4,99 €
"Dreckig, gemein und hart!" Ein dunkles Fantasyepos. Eine Frau getrieben von Rache, ein saufender und hurender Söldner, ein Paladin mit schwindendem Glauben, ein gescheiterter Magier und ein Mädchen, das lieber ein Wolf wäre, verbünden sich, um das Geheimnis um den legendären Reichsgründer zu lösen. Was kann da schon schiefgehen? Es hätte ein einfacher Auftrag für Shanin sein sollen: Schleiche hinein, entwende die Kiste und verschwinde wieder. Die Gelegenheit, sich an ihrem Erzfeind zu rächen, ist dann aber doch zu verlockend. Als sich dann auch noch die Götter für sie und ihr Ziel interessieren, fangen die Probleme erst so richtig an.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das Lächeln in den Augen eines Gottes
von Johannes Reinecke
Copyright © 2019
Cover von KUDI-Design
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Erstveröffentlichung 01.05.2019
Vierte überarbeitete Auflage Mai 2021
© Copyright 2019 – Alle Inhalte, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten, Johannes Reinecke.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN 9783751924764
Weitere Bücher von Johannes Reinecke:
Eine Nacht ohne Sterne:
Band 1 – Das Tal der Sonne, ISBN 9783744852050
Band 2 – Die Stadt des Feuers, ISBN 9783743160019
Demnächst: Der Trost im Schoße einer Göttin
als Alistair Corwin:
Die Dreizehnte Kompanie
Band 1 – Feuerwerfer, ISBN 9783750408685
Band 2 – Frostwerfer, ISBN 9783752605327
Inhaltsverzeichnis
Prolog1
Kapitel 12
Kapitel 26
Kapitel 312
Kapitel 420
Kapitel 522
Kapitel 626
Kapitel 728
Kapitel 840
Kapitel 947
Kapitel 1053
Kapitel 1157
Kapitel 1259
Kapitel 1367
Kapitel 1471
Kapitel 1581
Kapitel 1688
Kapitel 1792
Kapitel 18100
Kapitel 19107
Kapitel 20110
Kapitel 21121
Kapitel 22127
Kapitel 23131
Kapitel 24139
Kapitel 25140
Kapitel 26143
Kapitel 27150
Kapitel 28153
Kapitel 29156
Kapitel 30161
Kapitel 31167
Kapitel 32171
Kapitel 33175
Kapitel 34178
Kapitel 35180
Kapitel 36185
Kapitel 37190
Kapitel 38193
Kapitel 39197
Kapitel 40206
Kapitel 41208
Kapitel 42210
Kapitel 43212
Kapitel 44215
Kapitel 45218
Kapitel 46223
Kapitel 47227
Kapitel 48230
Kapitel 49237
Kapitel 50239
Kapitel 51243
Kapitel 52246
Kapitel 53252
Kapitel 54256
Kapitel 55257
Kapitel 56259
Kapitel 57264
Kapitel 58265
Kapitel 59268
Kapitel 60271
Kapitel 61274
Kapitel 62280
Kapitel 63282
Kapitel 64290
Kapitel 65291
Kapitel 66294
Kapitel 67298
Kapitel 68300
Kapitel 69305
Kapitel 70317
Kapitel 71320
Kapitel 72324
Kapitel 73327
Kapitel 74332
Kapitel 75335
Kapitel 76336
Kapitel 77337
Kapitel 78339
Kapitel 79340
Kapitel 80342
Kapitel 81343
Kapitel 82350
Kapitel 83353
Kapitel 84355
Kapitel 85356
Kapitel 86358
Kapitel 87359
Kapitel 88361
Kapitel 89363
Kapitel 90364
Kapitel 91366
Kapitel 92369
Kapitel 93370
Kapitel 94371
Epilog373
Nachwort374
Teil 1
Die Stadt der Schwarzen Sonnen
Prolog
Nackte Füße schritten gemessen und lautlos den Strand aus bleichen Knochenspänen entlang. Gemächlich rollten ölig-schwarze Wellen, umspielten die bloßen Knöchel und zogen sich zurück. Das makellose Gesicht wandte sich dem wabernden Horizont zu. Kalte, gefühllose Augen sahen verträumt in die Ferne, schauten zum sternenleeren Nicht-Himmel hinauf und blinzelten verwirrt, als würden sie etwas Unerwartetes wahrnehmen.
Die lichtlose Sonne zeichnete scharfe Schatten auf den Boden. Eine unbeherrschte Strähne des nachtschwarzen Haares wurde hinter die perfekten Ohren zurückgeschoben. Bleiche Hände vor dem Schoß verschränkt.
„Die Dinge entwickeln sich. Sie entwickeln sich,“ sagte die sanfte Stimme. Der Blick wandte sich den Leichenbergen zu, die von dichten summenden Wolken schwarz glänzender Fliegen umtanzt wurden. „Anders als erwartet. Aber dies war wohl zu erwarten. So wie wir nichts zu erwarten vermögen.“
Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf die Lippen.
„Wir müssen“, wieder folgte eine Pause, „eingreifen. Einige weiße Steine neu ins Spiel bringen. Einige alte stärken. Das Ziel rückt näher. Manchmal fragen wir uns, ob wir wohl noch hätten warten sollen. Aber nein, das Ziel muss erreicht werden. Es ist Zeit.“
Bedächtige Schritte ließen die Späne knacken. Die schlanke Hand tauchte kurz in die Fluten und zog einen toten Fisch hervor. Strahlende Augen versuchten sich erneut auf ein unsichtbares Ziel zu fokussieren, schweiften dann aber zum unsteten Horizont ab.
„Vergeblich, sehen zu wollen was wird. Nunmehr, wo alles im Fluss ist. Aber dies wollten wir. Wie mag es nun wohl enden?“, sang die klangvolle Stimme. Niemand antwortete und doch schien es so, als würde da draußen etwas oder jemand den Worten lauschen.
„Doch enden wird es!“
Unbeachtet landete der tote Fisch wieder in den Fluten, trieb für kurze Zeit auf der Oberfläche, bevor er versank, sich auflöste und völlig verschwand, als sei er nie dagewesen.
Auch die Gestalt war verschwunden. Nur die sich langsam mit flüssiger Dunkelheit füllenden Fußabdrücke verrieten, dass sich dort jemand aufgehalten hatte, hier an diesem Ort, an dem es nichts gab und der nicht war.
Kapitel 1
Als Shanin vernahm, wie das tödliche Lied einer abgefeuerten Armbrust in der Dunkelheit erklang, ließ sie sich blitzschnell fallen. Ein stechender Schmerz raste durch ihr Knie, als sie hart auf dem halb gefrorenen Boden aufschlug und ihr mit einem ächzenden Keuchen die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Sofort rollte sie sich zur Seite und brachte einen der verwitterten Grabsteine zum Schutz in ihren Rücken.
Durch zusammengebissene Zähne saugte sie kalte Luft ein, pflückte den spitzen Kiesel aus dem Polster über ihrem Knie und lugte vorsichtig um den alten Stein herum.
Das Leben ist dreckig, gemein und hart, dachte sie.
Keiner ihrer Verfolger schien genau zu wissen, wo sie war. Mehrere zuckende Lichter bewegten sich in einem wirren Tanz über die mit halb im Boden versunkenen Grabsteinen übersäte Fläche vor ihr.
Als hätten die Toten sie als Schlafdecke zu sich hinab gezogen.
Es hatte angefangen zu schneien. Ausgerechnet heute. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Boden von einer sichtbaren Schneeschicht überzogen wäre. Spätestens dann wäre sogar der Unfähigste ihrer Verfolger in der Lage, ihre Spuren zu finden. Sie hatte hier zu verschwinden, und zwar schnell.
Sie wagte einen Blick in die Zwischenwelt. Die Umgebung wurde unscharf, dann sah sie die Energien und Auren um sich herum. Sie konzentrierte sich auf das Wesentliche und griff mental nach einer der dünnen leuchtenden Kraftlinien, die sich jedoch nicht bewegen lies. Fest wie ein Stahlgitter. Dann brauchte sie die stärkeren Linien gar nicht erst zu versuchen.
Mist, dachte sie. Die Barriere bestand nicht nur im Inneren des Hauses, sondern auch hier draußen. Jemand hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um den Bereich zu sichern.
Wiederum klickte eine Armbrust. Ein metallisches Klimpern erklang in der Dunkelheit, dann folgten wüste Beschimpfungen.
„Idiot!“, brüllte ein Mann, ein Hauch von Panik in der Stimme. „Willst du mich umbringen? Schieß nicht einfach im Dunklen herum, sonst triffst du noch einen von uns.“ Eine gemurmelte Entschuldigung folgte.
Sie schätzte, dass wenigstens ein Dutzend Wachen nach ihr suchten. Bislang stellten sie sich äußerst ungeschickt an und hatten keine Hunde. Shanin hatte nicht vor so lange zu warten, bis sich dies änderte. Zu ihrer Linken sah sie die Silhouetten einiger Bäume gegen das dunkle Blau des Nachthimmels aufragen. Diese waren ihr Ziel. Tief geduckt eilte sie von Grabstein zu Grabstein, die Lichter der Lampen und Fackeln im Blick. Ihr Knie schmerzte noch immer, aber darauf konnte sie derzeit keinerlei Rücksicht nehmen. Wenn sie erwischt würde, wäre dies ihr geringstes Problem.
Nur wenige Schritt trennten sie von der Baumgruppe, als sie eine Bewegung in der Dunkelheit wahrzunehmen glaubte. Instinktiv erstarrte die junge Frau und ging tiefer in die Hocke.
Dort, unweit vor ihr, stand eine Gestalt; ein Mann, das Schwert in der Hand. Bislang hatte er sie nicht bemerkt.
Die unzähligen Trainingsstunden zahlten sich jetzt aus. Ohne Schwierigkeiten verlangsamte sie ihren Atem. Verbannte jede Spur Angst und Ungeduld aus ihren Gedanken. Konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.
Langsam zog sie den langen Dolch aus der Scheide. Tief geduckt schlich sie einige Schritt zur Seite und bewegte sich dann schräg hinter ihr Ziel. Brust und Rücken des Mannes wurden von schweren Metallplatten geschützt, die im fahlen Mondlicht schimmerten. Vermutlich Kettengeflecht darunter. Der Kopf war frei. Kein Helm war zu sehen, nur eine leichte Kapuze gegen die Winterkälte.
Sie war sich sicher, kein Geräusch verursacht zu haben, trotzdem drehte er sich um.
Woher sie die Kraft gefunden hatte, das Schattentor zu öffnen, wusste sie nicht. Der Schock währte nur kurz, als sie der Umgebung gewahr wurde. Die Zwischenwelt. Wenn es eben kalt gewesen war, dann war es jetzt eisig. Shanin glaubte zu fühlen, wie der Nebel um sie herum jeden Funken Wärme aus ihrem Körper zu pressen suchte.
Sie sprang vor und war zurück in der materiellen Welt. Ihre linke Hand schoss vor und legte sich auf den Mund ihres Opfers, das mit dem Rücken direkt vor ihr stand.
Den Dolch in ihrer rechten trieb sie mit einer geübten Geste durch den Unterkiefer aufwärts in den Schädel.
Etwas zu tief angesetzt, ärgerte sie sich.
Kein Kettengeflecht schützte ihn hier. Leicht drang der scharfe Stahl ein, zerschnitt das Fleisch und ließ dampfendes Blut in die Kälte der Nacht entweichen.
War das jetzt nötig?, erklang eine vertraute Stimme in ihrem Hinterkopf, du hättest verschwinden können.
Der Mann zuckte. Wollte schreien, sich befreien. Ein leichtes Gurgeln drang aus der offengelegten Luftröhre. Die Glieder des Sterbenden krampften, stemmten sich mit aller Gewalt gegen Shanins unerbittlichen Griff. Ihre Hände krallten sich ins Fleisch. Sie spürte, wie das warme Blut zwischen ihren Fingern hindurch strömte, während sie versuchte, die Klinge tief genug in den Schädel zu bohren.
Eng umschlungen wie ein Liebespaar taumelten beide zurück. Sie wollte den Mann in die Knie zu zwingen, indem sie ihre Fußspitze in seine Kniekehle presste, stieß dabei mit dem Hacken gegen etwas und verlor endgültig das Gleichgewicht. Gemeinsam stürzten sie krachend zu Boden. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit schlug ihr Körper hart auf, nur dass dieses Mal zusätzlich das volle Gewicht des Gerüsteten auf ihrer Brust landete. Der Hinterkopf des Mannes hämmerte gegen ihr Kinn und ließ ihren Blick kurz schwarz werden.
So hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Sich langsam nähernde Rufe erklangen in der Dunkelheit. Sie hatte genug Lärm verursacht, um alle Wachen aufmerksam zu machen und in ihre Richtung zu ziehen.
Shanin schob den gefühlt tonnenschweren Körper von sich herunter. Lichter näherten sich, nur etwa zwanzig Schritt von ihr entfernt. Sie rollte sich hinter einen nahen Baumstamm. Dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt.
Zehn Schritt. Sie sah sich um. Hier mussten die Klippen sein.
Fünf Schritt. Sie sank auf die Knie und krabbelte vorwärts. Vor ihr tauchten die fernen Lichter der Stadt auf. Sie hatte die Bäume hinter sich gelassen. Ihre tastenden Hände fanden den Abgrund.
Ein Alarmruf. Der Tote war gefunden worden.
Das Seil zu suchen, das sie vor ihrem Eindringen befestigt hatte, würde zu lange dauern.
Sollte sie es wagen? Klettern oder springen? In der Tiefe vor ihr rauschten die Wellen. Klatschten lautstark auf die Felsen. Hinter ihr ertönte wieder ein Ruf: „Alarm!“
An den Klippen hängend wäre sie wehrlos und ein leichtes Ziel.
Als dann ihre schlimmste Befürchtung wahr wurde und das Bellen von Hunden erklang, wurde ihr die Entscheidung abgenommen.
Sie wich einige Schritte zurück, nahm kurz Anlauf, stieß sich ab und streckte ihren Körper durch; versuchte so viel Platz wie möglich zwischen sich und die Klippen mit den an ihrem Fuße lauernden Felsen zu bringen. Kopfüber schoss sie in die schwarze Tiefe. Eiskalte Luft sauste zischend an ihr vorbei, während sie versuchte, sich so weit wie möglich zu strecken.
Vielleicht war es Zeit, fortzuziehen oder zumindest einen richtigen Beruf zu ergreifen. Das Leben als Bauer hatte sicherlich seine Vorteile. Sie versprach, die Tempel zu besuchen und zu spenden.
Stumm betete sie zu allen Göttern, die ihr einfielen: Caliane, Herrin der Nacht, beschütze mich. Shagra, Dolch in der Dunkelheit beschütze mich. Alrion, Gott-gewordener Gründer, be...
Dann schlug sie auf.
Kapitel 2
Das kleine blonde Mädchen ließ die vom eiskalten Flusswasser schwere Kleidung wuchtig auf die Felsen klatschen. Dicke Wassertropfen flogen in halbkreisförmigen Bahnen und landeten platschend auf Kopf und Rücken. Sie griff zur Seife und versuchte, die Schmutzflecken mit der alten Bürste heraus zu scheuern.
Arme und Schultern schmerzten, doch all ihre Bemühungen waren vergeblich. Ihre Eltern würden böse werden, erst schimpfen und sie dann schlagen. Aber sie schimpften und schlugen immer, egal was sie tat. Mit steifen Fingern wischte sie sich das Spritzwasser aus dem Gesicht. Sie zitterte und pustete in ihre blau angelaufenen Hände, um diese zu wärmen.
„Shanin“, hörte sie ihre Mutter rufen. Sie klang nicht wütend, aber trotzdem verstaute Shanin eilig all ihre Sachen in den Körben und rannte über das Feld zurück zum Haus.
„Shanin!“, hörte sie Mutter ein weiteres Mal rufen, „Komm her! Sofort!“
Mutter wartete schon, als sie an der kleinen Lehmhütte ankam. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und trug einen seltsamen Ausdruck im Gesicht.
„Komm“, sagte sie, „wir müssen ins Dorf.“
Shanin wurde unsanft ins Haus geschoben. „Mach dich etwas sauber. Du siehst wieder aus!“
Sie eilte zur Waschschüssel. Ihre Mutter nahm ein Tuch, tunkte es ins Wasser und versuchte, mit kräftigen Bewegungen ihr Gesicht zu säubern. So hatte sich die Wäsche bestimmt auch gefühlt, dachte Shanin. Doch sie hielt still. Stillhalten war immer eine gute Idee. Das hatte sie seit ihrer Geburt gelernt. Stillhalten und still sein. Wer sich wehrte oder etwas sagte, litt nur mehr.
So sehr sie sich bemühte, sie machte alles falsch. Während ihre Geschwister nur selten Vaters Knute zu spüren bekamen, verging in Shanins Leben kaum ein Tag ohne Schläge.
„So ist das Leben“, hatte Vater einmal gesagt und damit war für ihn die Sache beendet.
Mutter betrachtete sie abschätzend und griff zur Bürste. Mit kräftigen Zügen versuchte sie, die Knoten aus ihrem langen Haar zu streifen.
„Was hast du nur wieder gemacht. Nichts als Ärger“, murmelte sie, „Herrin Amara gib mir Kraft, dieses Kind zu ertragen.“
Stoisch ließ Shanin diese Behandlung über sich ergehen. Ertrug das Ziepen und Ziehen und den eisenharten Griff, der sie an der Schulter festhielt und auf den Hocker drückte.
„Leg deine guten Sachen an und komm mit.“ Mit diesen Worten drehte sich Mutter um und verließ das Haus. „Und beeile dich!“, rief sie von draußen.
Mutter hatte ihr die gute Kleidung auf ihr Bett gelegt. Das weiße Oberteil, Ledermieder und den langen dunklen Rock. Sie liebte die Sachen. Sie durfte sie an den besonderen Tagen tragen, wenn gefeiert und nicht gearbeitet wurde. Was für ein Ereignis war heute? Ein Fest gab es nicht, das wusste sie genau. Kam ein wichtiger Besucher? Vielleicht der Freivogt selbst? Vater sagte immer, sie sei recht ansehnlich und man könne einen respektablen Mann für sie finden. Mutter glaubte das nicht.
Sie zog den letzten Riemen fest und eilte vor die Tür, wo ihre Mutter ungeduldig wartete, Shanin bei der Hand nahm und schnellen Schritts mit sich zog.
Kahden, ihr großer Bruder, winkte ihr vom Feld aus zu, wo er grade den schweren Pflug zog. Er wirkte traurig. Sie winkte zurück.
Schon bald hatten sie die Lichtung, auf der sich das Haus befand, hinter sich gelassen und eilten den schmalen Waldweg entlang in Richtung des Dorfes. Die Sonne stand hoch am Himmel und doch war es kühl. Bald würde es Winter werden. Sie mochte die kalte Jahreszeit. Die Arbeit im Haus war weniger anstrengend, als die draußen auf dem Feld oder im Wald. Sie und ihre Brüder hatten Zeit zum Reden und Spielen, falls ihre Eltern es erlaubten.
Der Pfad schlängelte sich an dem kleinen Bach entlang, vorbei an Findlingen und uralten Bäumen. Sie musste aufpassen, nicht über eine der Wurzeln zu stolpern. Mutter hätte es sicher nicht gefallen, wenn sie stürzen und schmutzig würde oder gar ihr Kleid zerrisse. Trotzdem zog Mutter sie mitleidlos weiter.
Endlich kamen die ersten Häuser in Sicht. Alle Leute der Umgebung schienen auf den Beinen, drängelten sich in der Mitte des großen Dorfplatzes und umringten einige Wagen, die darauf standen.
Schausteller oder doch ein wichtiger Reisender? Nein. Einer der Wagen hatte eine offene Seitenklappe. Darin sah sie Töpfe und Pfannen, bunte Hauben und Decken und Ketten aus Kupfer und Bronze. Ein Händler also.
Mutter schob sich durch die Menschentraube, bis sie vor dem Hauptwagen standen.
Alle Bauern der Umgebung waren da. Die wenigen Händler, die sich in ihre Gegend verirrten, waren immer große Attraktionen. Schöne Kleidung und Schmuck oder nur Geschirr für die Küche.
Sogar Wingar, der Köhler, war anwesend. Köhler waren seltsame Menschen und zaubern konnten sie, so sagte man. Gandrin, der Dorfälteste von seinen Söhnen gestützt und Keldar der Dorfmeister. Sie mochte die meisten 'echten' Dörfler nicht. Sie alle behandelten sie wie Abschaum und kommandierten sie bei jeder Gelegenheit herum. Die anderen Waldbauern konnte sie besser leiden.
Aber dort zwischen all den Erwachsenen sah sie Tessara. Sie war in ihrem Alter und ihre beste und einzige Freundin. Die Mädchen erblickten einander und lächelten. Tessara winkte, wurde aber dann von ihrem Vater hinter einige andere Erwachsene gezogen.
Shanins Vater stand dort und sprach mit einem gewaltigen Mann in einem Fellmantel.
„Das ist sie“, sagte Vater und zog sie vor sich. Der Dicke musterte sie eine Weile abschätzig, griff dann mit seiner fleischigen Hand nach ihrem Kinn und schob ihren Kopf hin und her.
„Sie ist sehr hübsch“, sagte ihr Vater enthusiastisch und lächelte, „Wirklich sehr hübsch.“
Der Dicke grunzte. „Zu dünn. Viel zu dünn. Die muss ja zuerst mal aufgepäppelt werden. Die frisst mir ja die Haare vom Kopf.“
„Nein, sie isst nicht viel. Dünn ist sie vielleicht, aber robust. Nie krank.“
Langsam verstand Shanin, was hier soeben geschah und warum sie sich vorkam, wie ein Schwein oder eine Kuh auf dem Markt. Kurz blitzte Angst in ihr auf, dann dachte sie: Schlimmer kann es nicht werden und ich komme hier weg. Ich wollte schon immer mal etwas von der Welt sehen. So wie in den Geschichten, die sie so gerne hörte. Vater und der Dicke schüttelten sich die Hände. Einer der Begleiter des Händlers, ein großer Mann in einer beschlagenen Lederrüstung und mit einem finsteren Gesichtsausdruck reichte ihrem Vater einen Beutel.
„Du wirst es gut haben“, sagte Vater, aber er klang nicht überzeugt. Mutter drückte ihr ein Bündel in die Hand, dann schoben sich die beiden zurück durch die Menge und verschwanden aus ihrer Sicht.
„Wir fahren in die Stadt, sagt Mama“, erklärte Tessara, die neben ihr aufgetaucht war. Auch sie trug ihre beste Kleidung und hatte ein Bündel in den Händen. „Das wird bestimmt ein ganz tolles Abenteuer“, plapperte sie ausgelassen.
Shanin war sich plötzlich nicht mehr so sicher. Die Begleiter des Dicken sahen nicht freundlich aus.
Der Rest des Dorfes drängelte sich weiterhin um die Wagen. Pfannen und Töpfe wurden gekauft. Lampen, einige bunte Kleidungsstücke für die Frauen. Sie sah Ketten und Ringe, aber größtenteils wechselten Alltagsgegenstände den Besitzer. Die Leute brachten ihre Felle und die wenigen Nahrungsmittel, die sie nicht selbst benötigten, um die seltenen Luxusgüter zu erstehen.
Nach und nach löste sich die Versammlung auf und die Menschen kehrten in ihre Häuser zurück oder machten sich auf den Rückweg zu ihren Höfen im Umland.
Die Sonne sandte schon ihre letzten Strahlen über die Baumkronen im Westen, als der Dicke sich den Kindern zuwandte. Shanin sah, wie die vielen schweren Goldringe an seinen Händen im Licht der untergehenden Sonne blitzten. Er baute sich mit vor der fleischigen Brust verschränkten Armen vor den Mädchen auf und betrachtete sie abschätzig.
„Ich bin euer neuer Herr. Ihr werdet mich Meister Gerhal nennen.“
Er legte eine kurze Pause ein, als erwarte er eine ehrfürchtige Reaktion seiner Zuhörerinnen.
„Geht da rüber, ihr zwei“, er deutete zur Wiese am Dorfrand, wo soeben ein Wagenkreis entstand.
Einige Männer hatten schon damit angefangen, eine Feuerstelle zu errichten.
„Und lasst euch was zu essen geben und die Schlafplätze zeigen. Wir brechen früh morgens bei Sonnenaufgang auf. Macht keinen Ärger und wir kommen gut miteinander aus. Versucht wegzulaufen und ich prügle persönlich die Scheiße aus euch raus.“
Er ballte seine Hand zu einer Faust und schüttelte sie vor den Kindern. So lächerlich diese Geste im ersten Augenblick wirkte, so sicher war sich Shanin, dass er dies durchaus ernst meinte. Und auch wenn er es nicht selbst täte, seine Begleiter sahen mehr als in der Lage dazu aus.
„Benehmt euch gut und es wird euch besser ergehen, als in diesem Dreckloch von einem Dorf. Los los! Rüber mit euch“, fügte er hinzu und wedelte mit den Händen.
Am Feuer angekommen dauerte es eine Weile, bis sich einer der Männer, ein grauhaariger Bewaffneter, zu ihnen umdrehte.
„Legt eure Sachen da rein“, er deutete zu einem der kleineren Kastenwagen, „Dort drin werdet ihr auch schlafen. Bleibt bei Anbruch der Dunkelheit immer in der Nähe des Feuers oder besser noch im Wagen.“
Er schob die beiden sanft in Richtung des Fahrzeugs. Die hintere Klappe stand offen und gab den Blick ins Innere frei.
Dort türmten sich Säcke und Kisten. An der Decke und der freien Wand hingen Töpfe und Pfannen und andere Kochutensilien.
„Ach ja, ich bin Yarin“, sagte er und drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten, und ging zurück zum Feuer.
Die Mädchen schoben ihre Beutel in den Wagen, setzten sich in die Tür und beobachteten das Geschehen.
Meister Gerhal hatte ein Dutzend Begleiter. Alle waren bewaffnet und wirkten äußerst grimmig und übellaunig. Die Hälfte trug Leder- und Kettenrüstung und blickte, wenn das überhaupt möglich war, noch finsterer drein, als ihre Kameraden.
Nachdem sich Meister Gerhal ächzend in seinen eigenen Wagen zurückgezogen hatte und nicht mehr zu sehen war, übernahm Yarin das Kommando.
Die Pferde wurden versorgt und in einem Teil in der Mitte des Lagers angebunden. Über das Feuer wurde ein riesiger Kupferkessel gehängt und nach und nach mit Gemüse und Fleisch gefüllt.
Mit Einbruch der Nacht brachte ihnen Yarin jeweils eine Holzschale mit Eintopf und ein Stück trockenen Brotes. Sie schlangen alles wortlos hinunter, bevor es jemand wegnehmen konnte.
Kurz darauf lagen sie, fest in ihre Decken eingewickelt, im Wagen. Es war die erste Nacht, die Shanin nicht in ihrem Elternhaus verbrachte und zum ersten Mal spürte sie Heimweh. So freudlos ihr Leben meist gewesen war, sie vermisste ihre Eltern und Geschwister; den vertrauten Strohsack und selbst das einfache Essen. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.
„Ich hab Angst!“, schluchzte Tessara plötzlich neben ihr, „Ich will zurück nach Hause.“ Sie fing an zu weinen.
Shanin schluckte ihre eigenen Tränen herunter und umarmte ihre Freundin: „Alles wird gut. Die Götter beschützen uns“, sagte sie mit fester Stimme und hoffte, das Tessara den nagenden Zweifel in ihren Worten nicht hörte.
Kapitel 3
Aus dieser Höhe war das Wasser hart wie Stein. Mit brutaler Wucht tauchte ihr Körper in die schäumenden Fluten ein.
Der Schock der eisigen Kälte, die innerhalb weniger Herzschläge durch das dünne, sich vollsaugende Leder drang, brachte fast ihr Herz zum Stillstand. Schon spürte sie, wie das Gewicht drohte, sie in die Tiefe zu ziehen. Weiße Blitze tanzten vor ihr. Orientierungslos und panisch riss sie die Augen auf und sah sich hektisch um, erblickte aber nur undurchdringliche Schwärze.
Ihr Waffengürtel hatte sich beim Aufprall gelöst, sich um Schenkel und Hüfte verheddert und drohte ihre Beine zu umschlingen. Sie versuchte, die Angst zu unterdrücken. Das ungewohnte Gewicht des auf ihren Rücken geschnallten Beutebündels erschwerte jede Bewegung zusätzlich. Mit vor Kälte gefühllosen Fingern zerrte sie an dem Geschirr herum. Sie sank tiefer und tiefer. Endlich hatte sie die Schnallen der Gurte gelöst und ihr Gürtel schwebte davon.
Schmerzende Lungen. Unterkühlte Gliedmaßen. Brennende Augen.
Wo war oben? Sie musste es riskieren. Lange würde die Luft nicht mehr reichen. Ihr Fuß schlug gegen etwas Festes. Ein Stein der Klippen, sie hatte die Felsen nur knapp verfehlt.
Sollte sie das Bündel loswerden? Dann wäre der Abend ein völliger Fehlschlag. Sie verfluchte ihre nachlässige Planung. Arroganz und Unaufmerksamkeit waren schon immer fatale Geschwister gewesen.
Shanin verließ sich auf ihren Instinkt. Dort musste oben sein. Einige schnelle Schwimmstöße, dann durchbrach sie prustend die Wasseroberfläche. Keuchend sog sie die Luft ein. Sie hustete und spuckte Wasser.
Warum habe ich mich nur auf diese Sache eingelassen, schoss es ihr durch den Kopf, Rache! Verdammte Rache und verdammtes Allantyl!
Immer wieder ließ sie ihren Oberkörper in die Höhe schnellen und versuchte irgendetwas in der Dunkelheit um sich zu erspähen.
Links ragte eine schwarze Wand in die Höhe. Rechts von ihr sah sie einige bleiche Lichter der Stadt durch die Schneeflocken auf den Wellen tanzen.
Dort hoffte sie, ihr Boot zu finden. Oder war sie schon zu weit? Und wieder verließ sie sich auf ihr Glück, schwamm los und fand nach nur wenigen Schwimmstößen ihr Ruderboot an den Klippen vertäut vor.
Sie ergriff die Bootswand und brauchte mehrere Anläufe, um sich in die Höhe zu wuchten und dabei das Boot nicht umzuwerfen. Ächzend zog sie sich an Bord, kramte mit steifen Fingern unter der Sitzbank und zog den dicken Umhang hervor. Die nassen, fingerlosen Handschuhe warf sie weg, blies in die Hände und versuchte wieder etwas Gefühl in ihre Extremitäten zu bekommen.
Sie musste die nassen Sachen loswerden, aber trockene Kleidung gab es nur in der Stadt. Und hier weg musste sie ohnehin schnell, auch wenn sie nicht glaubte, dass sich einer ihrer Verfolger auf eine nächtliche Kletterpartie einlassen würde.
Mit ungelenken Bewegungen löste sie das Seil von den Steinen, legte die Ruder in die Halterungen ein und begann den langen Rückweg.
Ziehen. Strecken. Ziehen. Strecken. Unendlich langsam bewegte sich das kleine Boot über die flachen Wellen. Ziehen Strecken. Ihre Ruderbewegungen wurden unregelmäßiger. Wo war der verfluchte Kai?
Ziehen. Strecken. Das Klatschen der eintauchenden Ruderblätter wurde von Schlag zu Schlag unrhythmischer. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander und gaben einen unschönen und zu schnellen Takt vor.
Ziehen. Strecken. Fast glaubte sie, sie würde es nicht schaffen, da tauchte endlich der dunkle Schatten der Hafenmauer direkt vor ihr auf. Mit einem leisen Knirschen schabte der Bug ihres Bootes an der Mauer entlang.
Shanin balancierte einige Schritte vorwärts – jetzt nur nicht wieder ins Wasser fallen - und warf sich dann auf die rutschigen Steine der Mauer. Mit letzter Kraft zog sie ihre Beine an Land. Lag reglos da und keuchte und hustete.
Schneeflocken landeten auf ihrem Körper und schmolzen. Sie fror. Die dünne Kleidung, zum Schleichen und Klettern ideal, war noch immer völlig durchnässt. Ihre Zehen und Finger waren steif. Sie versuchte, ihre Zähne zusammenzubeißen, um das Klappern, das trotzdem unendlich laut durch die Nacht hallte, zu unterdrücken. Müdigkeit überkam sie.
Einfach liegenbleiben, dachte sie, dann wäre bald alles vorbei. Morgen früh würde irgendein Fischer oder Arbeiter ihren steifen Leib finden, ausplündern und wieder ins Wasser rollen. Fischfutter.
Nein! So hatte sie sich ihr Ende nicht vorgestellt. Shanin rollte sich langsam auf den Bauch und zog die Knie an. Obwohl sich die Welt um sie drehte und alles tanzte, stand sie aufrecht da.
Der Schneefall war dichter geworden, aber sie erkannte wage Lichter vor sich. Hin und wieder drangen Stimmen und Lachen zu ihr herüber.
Schwankend und taumelnd setzte sie sich in Bewegung. Schiefes, unmelodisches Singen wurde zu ihr hinüber geweht.
So müde. Sie brauchte Ruhe. Nur ein paar kostbare Minuten, dann würde sie genug Kraft haben, um weiterzugehen. Nein! So nicht! Vorwärts! Schritt um Schritt stolperte sie voran.
Die alte Steintreppe hinauf, über den lang gestreckten Platz und hinein zwischen die Häuser, wo wenigstens der schneidende Wind abgehalten wurde.
Fast wäre sie in die Gestalten hineingelaufen. Drei schmierige Männer standen in der Nähe eines heruntergekommenen Hauses, einen Krug herumreichend.
„Hey Süße“, sagte einer, „is dir kalt? Komm, ich kann dich wärmen.“ Alle drei lachten. „Vielleicht habe ich sogar noch ein riesiges Geschenk für dich.“ Er griff sich zwischen die Beine. Wieder lachten sie.
Sie schob sich an den Sprecher heran, packte seinen verdreckten Jackenkragen, zog ihn an sich und presste ihre Lippen auf seine Wange. Der ranzige Geschmack von Wein paarte sich mit dem Geruch von Dreck, Schweiß und faulem Fisch. Ihre Hand fasste zielsicher zwischen die Schenkel des Mannes. Seine Männlichkeit reckte sich ihr hart entgegen.
„Komm mit“, sagte sie mit bemerkenswert fester Stimme, „du kannst alles mit mir machen.“ Sie spürte die Geilheit in ihm aufsteigen und mit ihr kam auch immer die Unvernunft.
Sie nahm seine Hand und zog ihn sanft aber bestimmt mit sich. „Danach bin ich dran. Lass noch was für mich übrig“, rief einer seiner Kumpanen hinterher.
Nur wenige Schritt weiter schob sie ihn um eine Ecke hinter einige alte Kisten, küsste ihn neben den Mund und nestelte mit noch immer ungelenken Fingern an seiner Hose herum, die nur von einem um die Hüfte gewickelten Strick oben gehalten wurde.
Sie musste sich beeilen, bevor der Mann Gelegenheit hatte nachzudenken.
„Du bist ganz schön wild, so mag ich das“, sagte er keuchend. „Und kalte Finger haste“, entfuhr es dem stinkenden Maul. „Ich helf dir.“ Seine Stimme zitterte vor Erregung. Endlich hatte sie den Knoten gelöst, zog das Seil von seinen Hüften und wickelte es unbemerkt um ihre Hände. Die Hose rutschte zu Boden und, noch ehe der Mann sein Misstrauen und gesunden Menschenverstand wiedererlangte, rammte sie ihm ihr Knie zwischen die Beine, war mit einer blitzartigen Bewegung hinter ihm und schlang das Seil fest um seinen Hals. Der Mann zuckte und wand sich in ihrem Griff. Shanin spürte, wie der Strick in ihre Hände schnitt, fühlte die verzweifelten Bemühungen des Mannes, der um sein Leben kämpfte. Er gab nicht auf. Sie trat mehrfach nach den seinen Kniekehlen, bis er zu Boden sank. Er schlug nach ihr, versuchte, sie zu greifen, oder das Seil ein Stück von seinem Hals zu lösen.
Seine Fingernägel kratzten ihren Nacken und hinterließen schmerzhafte Wunden.
Mit letzter Kraft klammerte sie sich an ihr Opfer, zog fester zu, bis dessen Bemühungen immer schwächer wurden und schließlich erstarben. Zum zweiten Mal an diesem Abend fand sie sich unter einem Toten wieder. Kein guter Tag!
Keuchend lag sie da, rang lange nach Luft. Endlich war sie in der Lage aufzustehen, zog dem Toten und sich die Kleidung aus und stieg ungeschickt in seine stinkenden, aber trockenen Sachen. Die Schuhe, auch wenn sie diese Bezeichnung kaum verdienten, und die restliche Kleidung waren zu weit, würden aber ihren Zweck erfüllen.
Die Leiche ließ sie zwischen den verrottenden Kisten liegen, der richtige Ort für einen wie ihn.
Sie versetzte dem Toten im Gehen einen Tritt in die Seite und taumelte dann die dunkle Gasse entlang. Schnell hatte sie einige bekannte Gebäude ausgemacht. Der alte Hafen. Keine gute Gegend, um nachts unbewaffnet und geschwächt umher zu wandern. In ihrer Verfassung war sie ein leichtes Opfer für jeden Straßenräuber.
So hielt sie sich in den Schatten der zumeist baufälligen Häuser. In vielen brannte etwas Licht. Stimmen drangen aus ihnen hervor. Wütende Unterhaltungen, von Alkohol und Drogen verzerrt. Wer hier lebte, war am unteren Ende der Nahrungskette angekommen. Man arbeitete im Hafen, wenn man Glück hatte, und konnte sich eine gelegentliche Mahlzeit in einer der Suppenküchen kaufen, die hier an nahezu jeder Straßenecke zu finden waren. Allein schon bei dem Gedanken an die Aikki zog sich ihr Magen zusammen.
Oder bettelte oder verkaufte seinen Körper. Oder man tötete oder wurde getötet. Hier gehörte all dies zum Alltag. Erinnerungen, die sie zu gern vergessen würde.
Shanin eilte an einer Gasse vorbei, aus der dumpfes Stöhnen drang. Dort vögelte wohl jemand oder wurde umgebracht. Oder beides. Ihr war es egal. Das Leben ist dreckig, gemein und hart.
Langsam wurden ihre Schritte sicherer und das Gefühl kehrte in ihre Glieder zurück. Die Bewegung tat ihr gut, selbst wenn mit dem Gefühl auch die Schmerzen kamen. Jeder Muskel brannte wie Feuer.
Der Schneefall wurde beständig dichter, aber es war nicht mehr weit. Als sie die schwimmenden Häuser erreicht hatte, war der Boden von einer durchgängigen Schneedecke bedeckt.
Vor Jahrzehnten hatten die Menschen angefangen, erste Flösse zu bauen, da der Platz innerhalb der Mauern erschöpft war. Zuerst mit Zelten darauf, später wurden daraus richtige Häuser und schließlich ein ganzes Stadtviertel, welches mittlerweile größtenteils auf festen Stelzen stand, aber auch noch immer viele instabilere Gegenden hatte.
Sie zog die Schultern hoch, den Blick auf die schwankenden Planken gerichtet. Einige späte Trinker kamen ihr entgegen. Keiner hielt sie auf.
Zielstrebig bog sie um mehrere Ecken, überquerte schmale Holzbretter, die als Brücken dienten. Dann hatte sie ihr Ziel erreicht: Das Beißers lag vor ihr.
Über der Tür des mehrstöckigen - nicht stabil oder gar freundlich wirkenden – Gebäudes schwang ein primitives Schild mit zwei Reihen grober Dreiecke im Wind.
Shanin betrat den verwinkelten, aber erstaunlich großen Schankraum. Verbrauchte Luft, mit einer Mischung aus Schweiß, Urin, schalem Bier und frischem Erbrochenen schlug ihr entgegen. Es war unerträglich heiß.
Trotz der frühen Stunde war das Beißers geöffnet. Die letzten Trinker des Abends hielten sich mit schwindenden Kräften am Tresen fest. In den Ecken lagen einige der Gäste und schliefen. Beißer, wie der Name der Kneipe schon verriet, der Besitzer, stand neben der Küchentür und beobachtete die Aufräumarbeiten. Ein dürrer Junge scheuerte soeben eine Blutlache vom Plankenboden. Ein Schankmädchen sammelte die letzten Krüge und Gläser ein.
Beißer war hässlich wie die Nacht. Manche sagten, er sei ein Halbork. Als sei das noch nicht schlimm genug, so war sein Gesicht von Tätowierungen übersät und die Zähne zu spitzen Nadeln gefeilt.
Beißers linker Arm endete am Ellenbogen. Über die Ursache wurde gerätselt. Es gab unterschiedliche Erzählungen: seine Mutter habe versucht, ihn nach der Geburt zu ertränken und ihn am Arm in einen See gehalten. Obwohl erst wenige Tage alt, sei sein Lebenswille so stark gewesen, dass er sich selbst den Arm abgebissen habe und davon geschwommen sei. Beißer selbst hatte sich zu dieser Geschichte nie geäußert, aber sie schien ihm zu gefallen.
Irgendwann, Shanin und Beißer hatten die Nacht durchgezecht, hatte er ihr erzählt, er habe den Arm bei einem Unfall mit einem Wagen verloren. Nüchtern blieb er bei der Geschichte, ein uralter menschenfressender Drache habe ihn abgebissen und sei daran verreckt.
Was auch immer davon stimmen mochte, Beißer war ein brutaler kaltherziger Wichser, aber loyal und, wenn er jemanden erst einmal in sein schwarzes Herz geschlossen hatte, die verlässlichste Person der Welt.
Das Beißers war sein ganzer Stolz und hier bedeutete sein Wort Gesetz. Auch mit einem Arm war er mehr als in der Lage, Störenfriede in ihre Schranken zu weisen.
Als er sie bemerkte, huschte kurz ein freudiges Grinsen über sein Gesicht, erstarrte jedoch, sobald sie nähergetreten war. „Hey Süße! Was'n los? Siehst aus, als hättest nen Problem gehabt.“ Eine behaarte Pranke schlug ihr auf die Schulter.
„Ja, hatte schon bessere Abende. Weißt ja, wie es laufen kann.“ Beißer nickte und schob sie durch die Tür hinter dem Tresen.
Die Wärme brachte das Gefühl in ihren Händen und Füßen zurück und ließ ihre Haut schmerzhaft prickeln.
„Ist jemand da? Ich könnte da etwas Hilfe brauchen.“
„Ja, issa“, er legte eine kurze Pause ein und deutete mit dem Daumen zur Decke. „Dein Lieblingsspinner is da.“
Sie nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, die Beißer ihr reichte. Der Fusel brannte sich die Kehle hinab und füllte ihren Magen mit Hitze. „Zumindest so halbwegs. Hat sich vorhin 'ne Ladung geholt und is dann in Begleitung rauf aufs Zimmer. Die Hure is bereits weg. Glaub trotzdem nich, dass'a so richtig“, Beißer kratzte mit zwei Fingern in der Luft, „da ist. Verstehst schon.“
Von all ihren schlagkräftigen Freunden oder wenigstens Bekannten war es ausgerechnet er. So sei es, manchmal musste man in den sauren Apfel beißen.
„Mist!“, zischte sie zwischen den Zähnen hervor, „Egal, ich versuch mein Glück.“
„Musst es ja wissen, aber sei schön gemein“, ein fieses Grinsen ließ die angefeilten Zähne blitzen. „Ich schau mal, was ich noch für dich finde.“
„Wie geht es ihm sonst?“
„Hm, so durchwachsen. Säuft, fickt und prügelt sich. Also alles in bester Ordnung.“
Manche Dinge veränderten sich nie, dachte sie bei sich, als sie die schiefe Treppe nach oben stieg und darüber nachgrübelte, was sie erzählen würde. Oder ob es nicht doch besser wäre, auf diese Art Hilfe zu verzichten.
Kapitel 4
„Kell Rihon! Kell Rihon! Kell Rihon!“
Schläfrig wälzte er sich auf dem breiten Diwan herum. Nur langsam wurde der Hüne sich seiner Umgebung bewusst und schob die halbnackte Dienerin beiseite.
„Wasser“, donnerte seine dröhnende Stimme, „zum Waschen! Und Wein. Ich bin durstig.“
Eine weitere Dienstmagd verließ hastig die marmorne Halle, noch bevor sein Befehl verhallt war. Er griff nach der Tunika aus feiner Seide und zog sie sich über den Kampf gestählten Körper. Seine Muskeln glänzten im Licht unzähliger Öllampen.
Er streckte sich und rieb sich die Augen. Die Dienerin erschien bald darauf mit einer reich verzierten Waschschüssel in den Händen und einem weichen Tuch über dem Arm. Er wusch sich und trocknete sich ab.
Der schwere Wein, von einer weiteren Schönheit dargeboten, rann träge seine Kehle hinab.
„Herr, Euer Volk ruft nach Euch. Sie lieben Euch und bitten um Euren Segen.“
Ja, sie liebten ihn, er war ihr Gott und Herrscher. Gerecht, weise und stolz. Ihm hatten sie ihren Wohlstand zu verdanken. Er war es, der sie beschützte und ihre Feinde vernichtete.
Er streckte sich erneut und zog die Tunika zurecht. Sicheren Schritts durchquerte er den Saal. Vorbei an den zyklopischen Säulen und Statuen seiner selbst. Gefertigt aus den kostbarsten Materialien und von den besten Künstlern des Reiches.
Seine Hand schob den schweren Vorhang beiseite und er trat lächelnd auf den Balkon.
„Kell Rihon! Kell Rihon! Kell Rihon!“
Tief unter ihm breitete sich die Stadt aus. Seine Stadt mit seinen Menschen, den goldenen Kuppeln und Zwiebeltürmen, den Kanälen und Hallen, Palästen und blühenden Gärten.
Auf dem Platz vor seinem Palast hatten sich tausende seiner Anhänger versammelt, um ihren Gott und Anführer zu sehen und seine Stimme zu hören. Sein Blick schweifte über die Menschenmenge. Junge und Alte. Arme und Reiche. Sie alle liebten ihn.
„Kell Rihon! Kell Rihon! Kell Rihon!“, brüllte die Menge. Einige sanken auf ihre Knie. Wandten ihre Blicke zu Boden, unwürdig ihren Gott zu erblicken.
Ein stechender Geruch stieg ihm in die Nase.
Er hob seine Arme und die Menge verstummte umgehend. Er brüllte: „Ich bin euer Gott!“
„Kell Rihon! Kell Rihon! Kell Rihon!“, riefen sie im Chor. Er lächelte und winkte salbungsvoll.
Sein Volk. Es liebte ihn. Streng war er, aber gerecht, so hatte er immer regiert. Umsichtig, vorausschauend und liebevoll, aber auch unnachgiebig und strafend, wenn es die Situation bedurfte. Seine Stärke und Weisheit hatten ein Imperium aus dem Nichts entstehen lassen.
Etwas roch ungewaschen und nach Erbrochenem. Wie konnte dies sein in seiner Stadt?
Immer wieder riefen sie seinen Namen und er segnete sie mit seiner göttlichen Macht.
„Kell Rihon!“, riefen sie und immer wieder: „Kell Rihon!“
Plötzlich schwankte er. Zuviel Wein? Ein lautes Klatschen ertönte und wieder schüttelte ihn etwas durch. Ein Erdbeben? Er konzentrierte sich. Was war nur los?
„Kell Rihon! Kell Rihon!“, riefen sie noch immer: „Kell Rihon! Kellrion! Du blödes Stück Scheiße.“
Er blinzelte. Das Beben wurde stärker. „Aber ich bin euer Gott“, murmelte er.
„Wach endlich auf du besoffener Hurenbock.“
„Aber ich bin doch ein Gott.“
Seine klebrigen Lieder öffneten sich.
Vor ihm in der winzigen Kammer stand eine Frau und schüttelte ihn unbarmherzig durch.
Kapitel 5
„Aber ich war doch ein Gott“, murmelte das Häufchen Elend vor Shanin auf der Holzpritsche.
„Kell“, sagte sie immer wieder, während sie ihn an der muskulösen Schulter kräftig durchschüttelte. „Wach auf. Ich brauche deine Hilfe.“
Der Hüne auf dem Bett schien sie endlich wahrzunehmen, versuchte ihre Hand wegzuschlagen und sich gleichzeitig eine fettige Strähne des langen dunklen Haares aus dem Gesicht zu streichen, die sich zwischen den Bartstoppeln und eingetrocknetem Erbrochenem verfangen hatte.
Während sie an seiner Schulter rüttelte, wusste sie nicht, ob sie Ekel, Mitleid oder doch Zuneigung verspürte.
Seine Pranke schnellte vor und packte ihre Hand. Muskeln spannten sich, als wolle er sie schlagen. Dann blinzelte er sie müde an.
„Shanin? Du blöde Schlampe! Möge der Trickser deine Seele ficken! Was soll der Mist?“, brummte er.
„Das Leben ist dreckig, gemein und hart“, lachte sie.
Er wälzte sich herum und setzte sich auf den Bettrand, von dem er beinahe heruntergerutscht wäre. Träge rieb er sich die Schläfen.
„Na, Schatz. Wach?“, sie grinste gehässig. „Wisch dir die Kotze ab und zieh dich an. Ich brauch deine Hilfe.“ Sie hob sein Hemd vom Boden auf und warf es ihm ins Gesicht.
„Immer langsam Prinzessin. Der starke Held hatte 'nen echt miesen Tag.“
„Starker Held? Ich sehe nur einen besoffenen Hurenbock.“
„Ach fick dich“, grummelte er und wischte sich mit dem Hemd über das Gesicht.
„Ich könnte Hilfe brauchen. Wenn du halbwegs nüchtern bist, dann hebe deinen haarigen Arsch aus dem Bett und komm runter.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Hinter ihr hörte sie weitere Beleidigungen, die vom splitternden Scheppern eines Kruges begleitet wurden.
Er hatte sich nicht verändert. Was hatte sie anderes erwartet. Das war gleichzeitig erfreulich, als auch traurig. Zwar wusste sie, woran sie war, aber das bedeutete auch dieselben Probleme wie früher.
Zurück im Schankraum stellte sie fest, dass endgültig Ruhe eingekehrt war. Trinker und Bedienstete waren auf dem Heimweg oder lagen vor der Tür. Beißer hatte die letzten Reste aus der Küche zusammengesucht und auf dem Tisch ausgebreitet. Er kaute auf einem Stück Dörrfleisch, als sie sich zu ihm setzte.
„Na, isser nüchtern“, fragte er und grinste breit. „Da sind noch'n paar Klamotten. Wennst se haben willst“, sagte er und wedelte mit der verbliebenen Hand in Richtung der Theke. „Alles nur altes Zeug was so liegengeblieben ist, aber vielleicht besser als nix. Für die Waffen musste zahlen, der Rest issn Geschenk des Hauses.“
Sie wühlte kurz in der Kiste hinter dem Tresen, fand eine dicke graue Wolltunika, ein Leinenhemd mit Mottenlöchern und Flecken und eine passende Hose, die sie in einer Seitenkammer anzog.
Neben einem Haufen Knüppeln und Schwertern, die sie ignorierte, hatte sie einige halbwegs taugliche Wurfmesser und zwei Kampfdolche gefunden. Nicht mit ihren Cristilladolchen zu vergleichen, aber immerhin war sie nicht mehr wehrlos.
Als Kellrion einige Zeit später schweren Schrittes die Treppe hinunter stampfte, saß sie mit Beißer am Tisch und plauderte über alte Zeiten. Sie lachten, als er einen der Stühle heranzog, sich laut krachend darauf fallen ließ und ein großes Bündel neben sich auf den Boden warf.
Er griff nach dem Laib Brot auf dem Tisch, riss sich ein Stück ab und schob es sich in den Mund. Laut kauend sagte er: „Hier bin ich. Was ist jetzt genau los?“
Shanin strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte zuckersüß.
„Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, mein Hübscher. Bei einem Auftrag haben sich einige“, sie legte eine dramaturgische Pause ein, die sie mit weiten Gesten unterstrich, „Komplikationen ergeben. Ich vertraue meinem Auftraggeber nicht so ganz. Deswegen hätte ich dich gerne als Rückendeckung dabei. Nur so zur Vorsicht.“
„Ich würde ja auch mitkommen, aber ich denke, zum Rückendecken bin ich zu alt. Auch wenn Beißer“, der Einarmige strich liebevoll über ein bösartig aussehendes Beil an seinem Stuhl, „mal wieder etwas richtiges Blut vertragen könnte.“
„Deine Axt nennst du auch Beißer? Bei den verfickten Göttern, du bist ja echt kreativ“, nuschelte Kellrion, während er sich den Mund vollstopfte und mit Wein nachspülte.
„So muss ich mir weniger Namen merken. Ist schon schwer, genug dich nicht nur Vollidiot zu nennen.“
Kellrion grunzte missmutig. „So Kleines, was ist denn nun los?“
Sie schlug ihm kräftig mit dem Handrücken auf den Oberarm, sodass es laut klatschte.
„Nenn mich nicht Kleines“, sagte sie mit nur halb gespieltem Zorn.
Er grinste sie breit an. „In Ordnung, liebste Shanin. Was genau soll ich denn für dich tun?“
Sie lehnte sich zurück. Kurz überlegte sie, was sie sagen sollte und was sie besser für sich behielt.
„Ich hatte einen kleinen Auftrag auf einer der Diplomateninseln. Sollte was rausholen. Die ganze Sache ist leider nicht optimal gelaufen und sagen wir es mal so, irgendwie habe ich grade kein gutes Gefühl. Ich soll heute Nacht noch die Beute übergeben und hätte gerne jemanden dabei, der ein wenig die Augen mit offenhält. Falls du also halbwegs einsatzbereit bist ...“ Sie zog kritisch eine Augenbraue hoch.
„Diplomateninseln? Hui, also keine kleine Sache.“
„Ganz im Gegenteil. Eine der führenden Handelsfamilien von Miretta, Haus Allantyl. Doppelte Bezahlung, aber keine Fragen. Die Informationen schienen gut zu sein. Deswegen hab ich die Sache auch angenommen.“
Wenn es um oder besser gegen Allantyl ging, hätte sie es auch ohne Bezahlung gemacht, aber das musste sie ja keinem erzählen.
„Was solltest du denn besorgen?“, fragte Kellrion.
„Eine Kiste. Keine Ahnung, was genau darin ist und solange ich nicht sicher bin, dass man mich reinlegen wollte, möchte ich sie auch nicht aufbrechen.“
Kellrion nahm einen tiefen Schluck Wein und verzog angewidert das Gesicht. „Bäh, schreckliche Plörre“, er tätschelte ihr Knie, „Süße, ich bin immer bereit für dich.“ Und wieder grinste er breit.
„Idiot“, sagte sie und schlug seine Hand beiseite, während sie ihre Wut unterdrückte. Kellrion war nun einmal so. Warum benahm er sich nur immer so dämlich? Und warum ärgerte sie das nur immer so?
„Komm, beeil dich. Wir haben nicht mehr lange bis zum Morgen.“ Sie warf ihm einen dicken Wollumhang zu, umarmte Beißer und eilte der Hintertür entgegen, wo sie ungeduldig wartete. Sie hatte schon genug Zeit mit quatschen vergeudet.
„Na gut. Bereit, wenn du es bist“, sagte er, leerte den Krug, bevor er nach seinem Bündel griff und ihr hinaus in die Kälte folgte.
Kapitel 6
„Alrion soll meinen nackten Hintern küssen!“, brüllte der Mann am Nebentisch.
Immer stärkeres Unwohlsein stieg in Brul auf. Er war erst vor wenigen Wochen in die Botschaft Velions hier nach Selenica versetzt worden und fühlte sich noch völlig fremd.
Verglichen mit dem geordneten Leben in der Heimat herrschte hier das pure Chaos. Und das Schlimmste war, dass nicht nur die Straßen von Tempeln Ungläubiger gesäumt wurden, nein, Ketzern war es erlaubt, ihre Blasphemien öffentlich auszusprechen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Haran, sein Vorgesetzter, hatte sich schon seit Tagen wegen Bruls mieser Stimmung beklagt.
„Lass uns heute Abend ein wenig um die Häuser ziehen, damit du auf andere Gedanken kommst“, hatte er gesagt.
Sie waren hierher gekommen, hatten getrunken und geredet und Bruls Laune hatte sich merklich gebessert. Irgendwann war Haran mit einem der Mädchen verschwunden und bislang nicht zurückgekehrt.
Dann waren die drei Männer aufgetaucht und hatten am Nebentisch Platz genommen. Das hatte endgültig das Ende seiner guten Laune bedeutet.
„Pah, das würde dir nicht bekommen. Ich habe gehört, Alrion ist in Wirklichkeit der verfluchte Trickser selbst und hat sich nur in neuer Gestalt verborgen“, brüllte der zweite Mann.
„Soll mit den Untoten unter einer Decke gesteckt haben, hab ich gehört.“
„Diese Bastarde denken, sie könnten uns mitten in der Nacht überfallen und uns ihren beschissenen Glauben aufzwingen. Niemals sag ich dir.“
So ging dies schon seit einer halben Ewigkeit. Brul war wütend, aber was sollte er gegen die Männer unternehmen? Er war Schreiber, kein Soldat. Er wäre nicht einmal einem der Kerle ein würdiger Gegner, geschweige denn der ganzen Gruppe.
„Auf Conwyn!“, brüllte einer und die anderen stimmten ein.
„Auf das Ende Velions! Möge Alrion in die Tiefen des Yrkal stürzen, um von den Dämonen zerrissen zu werden!“
Becher wurden aneinandergeschlagen. Met spritzte umher.
Brul hatte genug. Haran würde schon allein nach Hause finden. Er leerte sein Gefäß und verließ die Kneipe mit einer ähnlich trüben Stimmung, mit der er sie betreten hatte.
Draußen war es kalt. Bald würde es anfangen zu schneien. Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und den Umhang fester um die Schultern, dann machte er sich auf den Weg zurück in die Botschaft.
„Hey, Kleiner. Wohin so eilig?“
Brul sah sich um. Die drei Trinker waren ihm gefolgt. Er beschleunigte seine Schritte.
„Wo willst du denn hin? Dachte, ihr Alrionschweine wäret tapfer?“, lachte der Mann laut.
Blanke Panik stieg in ihm auf. Er musste weg. Fliehen. Er konnte nur ahnen, was die drei mit ihm anstellen würden.
Brul hastete um die nächste Ecke und wäre fast mit einem weiteren Mann zusammengestoßen. Er wurde unsanft beiseitegeschoben.
Der Mann war nicht allein. Weitere Gestalten in dunklen Umhängen flankierten ihn.
Seine Verfolger hasteten hinter ihm um die Ecke und erstarrten.
„Tod den Ketzern!“, rief jemand.
„Für Alrion“, antwortete eine andere Stimme.
Schwerter zuckten unter Umhängen hervor. Schreie halten durch die Nacht.
Brul drehte sich um, rannte so schnell er konnte und hielt erst an, als er in den sicheren Räumen der Botschaft angekommen war, die er für lange Zeit nicht wieder verlassen wollte.
Kapitel 7
Wenige Stunden vor Sonnenaufgang schlichen Shanin und Kellrion durch die verschneiten Straßen Selenicas, die Kapuzen ihrer dicken Wollumhänge tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem blies ihnen der eisige Wind kleine stechende Eissplitter auf Stirn und Wangen.
Ohne ein Wort zu wechseln, eilten sie durch das Labyrinth aus Seitengassen. Immer wieder hielten sie hinter Ecken, sahen sich um und lauschten in die Dunkelheit, doch niemand folgte ihnen. Die Straßen waren nahezu menschenleer. Jetzt im Winter würde es wenigstens bis Sonnenaufgang dauern, bis sich die Stadt mit erstem Leben füllte.
Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Ein leerstehendes Haus in der Altstadt. Eine Weile beobachteten sie die Umgebung, stellten aber nichts ungewöhnliches fest.
Sie nickten einander zu und eilten näher. Die Tür war nicht verschlossen, der Flur dahinter leer. Shanin trat ein. Kellrion folgte ihr kurz darauf und sperrte Wind und Schnee hinter ihnen aus.
Sie schlug ihre Kapuze zurück und wischte sich einige tauende Flocken aus dem Gesicht. In dem Flur war es dunkel, nur durch ein von Schnee und Dreck nahezu blindes Fenster drang ein wenig blasses Mondlicht hinein. Ihre Lungen sogen die muffige Luft ein und bliesen in die klammen Hände. Staub kitzelte ihre Nasen.
Vorsichtig erklomm Shanin die altersschwache Holztreppe. Eine weitere Tür. Sie klopfte. Es polterte und knirschte dahinter, dann wurde sie geöffnet. Der Türöffner, ein großer Kerl in einem weiten dunklen Kapuzenumhang, musterte sie kurz, trat beiseite und gab den Weg ins Zimmer frei.
Der Raum vor ihnen nahm das gesamte obere Stockwerk ein, wobei ihn die Dachschrägen kleiner wirken ließen.
Das wenige Licht darin fiel durch ein großes Fenster, vor dem ein leerer Tisch stand. Von der Gestalt, die dahinter Platz genommen hatte, konnte sie nur die Umrisse ausmachen.
„Du hast einen Begleiter mitgebracht!“, sagte eine raue, weibliche Stimme. „So war es nicht vereinbart.“
„Oh, es stellte sich heraus, dass der Auftrag einige zusätzliche Schwierigkeiten mit sich brachte. Um weitere Probleme zu vermeiden, habe ich mir etwas Hilfe organisiert.“
„Schwierigkeiten welcher Art?“
„Ich wurde erwischt und: Nein“, unterbrach sie die Frau, bevor diese etwas erwiderte, „es lag nicht an mir. Der Ort war magisch mehrfach gesichert. Und von dem gut drei Dutzend Wachen war auch keine Rede.“
„Aber du hast doch Erfahrung im Umgang mit solchen Dingen. Menschen und Magie.“
„Erfahrung ja, aber das war eine Nummer zu groß. Es war so gut gesichert, dass ich es nur für kurze Zeit ausschalten konnte. Der Alarm ging los, bevor ich das Gelände verließ. Wer auch immer den Schutz gewirkt hat, war gut. Richtig gut. Diese Information im Vorfeld zu bekommen, wäre äußerst hilfreich gewesen.“
Wenn sie ehrlich zu sich war, dann musste sie zugeben, dass der Auftrag gar nicht das Problem gewesen war. Sie hatte das Gesuchte bereits an sich gebracht. Die Gelegenheit, dem Hause Allantyl so großen Schaden wie nur möglich zuzufügen, war einfach zu verlockend. Da war ihr der erste Fehler unterlaufen.
„Wir waren uns sicher, dass du dieses Hindernis überwinden würdest. Und wir hatten recht.“
Shanin spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. War es das bleiche Licht, welches durch das viel zu saubere Fenster ins Zimmer schien oder die eisige Kälte, die in dem Raum herrschte?
Der Türöffner trat an sie heran. „Hast du die Ware?“, fragte die Frau und rutschte etwas auf ihrem Stuhl herum.
Die Stimme. Völlig ausdruckslos und irgendwie fern.
„Hast du das Gold?“, fragte Shanin zurück.
Der Türöffner griff in die Weiten seines Umhanges und präsentierte einen prall gefüllten Beutel. Shanin konzentrierte sich, ließ ihren Blick unscharf werden und starrte an ihrem Gegenüber vorbei in die Zwischenwelt. Sie fing einige filigrane Kraftfäden ein und verband sie mit ihren Augen.
Alles, was lebte, besaß eine Aura. Bei manchen Lebewesen war diese ausgeprägter als bei anderen; abhängig von Alter und Gesundheitszustand. Bei der Frau sah sie nichts. Nicht einmal ein schwacher Rest von Leben hing an ihr. Dort war nur Schwärze.
Sie griff nach dem Beutel und steckte ihn in ihren Gürtel.
„Tot“, flüsterte sie Kellrion zu. Sie ließ ihren Blick wandern. Der Türöffner stand direkt vor ihr. Auch hier war kein Zeichen von Leben zu entdecken. „Keine Aura. Beide“, fügte sie leise hinzu.
Mit geübten Fingerbewegungen löste sie die Kraftlinie wieder von ihren Augen und verband stattdessen ihren Wurfdolch mit der Person am Tisch.
Kellrion nickte. Sie sah, wie er seine Muskeln anspannte. Dann geschah alles ganz schnell. Mit einer blitzartigen Drehung ihres Handgelenks ließ sie einen Dolch in ihre Hand fallen. Kellrion sprang vor und schlug die Faust in das Gesicht des Mannes. Dieser taumelte hilflos zurück und prallte krachend gegen eine Wand.
Shanins Dolch sauste durch die Luft, traf die Frau in der Brust und blieb stecken. Als hätte man einer Marionette die Fäden gekappt, brach sie über dem Tisch zusammen. Der Türöffner hatte sich erholt und ein krummes Schwert hervorgezogen.
Shanin blickte sich um, da explodierte das Fenster mit einem lauten Krachen in den Raum hinein. Eine Wolke aus Glassplittern, Schnee und eisiger Kälte ergoss sich in das Zimmer. Etwas Großes landete und schleuderte dabei den Tisch und die leblose Frau durch den Raum.
Shanin wich den Trümmern aus, machte zwei kurze Schritte auf den Türöffner zu und zog die Kampfdolche. Der Mann ließ sein Schwert durch die Luft sausen. Sie duckte sich und stieß zu. Der Stahl drang ohne Gegenwehr bis zum Anschlag in die Brust ein. Sie drehte die Klingen und zog sie, einen Schritt zurückweichend, wieder hinaus. Kein Blut strömte heraus. Der Mann riss seine Waffe herum und stach plump nach Shanin. Mit einem Tritt verschaffte sie sich etwas Platz.
Kellrion hatte ebenfalls sein Schwert gezogen und sich dem neuen Angreifer zugewandt.
Was Shanin aus den Augenwinkeln zu erkennen glaubte, war beunruhigend. Ledrige Schwingen, brutale Klauen und glitzernde Zähne in einem monströsen Gesicht. Eine Wolke aus fauligem Gestank schlug ihnen entgegen. Kellrion warf sich auf das Ding.
Das Splittern von Holz war aus dem Flur zu hören. „Raus hier“, brüllte sie.
Kellrion nahm einen kurzen Anlauf und sprang mit der Schulter voran gegen die Brust des Monsters. Klauen fuhren über seinen Rücken und schlitzten die Haut auf. Rote Streifen zeichneten sich auf dem Stoff ab.
Der Angriff reichte zumindest aus, um das Ding aus dem Gleichgewicht zu bringen und einige Schritt rückwärts taumeln zu lassen. Kellrion schüttelte sich benommen und schaute sich zu seiner Begleiterin um.
Shanin umkreiste ihren Gegner und wich immer wieder der blitzenden Klinge aus. Sie machte einen Schritt vorwärts, duckte sich unter der Waffe hinweg und trat seitlich nach dem Knie des Türstehers. Mit einem geräuschvollen Knacken brach es und der Mann stürzte. Kein Laut entfuhr seinen Lippen.
Hastige Schritte waren auf der Treppe vor der Tür zu hören. Gleich wird es hier eng werden, dachte Shanin.
Das Ding kam mit plumpen Bewegungen wieder auf die Füße, während der Mann mit seinem gebrochenen Knie vorwärts robbte.
Shanin nickte Kellrion zu, nahm Anlauf und sprang durch das zerschmetterte Fenster hinaus. Sie streckte sich, landete mit den Füßen voran auf dem niedrigen Dach des Nachbarhauses, rollte sich ab und rutschte in einer Wolke aus Schnee hinunter. Kellrion folgte ihr dicht auf.
Sie landeten in einer schmalen Gasse voller Schutt und Abfall. Shanin war sofort wieder auf den Beinen und zog ihren Begleiter hoch, der nicht so elegant neben ihr zu Boden gestürzt war.
„Was war das“, fragte er keuchend.
„Keine Ahnung. Eine Yrkalsbrut schätze ich. Los weg.“