

„Das geht jetzt nicht, sie hat zu tun. Mit Lenka gibt es Probleme, die neuen müssen vorbereitet werden. Und fass mich nicht an!“ Phil zog seinen Arm weg.

Doch Pavel ließ nicht locker.„Ich bleiben! Ich warten! Oder hast du neue Fahrt für mich?“

„Nein, im Moment nicht. Ich will, dass du dich vor Ort um Nachschub kümmerst und …“ Phil stockte, zögerte einen Moment. „Aber vielleicht kannst du zuerst tatsächlich ein paar Dinge für mich … Okay, geh in die Küche. Ich schaue nach Elena, und wenn es geht, schicke ich sie zu dir.“

Phil nahm über die weitläufige Treppe zwei Stufen auf einmal nach oben in den ersten Stock des Hauses. Hier im Quertrakt und teilweise auch im rechten Flügel lagen die Zimmer, in denen die Frauen untergebracht waren. Dreizehn lebten zurzeit hier, und nun waren drei weitere dazugekommen. Mit zweien gab es im Moment große Schwierigkeiten. Die beiden wollten das Geschäft rückgängig machen, aber das kam für Phil nicht infrage. Das konnte er nicht zulassen. Die Ware war schließlich schon bestellt und angezahlt. Wenn sie sich weiterhin weigerten, den Vertrag zu erfüllen, würde er sich von ihnen trennen müssen, und zwar auf die gleiche Weise wie von einigen anderen vor ihnen auch. Ärgerlich, ein großer, vor allem finanzieller Verlust, aber nötig. Denn jung und gut aussehend, wie die beiden waren, hätten sie noch eine ganze Weile für ihn und die Organisation arbeiten können. Ein Verlust, den er gegenüber der Organisation zu rechtfertigen hatte, was sicher nicht leicht werden würde. Und dann war da ja auch noch Lenka, die auf der Kippe stand. Es sah aus, als würden sie sie verlieren. Ärger, alles unnötiger Ärger. Lenka war nun schon die dritte Saison hier im Haus, immer problemlos und nun das. Schnell kam ihm noch eine andere Frau in den Sinn, eine, die auch auf Ärger programmiert gewesen war und von der er sich vor knapp einem Jahr auf besondere Weise hatte trennen müssen. Diese blöden Weiber. Warum mussten sie plötzlich sentimental werden? Warum konnten sie nicht einfach tun, wofür sie bezahlt wurden? Phil öffnete die Tür von Zimmer Nummer vier, das nach vorne hinaus lag und somit kein Tageslicht hatte. Er schaltete die grelle Neonbeleuchtung an und schaute fragend zu den beiden Liegen, auf denen, jeweils mit einer Fixierjacke gefesselt, zwei Frauen lagen. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Zwillinge. Geblendet durch das grelle Licht, schlossen sie die Augen, wanden sich hin und her. Sie wollten weg, einfach nur weg. Eine der beiden schrie heiser auf.

Was sie schrie, verstand er nur ansatzweise, ihre Sprache beherrschte er nicht. Aber was sie wollte, das wusste er genau. Phil lachte grell auf. „Schreit nur, meine Täubchen. Draußen hört euch keiner und hält hier drinnen die anderen“, er machte eine ausholende Geste in Richtung der offenen Tür, „davon ab, auch gegen den Vertrag zu verstoßen.“

„Lass gehen, bitte!“, kam es nun von der zweiten Frau.

„So einfach geht das nicht … ihr wisst! Böse Mädchen kann ich nicht einfach nach Hause lassen. Böse Mädchen erzählen böse Geschichten, das darf nicht sein. Böse Mädchen müssen bestraft werden. Vertragsbruch muss bestraft werden.“

„Nein, nein. Wir wollen gehen. Bitte gib uns unsere …“

Phil unterbrach sie barsch.

„Dann nicht! Ihr wollt es nicht anders!“ Er drehte sich um und warf die Tür krachend ins Schloss. Nun drang nichts mehr aus dem Zimmer nach draußen, die Tür war sehr gut isoliert.

Im Flur, an der Tür zu einem gegenüberliegenden Zimmer, traf er auf Elena, Pavels Frau. Sie trug eine große Tasche, die sie ihm entgegenhielt. Er warf einen Blick hinein und meinte nur: „Ist das Lenkas …?“ Die Frau nickte.

„Und?“

„Okay!“, kam es zurück. „Aber Lenka …“ Elena schüttelte den Kopf.

„Warum das? Kannst du nicht besser aufpassen?“ Die Frau blickte ihn verständnislos an. „Chef, du weißt, das ist nicht meine Schuld, der Doc kam zu spät und …“ Phil aber war schon weitergegangen und fauchte böse: „Das ist bares Geld. Ich verliere bares Geld, wenn du auf die Frauen nicht anständig aufpasst.“ Dann blieb er stehen und wandte sich der Frau noch mal zu. „Warte, warte, Elena.“ Er zeigte den Flur entlang. „In Zimmer Nummer vier muss aufgeräumt werden. Ich kann mit den beiden nichts mehr anfangen. Sie werden zur Gefahr. Kümmere dich schnellstens darum. Und keine Fehler mehr, bitte.“

„Aufräumen? Du meinst endgültig, Chef?“, wollte die Frau mit großen Augen wissen.

„Ja!“, kam es knapp zurück. „Die beiden sind nicht mehr zu halten und gefährlich für uns alle, wenn ich sie laufen lasse.“ Er fragte: „Hast du noch Vorrat?“ Elena nickte mit gesenktem Blick.

„Gut! Sag, wenn du es erledigt hast, dann gebe ich Kevin Bescheid, damit er die beiden entsorgt. Ach, und noch etwas: Wo ist meine Frau?“ Elena zuckte mit den Schultern. „Wenn du sie siehst, sie soll mich anrufen. Ich sage ihr, dass sie sich um die drei Neuen kümmern soll, ausnahmsweise. Dein Mann ist da. Wenn du fertig bist, hast du den Rest des Tages frei. Ich will aber, dass er übermorgen verschwunden ist, verstanden?“

Elena stöhnte leise auf, nickte dann aber nur. Phil klopfte ihr auf die Schulter und zog sich in sein Büro zurück. Es gab noch einiges zu tun. Morgen standen wichtige Besuche an. Im Internet hatte sich auch ein Kunde angekündigt. Es wurde Zeit, die Termine für weitere Akquisen vorzubereiten, und es gab Kunden für die drei Neuzugänge. Phil verzog das Gesicht. Wenn es nur die Männer wären, die bei ihm die Ware aussuchten. Aber oft wollten deren Frauen mitreden, und das war meist langwierig und nervig. Er lachte kurz auf – Frauen gab’s! Manche wollten doch tatsächlich sehen, mit wem ihre Männer … Sein Gedanke wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Er beugte sich über den Schreibtisch und nahm den Hörer hoch. Es war Jessi, seine Frau. Schnell teilte er ihr mit, dass sie sich diesmal um die Neuzugänge kümmern müsse, und vertiefte sich wieder in seine Arbeit.

Anschließend beauftragte er Kevin, die beiden Rebellinnen zu entsorgen.

„Wo?“, wollte der wissen. „Hinten im Geräteschuppen in der großen …“

„Nein!“, unterbrach ihn Phil. „Die ist noch besetzt. Außerdem nehmen wir die nur für Notfälle. Zwei passen auch nicht hinein.“

„Aber ich habe doch ...!“, begann Kevin.

Doch der Chef unterbrach ihn rüde: „Mach, was ich dir sage! Entsorge sie auswärts, aber so, dass sie keiner findet.“

Das durfte allerdings nicht zu schnell geschehen, sondern erst in der kommenden Nacht. Die Spritze, die Elena in solchen Fällen verabreichte, war sechs bis zwölf Stunden nachweisbar. Danach konnte, falls die beiden doch gefunden werden würden, nur noch ein natürlicher Tod festgestellt werden. Bisher hatte man jedoch noch keine der entsorgten Frauen gefunden, Kevin somit gute Arbeit geleistet. Aber Phil wollte und durfte kein Risiko eingehen. Er schaute auf seine Uhr. Wo Jessi sich wohl herumtrieb? Es konnte doch nicht so lange dauern, den Neuzugängen ihre Zimmer zu zeigen. Er war sich nicht mehr sicher, ob seine Frau wirklich mit im Boot saß, das ihnen ein sorgenfreies Leben garantierte. Zwei Jahre noch, und er hatte so viel Geld zur Seite geschafft, dass es für sie beide reichen würde. Aber wollte er das eigentlich? Wollte er weiter mit Jessi leben? In der letzten Zeit hatte sie sich sehr verändert, war aufmüpfig und unbequem geworden. Na, überlegte er, dich werde ich schon wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Und wenn nicht, Zugang zum Schließfach habe nur ich. Ein Grinsen lief über sein Gesicht. Die Idee gefiel ihm immer mehr.

In kurzer, dunkler Nacht

In den Sommermonaten waren die wirklich dunklen Stunden der Nacht im Norden nur kurz. Vor allem jetzt um die Sonnwende. Richtig dunkel wurde es erst kurz vor Mitternacht und nur drei bis vier Stunden später auch schon langsam wieder hell. Diese kurze Dunkelheit brachte eine besondere, eine mystische Stimmung mit sich, gerade um die Sonnwende.

So war Kevin nur wenig Zeit geblieben, seinen Auftrag auszuführen. Aber nicht so wie immer, das hatte er sich vorgenommen. Etwas in ihm wehrte sich. Seit einiger Zeit war er sich nicht mehr sicher, dass er das, was hier im Haus vor sich ging, weiterhin mitmachen wollte. Er wollte, nein, er musste etwas tun. Musste diesen Job aufgeben, aber nicht, ohne die Geschehnisse vorher auffliegen zu lassen. Länger zu warten wäre zu gefährlich, denn bald, das war ihm klar, würden sie bemerken, dass er nicht mehr Kevin, ihr treuer Diener, war. Arbeit würde er überall finden. Und nun war auch noch Pavel für einige Tage eingezogen. Der war eine große Gefahr, wusste Kevin. Doch davon wollte er sich nicht abhalten lassen. Pavel war zwar gefährlich, aber auch dumm.

„Schaff sie fort“, hatte der Chef ihn am Abend nochmals aufgefordert. „Entsorge die beiden Blonden und morgen dann Lenka auch. Sie hat es nicht geschafft. Zu dumm. Mach es so wie immer, lass sie gut verschwinden. Keiner darf sie finden und mit uns in Verbindung bringen!“

Kevin hatte wieder einmal nur stumm genickt. Wegschaffen, entsorgen, so wie immer. Wie konnte der Chef nur so reden!

Diesmal ging es auch um Lenka, und das gefiel Kevin nicht. Er schauderte. Seit sie wieder im Haus war, seit er bemerkt hatte, wie sehr sie litt, war für ihn alles anders geworden. Nie in den letzten Jahren hatte er für eine von ihnen Gefühle entwickelt, aber diesmal … diesmal … Lenka. Ja, sie hatte es ihm angetan. Durch sie war für ihn hier alles anders geworden. Nun war Lenka tot. Ihr Tod hatte ihn aufwachen lassen. „Lenka!“ Mit einem schmerzhaften Seufzer stieß er ihren Namen aus.

Das Ganze musste ein Ende haben. Und Kevin wusste auch schon, wie er es anfangen würde. Danach wollte er selbst verschwinden, ganz weit weg, damit man ihn nicht finden konnte. Der Organisation, von der im Haus immer geredet wurde, seinem Chef und dem Ganzen hier wollte er das Handwerk legen, das nahm er sich fest vor. Ein Schauer lief Kevin über den Rücken, wenn er daran dachte, mit welch brutaler Kälte sie hier mit Menschen, die sich ihren Anordnungen nicht fügten, verfuhren. Mehrmals schon war er in den letzten Jahren ausführendes Organ gewesen, hatte im Auftrag des Chefs „entsorgt“. Einmal, so fiel ihm ein, war es ihm nicht gelungen, doch daran wollte er nicht denken. Elena hatte die Spritze wohl zu niedrig dosiert, und als er die Frau vom Pritschenwagen heben wollte, war die verschwunden und auch nie mehr aufgetaucht. Niemand hatte etwas darüber erfahren. Zum Glück. In Zukunft hatte er dann vorsichtiger agiert und nur noch saubere Arbeit abgeliefert. Doch damit sollte nun Schluss sein!

Mitten in der Nacht lagen die beiden toten Frauen aus Zimmer vier auf der Pritsche im Wagen, und Kevin fuhr mit ihnen Richtung Küste. Und obwohl gefährlich, gefiel ihm sein Plan. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Niemand durfte Rückschlüsse auf ihn ziehen, nie durfte der Verdacht entstehen, dass er ein Verräter war. Nicht, bevor er das Land verlassen hatte. Einfach abzuhauen war schon gefährlich genug, das würden sie vielleicht nach einiger Zeit vergessen, aber Verrat – niemals. Auf Verrat stand die Todesstrafe. Zu groß, zu mächtig war die Organisation, von der er nur zwei führende Mitglieder kannte. Phil, den Chef, und Jessi, dessen Frau. Die anderen, Elena, der Doc und auch Pavel, die, wie er auch, im Haus ohne Fenster ihren Dienst taten, waren kleine Handlanger. Die Organisation schien mächtig und weit vernetzt zu sein. Alles, was hier geschah, musste auffliegen, bevor sie den Verrat bemerkten, danach konnte es ihm egal sein. Doch Kevin hatte Angst, große Angst.

Als ehemaliger Seemann, großer Freund von Maritimem und der Navigation hatte er sich einen guten Plan zurechtgelegt. Auf Umwegen wollte er die Polizei ins „Alte Storchennest“, in das Haus ohne Fenster, führen. Zuerst über die beiden Blonden Andeutungen machen, dann über Lenka alles preisgeben, was er wusste.

Kurz bevor das erste Tageslicht am Horizont auftauchte, hatte er sein nächtliches Werk vollendet, die Leichen drapiert, Hinweise an markanter Stelle versteckt, den dritten Hinweis platziert und den Rückweg angetreten. Kevin bemerkte plötzlich, dass ihm das Spiel Spaß machte.

Für Lenka, das nahm er sich vor, musste er morgen einen ganz besonderen Platz finden. Die würde dann endgültig den Hinweis auf das Haus ohne Fenster geben.

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind?

Sanft strich der auflandige Wind von Nord über den Deich, bewegte Gräser und Halme, ließ sie ganz leise schaukeln. Sanft strich der Wind auch über den nackten, leblosen Körper, der auf dem Deich im Gras lag, bewegte goldenes Haar, stellte die feinen Körperhaare auf. Halme neigten sich und fuhren sanft über die nackte Haut.

Auf den ersten Blick ein zärtliches, ein friedliches Bild, doch etwas störte diesen Frieden.

Es war der Körper einer Frau, einer jungen Frau. Ihr Kopf zeigte gen Norden, das Gesicht gen Osten, die Beine gen Süden. Die Arme wiesen rechts und links vom Körper weg, gen Osten und Westen. Der ausgestreckte Zeigefinger der rechten Hand wies in eigenartiger Haltung ebenfalls gen Osten, so als wollte er einen Hinweis geben. Zufall? Oder drapiert?

Zufall war, dass der Körper schon früh am Morgen von einer Radfahrerin, die den Sonnenaufgang über der Nordsee erleben und fotografieren wollte, entdeckt wurde. Und – es kam noch schlimmer …

Der frühe Vogel fängt …

Die Radlerin hatte fast den höchsten Punkt der Aussichtsplattform „Camp Elisabethgrodendeich“ erreicht. Gefangen vom herrlichen Anblick der ersten hellen Strahlen der aufgehenden Sonne über der Nordsee, geriet sie auf ihrem E-Bike ins Schlingern und rutschte in das seitliche Gras. Mit Mühe gelang es ihr, das schwere Gefährt abzufangen, und fuhr unsicher auf dem holprigen Gras weiter, bevor sie erleichtert zum Stehen kam. „Mist!“, schimpfte die Frau vor sich hin. „Aber selbst schuld, wenn man fährt, wo man nicht fahren soll!“

Dann aber nahm etwas anderes ihren Blick gefangen. Ein paar Meter vor ihr, seitlich im feuchten Gras, lag etwas. Lag jemand. Eigenartig. Die Frau stieg über den Holm ihres Bikes, schob es neugierig ein wenig näher heran. Da lag jemand … da lag eine nackte Person. Ein vorwitziger Sonnenstrahl kroch über ihren Körper und ließ die blonden Haare der Person golden leuchten. Im ersten Impuls wunderte sich die Frau, dass gerade hier, so öffentlich, ein Mensch nackt in der Morgensonne lag, denn warm war es um diese Zeit noch nicht. Dann aber fiel ihr die eigenartige Haltung des Körpers auf. Die Frau stellte ihr Bike ab und trat näher heran. „Hallo, Sie!“, rief sie aus einiger Entfernung, doch es kam keine Antwort. Sie setzte zu einem weiteren Versuch an, dann jedoch wurde ihr klar, dass die Person vor ihr wohl nicht mehr antworten würde. Wieso hatte sie das nicht sofort bemerkt, die Haltung war schließlich eindeutig. Noch etwas nahm ihren Blick gefangen. Absonderlich erschien ihr, was sie sah, und ihr am ganzen Körper eine Gänsehaut wachsen ließ. Eigentümlich, befremdend und auch beängstigend. Sie schob ihre Sonnenbrille in das Haar, ging ein paar Schritte näher an den Körper heran und beugte sich darüber. Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund und murmelte mit zusammengekniffenen Augen: „Das ist doch nicht möglich. Mein Gott …“ Erschrocken wich sie zurück. Doch die Neugier war größer, denn da steckte doch etwas in der Poritze der Toten. Entsetzt stieß sie aus: „Wer macht denn so was?“ Dann fuhr sie zusammen, kam ins Wanken, taumelte zur Seite und fiel leichenblass neben der Toten in das nasse Gras. Es dauerte eine Weile, bis sie sich etwas gefangen hatte und in der Lage war, ihr Handy zu zücken, um den Notruf zu wählen.

Am Arsch der Welt

Ein Anruf von der Zentrale der Polizeistation in Wittmund weckte Kommissarin Tomke Evers von der Kriminalpolizei in Wittmund aus ihren Träumen. Wilde, wirre Träume hatten sie wieder einmal gequält. Der erste Traum handelte von ihrer Kollegin Miri, die darin bei einem Einsatz ums Leben gekommen war, was sie mitten in der Nacht hatte schweißgebadet aufschrecken lassen. Als sie dann endlich wieder eingeschlafen war, plagten sie Träume um Oma und Tant’ Fienchen, die man beide mit einem undefinierbaren Gift getötet hatte.

Nun holte ihr Handy sie in die Wirklichkeit zurück, und Tomke war froh darüber, nur geträumt zu haben.

Es war Kollege Sören, der noch im Nachtdienst in der Zentrale der Dienststelle saß und ihr mitteilte, dass jemand am Deich hinter Friederikensiel eine Leiche gefunden habe.

Tomke ließ sich die genaue Ortsbeschreibung geben und meinte nur karg: „Am Arsch der Welt, mein Gott. Wir kommen.“ Sie griff nach rechts, wollte auf Hajos Decke klopfen, um ihn zu wecken, traf ihn aber mitten im Gesicht.

„Danke, ich bin schon wach!“, kam es von der Seite. „Musst mich nicht schlagen! Was ist denn los?“

„Ich hab vielleicht eine Scheiße geträumt“, murrte Tomke, ohne auf ihn einzugehen, und warf ihre Decke zurück.

„Guten Morgen, mein Schatz!“, begrüßte Hajo seine Frau. „Was haben wir denn so früh am Morgen außer wilder Träume?“

„’Ne Leiche, was sonst? Und sag nicht immer Schatz zu mir.“

„Natürlich, Schatz“, neckte er sie weiter. „Nicht gut geschlafen?“

„Sag ich doch, und jetzt geh ich unter die Dusche.“

„Ich denke, wir haben eine Leiche?“

„Ja, aber die ist ja schon tot, und toter geht nicht, dann werde ich doch wohl noch duschen dürfen. Diese Albträume haben mir den Schweiß getrieben.“ Sie schnüffelte an sich und verzog das Gesicht. „Ich kann so nicht los. Außerdem hat Sören schon eine Streife zum Fundort losgeschickt und Spusi, KTU und den Leichenfledderer informiert.“

Hajo warf das Kissen nach ihr, während Tomke nackt durch die Tür in Richtung Badezimmer verschwand.

Als sie frisch geduscht in die Küche kam, standen zwei frisch gebraute Espressi auf dem Tisch. Hajo nahm seine Tasse und verschwand ebenfalls im Bad. „Katzenwäsche“, murrte er, „mehr bleibt für mich nicht!“, und schloss die Tür.

Auf dem Deiche liegt ’ne Leiche

Auf dem Deich, nahe der Leiche, sahen die beiden Kommissare eine Frau, die gegen ein Fahrrad gelehnt stand und sie ungeduldig erwartete.

Kollegen der Streife hatten die Fundstelle schon weiträumig abgesperrt. Einer von ihnen zeigte auf die Frau, die in einiger Entfernung rauchend auf dem Deich stand und meinte: „Sie saß völlig fertig im Gras, als wir kamen. Jetzt hat sie sich wohl ein wenig gefangen.“

Das musste die Zeugin sein, die den Fund gemeldet hatte.

Tomke ging auf sie zu, während Hajo die Leiche am Fundort inspizierte. „Manninga noch nicht da?“, wollte er wissen und setzte erstaunt nach: „Was ist denn das? Eine Kreuzigung? Und was ist das …?“ Er zeigte auf die Leiche.„Was hat die denn zwischen den Pobacken?“

Der Kollege zuckte mit den Schultern und schüttelte dabei stumm den Kopf.

Tomke hatte inzwischen die Zeugin erreicht. „Marion Sander, hier ist mein Ausweis. Ihre Kollegen wollten ihn auch schon sehen“, kam es stockend. Die Zeugin hielt Tomke ungefragt ihren Personalausweis hin. Die warf einen Blick darauf und reichte ihn zurück.

„Was ist denn passiert?“, begann Tomke.

Das war der Moment, da die Frau ohne Punkt und Komma zu reden begann. „Ich bin drüben in Carolinensiel auf Urlaub und fahre jeden Tag so meine sechzig Kilometer, um schöne Plätze und interessante Objekte hier in der Gegend zu fotografieren. Am liebsten früh am Morgen. Das E-Bike habe ich mir extra dafür geliehen.“ Sie zeigte auf ihre Fototasche und dann auf das Rad. „Dann bin ich hier angekommen und habe …“ Jetzt versagte ihr die Stimme. Sie warf ihre Kippe ins Gras und trat sie mit dem Schuh aus. Bevor sie weiterreden konnte, stoppte Tomke die völlig aufgelöste Frau.

„Ganz ruhig, sagen Sie mir einfach, was passiert ist. Und langsam bitte!“ Gleichzeitig blickte sie sie scharf an, dann auf die Kippe im Gras und wieder zurück. Die Sander bückte sich und hob sie mit einer entschuldigenden Geste auf. Dann sprach sie aufgeregt weiter.

„Was passiert ist? Das weiß ich doch nicht. Ich fahre hier lang, freue mich auf den Sonnenaufgang, und dann fällt mir die nackte Frau vor die Füße.“

„Fällt?“ Tomke schaute gen Himmel, sie verstand nicht.

„Nein, ich meine, die lag da. Ich wäre fast vom Fahrrad gefallen, weil … Ach, egal. Jedenfalls lag die da plötzlich, früh am Morgen und nackt im Gras. Ich dachte, ich spinne.“

„Kennen Sie die Tote?“, wollte Tomke wissen. Die Sander blickte Tomke mit zusammengekniffenen Augen an, schüttelte den Kopf, fragte: „Nee, woher denn?“ Sie fuhr fort: „Und schauen Sie nur, in welcher Haltung die da liegt.“ Doch Tomke reagierte auf diesen Hinweis nicht.

„Ist Ihnen denn nichts aufgefallen? War sonst noch jemand hier in der Gegend?“, hakte sie abwesend nach. Ein Blick den Deich hinunter zeigte ihr, dass auch Carsten im Anmarsch war. Dann wandte sie sich wieder der Zeugin zu.

„Nein! Hier war niemand. Weit und breit nicht!“, erklärte die und zeigte mit ausholender Geste über die Landschaft. „Gegen Mittag wird es hier voll, das kann ich Ihnen sagen. Dann kommen Radfahrer ohne Ende den Weg zwischen Carolinensiel und Schillig lang. Unterwegs machen sie dann hier Halt und wollen alle hoch auf die Aussichtsplattform ,Woge retour‘. Aber jetzt, um diese Uhrzeit, keine Menschenseele. Deshalb bin ich ja da.“

Erneut zeigte sie auf ihre Fototasche. Tomke hatte noch ein paar Fragen an die Sander, ließ sich ihre Handynummer sowie die Wohnadresse von zu Hause und auch die während des Urlaubs geben, die diese ihr nur zögerlich nannte. „Ach, hm, ich weiß nicht genau, wie die Straße heißt. Aber das kann ich Ihnen noch schicken. Sie haben sicher eine Karte für mich.“

„Danke, Frau Sander, machen Sie das. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Hier ist meine Karte. Und jetzt fahren Sie bitte weiter.“ Marion Sander warf einen Blick darauf und steckte Tomkes Visitenkarte ein. Dann griff sie nach deren Arm und zog sie zu sich heran. „Sagen Sie, Frau Kommissarin, haben Sie eigentlich gesehen, was die … die, ich meine, was in der Pobacke der Toten steckt?“ Tomke wusste nicht, was gemeint war, und machte einen Schritt zurück. Sie hasste es, wenn Fremde sie ungefragt berührten. „Mein Kollege kümmert sich schon darum!“, erklärte sie, drehte sich um und meinte im Gehen: „Wie gesagt, bitte weiterfahren, und wenn noch etwas ist, gerne melden. Es kann übrigens sein, dass wir noch mal auf Sie zukommen, und nun genießen Sie Ihren Resturlaub.“

Carsten war inzwischen auch bei den Kollegen und der Leiche angekommen und unterhielt sich mit Hajo, als Tomke zu ihnen trat. Sie schaute sich um und meinte: „Wir haben auflandigen Wind, das Wetter bleibt schön!“ Dann nickte sie zu der Leiche hinüber und wollte wissen: „Was ist das?“ Sie zeigte auf eine dünne Papierrolle, zusammengebunden mit einem roten Band, die in der Pobacke der Toten steckte. „Ist ja ekelhaft, wer macht denn so was?“

„Na, wenigstens horizontal und nicht vertikal!“, konterte Hajo, was ihm einen Stoß in die Rippen einbrachte.

„Was ist das?“, fragte sie noch mal.

„Keine Ahnung. Wir warten auf Manninga und die Spusi! Warum sind die eigentlich noch nicht da?“

„Quatsch!“ Tomke zog ein Paar Handschuhe aus ihrer Tasche, streifte sie über und beugte sich über die Leiche. „Habt ihr alles fotografiert? Die genaue Lage und so?“, wollte sie wissen. Als Hajo nickte, griff sie vorsichtig nach der Papierrolle und zog sie aus dem Schlitz.

„Tomke, das gibt Ärger!“, prophezeite Carsten, und Hajo pflichtete bei: „Aber so was von Ärger.“

Die aber winkte nur ab. „Gefahr im Verzug, hier muss eingegriffen werden.“

„Eingegriffen! Tolles Wortspiel!“ Carsten schüttelte den Kopf. „Nun mach schon auf. Was steht denn auf dem Zettel?“, wollte er ungeduldig wissen. Tomke antwortete nicht. Sie betrachtete den Gegenstand in ihren Händen von allen Seiten. Es handelte sich tatsächlich um ein Stück Papier, ganz eng zusammengerollt und mit einem roten Faden gebunden. Sie zog den Faden ab und rollte es vorsichtig auseinander.

Das weiße Papier mit Hammerschlagdekor war beschrieben, außerdem befand sich darauf eine Zeichnung, dazu eine Zahlenkolonne, mit der sie nichts anfangen konnte: 53.709586,7.858116. Tomke las, blickte zu ihren Kollegen und las weiter. In Druckbuchstaben stand am Ende: Nicht die Erste und nicht die Letzte! Dann murmelte sie: „Ach du liebe Scheiße, das kann ja was werden!“

„Im wahrsten Sinne des Wortes!“, reagierte Hajo spontan.

***

Aus der Ferne kam eine Autokolonne auf die Erhebung zu. „Manninga und die Spusi sind im Anmarsch, komm von der Leiche weg. Du weißt, wie Manninga drauf ist, wenn man seiner Kundschaft zu nahe kommt, bevor er sie untersucht hat.“

„Ist ja gut!“ Tomke zog ihr Handy aus der Tasche, fotografierte das Schriftstück, rollte es vorsichtig zusammen, schob das rote Band darüber. Mit zwei Fingern schob sie die Pobacken der Toten auseinander und legte es dorthin zurück, woher sie es genommen hatte. Die beiden Männer schauten sich kopfschüttelnd an. Hajo raunte: „Tomke wieder!“

„Was war das? Was stand auf dem Zettel?“, wollte Carsten nun wissen.

„Das sage ich euch, wenn wir etwas Abstand zu unserem Leichenfledderer haben.“ Manninga war gemeint, der nun zu ihnen trat und schimpfte: „Weg da, wollt ihr wohl meinen Arbeitsplatz freimachen. Weg von meiner Leiche.“ Er stellte seinen Koffer ab und wedelte mit der Hand.

„Hat irgendjemand den Körper berührt oder bewegt?“

Die Kommissare schüttelten den Kopf. „Sicher? Hat keiner nachgesehen, ob die Frau auch wirklich tot ist?“

Tomke war überrascht ob dieser Frage. Aber Hajo Manninga hatte ja recht. Keiner von ihnen hier war auf die Idee gekommen, zu überprüfen, ob die Leiche wirklich eine Leiche war. Aber sicher doch die Kollegen der Streife, die zuerst am Fundort waren.

„Nein, natürlich nicht! Bewegt, meine ich!“, konterte Tomke. „Und dass sie tot ist, sieht man ja wohl!“

Manninga sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und grinste leicht. „Na, dann wollen wir mal. Was steckt denn da in der Poritze, auch Rima ani genannt?“

„Woher sollen wir das denn wissen, Klugscheißer? Keiner von uns würde es sich erlauben, die Leiche zu berühren, bevor unser großer Herr und Meister sein Werk vollendet hat.“ Tomke hatte nun wieder Oberwasser.

„Und du hast nicht nachgeschaut, was das ist? Da müsste ich mich sehr in dir täuschen, Tomke.“ Manninga forderte seinen Assistenten auf, die Stelle zu fotografieren, bückte sich dann, griff nach dem Gegenstand und hielt, wie zuvor Tomke auch, die dünne Papierrolle hoch.

„Du weißt nicht, was das ist? Das kannst du mir nicht erzählen.“ Er schaute in die Runde und wedelte mit dem Papier. „Natürlich, deine beiden Kerle hier würden es auch nicht zugeben.“ Der Rechtsmediziner deutete seinem Assistenten an, den Körper weiter von allen Seiten zu fotografieren, und stellte sich etwas abseits, um das Papier zu untersuchen.

Ganz bedächtig zog er, so wie Tomke auch, den roten Faden ab, steckte ihn in einen Asservatenbeutel und rollte das Papier auseinander. Nachdem er gelesen hatte, was dort stand, schaute er zu den Kommissaren und murmelte: „Ach du große Scheiße!“

„Regi, fotografieren. Jetzt sofort!“, rief er seinem Assistenten zu. „Nein, nicht die Leiche. Hier, dieses Papier.“ Er hielt es hoch. Der Angesprochene machte ein paar Bilder von der Vorder- und Rückseite und ging wieder zurück zur Leiche.

„Da keiner von euch fragt, was hier geschrieben steht, gehe ich davon aus, dass ihr es wisst. Hätte mich auch sehr gewundert, liebste Tomke!“

Die schüttelte den Kopf, nannte ihn einen Blödmann und forderte ihre Kollegen auf: „Kommt, lasst uns gehen, der Kerl ist wieder einmal unausstehlich.“

Der Leiter der Spurensicherung Rikus Stevensen und seine Mitarbeiter waren inzwischen auch eingetroffen und dabei, die Gegend um die Leiche herum abzusuchen. Stevensen sprach ein paar Worte mit Manninga und ging dann auch an die Arbeit. Die Kommissare konnten hier im Moment nichts tun. Außerdem wollte Tomke ihren beiden Kollegen den fotografierten Inhalt des Papiers zeigen.

„Dir auch einen schönen Tag, Frau Kommissarin“, rief der Rechtsmediziner ihr nach und konzentrierte sich wieder auf seine Leiche.

Sie hatten sich erst ein paar Schritte entfernt, als Tomkes Handy klingelte. Die Nummer war ihr unbekannt. Sie meldete sich: „Evers hier, was gibt’s?“, und lauschte in den Apparat. Mit einem schnellen Blick zu Hajo und Carsten fragte sie: „Wo?“, und versprach: „Wir kommen!“

Zu ihren Kollegen meinte sie dann fassungslos: „Das war die Zeugin, die unsere Leiche gefunden hat.“ Nach einer kurzen Pause fragte sie nachdenklich: „Haben wir Ostern? Es liegt eine weitere Leiche im Gras.“

„Wo?“, wollte Carsten wissen.

„Ein paar Kilometer weiter westlich, auch auf dem Deich.“

„Wo genau?“, hakte Carsten nach. Tomke nickte zu der Toten hin und meinte: „Dort, wohin der linke Arm unserer Leiche zeigt. Die Deichlinie entlang. In diese Richtung müssen wir.“ Sie lief mit schnellen Schritten zu ihrem Fahrzeug und bat: „Fahr uns nach, Carsten, wir nehmen den Weg an der Wasserkante entlang.“

„Was stand denn nun in diesem Papier?“, wollte Hajo auf der Fahrt wissen. Tomke schüttelte den Kopf. „Ich vermute, ein Hinweis auf das, was wir gleich vorfinden, ich hab da so eine Vorahnung.“

„Nun sag schon!“

Tomke reichte ihm stumm ihr Handy.

Knapp drei Minuten später trafen die drei Ermittler auf ein Nervenbündel.

Marion Sander saß schluchzend auf dem Deich, ihr Fahrrad lag daneben im Gras und in ein paar Metern Entfernung eine nackte Frau. Ebenso drapiert wie die erste Leiche zuvor auf der Aussichtsplattform. Ebenso schlank, ebenso blond, ebenso tot. Kopf gen Norden, Füße gen Süden, Arme nach rechts und links, also nach Osten und Westen ausgestreckt. Der rechte Zeigefinger zeigte gen Osten. Auch in ihrer Pobacke steckte eine dünne Papierrolle mit rotem Bindfaden.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es der Kommissarin erneut. Sie flüsterte: „Die sehen sich irgendwie ähnlich, und die hier hat auch so ein Ding im Hintern.“

„Rima ani“, verbesserte Hajo sie.

Tomke blaffte zurück: „Klugscheißer, nur weil du den gleichen Vornamen wie unser Leichenfledderer hast, musst du nicht …“, dann brach sie ab und widmete sich der heulenden Frau im Gras. Die war aber nicht zu beruhigen. „Ich will weg hier“, jammerte sie, „mir reicht es. Warum bin ich nur …?“ Sie schaute zu Tomke hoch und fragte: „Was ist denn nur los? Nie mehr, nie mehr in meinem Leben fahre ich hier diesen Deich entlang. Nie mehr komme ich in den verfluchten Norden. Aber ich hätte es mir ja denken können … ach …“ Dann brach sie ab, wischte sich mit dem Ärmel über Nase und Augen, verteilte eine feuchte, glänzende Masse über das ganze Gesicht.

„Wie meinen Sie das? ‚Hätte ich mir denken können‘ …?“

„Na, na, das!“, heulte die Frau und zeigte auf die Leiche.

„Und Ihnen ist auch hier nichts aufgefallen?“, wollte Tomke wissen. Ihr war die Sache reichlich suspekt. Sie reichte der Frau ein Papiertaschentuch. Die Sander schüttelte den Kopf. „Nein! Da war niemand. Nur die hier und Schafe, überall Schafe.“ Ohne aufzublicken, deutete sie auf die Leiche im Gras, putzte sich die Nase und wischte sich mit dem Tuch das Gesicht ab.

Aus der Frau war nichts herauszubekommen. Wie auch, wenn niemand in der Gegend war? Auch Tomke konnte weit und breit keine Menschenseele erkennen. „Soll ich jemanden für Sie anrufen oder sind Sie alleine hier im Urlaub?“ Die Sander schüttelte den Kopf.

„Was?“, hakte Tomke nach.

„Ich bin alleine, ich brauch auch niemanden, ich gehe jetzt zurück in meine Ferienwohnung und trink mir einen oder auch mehrere, dann fahr ich nach Hause. Meinen Urlaub habe ich mir anders vorgestellt. Ach, wäre ich doch bloß nicht …“ Wieder heulte sie los. Die Frau war nicht zu beruhigen.

„Das ist eine schlechte Idee, eine ganz schlechte Idee, Frau Sander. Warten Sie hier bitte einen Moment.“ Tomke wählte die Nummer des psychologischen Notdienstes, bekam aber keine Verbindung. Dann schaute sie nach ihren beiden Kollegen. Carsten, der kurz nach ihnen eingetroffen war, telefonierte, Hajo hatte sich Handschuhe übergezogen und war gerade dabei, der Leiche die Papierrolle aus dem Hinterteil zu ziehen. Sie winkte Carsten zu, der sein Gespräch inzwischen beendet hatte. Er steckte sein Handy weg und meinte: „Manninga ist noch mit der ersten Leiche beschäftigt. Ich habe Rikus informiert, er kommt sofort mit ein paar Leuten her. Sie teilen sich auf. Da er ja auch Rechtsmediziner ist, passt das. Meine Güte, wenn wir noch eine Leiche finden, müssen wir wegen Personalmangels schließen.“

„Willst du wohl …?“, schimpfte Tomke. „Beschreie es nur nicht. Die beiden reichen mir. Aber etwas anderes, Carsten. Tu mir den Gefallen und bring die Sander von hier weg. Ich bekomme auf die Schnelle keinen Psychologen, aber vielleicht kann Oma hier helfen. Ich denke, die Frau muss sich nur ein wenig ausheulen, dann geht es wieder.“

„Oma? Du meinst …?“ Carsten schaute seine Kollegin fragend an.

„Ja, die macht das schon. Ich ruf sie auch gleich an und informiere sie darüber, was Sache ist.“ Tomke ging mit dem Handy am Ohr zurück zu der Frau und teilte ihr mit, dass sie gleich von hier weggebracht würde. „Ich weiß jemanden, der sich vorerst um sie kümmert. Dort können Sie sich etwas beruhigen, sicher hat man auch einen Schnaps für Sie, wenn Sie wollen. Aber Auto fahren Sie danach nicht mehr. Und in diesem Zustand nach Hause auch nicht. Außerdem kann es sein, dass wir noch Fragen an Sie haben. Ihr Fahrrad bringen wir Ihnen nach.“ Die Sander nickte apathisch und ließ sich von Tomke aus dem feuchten Gras hochziehen.

Zurück bei Carsten und Hajo, zog die Kommissarin ihr Handy aus der Tasche und öffnete die Bildergalerie. Sie stellte sich zwischen Carsten und Hajo und hielt das Gerät hoch. „Zeig mal den Zettel von der zweiten Leiche“, forderte sie ihren Kollegen auf. Kurz darauf schauten die drei sich entsetzt an. „Wisst ihr, was das heißt?“, fragte Tomke leise. „Ja, wir werden in der nächsten Zeit viel Arbeit bekommen“, antwortete Hajo bestürzt.

„Das müssen wir verhindern, unter allen Umständen.“ Tomke war nun euphorisch. „Carsten, bring du jetzt die Sander zu Oma. Hajo und ich warten auf die Kollegen. Anschließend treffen wir uns im Büro. Ich will von all unseren Stellen umgehend und präzise Informationen. Wer sind die beiden Frauen? Wie wurden sie getötet und so weiter? Was haben die Zettel und vor allem die Zahlen und Zeichnungen darauf zu bedeuten? Jeder kleinste Hinweis zählt. Auf geht’s, Jungs!“

„Jawoll, Chefin!“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.

„Blödmänner, sorry, ich weiß!“

***

Als Carsten die Deichauffahrt zu Oma Jettchens Haus hochfuhr, stand die schon in der Tür. Nach Tomkes Anruf hatte sie sofort Teewasser aufgesetzt und Kuchen aus der Kühltruhe geholt. Der lag nun auf dem Wasserschiffchen des alten Herdes in der Küche und taute vor sich hin.

„Kommen Sie rein, Kind“, begrüßte Oma die noch immer verstörte Frau und forderte Carsten auf, weiterzufahren. Leise meinte sie: „Ich weiß Bescheid, Tomke hat mich angerufen.“ Der nickte dankbar und stieg wieder in seinen Wagen.

Auf dem Weg ins Büro gingen ihm die Bilder der drapierten Leichen nicht aus dem Kopf. Wer machte so etwas? Und warum? Einfach nur so? Oder wollte man ihnen damit etwas sagen? Die Fahrt nach Wittmund dauerte länger als sonst, er musste einen Umweg fahren, denn die B 461 war wegen Straßenbauarbeiten gesperrt.

Tomke hat recht, überlegte er, da kam etwas auf sie zu. Und auch ihm war aufgefallen, dass zwischen den beiden Frauenleichen eine gewisse Ähnlichkeit bestand. Zufall?

Wenn nur Miri da wäre …