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Epische Fantasy trifft Schwert und Zauberei. Fast 400 Jahre sind seit dem Untergang des Imperiums vergangen. In einem Dorf am Rande der Zivilisation verbirgt sich eine kleine Gruppe vor den Schrecken der Welt. Iscaris ist wahrlich kein Held. Seine Krankheit schlägt immer wieder unerwartet zu und verhindert ein normales Leben. Von seinem Bruder wird er wegen seiner Krankheit schikaniert. Eine Zukunft, jenseits aller Abenteuer scheint seine Zukunft zu sein. Eines Tages tritt ein fremdes Mädchen in sein Leben und setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang, die nicht nur Iscaris Leben verändern sollen, denn bald darauf liegt das Schicksal des gesamten Dorfes in seinen Händen.
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Seitenzahl: 206
Veröffentlichungsjahr: 2019
Von Johannes Reinecke
Copyright © 2016 Johannes Reinecke
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Erstveröffentlichung 03.07.2016
Dritte überarbeitete Auflage Mai 2019
© Copyright 2016 – Alle Inhalte, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten, Johannes Reinecke.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN 9783743160019
1. 389 nach Lycias Fall – Herbst6
2. 362 nLF - Spätherbst15
3. 363 nLF - Frühling24
4. 363 nLF - Spätfrühling30
5. 363 nLF - Mittsommer32
6. 363 nLF - Mittwinter47
7. 364 nLF - Frühling64
8. 364 nLF - Sommer67
9. 364 nLF - Herbst70
10. 364 nLF - Mittwinter74
11. 365 nLF - Sommer76
12. 365 nLF - Spätsommer98
13. 365 nLF - Herbst103
14. 366 nLF - Frühling106
15. 366 nLF - Spätsommer108
16. 367 nLF - Sommer113
17. 367 nLF - Mittsommer115
18. 368 nLF - Herbst118
19. 369 nLF - Spätsommer122
20. 369 nLF - Herbst159
21. 369 nLF – Spätherbst208
„Reicht das jetzt endlich?“, fragte Begril ungehalten.
„Nein“, seufzte Jahada, ohne sich umzusehen.
Das Brennholz reichte nie aus. Auch wenn sie es, aus Sorge darum, aus zu großer Entfernung gesehen zu werden, vermieden ein wirklich großes Lagerfeuer zu entfachen, war man am Morgen über jeden noch so kleinen Zweig froh. Feuer bedeutete warmen Tee. Es konnte hier draußen schon verdammt kalt werden.
Begril stöhnte entnervt, entfernte sich dann aber wieder.
Er ist ein guter Junge, dachte Jahada, auch wenn er sie manchmal verzweifeln ließ. So viele Fragen. So viele dumme Ideen und Ansichten.
Aus ihm würde eines Tages ein guter Mann werden. Vielleicht sogar ein guter Soldat.
Wenn er nicht vorher stirbt, wie so viele andere!
Bei solchen Gedanken sollte sie Trauer empfinden, doch sie hatte schon zu viele verloren. Freunde. Rekruten. Ihre eigenen Kinder.
Manchmal konnte sie sich kaum mehr an ihre Gesichter erinnern. Andere Male glaubte sie, ihre Stimmen zu hören.
Sie vertrieb die Gedanken mit einem Kopfschütteln.
In der Vergangenheit zu leben brachte nichts. Und sie hatte eine Aufgabe.
Auf die Ellenbogen gestützt hob sie das Sehglas vors Auge und begann damit die Ebene unter sich abzusuchen.
Nichts außer Gras und Felsen. Ein paar knorrige Bäume und Dornenbüsche.
Gut so. Jeder Tag ohne die verdammten Hautfresser war ein guter Tag.
Langsam schob sich die Sonne dem Horizont entgegen und Kühle begann sich auszubreiten.
Wo blieben sie nur?
Noch einmal suchte Jahada den Hang ab, dann endlich tauchte Caduk weit unten auf.
Er hielt seinen Bogen locker in der Hand und hatte ein zufriedenes Lächeln aufgesetzt. Nur wenige Schritt hinter ihm folgte Taswen, die Jagdbeute auf den Schultern balancierend. Sein langes weißblondes Haar wehte ihm immer wieder ins Gesicht und machte den Aufstieg noch etwas schwieriger. Irgendwann würde er es abschneiden. Praktisch ging hier draußen vor hübsch.
Heute würde es Ziege geben.
Gut.
„Das Jagdglück hat dich also nicht verlassen“, sagte Jahada, als die beiden das Lager erreichten.
„Kein Glück“, sagte Caduk, „Alrion hat meine Hand geführt.“
„Sicher“, sagte Jahada, „ganz wie du meinst.“
Ihr gefiel diese Heldenverehrung nicht. Der Kaiser war ein Mensch. Ein wahrlich großer, aber doch kein Gott. Sie war ihm für alles dankbar, aber dass einige angefangen hatten, ihn anzubeten - sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihm das gefiel.
Wie lange war es her, dass sie sich ihm angeschlossen hatte? Damals, als all die kleinen Kriegsherren und Söldnerbanden Angst und Schrecken verbreitet hatten. Sie hatte alles verloren. Sogar sich selbst. Dann hatte ihr Alrion ein Ziel und neue Hoffnung gebracht. Nicht nur ihr: dem ganzen Land.
Als es dunkel war und der Geruch von gebratener Ziege zu ihr hinüber wehte, kroch Jahada zurück.
Müde erhob sie sich und gesellte sich zu ihren Kameraden, die schon an dem kleinen Grubenfeuer saßen.
War der Boden schon immer so kalt und hart gewesen?
Langsam wurde sie zu alt.
Noch ein Jahr.
Oder zwei?
Und dann?
Veteranen wurden halbwegs gut versorgt, aber einfach nur an einem Kamin auf den Tod warten?
Die Ziege war zäh und schmeckte sehr intensiv. Nicht jedermanns Geschmack, doch sie konnte es sich nicht mehr anders vorstellen.
Begril nagte angewidert an einem Stück Fleisch und warf es dann fort.
„Du wirst dich daran gewöhnen“, sagte Jahada.
Begril schüttelte den Kopf. „Niemals! An nichts von alledem.“
Er hob verzweifelt seine Arme.
„Was soll das alles überhaupt? Was sollen wir hier im Nirgendwo? Was soll man hier außer Dreck und Langeweile bewachen? Die paar Hautfresser und Leichen sind doch kaum der Rede wert.“
„Weil Alrion es will“, sagte Caduk fest, „und der Wille des Gottkaisers ist Befehl. An seinen Worten zu zweifeln, steht uns nicht zu. Und dir, Rekrut, schon gar nicht! Denk in deiner Wache darüber nach.“ Damit war für ihn das Gespräch beendet.
Wenn der Junge nur wüsste, dachte Jahada. Wenn er Glück hat, wird er es nie erfahren.
„Los, auf deinen Posten!“, sagte sie, als Begril noch immer nicht reagierte.
Murrend erhob sich der Junge. „Ja ja“, murmelte er und drehte sich um.
„Wie heißt das?“, sagte Jahada scharf. Warum musste man dieses Spiel nur immer wieder spielen?
Damit sie überleben!
Begril blieb stehen und salutierte nachlässig. Soeben hatte er den Mund geöffnet, da fiel ein Schatten über ihn und riss ihn in die Höhe.
Bergils Schrei durchbrach die Nacht.
Gegen die Monde sah sie, wie der junge Mann von dunklen Schwingen in die Höhe getragen wurde. Er schrie und strampelte mit den Beinen.
Riesige Klauen umklammerten seinen Kopf und Nacken. Mit einem hässlichen Geräusch riss der Hals, und der Körper stürzte zu Boden. Krachend schlug er im Unterholz auf.
„Flederschrecken. Deckung!“, rief Jahada und griff zu ihrem Schwert.
Gegen den Abendhimmel waren die Kreaturen kaum zu erkennen.
Caduk eilte geduckt zu einem großen Findling am Rand ihres Lagers. Jahada war ihm schon einige Schritt gefolgt, als sie bemerkte, dass Taswen noch immer erstarrt am Feuer saß. Sie drehte um und packte ihn an der Schulter.
„Komm mit!“, sagte sie scharf. Einige Herzschläge schien er nicht zu begreifen, dann endlich setzte er sich in Bewegung.
Caduks Bogen begann sein tödliches Lied zu singen und etwas stürzte kreischend zu Boden. Die Nacht war erfüllt von Bewegungen.
Sie hatten sich überrumpeln lassen wie dumme Anfänger. Jetzt sah sie Dutzende Gestalten überall um sie herum durch die Nacht wanken.
„Zu den Pferden!“, brüllte sie. „Wir müssen weg.“
Sie rannte los und zog Taswen gnadenlos mit sich.
Das Sirren von Pfeilen hinter ihr.
Erneut fiel etwas vom Himmel.
Caduk war ein wirklich guter Schütze.
Jahada stürmte auf die Pferde zu, als sich vor ihr etwas in einer Wolke aus Gestank aus der Dunkelheit erhob.
Kaltes blaues Licht schien in den Augenhöhlen zu leuchten. Vertrocknetes, fast schwarzes Fleisch zog sich über Knochen, die kränklich gelb zwischen Wundrändern hervorstanden.
Die Kreatur hob eine rostige Waffe in die Höhe, da durchschlug ein Pfeil den Schädel und sandte den Körper zurück in die Nacht.
Da kamen noch mehr. Viel mehr! Das war keine zufällige Begegnung.
Irgendwie erreichten sie die Pferde. Taswen war neben ihr. Sie sah sich um und entdeckte Caduk einige Schritt von ihnen entfernt. Im Rückwärtsgehen schoss er Pfeil um Pfeil auf die anrückende Horde ab.
„Flieht und berichtet“, rief er, „ich halte sie auf. Möge Alrion euch beschützen.“
Er hatte recht. Sie mussten Lystor erreichen.
Für die Sättel war keine Zeit mehr. Sie riss das Zaumzeug aus dem Dornenbusch und schwang sich auf den Rücken des Tieres.
Taswen zögerte kurz, tat es ihr dann aber nach. Von Caduk keine Spur.
Das Pferd ohne Sattel den Hang hinunter zu lenken war schwer. Irgendwann klammerte sie sich nur noch mit Händen und Beinen fest und überließ dem Tier die Führung. Wenn sie sich umsah, konnte sie Taswen hinter sich erkennen.
Im letzten Moment duckte er sich instinktiv zur Seite. Oder er hatte einfach nur Glück. Der Flederschrecken fegte nur knapp an ihm vorbei.
Wie viele dieser verdammten Viecher waren nur hier? In all den Jahren hatte Jahada nur eine Handvoll aus der Nähe gesehen.
Die Schritte ihres Pferdes wurden unsicherer. Sie trat dem Tier trotzdem in die Flanke. Es bäumte sich auf und hätte sie beinahe abgeworfen, doch ihr Griff hielt.
Weiter ging es durch die Nacht. Als sie es wagte, sich wieder umzublicken, konnte sie keine Verfolger entdecken.
Sie ließ das Pferd langsamer laufen und reihte sich neben Taswen ein.
„Ich glaube, wir haben es ...“
Mit einem schrillen Wiehern stürzte ihr Pferd. Sie wurde abgeworfen und landete unsanft auf dem Boden.
Mehrfach drehte sich die Welt, währen scharfe Kanten ihre Haut ritzten.
Benommen drehte sie sich herum, atmete tief ein und tastete sich ab. Scheinbar hatte sie Glück im Unglück gehabt und hatte sich nicht ernsthaft verletzt.
Vorsichtig stand sie auf. Ihr Pferd zuckte und versuchte sich aufzurichten, doch ein Bein war gebrochen.
Taswen hatte angehalten und war zu ihr zurückgekehrt.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
Sie nickte: „Ich glaube ja.“
Sein Pferd hat Schaum vor dem Mund. Es würde sie niemals beide tragen können.
„Du musst alleine weiter.“
„Aber ...“
„Kein aber! Reite zur Burg und warne unsere Leute. Kümmere dich nicht um mich. Ich werde es schon schaffen.“
Noch immer zögerte Taswen.
„Das ist ein Befehl“, sagte Jahada scharf.
Taswen salutierte, wendete sein Pferd und ritt davon.
Bald darauf stand sie allein in der Dunkelheit. Sie erlöste ihr Pferd und ging los. Auch wenn nichts gebrochen war, tat jede Bewegung weh.
Nach einigen hundert Schritt stieß sie auf einen Bach, der sich tief in den Boden gegraben hatte.
Wasser, Sichtschutz und möglicherweise Nahrung.
*
Sie hatte ihr Glück aufgebraucht. Mehrere Tage folgte sie dem Bachlauf. Fische gab es keine.
Einige Beeren und ein paar Wurzeln konnten den einsetzenden Hunger nur unzulänglich stillen.
Weiter! Nur weiter!
Sie schickte einige Stoßgebete zu den Göttern. Sogar zum Kaiser.
Der Bach wurde breiter. Immer wieder verließ sie ihre Deckung, um schneller voranzukommen.
Einige Male glaubte sie, Schritte oder Hufe zu hören, und versteckte sich für einige Stunden. Zu sehen war niemand.
Die Nächte wurden kalt. Ein Feuer zu machen traute sie sich nicht. Ihr knurrender Magen hielt sie lange wach und weckte sie früh.
Dann tauchten doch endlich die Türme Lystors vor ihr auf.
Wie hatte sie es so weit geschafft? Vielleicht hatte der Kaiser ja wirklich eine schützende Hand über sie gehalten.
Müde und erschöpft taumelte sie den Pfad entlang, da sah sie nur wenige Schritt vor sich eine Gestalt stehen.
„Taswen?“, fragte sie ungläubig. Sie hätte das weißblonde Haar überall erkannt.
Keine Bewegung.
Vorsichtig trat sie näher.
Etwas stimmte nicht.
Nur noch zwei Schritt.
Taswen hob seinen Kopf und sie blickte in ein Paar kalter, toter Augen. Der Kiefer war halb abgerissen und hing nur noch an ein paar Fleischfetzen.
Hinter ihm krabbelte eine Frau auf einen Findling. Sie war nackt und mit Blut und Kreide beschmiert. Die Haare hingen in verfilzten Strähnen vom Kopf. Eine Priesterin der Hautfresser!
Sie brauchte eine Waffe. Wo war ihr Schwert? Hatte sie es verloren? Oder irgendwo zurückgelassen?
„Wir sind gekommen, um zu töten“, sagte die Unbekannte erstaunlich ruhig und deutlich. „Dich. Deine Freunde. Dein Reich. Deinen Gott!“
Mit diesen Worten rutschte sie vom Felsen und war verschwunden.
Dann sah Jahada, wie das Tor der Burg geöffnet wurde und sich eine Horde Toter langsam daraus hervorwälzte.
Zerstörte Körper. Blut und Knochen. Schon lange tot und doch von einem einzigen Ziel getrieben: sie und alle, die sie kannte zu töten.
Vorsichtig trat Iscaris so nah an den Abgrund heran, dass die Spitzen seiner Schuhe schon ins Nichts hinausragten. Er zwang sich, seinen Blick in die Tiefe zu richten. Hundert Schritt unter ihm rauschten die Fluten des Breckgens, des kleinen Flusses, der sich seinen Weg aus den Bergen ins Tal und darüber hinaus gefressen hatte.
Einige Herzschläge hielt er diesen Anblick aus, dann begann sich sein Magen zusammenzuziehen und er musste zurücktreten.
„Na komm schon, Hustekeuch,“ hörte er Mirak rufen. Die Stimme seines Bruders klang gleichzeitig belustigt, spöttisch und triumphierend, wie fast immer, wenn es um seinen kleinen Bruder ging.
„In ein paar Wochen fällt der erste Schnee. Bis dahin wollen wir fertig sein“, rief er.
Iscaris legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. Dunkelgraue Wolkenklumpen schoben sich immer wieder vor die Mittagssonne und tauchten das Tal und die schneebedeckten Berghänge in ein Fleckenmuster aus grellem Licht und tiefen Schatten. Der Wind hatte aufgefrischt und brachte kalte Luft mit sich. Es roch nach Schnee und Winter.
Vielleicht hatte sein Bruder ja recht und er sollte die Mutprobe gar nicht erst versuchen.
Ein eisiger Windstoß trieb ihm Tränen in die Augen. Er blinzelte mehrmals und sah zur anderen Seite der Schlucht hinüber, wo bereits sein Bruder und drei weitere Kinder des Dorfes warteten.
Schon seit vielen Generationen war es Tradition, dass jedes Kind vor dem zwölften Winter über den schmalen Steg aus Ästen, Brettern und Stricken auf die andere Seite balancierte und die Weihe vollzog. Eine rein symbolische Geste und doch ein wichtiger Schritt. Von den Erwachsenen verpönt und gerade deswegen so bedeutend.
Ein Hustenanfall überkam ihn aus dem Nichts, schickte ihn mit schmerzender Brust auf die Knie und machte ihm wieder einmal klar, warum Vater und Mutter ihm ausdrücklich die Teilnahme verboten hatten.
Er war zu krank. Zu schwächlich. Damit hatte sich die Familie schweren Herzens abgefunden. Doch Iscaris konnte die Mischung aus Mitleid und Abscheu nicht mehr ertragen, die man ihm entgegenbrachte. Besonders dann nicht, wenn ihn die Krankheit wieder einmal überfiel und ihm so deutlich seine Grenzen zeigte.
Die geringschätzigen Blicke seines Bruders, der kopfschüttelnd und mit verschränkten Armen dastand, verwandelten sein Selbstmitleid in Trotz und Wut.
Er würde es ihm zeigen!
Die Schmerzen zogen sich langsam aus seiner Brust zurück und wurden zu einem kaum spürbaren Stechen, während er sich auf die Beine kämpfte.
Ein letzter tiefer Atemzug um sich zu beruhigen, dann setzte er den ersten Fuß auf die wackelige Konstruktion, welche die wenigen Schritt Leere zwischen den Steinabsätzen zu beiden Seiten der Schlucht verband.
Ein zweiter Schritt, dann stand er vollständig auf dem von Nässe und Moos rutschigen Holz, das von Generationen zusammengetragen, verkeilt und mit Stricken zusammengebunden worden war.
Die Konstruktion war mehr als nur unsicher und es grenzte an ein Wunder, dass sie Jahr um Jahr überstand.
Wieder sah er zu den anderen Jungen hinüber.
Mirak hatte einen Stein aufgehoben, warf ihn in die Luft und fing ihn geschickt wieder auf. Ein bösartiges Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus, während er genüsslich ausholte.
Das wird er nicht tun, fuhr es Iscaris durch den Kopf.
Ein weiterer winziger Schritt und er stand schon beinahe in der Mitte der improvisierten Brücke.
Oder doch?
Die Frage sollte nie beantwortet werden, denn Llyandors Hand legte sich blitzschnell um Miraks Unterarm.
Mirak war zwei Jahre älter und ebenso viele Köpfe größer als Iscaris. Llyandor, obwohl ebenfalls jünger, war der Einzige aus der Gruppe, der Mirak in die Augen blicken konnte, ohne nach oben schauen zu müssen. Mutter sagte immer, Llyandor sehe immer mehr wie sein elfischer Vater aus: hochgewachsen, schlank und, wenn sie glaubte, die Kinder würden sie nicht hören, fügte sie „irgendwie unheimlich“ hinzu.
Mirak funkelte seinen Gegenüber an, schien sich einen Moment seine Möglichkeiten durch den Kopf gehen zu lassen, trat dann aber einen Schritt zurück und ließ den Stein fallen.
Obwohl Iscaris es Mirak eigentlich nicht wirklich zugetraut hatte, ein Teil von ihm atmete innerlich auf. Er liebte seinen Bruder. Nein, lieben nicht wirklich. Er respektierte und fürchtete ihn. Und sein Bruder? Er ließ ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren, für wie minderwertig er ihn hielt.
Manchmal fragte sich Iscaris, wie er sich verhalten würde, wenn Vater und Mutter ihm nicht ständig predigen würden, dass die Familie zusammenhalten müsse.
Erneut griff eine Böe nach seinem Körper und holte ihn aus seinen Gedanken. So schnell er es sich traute, setzte er einen Fuß vor den anderen. Dann ein letzter Schritt und er hatte endlich wieder festen Boden unter den Füßen.
„Kommt weiter“, sagte Mirak mit einer Spur von Enttäuschung in der Stimme und setzte sich in Richtung der dunklen Öffnung in der Felswand in Bewegung.
Tief atmete Iscaris ein. Sein Herz raste und seine Knie fühlten sich weich an. Er folgte seinem Bruder und den anderen Kindern, da überfiel ihn der Hustenanfall und schickte ihn auf die Knie.
„Der kommt schon“, rief Mirak, als die anderen kurz zögerten.
Die kalte Luft schnürte seine Kehle zusammen, während eine schmerzhafte Zuckung nach der anderen seine Brust durchfuhr. Er hustete und keuchte. Jeder Atemzug brachte mehr Schmerz, jeder Hustenkrampf förderte mehr ekeligen Schleim in den Mund. Eines ums andere Mal spuckte er aus, hoffte nur, er müsse sich nicht übergeben.
Endlich gelang es ihm, flacher zu atmen. Die eisige Hand, die seine Lungen umklammert hielt, war noch da, doch er hatte sich wieder unter Kontrolle.
Als Iscaris seinen tränenden Blick wieder vom Boden lösen konnte, war er fast allein. Nur Llyandor hockte neben ihm.
„Geht es wieder?“, fragte er und legte ihm seine Hand auf die Schulter.
Iscaris ließ sich aufhelfen und nickte. Er traute sich nicht zu antworten, aus Furcht, wieder zu viel der frischen Luft einzuatmen.
Gemeinsam folgten sie der Gruppe zu dem teils von dornigen Büschen und Schutt verdeckten Eingang. Sie kletterten über den Haufen und folgten dem leisen Hämmern in den Tunnel dahinter. Eine einsame kleine Kerzenflamme brannte in der Dunkelheit.
Die Wände waren völlig glatt, das konnte man trotz der Schwärze erkennen. Llyandor fuhr mit der Hand beinahe ehrfürchtig über den glatten Fels.
„Zwergenarbeit“, brachte Iscaris hervor, „so sagt man.“
Aus den Dorfchroniken, die Eles ihn schon mehrfach hatte lesen lassen, wusste er, dass die ersten Siedler in Nianherla den Eingang zu den Tiefen der Berge versiegelt vorgefunden hatten. Kein Anzeichen von Gewalt. Keine Schriftzeichen oder Symbole, aber da das Ronasgebirge früher die Heimat der Zwerge gewesen war, lag die Vermutung nahe.
Mehrere Jahrzehnte behielt man den Eingang im Auge, ohne dass sich dort etwas verändert hätte. Mittlerweile war Barrun-Brak, die alte 'Zwergenmine', nur mehr ein Relikt aus fernen Tagen, das nur noch für die Kinder des Dorfes eine Bedeutung hatte.
Als sie nach etwa zwanzig Schritt das Ende des Tunnels erreicht hatten, war Narrick soeben dabei, seinen Namen unter die lange Liste an der Wand einzumeißeln, so wie schon viele Hundert wagemutige Heranwachsende vor ihm.
Die Liste aus Namen kletterte in mehreren Reihen die Wände zu beiden Seiten empor, bis diese an der Decke im spitzen Winkel zusammenliefen.
Bis auf das vorsichtige leise Hämmern war es still. Alle schwiegen, so als spürten sie die Gewichtigkeit der Jahre und der Tradition.
Narrick erhob sich und reichte Hammer und Meißel an Llyandor weiter, der sich hinkniete und umgehend mit der Arbeit begann.
Neugierig wandte sich Iscaris dem Ende des Ganges zu. Eine gewaltige Steinplatte ohne jegliche Verzierungen verhinderte ein weiteres Vordringen.
Irgendwann in den Anfangstagen hatte man vergeblich versucht, diese Platte zu durchbrechen, doch der Stein hatte sich als völlig unzerstörbar herausgestellt. Auch der Versuch, sich um die Platte herum zu graben, scheiterte kläglich und man beschloss, den Eingang in Ruhe zu lassen. Natürlich träumte jedes Kind des Dorfes von den Schätzen und Abenteuern, die dahinter warten mochten.
Auch nach all den Jahrhunderten, die die Tür erlebt hatte, war sie noch völlig glatt und unbeschädigt. Kein Versuch mit Hämmern, Hacken oder Magie hatte auch nur einen Kratzer auf der Oberfläche hinterlassen.
„Hör auf zu Träumen, Blödmann“, holte ihn Mirak aus seinen Gedanken.
Llyandor stand neben ihm und hielt ihm die Werkzeuge entgegen. Iscaris suchte nach einer freien Stelle. Die Reihe seiner Vorgänger erstreckte sich bis fast auf den Boden. Llyandor hatte gerade noch genug Platz gefunden, um seinen einzumeißeln. So wandte sich Iscaris dem Platz daneben zu, um seinen Namen in Augenhöhe anzubringen.
„Was soll das?“, fragte Mirak ärgerlich. „Da unten ist noch genug frei.“
Als sein Bruder nicht sofort reagierte, drückte er ihn unsanft an den Schultern auf die Knie.
Iscaris sträubte sich kurz, musste sich aber der überlegenen Kraft seines Bruders geschlagen geben. Mehr liegend als kniend begann er die Buchstaben seines Namens in den Stein zu hämmern.
„Da unter ist es am besten für dich. So wird wenigstens nicht jeder an dich erinnert“, sagte Mirak fröhlich und erntete das zustimmende Kichern der anderen Kinder.
Obwohl die Werkzeuge nicht groß waren, fiel es Iscaris schwer, sie sicher festzuhalten und gleichzeitig mit genug Kraft zu arbeiten. Mehrfach musste er absetzten, um seine Handgelenke auszuruhen.
Als er endlich fertig war, brannten seine Arme wie Feuer.
„Wurde aber auch Zeit“, grunzte Mirak und entwand ihm die Werkzeuge unsanft, um sie wieder in einer kleinen Kiste zu verstauen. Dann nahm er die Kerze und forderte alle mit einer Handbewegung zum Folgen auf.
Mit schmerzenden Knien drückte sich Iscaris hoch. Die Beine kribbelten und er musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.
Im schwachen Schein der sich entfernenden Kerzenflamme sah Iscaris, wie Llyandor, der schon ein Dutzend Schritt voraus war, sich zu ihm umdrehte und zurückkam, um ihn zu stützen. Wortlos legte er sich Iscaris Arm um die Schultern und half ihm weiter.
„Beeilt euch. Oder wollt ihr gleich noch 'ne schnelle Nummer schieben?“, rief Mirak.
Kaum am Eingang angekommen, löschte sein Bruder die Flamme und verstaute die Kerze in der Kiste, die er in eine Nische direkt neben dem Eingang schob.
Mit zitternden Fingern rieb sich Iscaris die Beine und sah seinen Freund dankbar an, traute sich aber nichts zu sagen, da er seinem Bruder nicht noch einen Grund zum Spotten geben wollte.
Als sie wieder vor der Notbehelfsbrücke standen, stahlen sich bereits die letzten Sonnenstrahlen zwischen den Zacken des Laenteglos im Westen ins Tal. Die anderen Kinder waren bereits hinüber balanciert. Einige warteten, andere hatten sich längst darangemacht, über die lange Steinrampe wieder hinab ins Tal zu gelangen.
Mirak trat ohne zu zögern an den Abgrund, setzte seinen Fuß auf das Holz und eilte über den Steg.
Iscaris nickte Llyandor zu, der ihn zunächst besorgt ansah, dann aber ebenfalls die Schlucht überquerte.
Das Zittern war noch immer nicht vollständig aus Iscaris Gliedern gewichen. Kalter Schweiß hatte sich über seine Schläfen ausgebreitet. Hinter seiner Stirn begannen heftige Kopfschmerzen zu wachsen, so wie sie es immer taten, wenn sich das Wetter änderte.
Mirak hatte sich umgedreht und musterte seinen Bruder kopfschüttelnd.
„Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen“, rief er gegen den aufkommenden Wind. „Du bist bloß eine Last. Tue uns doch allen einen Gefallen und beende deine jämmerliche Existenz. Lieber früher als später.“
Mit diesen Worten ließ er ihn zurück und eilte davon.
Iscaris musste die Tränen zurückkämpfen. Lange stand er da und starrte in die Tiefe. Die Schatten waren so dunkel, dass er den Boden nicht erkennen konnte. Nur ein Schritt würde es brauchen. Eine einzige Bewegung, um aus dem Leben in den Tod zu treten.
Wie es wohl wäre, auf den von Gischt benetzten Steinen aufzuschlagen? Wahrscheinlich würde er nicht leiden müssen. Nicht lange. Vielleicht den Aufschlag gar nicht bemerken.
„Nein“, hörte er Llyandors Stimme. Ein einziges Wort, doch es reichte aus, um ihn aus seiner selbstmitleidigen Versenkung zu holen.
Iscaris nahm alle Kraft und allen Mut zusammen und setzte einen Fuß auf das alte Holz, ohne in die Tiefe zu blicken.
Den Abstieg über die tausend Schritt lange Rampe legten sie schweigend zurück.
Als Iscaris am Abend auf dem Strohsack lag, der ihm als Bett diente, weinte er stille, trockene Tränen.
Iscaris folgte dem beinahe unsichtbaren Pfad zwischen Bäumen und Büschen, den er trotzdem mit verbundenen Augen gefunden hätte. Wie oft war er hier wohl schon entlanggegangen? Wie viele hundert Male?
Vor vier Jahren – konnte es wirklich erst vier Jahre sein? es kam ihm viel länger vor – hatten sie den Pfad in den Sumpf ausgekundschaftet. Viele Stunden an vielen Tagen hatte es gedauert und mehr als einmal wären sie beinahe in den Morast geraten. Natürlich hatten es ihre Eltern verboten, sich hier herumzutreiben. Aber ebenso natürlich zog sie das Abenteuer an.
Ziel war die alte Turmruine im Sumpf. Niemand wusste, wer ihn gebaut hatte. War es ein lycianischer Spähturm, wie Eles sagte? Oder der Turm eines Magiers? Oder eines der toten Götter? Ein Tempel? Gar eine Schatzkammer?
Sie hatten von unglaublichen Schätzen geträumt. Gefunden hatten sie bis auf einige rostige Nägel nichts.
Er musste unwillkürlich lächeln. Damals war alles besser gewesen. Llyandors Eltern waren beide noch am Leben und er noch nicht... wie er jetzt war.