Das Land ohne Fußball - Thomas Lettner - E-Book

Das Land ohne Fußball E-Book

Thomas Lettner

0,0

Beschreibung

Da es seine Probleme mit gewaltbereiten Fußballfans einfach nicht in den Griff bekommt, beschließt die Regierung des fiktiven Zwergstaats Tropoja, alle Fußballligen und Vereine aufzulösen. Der 14-jährige Julen, dessen Leben der Fußball ist, will das nicht auf sich sitzen lassen. Er gründet die Future for Football-Bewegung und beginnt, die Welt der Erwachsenen aufzumischen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 137

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Der 14-jährige Julen liebt Fußball und seine Lieblingsmannschaft Spartan Elbesan über Alles. Schweren Herzens muss er hinnehmen, dass die Regierung seines Heimatlands Tropoja aufgrund anhaltender Probleme mit gewaltbereiten Hooligans sämtliche Fußballligen im Profi- und Amateurbereich abschafft und alle Vereine auflöst. Als dann auch noch sein großer Held, der Fußballstar Lucas Varga, seine Karriere beendet, fällt Julen aus allen Wolken. Gemeinsam mit seinem besten Freund Andrej ruft er die „Future for Football“-Bewegung ins Leben und verbündet sich mit den Nomads, einer wilden Motorradgang, die ihre immer größer werdende Anhängerschaft hauptsächlich aus der ehemaligen Hooliganszene rekrutiert. Kein Wunder, dass in Tropoja bald alles aus dem Ruder läuft. Auch Aldo Shakra, der Diktator des angrenzenden Kleinstaats Monrovia, weiß die Unruhe im Nachbarland für sich zu nutzen …

Autor

Thomas Lettner wurde am 11. Mai 1982 in Amstetten geboren. Viele Jahre spielte er Fußball für verschiedene Amateur-Vereine im Mühl- und Mostviertel. Heute hat er die Fußballschuhe längst an den Nagel gehängt, dem Sporteln ist er aber treu geblieben. Neben radfahren und wandern ist Tennis seine große Leidenschaft – und natürlich auch das Schreiben, denn sonst wäre dieses Buch nie entstanden.

Inhaltsverzeichnis

Das letzte Spiel

Vargas Karriereende

Alte Erinnerungen

Die Nomads

Die Entdeckung in den Sümpfen

Ankunft der Verbündeten

Die Demo

Aufruhr vor dem Bundeskanzleramt

Der Boykott

Die Pressekonferenz

Der Überfall

Die Befragung

Ein neuer Feind

Planänderung

Der Deal

Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk

Anruf von Karl

Das große Spiel

Spielabbruch

Das Stadtderby ruft

Wiedersehen mit alten Bekannten

Vorübergehendes Stadionverbot

Das letzte Spiel

„Jaaaaaaa! Wir haben es geschafft!“ Julen fiel seinem Freund Andrej um den Hals und drückte ihn so fest an sich, dass er kaum noch Luft bekam. Die ganze Kurve brach in Freudentaumel aus. Bierbecher flogen durch die Luft, und alles hüpfte und sprang, sodass man Angst bekam, die Tribüne könnte jederzeit einstürzen.

Erst vor wenigen Sekunden hatte der Schiedsrichter das Spiel Spartan Elbesan gegen den Stadtrivalen Diamond abgepfiffen. Spartan hatte mit 2:1 gewonnen und sich am allerletzten Spieltag den tropojanischen Meistertitel gesichert.

„Ich kann es nicht glauben. Das ist einfach zu schön, um wahr zu sein!“ Im Stadion war es so laut, dass sich Julen in dem Trubel die Stimme heiser schreien musste. Alle Fans – von den Eltern mit Kind bis zu den Ultras - begannen die Spartan-Hymne zu singen. Die beiden Vierzehnjährigen hielten ihre Fanschals in die Höhe und stimmten aus voller Inbrunst mit ein.

Wie ein Chamäleon, das schlagartig seine Farbe wechselt, färbte sich der ganze Fanblock in den Vereinsfarben von Spartan Elbesan Rot und Gold. Obwohl Julen schon viele schöne Momente mit seinem Lieblingsverein erlebt hatte, bekam er bei dem Anblick eine Gänsehaut.

Die Spieler, Funktionäre und Betreuer liefen zur Tribüne und ließen sich feiern. Durch die vielen Fahnen, die ihm immer wieder die Sicht auf den Platz verdeckten, erhaschte Julen einen Blick auf seinen Lieblingsspieler Lucas Varga, der an diesem Abend gleich zwei Mal getroffen hatte. Der Star der Mannschaft ließ seelenruhig eine Bierdusche nach der anderen über sich ergehen. Zahlreiche Fans umarmten ihn, doch man merkte schnell, dass ihm trotz des großen Erfolgs nicht zum Feiern zumute war.

Auf dem Mittelkreis wurde ein Podest aufgebaut, zu dem sich nach und nach die gesamte Mannschaft gesellte. Der Präsident des tropojanischen Fußballverbands schüttelte den Spielern die Hand und überreichte jedem von ihnen eine Medaille.

Anschließend betrat die Mannschaft das Podium. Die Spannung wuchs, denn nun trugen zwei bildhübsche junge Frauen den Meisterteller ins Stadion. Lucas Varga, der auch die Kapitänsbinde von Spartan Elbesan trug, nahm die goldschimmernde Scheibe in Empfang und streckte sie unter lautem Jubel der Fans in den sternenklaren Nachthimmel, während tausende bunte Konfettis auf ihn herabregneten.

Der Lärm verstummte, als Varga das Mikrofon gereicht bekam, um seine Ansprache zu halten. „Ich freue mich, heute mich euch feiern zu können. Ihr seid die besten Fans der Welt!“, rief er. „Es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht, für diesen Verein zu spielen. Ich hoffe, dass auch ihr immer viel Spaß mit uns hattet. Ich würde euch gerne auf Wiedersehen sagen, doch wie ihr alle wisst, wird es kein Wiedersehen geben. Darum wünsche ich euch im Namen der gesamten Mannschaft alles Gute, und tragt die Liebe zum Fußball weiter in euren Herzen!“ Vargas Stimme zitterte, und man merkte, dass er mit den Tränen kämpfte.

Julen fühlte sich, als habe ihm der Leibhaftige persönlich einen Tritt in den Allerwertesten verpasst und von Wolke sieben direkt in die Hölle befördert.

Vor lauter Glückseligkeit hatte er das vor einem Monat verabschiedete Fußballverbotsgesetz ganz vergessen. Um Punkt null Uhr - also in genau eineinhalb Stunden - trat es in Kraft. Alle Spielklassen von der untersten Amateurliga bis zur Bundesliga wurden von einer Sekunde auf die andere ausgelöscht. Doch damit nicht genug: Dass Gesetz sah auch vor, dass gleichzeitig alle Fußballvereine im ganzen Land aufgelöst wurden.

Schuld daran waren laut Meinung der tropojanischen Regierung die jahrelangen Probleme mit gewaltbereiten Hooligans, der Vandalismus in und außerhalb der Stadien sowie die vielen rassistischen Übergriffe und Beleidigungen. In den letzten Jahren hatten sich unzählige Vorfälle - nicht nur in der Bundesliga, sondern auch im Amateurbereich - ereignet, die die Polizei und die Sicherheitskräfte vor Ort einfach nicht in den Griff bekamen.

Julen wusste, dass die Vorwürfe nicht unbegründet waren. Das Spartan-Stadion war seit Jahren Andrejs und seine zweite Heimat. Auch bei den Auswärtsspielen waren die beiden immer dabei, außer sie fehlten krankheitsbedingt oder es stand eine schwere Schularbeit an, für die sie noch nichts gelernt hatten.

Gewalt hatten sie mehrere Male hautnah miterlebt – von den gegnerischen wie von den eigenen Fans. Die „Wolfbrigade“, eine Untergruppe der Spartan-Ultras, genoss im ganzen Land den Ruf, besonders gnadenlos und brutal mit ihren Gegnern umzugehen.

Dennoch hatte Julen die Nachricht vom Ende des Fußballs in Tropoja aus der Bahn geworfen. Dieser letzte Meistertitel, den er gemeinsam mit seiner Lieblingsmannschaft feiern durfte, kam einer Beerdigung gleich. Genauso war auch die Stimmung im Stadion nach Vargas Rede. Alles war gespenstisch still.

Die Spieler verschwanden mit der Meisterschale in den Katakomben ohne sich von ihren treuen Anhängern zu verabschieden. Die Fans machten sich mit traurigem Gesicht auf den Weg nach Hause. Nur eine kleine Gruppe, der sich auch Julen und Andrej anschlossen, blieb noch im Stadion und sang ihre Lieder, bis um Punkt Mitternacht das Flutlicht ausgeschaltet wurde.

Vargas Karriereende

Wer Julens kleines Zimmer betrat, konnte nicht übersehen, dass er ein riesengroßer Fan von Lucas Varga war, dem größten Fußballstar, den Tropoja je hervorgebracht hatte. In der Ecke zwischen dem Schreibtisch und dem Bett stand eine lebensgroße Varga-Pappfigur. Wer nicht genau hinsah, mochte glauben, dass ihn der Fußballstar persönlich anlächelte.

Auch seine innige Liebe zu seinem Lieblingsverein Spartan Elbesan war allgegenwärtig. Poster, Wimpel und Fanschals zierten die Wände und Möbel. Im Schrank hingen unzählige Spartan-Trikots, die Julen seit Jahren mit Begeisterung sammelte und die alle die Nummer 13 – Lucas Vargas Rückennummer - trugen.

Sein Fanatismus machte aber nicht bei der Zimmertür Halt, sondern hatte sich zum Leidwesen seiner Eltern längst auf das ganze Haus ausgebreitet. Auf den Handtüchern im Bad war das Wappen von Spartan genauso abgebildet wie auf den Kaffeetassen in der Küche. Die Duschvorhänge waren mit den Vereinsfarben des Lieblingsvereins bedruckt, und an fast allen Möbeln klebten Sticker mit Vargas Abbild.

Julens Eltern hatten sich längst an seinen Fußballwahn gewöhnt und widersprachen nicht mehr, wenn er wieder einmal mit einem neuen Fanartikel nach Hause kam. Sie wussten, dass sich das ganze Leben ihres 14-jährigen Sohnes nur um eines drehte: um Fußball.

Vor kurzem hatten die Sommerferien begonnen. Obwohl er seine viele Freizeit genoss und sich das Wetter von seiner schönsten Seite zeigte, kam bei Julen keine gute Stimmung auf. Zu sehr hatten ihn die Ereignisse der letzten Wochen mitgenommen. Die Regierung hatte das Fußballverbotsgesetz mit voller Härte durchgesetzt. Die Vereine waren aufgelöst worden und die meisten Bundesligaspieler während der Transferzeit ins Ausland gewechselt. Der Schock darüber steckte ihm immer noch tief in den Knochen.

Andrej stattete seinem besten Freund fast täglich einen Besuch ab, um mit ihm auf der Konsole ihr Lieblingsspiel „90 Minuten“ zu zocken. Julen wäre es zwar lieber gewesen, ins Freibad oder zum Badesee zu gehen, denn es war Ende Juli und kochend heiß draußen. Das Gute war, dass ihn ihr traditionelles Duell über den Schmerz hinwegtröstete und ihm half, auf andere Gedanken zu kommen.

Andrej öffnete seinen Rucksack, packte seinen Controller und zwei eiskalte Energy-Drinks aus und drückte Julen eine Dose in die Hand. Dann machten sie es sich auf Julens Bett bequem und schalteten die Konsole ein. Im Hauptmenü des Spiels wählten sie ihre Mannschaften aus. Andrejs Blick schweifte über die vielen Varga-Bilder an den Wänden, wobei sein Gesicht einen fahlen Ausdruck annahm. „Weißt du eigentlich schon das Neueste?“, fragte er.

„Du stehst auf Männer? Das weiß ich doch längst.“

„Idiot! Hast du das von Varga noch nicht gehört?“

„Was denn?“, fragte Julen, den eine böse Vorahnung beschlich.

„Varga wird seine Karriere beenden! Er hat das Angebot vom FC Fulham abgelehnt.“

Julen, der sich im Spiel wie immer für seine Lieblingsmannschaft Spartan Elbesan entschieden hatte, fiel beinahe der Controller aus der Hand. „Was? Erzähl doch keinen Scheiß!“

„Es ist wahr. Das habe ich heute Morgen auf transferinfo.tr gelesen.“

„Wie kommt er denn auf die blöde Idee?“

Andrej zuckte mit den Achseln. „Ich kann ihn verstehen. Er hat so ziemlich alles erreicht, was man im Fußball erreichen kann. Mit dem FC Bayern hat er die Champions-League gewonnen und mit Spartan mehrmals die Meisterschaft und den tropojanischen Cup. Kohle hat er genug. Ich an seiner Stelle würde in dem Alter auch nicht mehr ins Ausland wechseln.“

„Aber er ist doch erst 34!“

„Na und? Fußballspieler sind in dem Alter doch schon reif für die Pension.“

Julen fiel die Kinnlade hinunter. Plötzlich hatte er überhaupt keine Lust mehr darauf, „90 Minuten“ zu zocken. „Das bedeutet, dass ich Varga also nie mehr in meinem Leben im Stadion beim Fußballspielen bewundern können werde“, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem Freund.

„Komm, lass dich jetzt nicht hängen. Wir können es ja doch nicht ändern. Beginnen wir lieber mit dem Spiel, das wird dich wieder aufheitern.“

Andrej stellte allerdings schnell fest, dass er sich geirrt hatte. Julen war komplett von der Reihe und verlor alle seine Partien ohne auch nur ein einziges Tor zu erzielen.

„Tut mir leid, ich kann mich heute einfach nicht konzentrieren“, sagte Julen und kippte seinen eiskalten, bittersüßen Energy-Drink auf einen Sitz hinunter. Betroffen blickte er zu Boden. „Daran ist nur dieses blöde Fußballverbotsgesetz schuld. Es ist schon schlimm genug, dass sie uns den Fußball weggenommen haben. Wenn jetzt auch noch Varga aufhört, laufe ich Amok.“

„Wieso setzt du dich nicht wie Greta Thunberg mit einem Schild vor das Parlament und demonstrierst dagegen? Vielleicht findest du sogar ein paar Nachahmer“, scherzte Andrej.

Julens Miene hellte sich schlagartig auf. „Das ist gar keine schlechte Idee.“

„Willst du mich verarschen?“

„Irgendjemand muss den Anfang machen, und wieso nicht wir beide?“

Andrej schüttelte den Kopf. „Lass mich da raus. Ich bin kein Revoluzzer. Außerdem nimmt uns zwei Halbstarke sowieso keiner ernst.“

„Das hat sich Thunberg wahrscheinlich auch gedacht.“

Andrej sah ein, dass er gegen den Dickschädel seines Freundes nichts ausrichten konnte. „Meinetwegen. Wenn du auf die Straße gehst, helfe ich dir. Aber jetzt zocken wir noch eine Runde.“

Julen ließ nicht locker. „Versprich mir, dass du mir hilfst!“

Andrej hob die rechte Hand und verdrehte die Augen. „Okay, ich verspreche es dir hoch und heilig.“

Julen grinste zufrieden. Die beiden widmeten sich wieder ihrem Videospiel, und dieses Mal ließ Julen seinem Freund nicht den Hauch einer Chance.

Alte Erinnerungen

Nach der sechsten hohen Niederlage hatte Andrej keine Lust mehr auf Videospiele. Verärgert packte er seinen Controller wieder in den Rucksack ein und verabschiedete sich. „Die nächsten vier Tage kann ich leider nicht zu dir kommen. Wir fahren morgen zu meiner Oma hinaus aufs Land“, sagte er und wandte sich zum Gehen.

Julen kam es so vor, als wäre er an der schlechten Laune seines Freundes Schuld. „Gehst du noch mit zum Badesee? Die haben am Schotterstrand einen neuen Sprungturm gebaut.“

„Nein, tut mir leid. Ich muss in einer halben Stunde zuhause sein. Mein Vater schmeißt heute noch eine Grillparty bei uns im Garten, und da darf ich nicht zu spät kommen.“

Nachdem Andrej gegangen war, packte Julen schnell seine Schwimmsachen in die Tasche, ging nach draußen in die Garage und schwang sich auf sein Fahrrad.

Der Badesee lag einige Kilometer von seinem Elternhaus entfernt. Während er die Straßen entlangstrampelte, dachte er über Vargas Karriereende, das Fußballverbotsgesetz und eine Demonstration nach. Selbstzweifel begannen ihn zu plagen.

„Ich soll auf die Straße gehen? Was für eine dumme Idee. Was soll ich Niemand schon ausrichten? Wäre ich bloß ein Star wie Varga, dann hätte ich es viel leichter, die Welt zu verändern“, dachte er sich.

Bald war Julen am Ende seines Viertels angelangt. Er zweigte auf den Radweg ab, der entlang eines kleinen Flusses verlief. Nach zwei Kilometern erreichte er die Brücke, die hinüber zum Badesee führte. Das Gewässer war von hier aus schon in Sichtweite. Die grünen Wiesen und Schotterstrände waren voller halbnackter Menschen, die sich in der Sonne bräunen ließen.

Leider war die Brücke aufgrund von Bauarbeiten gesperrt. „Instandhaltungsarbeiten am Brückengeländer bis voraussichtlich 8. August“ stand auf einem Schild geschrieben.

„Verdammt!“, fluchte Julen. Er fragte sich, warum trotz des schönen Wetters weit und breit keine Arbeiter zu sehen waren. Die Sperre bedeutete, dass er bis zur nächsten Brücke weiterfahren und einen Umweg von einigen Kilometern in Kauf nehmen musste. Er spielte mit dem Gedanken, umzukehren, doch dafür war das Wetter einfach viel zu schön.

Julen strampelte weiter, und nach zehn Minuten war er in Korle, einem der ärmsten Viertel Elbesans, angelangt. Überall standen hässliche mehrstöckige Plattenbauten, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Die Nebenstraßen waren voller zwielichtiger Bars mit schwarz bemalten Fenstern, sodass man von außen nicht sehen konnte, was sich drinnen abspielte.

Viele Bewohner dieses Viertels waren arbeitslos oder lebten von Sozialhilfe. Als Fußballfan wusste Julen, dass aus Korle auch die brutalsten Schläger der Wolfbrigade stammten, des gewalttätigsten Hooligan-Mobs von ganz Tropoja.

Julen blieb stehen und sah sich um. Er fragte sich, wie lange er schon nicht mehr hier gewesen war. Alles sah noch so aus wie er es in Erinnerung hatte. Obwohl in Touristenführern extra vor dem Viertel gewarnt wurde, fühlte er sich hier sicher wie in Abrahams Schoß. Er wusste einfach, dass ihm hier nichts passieren würde. Vielleicht war es das, was ihn so magisch anzog.

Julen stieg von seinem Fahrrad und schob es neben sich her. In einem kleinen Vorgarten hängte eine alte Frau gerade ihre Wäsche auf. Julen grüßte sie freundlich, doch die Dame sah ihn nur misstrauisch an, wobei sie jeden seiner Schritte genau verfolgte, bis sie ihn aus den Augen verlor. Auch die Menschen in diesem Viertel hatten sich also nicht groß verändert, wie er mit Zufriedenheit feststellte.

An der nächsten Kreuzung zweigte Julen wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen nach rechts ab. Nach einer kurzen Wegstrecke erschien inmitten der Plattenbauten wie hingezaubert ein kleines, lieblich anzusehendes Fußballstadion.

Julens Herz begann vor Aufregung zu hüpfen. Die Außenwände des Klubheims und der Tribüne waren mit bunten Graffiti besprüht. An den Flutlichtmasten kletterte der Rost wie Schlingpflanzen empor. Die Zäune waren eingerissen und löchrig und der Platz übersät mit Unkraut. Doch auch hier hatte sich im Großen und Ganzen nicht viel verändert.

Ehrfürchtig blieb Julen vor dem Eingangstor stehen. „SK KORLE“ stand darauf schwer leserlich in Großbuchstaben geschrieben. Die Lackfarbe, mit der die Buchstaben aufgemalt waren, war über die Jahre schon fast vollständig abgeblättert. Ein Plakat in einer verstaubten Glasvitrine kündigte ein Landesligaspiel an, das schon eine Ewigkeit zurücklag.

Neugierig geworden beschloss Julen, das Stadion innen zu besichtigen. Er lehnte sein Fahrrad gegen die Mauer und befestigte seinen Rucksack am Gepäckträger. Das Eingangstor war schon so eingerostet, dass er mit beiden Händen anschieben musste, um es aufzubekommen. Es kostete ihn etwas Anstrengung, aber schließlich öffnete es sich. Eine Gruppe Kinder, die gerade auf dem Platz Fußball spielten, wurde durch das laute Quietschen aufgeschreckt. Sie ließen augenblicklich ihren Ball liegen und liefen davon.

„Bleibt hier! Ich bin nicht von der Polizei!“, rief Julen ihnen nach, doch die Kinder waren längst durch ein Loch im Zaun auf der gegenüberliegenden Seite des Stadions verschwunden. Ihre Reaktion überraschte ihn nicht. Obwohl Fußballspielen im privaten Bereich nicht verboten war, kam es manchmal vor, dass korrupte Polizisten unter Androhung einer Anzeige Strafgelder kassierten.