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Etwa 100 Jahre in der Zukunft: Außerirdische namens Chamurga beherrschen den Planeten. Die Menschen, die von den Chamurga als Kreaturlinge bezeichnet werden, führen ein tristes Leben in Sklaverei und Unterdrückung. Doch nicht nur das: Als zwei junge Chamurga zufällig entdecken, wie gut das Fleisch der Kreaturlinge schmeckt, gründen sie eine weltumspannende Fast-Food-Kette, die schon bald hohe Gewinne einfährt. Der dicke Otto landet in einem Lager namens Sumo Stadt. Menschen werden dort unter dem Vorwand, zu Sumoringern ausgebildet zu werden, gemästet. Als Otto von der schrecklichen Wahrheit erfährt, schmiedet er einen Plan, der jedoch nicht nur den Chamurga, sondern auch vielen Kreaturlingen zum Verhängnis werden könnte!
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Seitenzahl: 166
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Erde ungefähr 100 Jahre in der Zukunft: Der Kampf um die letzten Bodenschätze des Planeten führte dazu, dass sich die Weltmächte gegenseitig schwächten. Außerirdische namens Chamurga nutzten die Gunst der Stunde, um die Erde zu kolonisieren und die Menschheit zu versklaven. Doch nicht nur das: Per Zufall entdecken zwei junge Chamurga, dass Menschenfleisch auch sehr gut schmeckt. Dicke „Kreaturlinge“, wie die Außerirdischen die Menschen nennen, werden eingefangen und unter dem Vorwand, zu Sumoringern ausgebildet zu werden, in komfortabel ausgestatteten Lagern namens „Sumo Stadt“ gemästet. Dieses Schicksal widerfährt auch dem dicken Otto, der als Arbeiter in einem Zoo ein ödes Dasein fristet. Gerade noch rechtzeitig erkennt er, welches dunkle Geheimnis sich hinter Sumo Stadt verbirgt. Ihm bleibt nur die Flucht in die Berge, wo es angeblich noch freie Menschen gibt. Dort angekommen schmiedet er einen Plan, wie die Menschen die Besatzer endgültig loswerden können.
Thomas Lettner wurde am 11. Mai 1982 in Amstetten geboren. Lettner arbeitet freiberuflich als Redakteur für eine niederösterreichische Regionalzeitung und schreibt auch privat gerne. „Otto und die Chamurga“ ist sein zweites auf BoD veröffentlichtes Buch.
Ein köstliches Abendessen
Ankunft in Sumo Stadt
Besuch von Doktor Balbuny
Die Fressorgie
Flucht aus Sumo Stadt
Überfall der Partisanen
Im Partisanendorf
Alte Erinnerungen
Dreharbeiten
Nachts im Zoo
Das Job-Angebot
Das letzte Festmahl
Ein Denkmal für den Helden
„Du hast heute echt gut gespielt! Hast du die Arbeit geschwänzt und heimlich trainiert?“ Gonxha, der nach dem langen Spiel müde und abgekämpft war, sah seinen Freund Hampi voller Bewunderung an.
„Ja, aber sag meinem Chef bitte nichts davon. Wenn er erfährt, dass ich mich ständig von der Plantage verdrücke und stattdessen am Tennisplatz abhänge, schlägt er mir den Schädel ein.“
„Wie ich diese seltsamen Spiele der Kreaturlinge liebe! Tennis mag ich sogar noch mehr als Fußball. Aber wenn ich nur auch so eine Vorhand hätte wie du. Dann hätte ich endlich die Chance, bei der Stadtmeisterschaft in Budelkan die zweite Runde zu erreichen. Spielst du eigentlich mit?“
„Ich weiß noch nicht. Hängt davon ab, ob mich der alte Knacker lässt. Die Ernte steht an, und da gibt es immer eine Menge zu tun.“
„Aber ihr habt doch genug Kreaturlinge! Lass die doch die Arbeit erledigen.“
„Du kennst diese lästigen Biester nicht, Gonxha. Die sind irrsinnig gerissen und versuchen ständig, sich vor der Arbeit zu drücken. Wenn man nicht aufpasst, laufen sie davon, und ich kann dann wieder stundenlang mit dem Truck in der Gegend herumfahren und sie einsammeln.“
Hampis Magen knurrte laut. Das Tennismatch hatte ihn hungrig gemacht. „Aber ich will jetzt nicht an die Arbeit denken. Gehen wir lieber was essen. Gleich hier in der Nähe hat vor kurzem ein neues Restaurant aufgemacht. Da gibt es Alles was du dir vorstellen kannst. Letztens habe ich dort ein Ding gegessen, das die Kreaturlinge ‚Krokonodil‘ nennen oder so ähnlich. Das Fleisch war total zart und hat geschmeckt wie Hühnchen.“
Gonxha, der nun ebenfalls Appetit bekam, rollte vor Freude mit den Augen. „Gute Idee! Es gibt noch so viele Lebewesen auf diesem seltsamen Planeten, die ich noch nie ausprobiert habe. Einmal habe ich in einem Restaurant in Budelkan Wasserbüffel-Rippen gegessen. Das war ein Leckerbissen kann ich dir nur sagen. Es hat mir sogar besser geschmeckt als das gegrillte Schimpansenhirn bei Xis Geburtstagsparty.“
Während sich die beiden Freunde über ihre Lieblingsfleischgerichte unterhielten, bog ein Lieferwagen mit überhöhter Geschwindigkeit in die Straße ein, die sie gerade entlang gingen. Das Fahrzeug war so schnell unterwegs, dass es ins Schleudern geriet und mit voller Wucht gegen einen Felsen krachte.
„Wahnsinn, hast du so was schon einmal gesehen? Das muss ich mir zuhause auf meinem holografischen Videomaster noch einmal ansehen. Ich hoffe, meine Helmkamera hat alles aufgezeichnet. Das wird auf FlipFlop durch die Decke gehen!“, staunte Gonxha.
Das völlig zerstörte Wrack lag auf dem Dach und hatte Feuer gefangen. Der Kreaturling am Steuer klemmte blutüberströmt in der eingedellten Fahrerkabine. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Die beiden Freunde blieben stehen und sahen fasziniert zu, wie die Flammen den Lieferwagen verschlangen.
Auf der stark zerbeulten Seitentür war ein Logo aufgedruckt, das Hampi sofort erkannte. „Das war ein Fastfood-Lieferant von dem neuen Restaurant, von dem ich dir erzählt habe. Der Besitzer wird sich sicher zu Tode ärgern“, sagte er.
„Warum denn? So ein Kreaturling kostet doch nicht die Welt.“
„Ich meine doch nicht den Kreaturling. Für harte körperliche Arbeit war der sowieso viel zu fett. Aber der Lieferwagen war noch gut in Schuss. So einen hätte ich auf der Plantage gut gebrauchen können.“
„Da wirst du dich leider woanders umsehen müssen. Der ist ein Fall für den Schrottplatz“, antwortete Gonxha. „Komm, gehen wir weiter. Es kommt sicher bald eine Bergedrohne vorbei.“
Hampi zögerte. „Nein, warte kurz. Riechst du das auch?“
„Was denn?“
„Na, diesen herrlichen Duft nach gegrilltem Fleisch. Einfach köstlich! Das Lieferservice muss wahre Leckerbissen an Bord haben.“ Hampi ging näher an das Wrack heran, bis die Hitze auf seiner schuppigen Haut zu schmerzen begann. Er nahm seinen durchsichtigen, kegelförmigen Helm ab, um den süßen Fleischgeruch intensiver aufsaugen zu können.
„He, vergiss nicht, dass wir in dieser Atmosphäre nicht lange überleben können“, warnte ihn Gonxha. „Nach ein paar Minuten wird dir schwindelig, und dann kippst du um!“
Hampi hörte nicht auf seinen Freund. „Sei ruhig und komm her!“
Gonxha stellte sich neben ihn und nahm ebenfalls seinen Helm ab. Die Flügel seiner kleinen birnenförmigen Nase an der Stirn flatterten wie eine Fahne im Sturm. „Wow, du hast Recht! Das riecht köstlich! Was mag das sein? Lammfleisch? Schweinshaxe? Rhinozeroskalb?“
„Nein, das ist etwas anderes“, antwortete Hampi, der wie sein Freund ein echter Feinschmecker war und fleischliche Delikatessen zu schätzen wusste.
„Geschnetzeltes Löwenbaby? Ameisenbär-Ragout? Gegrillte Giraffenzunge?“
Hampi drehte seinen dreieckigen Kopf hin und her. „Nein, das ist etwas anderes. Etwas viel Besseres!“ Er ging noch näher an das Wrack heran, um ins Innere des Fahrzeugs sehen zu können. Dabei fiel ihm auf, dass der Lieferservice außer leeren Styroporboxen gar nichts geladen hatte. Offenbar war der Kreaturling gerade auf dem Weg zurück ins Restaurant gewesen.
„Was hier so herrlich duftet, ist der Kreaturling selbst!“, rief Hampi erstaunt aus. „Ich muss unbedingt ein Stück probieren.“ Er streifte seine Tennistasche ab, machte einen weiteren Schritt auf das Wrack zu und griff mit der rechten Hand nach vorne, um die ramponierte Seitentür zu öffnen.
Gonxha versuchte seinen Freund vor dem sicheren Tod zu retten. „Spinnst du total? Du wirst verbrennen!“
Doch Hampi hörte nicht auf ihn. Die bläulichen Schuppen auf seiner Haut begannen sich in der Hitze zu krümmen. Ein Schmerz ähnlich wie bei einem Stromschlag schoss durch seinen Arm, als er die Seitentür berührte. Mit einer ruckartigen Bewegung riss er am Griff. Der verschmorte Kadaver des Kreaturlings kippte heraus und plumpste auf die Straße.
„Hilf mir!“, rief er seinem Freund zu. Gonxha packte mit an, und gemeinsam schafften sie es, den Kreaturling, der nicht gerade ein Leichtgewicht war, vom brennenden Lieferwagen wegzuziehen.
„Ich muss den Braten unbedingt kosten, solange er noch heiß und saftig ist.“ Hampi packte den Kreaturling am Unterbauch und riss mit seinen starken, krallenförmigen Fingern ein großes Stück Fleisch heraus. Dann steckte er es sich in seinen weit aufgerissenen Mund, der sich bei den Chamurga auf Brusthöhe befand, und kaute genüsslich darauf herum.
„Und?“, fragte Gonxha neugierig. „Wie ist es?“
Hampi lächelte und leckte sich die blutverschmierten Finger ab. „Einfach köstlich! Das Beste was ich je gegessen habe!“
„Ich will auch was. Lass mich ran!“ Gonxha riss sich ebenfalls ein großes, saftiges Stück heraus und stopfte es sich in den Mund. Seine anfängliche Skepsis verschwand, und er rollte fröhlich mit seinen Augen. „Du hast Recht! Das ist tatsächlich das beste Fleisch, das es gibt! Wer hätte gedacht, dass die Kreaturlinge so gut schmecken?“
„Mir mollten sie micht als Sklamven malten, mir mollten sie essen“, stimmte ihm Hampi mit vollem Mund zu.
Die beiden Freunde brüllten so laut vor Lachen, dass ihnen die heißen Fleischstückchen aus dem Mund flogen. Fröhlich schmatzend setzten sie ihr Abendessen fort, das ihnen weit besser schmeckte als jedes Menü im Restaurant und das darüber hinaus noch gratis war.
Als spät nachts endlich die Bergedrohne erschien und das bereits völlig ausgebrannte Wrack des Lieferwagens per Magnetschiene in die Höhe zog, waren von dem Kreaturling nur noch einige abgenagte Knochen und angesengte Haare übrig.
Gelangweilt starrte Otto auf die Monitore vor sich. Das herrliche Hochsommerwetter hatte wieder eine Unmenge an Besuchern in den Zoo gelockt. In den Gehegen war nicht viel los. Die meisten Tiere lagen aufgrund der Hitze faul im Schatten oder hatten sich wie die Nilpferde ins kühle Nass zurückgezogen. Das Einzige, was sie von sich sehen ließen, waren ihre Ohren, die wie Speerspitzen aus dem Wasser ragten.
Auch in den Gehegen der Kreaturlinge, die bei den Chamurga besonders beliebt waren, war nichts los. In diesem Bereich des Zoos wurden ganz besonders hässliche Exemplare dieser Spezies ausgestellt. Manche von ihnen hatten ein Fell am ganzen Körper, das ihnen Ähnlichkeit zu den Menschenaffen im Nachbargehege verlieh. Manche waren mit anderen Artgenossen zusammengewachsen und hatten zwei Köpfe, vier Arme und vier Beine. Wieder andere waren von Krankheiten grausam entstellt, hatten einen aufgequollenen Kopf, der größer als ihr restlicher Körper war, oder eine Haut, die aussah wie die Rinde eines Baumes.
Technische Defekte im Zoo-Restaurant oder bei den Reinigungs- und Fütterungsrobotern gab es an diesem Tag ebenfalls keine zu melden. Der eintönige Job machte Otto hungrig, also bestellte er sich im Zoo-Restaurant eine Portion Palatschinken mit Marillenmarmelade, die kurz darauf von einem kleinen fahrenden Roboter in einer Kunststoffbox zugestellt wurde. Otto hatte nicht mitgezählt, aber er schätzte, dass es an diesem Tag bereits die dritte Portion war, die er genüsslich in sich hineinschob.
Das Gute war, dass man als Zoo-Mitarbeiter so viel essen durfte wie man wollte. Manchmal durfte sich Otto sogar eine Extraportion Bratwürste mit Sauerkraut mit ins Lager nehmen, die er abends in seiner Baracke verzehrte. Der Nachteil war, dass sein Körperumfang kontinuierlich zunahm und ihm seine Dienstkleidung ständig zu eng wurde. Doch Otto machte das nichts aus. Essen war schließlich die einzige Freude, die ihm in seinem sonst so tristen Leben geblieben war.
Um 18.30 Uhr wurde der Zoo geschlossen. „Endlich Feierabend!“, dachte sich Otto sarkastisch. Als er seinen massigen Körper in die Höhe stemmte, quietschte sein Bürosessel wie eine Katze, der man versehentlich auf den Schwanz gestiegen war.
Im Grunde durfte sich Otto jedoch glücklich schätzen. Viele andere Kreaturlinge hatten es weit schlimmer erwischt und mussten auf Plantagen oder im Bergbau arbeiten. Die Arbeit im Zoo hatte auch den Vorteil, dass er sich hin und wieder kreativ betätigen konnte, indem er Videos auf FlipFlop hochlud, einem sozialen Netzwerk, das sich bei den Chamurga großer Beliebtheit erfreute.
Vor einem Monat hatte ein Weibchen im Gehege der Kreaturlinge Nachwuchs bekommen. Otto war auf Auftrag seines Chefs, eines alten Chamurga, mit der Kamera live bei der Geburt dabei gewesen. Schon nach einer Stunde hatte der Beitrag auf FlipFlop über einhunderttausend Likes erreicht. Sein Chef war davon so begeistert gewesen, dass er Otto eine Belohnung zukommen ließ – eine ganze Woche lang Torten, Kekse und Süßgebäck aus dem Zoo-Restaurant, so viel er essen konnte.
Otto träumte oft davon, andere Orte zu sehen, dem Zoo, dieser Stadt und dem tristen Alltag zu entfliehen. Doch das kam leider nicht infrage, denn er musste jeden Tag seinen Posten besetzen – und das nun schon seit ungefähr drei Jahren.
Vor dem Eingang des Zoos stand ein Bus voller Kreaturlinge bereit. Alle sahen müde aus und machten traurige Gesichter oder dösten wie in Trance vor sich hin. Otto stieg ein und setzte sich auf seinen Platz. An anderen Haltestellen stiegen noch weitere Kreaturlinge zu, die stumm ihre Plätze einnahmen. Sprechen durften sie nicht miteinander, denn das war für alle bei Strafe verboten und konnte zum Verlust des Arbeitsplatzes führen. Das wiederum konnte bedeuten, dass man eine noch schwerere Arbeit zugewiesen bekam oder bei wiederholten Vergehen „entsorgt“ – besser gesagt eingeschläfert – wurde.
Eine halbe Stunde später hatte der Bus sein Ziel, das große Lager der Kreaturlinge außerhalb der Stadt, erreicht. Otto wusste nicht genau, wie viele seiner Artgenossen hier in den hässlichen Wohnbaracken lebten und schliefen. Es mussten um die zehntausend sein, wenn nicht gar mehr.
Kleine Kinder gab es hier keine, da sie den Eltern gleich nach der Geburt weggenommen und in eigenen Lagern untergebracht wurden. Auch ältere Kreaturlinge waren keine zu sehen. Gerüchten zufolge wurden sie von den Chamurga – sobald sie sie als arbeitsunfähig einstuften – einfach „entsorgt“.
Oft genug hatte Otto mit dem Gedanken gespielt, aus dem Barackenlager zu fliehen, doch das war so gut wie unmöglich. Selbst wenn es je einem Kreaturling gelingen würde, die Wachen und Sensoren zu überlisten und die vielen Sprengfallen zu umgehen, wäre er im Nu wieder eingefangen worden. Dafür sorgte ein Chip, der jedem Kreaturling bei der Geburt oder bei der Gefangennahme eingepflanzt wurde und mit dem die Chamurga problemlos Ausreißer orten konnten.
Otto stieg aus dem Bus und ordnete sich in den Strom der stummen, müden Arbeiter ein. Gerade als er den Lagereingang passieren wollte, hielt ihn ein mit einem Plasmagewehr bewaffneter Chamurga-Wachmann auf. Zur Anmerkung muss gesagt werden, dass Otto nie klar wurde, ob es bei den Chamurga überhaupt zwei Geschlechter gibt wie bei den Kreaturlingen oder beide Geschlechter einfach nur gleich aussehen. Aus der Nase des Außerirdischen drangen jedenfalls seltsame schrille Pfeiftöne. Es klang so, als ob der Wind durch Metallrohre sausen würde. „Nicht weitergehen! Stell dich zu der Gruppe neben dem Eingang!“, kam es fast gleichzeitig aus einem kleinen Lautsprecher an seinem Helm, der die Sprache der Aliens in die Sprache der Kreaturlinge übersetzte.
Otto wusste zwar nicht, was das bedeutete, aber er hatte sich schon lange abgewöhnt, die Befehle der Chamurga zu hinterfragen. Neben dem Lagereingang standen schon um die dreißig Männer und Frauen, die wie Otto gerade vom Arbeitseinsatz zurückgekommen waren. Am liebsten hätte er sie gefragt, was das Ganze sollte, doch das war aufgrund des Sprechverbots nicht möglich. Ihren verdutzten Blicken nach zu schließen wussten sie ohnehin nicht mehr als er.
Ungefähr eine Viertelstunde später erschien ein Flug-Transporter, der nur wenige Meter neben dem Lagereingang zur Landung ansetzte. Die Gruppe aus auf den ersten Blick willkürlich zusammengewürfelten Kreaturlingen war mittlerweile auf bis zu sechzig Personen angewachsen. Sie alle mussten auf die breite Ladefläche des Luftfahrzeugs steigen und eng aneinandergeschmiegt darauf Platz nehmen. Ein Wachmann schloss die Heckklappe. Mit surrenden Turbinen stieg der Transporter in die Höhe, flog in einer ausladend weiten Kurve über die Baracken hinweg und beschleunigte zurück in Richtung Stadt.
Otto rätselte, was die Chamurga wohl mit ihm und den anderen vorhatten. Sicherlich hatte es nichts Gutes zu bedeuten. Schon öfter waren einige seiner Artgenossen aus dem Lager abgeholt worden und nie wieder aufgetaucht.
„Glaubst du, sie machen irgendwelche Versuche mit uns?“, flüsterte ein Mann, der direkt neben Otto saß und sich an die Absperrung der Ladefläche lehnte.
Otto sah den Unbekannten erschrocken an. Er hatte buschige Augenbrauen, zwei kleine Schweinsaugen und eine kleine runde Nase, sodass sein melonenförmiges Gesicht einer Bowlingkugel ähnelte.
Otto legte den Zeigefinger auf die Lippen, um ihn darauf aufmerksam zu machen, still zu sein.
„Vielleicht probieren sie an uns irgendwelche Medikamente aus oder sezieren uns, um mehr über unsere Anatomie herauszufinden.“
„Sei still jetzt!“, fuhr Otto den Mann an. Konnte dieser Vollidiot nicht einfach die Klappe halten? Otto spähte nach vorne, doch die zwei Chamurga-Wachmänner im Cockpit schienen nichts bemerkt zu haben. „Hör zu, ich weiß wirklich nicht, was die mit uns vorhaben. Vielleicht bringen sie uns in eine Fabrik oder so.“
„Warum gerade uns? Für Fabrikarbeit gäbe es sicher stärkere und athletischere Typen wie uns. Sieh uns doch an! Von uns kann sich doch keiner länger als eine Stunde auf den Beinen halten.“
Otto sah sich auf der Ladefläche um. Der Mann hatte nicht Unrecht. Alle Insassen waren ausnahmslos übergewichtig, manche allerdings mehr und manche weniger. „Keine Ahnung. Vielleicht haben sie irgendeine bestimmte Arbeit für uns, für die sie uns ausgesucht haben.“
Der Unbekannte reichte Otto so unauffällig wie möglich die Hand. „Ich heiße Herbert. Ich wohne in der Baracke B2“, stellte er sich vor.
„Und ich heiße Otto. Ich wohne in der Baracke F4.“
„Komisch, dass wir uns noch nie begegnet sind“, sagte Herbert.
„Wo arbeitest du eigentlich?“
„Ich bin Baggerfahrer bei einem Abbruchunternehmen. Wir sollen für die Chamurga eine neue Luxussiedlung hier in der Stadt errichten. Und du?“
„Ich arbeite im Zoo“, antwortete Otto. Den Rest der Fahrt blieben die beiden stumm. Ein Wachmann hatte sich umgedreht, um hinten nach dem Rechten zu sehen.
Nach einer zwanzigminütigen Fahrt setzte der Transporter zur Landung an. Die beiden Chamurga-Wachmänner öffneten die Heckklappe und befahlen den Insassen, abzusteigen.
Otto sah sich um. Sie befanden sich in einer Wohnsiedlung am Stadtrand, wie er sie von früher kannte. Entlang einer asphaltierten Straße standen links und rechts kleine niedliche Reihenhäuser. Im Gegensatz zu den schon seit Jahren leerstehenden Häusern und Wohnblocks in der Stadt sahen die Gebäude hier nicht heruntergekommen aus, sondern waren frisch renoviert. Am Anfang der Straße stand ein Ortsschild mit der Aufschrift „Sumo Stadt“.
Wie in einem Traum tauchten plötzlich Bilder aus einer längst vergangenen Zeit in Ottos Gedächtnis auf. Als Kind hatte er mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester in einer Gegend wie dieser gewohnt. Otto erinnerte sich, dass die Straße, in der sie gewohnt hatten, Nelkenstraße geheißen hatte. An den Namen der Stadt konnte er sich aber nicht mehr erinnern.
Nach dem Kindergarten hatte er oft mit den Nachbarskindern auf der Straße gespielt. Doch dann waren wie aus dem Nichts die Chamurga aufgetaucht und hatten jegliche menschliche Zivilisation auf dem Planeten innerhalb kürzester Zeit ausradiert.
„He du da, nicht träumen!“, bellte eine verzerrte Stimme aus dem Simultanübersetzer eines Wachmanns. Der Außerirdische zielte mit seinem Plasmagewehr auf Otto und zwang ihn, so schnell wie möglich von der Ladefläche zu springen. Die Kreaturlinge mussten sich der Reihe nach aufstellen. Die Wachleute führten sie im Gänsemarsch die Straße entlang und wiesen jedem und jeder Gefangenen ein Häuschen zu.
Ein Wachmann begleitete Otto bis zur Tür und öffnete sie mit einer Magnetkarte. Otto trat ein. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Ihm fiel auf, dass es innen gar keine Türklinke gab und er gefangen war. Neugierig sah er sich im Vorhaus um. Die Wohnung war zwar nicht sehr groß, sah zu seiner Überraschung aber wirklich top aus. Es roch nach chemischen Putzmitteln und Duftkerzen. An den weiß gestrichenen Wänden hingen Gemälde mit schönen Landschaften und Tieren.
Der Parkettboden und die Möbel waren sehr sauber und die Räume mit allem ausgestattet, was das Herz begehrte. Im Bad funkelten die Keramikfliesen und das Chrom im Licht der LED-Lampen. Es gab eine Dusche, ein WC und sogar eine geräumige Badewanne – Dinge, die Otto seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Otto hielt alles für eine Fälschung, doch als er den Wasserhahn aufdrehte, kam sogar heißes Wasser heraus.
Im Schlafzimmer standen ein breites Bett und ein Kasten, der mit Kleidung und Waschutensilien gefüllt war. Das Wohnzimmer, das den Großteil der Fläche einnahm, war mit einer gemütlichen Couch, einem Bücherregal und einem Glastisch eingerichtet. Darauf stand ein Kärtchen mit der Aufschrift „Herzlich willkommen!“. Auch eine Fernbedienung und eine Schachtel Pralinen lagen auf dem Tisch.
An der Wand hing ein riesiger schwarzer Flachbildschirm. Durch ein kleines Fenster sah man auf einen Park, den ein hoher, mit Stacheldraht befestigter Zaun umgab. In der Mitte des Parks thronte ein Holzpavillon mit einem spitzen Blechdach, der von Birken und Kastanienbäumen umringt war.
Otto kam aus dem Staunen nicht heraus. Seit Jahren hatte er in Baracken ohne jeglichen Komfort gelebt, die er sich mit hunderten Kreaturlingen teilen musste. Die Matratzen dort waren von ekligen Bettwanzen bevölkert. Die Sanitäranlagen hatten kein fließendes Wasser, waren verschmutzt und stanken furchtbar. Von einer Sekunde auf die andere lebte er im Luxus, und er fragte sich, was der Grund dafür war. Als hätte man seine Gedanken gelesen, ertönten plötzlich zwei seltsame Stimmen.
„Hallo! Hier ist Gonxha!“
„Und hier ist Hampi!“