Das Land - Robert Geller - E-Book

Das Land E-Book

Robert Geller

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Beschreibung

Nach langem Aufenthalt im Ausland kommt Daniel nach Hause zurück. Er stellt rasch fest, dass es nicht mehr das Land von früher ist, zu vieles hat sich verändert. Grenzen wurden verschoben, das politische System ist ein anderes, viele Dinge des täglichen Lebens funktionieren anders als früher, offenbar besser. Er will den Dingen auf den Grund gehen, stellt viele Fragen – und mit den erhaltenen Antworten kommen neue Fragen. Eine Reihe alter und neuer Freunde unterstützt ihn dabei, Antworten zu finden. Dabei lernt er Annette kennen und lieben. Sie begleitet ihn zu einer wichtigen Ehrung seines Bruders. Dann endlich stellt er sich die entscheidende Frage: Soll ich bleiben?

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Gebrauchsanweisung I

Gebrauchsanweisung II (technisch)8

Prolog

1. Kapitel – Ankunft

2. Kapitel – Erste Eindrücke

3. Kapitel – Lektüre

4. Kapitel – Kneipe I

5. Kapitel – Orientieren

6. Kapitel – Buchladen

7. Kapitel – Annette

8. Kapitel – Freunde

9. Kapitel – Recherchen

10. Kapitel – Der Zerfall

11. Kapitel – Kirche

12. Kapitel – Die neuen Gesetze

13. Kapitel – Kneipe II

14. Kapitel – Intermezzo

15. Kapitel – Bahnfahrt

16. Kapitel – Graz

17. Kapitel – Stammtisch

18. Kapitel – Technik und Italien

19. Kapitel – Südtirol

20. Kapitel – Meran

21. Kapitel – Im Restaurant des Helden

22. Kapitel – Szenenwechsel

23. Kapitel – Holland

24. Kapitel – Kleiner Bruder

25. Kapitel – Resterampe

26. Kapitel – Lüneburg

27. Kapitel – Nach Berlin

28. Kapitel – In Berlin I

29. Kapitel – In Berlin II

30. Kapitel – Abendessen

31. Kapitel – Sightseeing

32. Kapitel – Vorglühen

33. Kapitel – Im Humboldt

34. Kapitel – Festakt

35. Kapitel – Nachwehen

36. Kapitel – Pläne

Personenregister

Zeittafel

Zitate

Weiterschreiben

Dank

Robert Geller

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

© 2022 Robert Geller · robertgeller.de

Lektorat: Büchermacherei · Ursula Hahnenberg · buechermacherei.de

Covergestaltung: Chris Gilcher · buchcoverdesign.de

Satz u. Layout / E-Book: Büchermacherei · Gabi Schmid · buechermacherei.de

Bildquellen: Adobe Stock ID 330007381, Adobe Stock ID 213195534, Adobe Stock ID 73035994 und freepik.com

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-69903-8 ISBN Hardcover: 978-3-347-69904-5 ISBN E-Book: 978-3-347-69905-2

Den Idealisten gewidmet

(zumindest den meisten)

Gebrauchsanweisung I

Es mag ungewöhnlich erscheinen, ein Buch mit einer Gebrauchsanweisung zu versehen. Ich tue es trotzdem, auch, um wesentliche Motive meinerseits aufzuzeigen.

Dieses Buch enthält einen ganzen Reigen politischer und gesellschaftlicher Elemente, fiktiver Geschehnisse und Vorstellungen von einer politischen Organisation. Ich will damit nicht behaupten, so müsse es sein, so sei alles besser. Das möge jede / r selbst bewerten. Jedoch zeige ich mit dem Werk auf, wie es sein könnte; eventuell stelle ich sogar so etwas wie eine ideale Organisation vor. Das ist eben meine Sicht oder Spinnerei. Betrachtet man den medialen Mainstream, durch den einem ständig Gebrauchsanweisungen und dergleichen aufgenötigt werden, drängt sich in Bezug auf dieses Buch der Gedanke auf: warum eigentlich nicht?

Damit bin ich beim Hauptmotiv meines Buches angelangt. Ich habe es als Gedicht gefasst – es ist mir einfach so aus der Feder (pardon: der Tastatur) geflossen:

Denken

Denke

Ohne Verbote

Auch über Eck

Und abstrus

Denke

Das ist schon ein Ding mit dem Denken. Dazu gehört übrigens, zu Ende zu denken, nicht auf halber Strecke stehenzubleiben, nicht die kurzfristige, leider oft kurzsichtige, Lösung zu suchen. Eben nicht wie gestern und heute in der Politik und auch in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Maxime lautet: zu Ende denken!

Ja, und eines noch: nicht alles glauben. Zumindest nicht im ersten Wurf. Erst mal hinterfragen. Ob mich da einer hinters Licht führen will, ob das überhaupt angehen kann, was der mir erzählt. Und schon bin ich wieder bei meinem Credo gelandet: Denken.

Das soll genug der Gebrauchsanweisung sein, da jeder zusätzliche Text wieder eine Einschränkung beschriebe.

Gebrauchsanweisung II (technisch)

Wie ausgeführt versuche ich ein wenig, die Welt von morgen zu erklären. Damit stelle ich sehr viel aus der Jetzt-Zeit in Frage. Das sind aber eben auch die Fragen, die mich umtreiben. Ganz sicher hast Du, liebe Leserin, lieber Leser, ganz eigene Fragen. Daher habe ich eine Reihe von Notizmöglichkeiten eingefügt. Du findest hinter fast allen Tagebuch-Kapiteln mehrere linierte Zeilen, die Dich dazu anregen sollen, spontan eigene Gedanken zu notieren.

Wenn Du mit Freunden und Bekannten über dieses Buch diskutierst – was ich sehr hoffe – nutze doch einfach Deine aufgeschriebenen Gedanken. Wenn sich aus vielen guten Gedanken und Gesprächen Initiativen entwickeln würden, die unser Umfeld etwas besser machten, hätte sich das Schreiben für mich gelohnt …

Müsste ich hier einen Verweis auf meine Widmung anbringen?

Prolog

Also, wieder nach Hause. Wieder nach Deutschland.

Aber ist das noch mein zu Hause?

Und Deutschland ist es ja auch nicht mehr, allein schon der Name. Obwohl alle, mit denen ich zu tun hatte, immer nur von Deutschland sprechen oder gesprochen haben. Auch Leute, mit denen man nur ein wenig Small Talk gemacht hat. Ob das mit dieser Bezeichnung auch alle so sehen, die jetzt dazu gehören, die Bürger des Landes sind?

Genau das ist ja auch ein Grund, warum ich mich entschlossen habe …

1. Kapitel – Ankunft

Von oben sieht alles wie immer aus. Wie früher?

Aussteigen, reingehen, Gepäck – wie überall.

Raus, in die Ankunftshalle. Die Leute sehen auch nicht anders aus als früher und – sie verhalten sich – wie überall.

Ah, da ist ja Sebastian.

Sebastian. Einer meiner ältesten Freunde, vielleicht der einzige, den ich hier noch habe. Zumindest ist er es, mit dem ich immer wieder Kontakt hatte. Seit ich weggegangen bin, und danach, in diesen ganzen wirren Zeiten. Super, dass ich wenigstens einen habe, auf den ich mich verlassen kann.

Er wirkt ganz locker, so wie ich ihn eben kenne. So ist auch seine Begrüßung. Hallo, wie geht’s?

Servus. Mensch, wie lange ist das her?

Ewig.

Grinsen. Ja, genau. Das ist er, so wie früher, nur etwas älter.

Komm, lass uns zum Auto gehen.

Kaum weg vom Gelände, schlafe ich selig auf dem Beifahrersitz ein, bekomme von der ganzen Fahrt nichts mit. Anderthalb Stunden später rappele ich mich wieder hoch. Wir sind fast da. Ich muss es im Gefühl gehabt haben, dass es nicht mehr weit ist.

Alles dunkel, man erkennt fast nichts. Aber das muss ich ja auch nicht. Nicht am ersten Abend.

Tagebuch

Toll, dass mir Sebastian ein Zimmer zur Verfügung gestellt hat. Schlüssel, alles. Ich kann kommen und gehen, wann ich will. Das Auspacken gestern habe ich noch schnell hinter mich gebracht. Dann war aber Schicht im Schacht und Schlafen angesagt.

Heute also erste Eindrücke. Was wir wohl machen werden?

Bestimmt Leute besuchen oder so.

Schon merkwürdig, wenn ich bedenke, hier aufgewachsen zu sein, hier gelebt zu haben – und so fast gar nichts zu wissen über Land und Leute und Leben und Gesellschaft und …

Ich weiß noch überhaupt nicht, was ich alles erkunden will. Aber ich habe mir ja Zeit dafür mitgebracht.

Wenn Sie möchten, können Sie nun etwas notieren.

2. Kapitel – Erste Eindrücke

Frühstück. Alles da, Brötchen, Müsli. Sebastian hat sogar daran gedacht, dass ich lieber Tee trinke als Kaffee.

Willst du einen O-Saft?

Nee, danke.

Na gut, setz dich doch. – Also, ich habe mir zwei Tage frei genommen. Danach ist Wochenende und bis dahin wirst du schon wissen, wie alles so läuft und was du als Nächstes machen willst. Montag muss ich wieder ins Büro und du kannst dann auf eigene Faust losziehen.

OK. Aber ist denn alles so anders als früher?

Naja, sagen wir mal so … Du bist jetzt wie lange weg?

Acht Jahre, fast neun.

Siehst du. Neun Jahre. Da hat sich schon so manches verändert. Diese Krisen damals und dann das ganze politische Tohuwabohu. Wer hätte das mit den USA schon erwartet? Oder, dass die NATO einfach so aufgelöst wurde und die EU sich mehr oder weniger selbst verdampft hat? Als sich hier vor fünf, sechs Jahren alles neu geordnet hat, ist vieles anders geworden, als du es vielleicht noch von früher in Erinnerung hast. Wie war das? Welche Geschichte hatten wir denn damals, als du das Weite gesucht hast?

Diese merkwürdige Pandemie, während der alle verrückt gespielt haben – übrigens weltweit, nicht nur hier. Aber hier hat man ja wie üblich alles ein bisschen besser und genauer gemacht.

Ja, ich weiß. Aber da sind wir alle, glaube ich, ein Stück lockerer geworden. Da haben wir viel von den Holländern gelernt und von den Ösis sicher auch.

Wie meinst du das? Lockerer?

Lass mal. Das wirst du schon noch merken. Ich glaube, wir gehen jetzt erstmal einkaufen. Wie sieht es bei dir im Übrigen mit Geld aus? Den Euro haben wir ja nicht mehr – Gott sei Dank. Das meiste geht bargeldlos, aber ein paar Mark wirst du schon einstecken müssen. – Ja, wir haben die Mark wieder. Allerdings ohne ‚Deutsche‘ davor. Schon kurios; eine Währung, die von Anfang an knallhart war. – Also, hast du ein bisschen was?

Ja, ja. Ich hab mich eingedeckt. Kartenzahlung geht aber, oder?

Natürlich. Karten, Handy. Auch mit registrierten implantierten Chips kannst du zahlen.

Prima, dann läuft’s ja so ähnlich, wie ich es gewohnt bin. Wo wollen wir einkaufen?

Nur bei uns im Supermarkt. Der hat im Grunde alles. Wenn du für ein Duschgel 20 Cent mehr zahlen musst als im Drogeriemarkt, holst du das durch das ersparte Fahrgeld wieder rein.

Cent? Ich dachte, Ihr habt wieder die Mark?

Ja, schon. Aber der Cent ist geblieben. Vielleicht haben sich da die Niederländer durchgesetzt. Egal: Eine Mark hat 100 Cent. Aber bilde dir nicht ein, dass es viel Kleingeld gibt. Die kleinsten Stücke sind 20 und 50 Cent. Die Märkte runden bei Bargeldzahlung auf und spenden das zu viel Kassierte automatisch an eine karitative Einrichtung. Wem das nicht passt, der kann bargeldlos zahlen.

Also los.

Kurze Fahrt. Nichts Auffälliges, alles scheint genauso zu sein, wie ich es von früher kenne. Die Verkehrsschilder könnten sich verändert haben – aber das ist ja nicht wichtig. Der Parkplatz wirkt sauber und geordnet. Den Einkaufswagen holt Sebastian wie früher von der Kette, er fährt aber nur mit seinem Handy über einen Kontakt und bekommt ihn los.

Keine Münzen?

Schon lange nicht mehr. Das funktionierte schon sehr bald nach dem Umbruch so. Weißt du, das ganze Währungswesen mit Zahlungsmethoden und dem ganzen Kram drumherum wurde vollkommen umgekrempelt und ein paar pfiffige Jungs haben Techniken und Verfahren zum Einsatz gebracht, die sich viele schon lange gewünscht haben – und manche sich überhaupt nicht vorstellen konnten. Übrigens sind wir gestern mit ähnlicher Technik aus dem Flughafen-Parkhaus ausgefahren. Hast du da schon geschlafen?

Nein, aber wohl nicht aufgepasst.

Bevor wir reingehen, bleibe ich nochmal stehen. Ein kleines knubbeliges Fahrzeug ist gerade auf den Parkplatz gefahren. Vier Leute sind ausgestiegen und in den Supermarkt gegangen. Das Gefährt bleibt mit offener Tür stehen.

Was ist denn das da drüben?

Sebastian grinst. Noch nie gesehen?

Nee. Jetzt sag schon.

Das ist ein selbstfahrender Kleinbus, elektrisch natürlich. Solche Modelle setzen fast alle Kommunen ein. Das ist für die älteren Herrschaften superpraktisch – die können den Weg zum Supermarkt so ganz locker machen und haben es von der jeweiligen Haltestelle im Ort bis nach Hause nicht mehr weit. Ein normaler, also großer, Bus wäre zu aufwändig. Und so haben wir ein tolles Bürgerangebot.

Ich bin beeindruckt.

Supermarkt. Vorgelagerter Bäcker mit Schnell-Café. Frische-Abteilung, Kühlung, Regale für Tod und Teufel, Bedientheke für Fleisch, Wurst, Käse, Fisch. Ein bisschen Getränke, Kleinzeug, Kasse.

Wir kaufen etwas Fisch und ein paar Sachen von der Wursttheke. Da und dort fällt etwas in den Wagen.

Vor der Kasse decke ich mich mit Zeitungen und ein paar Zeitschriften ein. Ein paar Titel kenne ich noch von früher. Schund scheint auch nach dem Umbruch nicht verschwunden zu sein – geht offenbar immer.

Dann zurück nach Hause.

So, jetzt mal ehrlich. Du bist doch nicht wirklich hergekommen, weil dir meine blauen Augen so gut gefallen oder du solche Sehnsucht nach der alten Heimat hast, oder?

Erstens hast du überhaupt keine blauen Augen und zweitens hast du Recht. Im Grunde komme ich wegen meines Bruders. Er hat sich zwar nicht mit mir in Verbindung gesetzt – wir haben ja keinen Kontakt zueinander seit diesem blöden Streit damals. Aber du weißt ja, ich hatte immer einen guten Draht zu Meike, seiner Frau. Irgendwann vor drei, vier Jahren hat mein Telefon geklingelt und sie war dran. Es war schön, mit ihr zu reden; ich weiß bis heute nicht, wie sie meine Nummer herausgefunden hat. Vor zwei Jahren – da wurde Rüdiger 50 – hat sie wieder angerufen. Sie hat mich ziemlich bekniet, zu kommen, aber ich hab’s nicht getan. Und vor einem halben Jahr war sie wieder dran und hat mir Bescheid gegeben, dass Rüdiger zum Ehrenwerten ernannt werden soll. Was ist denn das für ein Schmarrn?

Vorsicht. Das klingt vielleicht ein wenig überkandidelt, ist aber tatsächlich eine hohe Ehre in unserem Staatswesen und – das dürfte das Wichtigste sein – der Titel „Ehrenwerter“ wird von breiten Schichten der Bevölkerung und natürlich den führenden Kreisen anerkannt und geachtet. Ein Ehrenwerter ist so etwas wie ein Adliger der Republik.

Das ist doch gesponnen.

Nein, nein. Als das eingeführt wurde, und zwar im ganzen Land, in allen Regionen, gab es natürlich erstmal ein paar Verwerfungen. Der Adel wurde mit Bildung des neuen Staates komplett abgeschafft, wo es ihn noch gegeben hat. Damit sich niemand auf den Schlips getreten fühlte, hat man zuerst eine ganze Ladung von Ehrenwerten ernannt. Also eine ganze Menge Ex-Adlige, aber auch Leute, die sich immer schon für ungeheuer wichtig gefunden haben. Es wurde quasi versucht, den alten Proporz zumindest annähernd wieder herzustellen. Aber es sind auch einige durch das Netz gefallen, die dann eben nur noch „normale“ Bürger waren. Vielen war das egal, aber einige haben noch eine Zeitlang lamentiert. Als sich der ganze Rummel um gekürte und nicht gekürte Ehrenwerte gelegt hatte, wurde ungefähr ein Jahr lang Pause eingelegt und seitdem werden in regelmäßigen Abständen neue Ehrenwerte gekürt. Und man muss wirklich sagen, dass es Leute sind, die es verdient haben und die dann auch hochgeachtet werden. Übrigens, die das im Regelfall auch schon vorher wurden. – Und jetzt hat es offenbar deinen Herrn Bruder erwischt.

Genau. Meike meinte, dass sie sich sicher sei, er freue sich, wenn ich komme. Aber, dass ich auf der Einladungsliste nirgends aufgetaucht sei, wäre unmöglich. So etwas dem eigenen Bruder nicht zu sagen, gehe einfach nicht, und daher habe sie …

Ja, schon klar. Und wann soll das Ganze stattfinden?

In zwei Wochen in Berlin.

Du gehst hin?

Weiß ich noch nicht. Aber vermutlich werde ich es versuchen.

Verstehe. – Gut. Ich überlasse dich dann mal deinen Zeitungen. Mit dem Kühlschrank habe ich dich ja bekannt gemacht. Heute Abend können wir noch einen trinken gehen – einen Happs zu essen gibt’s dort auch. Ich habe jetzt noch ein paar Sachen zu erledigen. Um sechs sollte ich wieder da sein.

Tagebuch

Es ist wohl doch nicht ganz so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte: kommen, schauen, verstehen. Es gibt eine ganze Menge Neues und Unerwartetes. Das wird mir schon nach dem Wenigen, was ich gesehen und gehört habe, klar.

Techniken, bei denen früher jede Menge Bedenkenträger dagestanden und alles besser gewusst hätten. Immer dieser Absolutheitsanspruch, Perfektion bis ins I-Tüpfelchen, totale Sicherheit sogar im Klein-Klein. Wie habe ich mich bei einfachen Zahlvorgängen manchmal verrenken müssen und Rentner hat man lieber mit halbprivaten Initiativen von A nach B kutschieren lassen. Und das läuft jetzt so einfach – Respekt. Ich bin gespannt, was mir noch alles begegnen wird.

Und dann ein Neo-Adel, Ehrenwerte – was soll denn das? Sogar mein Bruder soll in Kürze dazu gehören? Bloß weil er einen Doktortitel hat und mit seiner Forschung halbwegs erfolgreich ist?

Was kommt als Nächstes?

Wenn Sie möchten, können Sie nun etwas notieren.

3. Kapitel – Lektüre

Ich widme mich erst einmal den mitgebrachten Zeitungen.

430000 SchülerInnen starten in die Matura-Prüfungen

Unionsweit sind ca. 430000 Schülerinnen und Schüler aufgerufen, sich ihren Matura-Prüfungen zu stellen. Natürlich versuchen die Probanden, in ihren Haupt- und Neigungsfächern ihr Bestes zu geben. Aber auch für Lehrerinnen, Lehrer und weitere Aufsichtsführende sind zwei anstrengende Wochen angebrochen, müssen sie doch für einen reibungslosen Prüfungsablauf sorgen und Unvorhergesehenes souverän meistern. Damit für alle möglichst optimale Bedingungen herrschen, wurden für die Durchführung der Prüfungen neben schulischen Liegenschaften auch viele weitere öffentliche und private Räumlichkeiten einbezogen. Am spektakulärsten dürfte erneut die Prüfungsabnahme in der Messe des Flugzeugträgers Abel Tasman sein …

Sahara-Wachbrigade nach 6 Monaten Einsatz zurück

Die mit der Bewachung der Solarfelder in Libyen und Algerien betraute 21. Brigade der Unionsstreitkräfte kehrt nach ihrer regulären Einsatzzeit von sechs Monaten nach Hause zurück. Zunächst wird an den Heimatstützpunkten Diepholz, Oldenburg und Groningen alles an mitgeführten Geräten in Ordnung gebracht. Danach können die Soldatinnen und Soldaten in eine längere Freizeitphase eintreten, die sie sich während der langen Einsatzzeit verdient haben. Die Ablösung wird durch die 52. Brigade aus Salzburg und Amberg übernommen.

Lebenslang wegen Zerstörung der Lebensgrundlage

Der 38-jährige, der durch arglistige Betrügereien, dreiste Einschüchterungen und unverhohlene Drohungen fünf Senioren um ihr Hab und Gut gebracht hat, wurde in zweiter Instanz zu dreimal lebenslänglicher Haft verurteilt. Der Täter hatte seine Opfer außerdem zu erheblicher Verschuldung gezwungen, sodass zwei von ihnen sich das Leben nahmen, da sie keinen anderen Ausweg mehr sahen …

Präsident Ataman spricht beim Rat der Provinzen

Bekanntlich lassen sich die Provinzen nur ungern in ihre Angelegenheiten hineinreden. Wenn sich jedoch der Präsident der Union ankündigt, kann man ihn schwerlich ausladen. So wurde aus einer planmäßig anberaumten Sitzung der Provinzkammer ein besonderes Event, indem die Tagesordnung kurzfristig geändert und Unions-Themen aufgenommen wurden. Außerdem wurde die Rede von Präsident Ataman als Schluss- und rednerischer Höhepunkt angesetzt.

Tagebuch

Was steht da alles in der Zeitung?

Bin ich hier richtig? Ist das alles wahr? Was bedeutet das?

Klar weiß ich, dass Matura Abitur heißt. Aber gilt das jetzt überall? Und was soll das mit diesem Flugzeugträger? Als ich das Land verlassen habe, war das größte Schiff der deutschen Marine eine Fregatte. Gut, die Holländer gehören ja jetzt dazu. Eventuell hatten die größere Pötte, aber ein Flugzeugträger? Wobei der Name Abel Tasman schon darauf hindeutet, dass das Thema Marine einen ganz anderen Stellenwert gewonnen hat.

Und was ist das mit diesen Solarfeldern in der Sahara? Truppen? Eine ganze Brigade? Das sind doch mindestens 6 000 Personen und einiges an Gerät. Was soll das alles?

Und dann erst das Ding mit dieser lebenslangen Haft – dreifach. Hui, ein dicker Hund. Zerstörung der Lebensgrundlage – das war mir als Delikt bisher nicht bekannt. Es klingt aber irgendwie vernünftig, hätte man vielleicht schon früher haben sollen. Wenn ich nur an diese Finanzkrise zurückdenke. Aber die Strafe ist echt hart.

Der letzte Artikel hat mich fast umgehauen: Präsident Ataman? Deutschland war ja schon ziemlich multikulturell, als ich wegging. Die Türken waren die größte Ausländergruppe und viele waren auch eingebürgert. Ataman ist doch wohl ein türkischer Name. Respekt, wenn es jetzt einer geschafft hat, das höchste Staatsamt einzunehmen. Das hätte ich nicht vermutet. Rat der Provinzen, das mutet da schon eher fremdartig an. Aber ich habe sogar im Ausland mitbekommen, dass hier strukturell quasi kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Die Bundesländer wurden abgeschafft. Für mich undenkbar. Allein Bayern mit dem Gehabe seiner Führungsleute – und das soll nun nicht mehr existieren. Ein Wahnsinn.

Ich muss mich unbedingt eingehender mit diesen Strukturen beschäftigen. Mal schauen, was online so alles angeboten wird oder eventuell kann ich auch ein kleines Handbuch organisieren. Das ist manchmal besser, als online zu recherchieren. Da bekommt man zwar jede Menge Ergebnisse, kommt aber nach einer gewissen Zeit kaum noch damit klar. Da ist mir die gebundene Form allenthalben lieber. Ich frage mal Sebastian, ob er was in dieser Richtung hat.

Wenn Sie möchten, können Sie nun etwas notieren.

4. Kapitel – Kneipe I

Ziemlich schweigsam gehe ich mit Sebastian zur Dorfkneipe. Vermutlich gehen mir noch zu viele Dinge durch den Kopf, die ich in den Zeitungen gelesen habe. Sebastian fragt nicht. Das hat er schon früher nicht getan. Er hat da offenbar recht feine Antennen, um zu erkennen, wann er etwas sagen kann oder besser nicht – das habe ich immer schon an ihm geschätzt.

Die Kneipe ist gut besucht, die Hintergrundmusik ganz angenehm. Kenne ich hier eventuell jemanden? Wohl eher nicht.

Das Pils gibt’s immer noch in 0,4er-Tulpen – manche Dinge ändern sich eben nicht. Die Barfrau ist etwa dreißig, heißt Bibi und kennt jeden mit Namen. Mich natürlich nicht. Deswegen kommt sie auch ziemlich bald zu uns.

Und wer bist du?

Daniel, ein Freund von Sebastian.

Aha. Schon mal hier gewesen?

Klar, ich bin hier aufgewachsen. Ist aber schon ein paar Tage her.

Sieht so aus. Bleibst du länger?

Ein paar Tage. Muss eventuell noch nach Berlin.

Ah, gut. Kennst du da jemanden?

Meinen Bruder. Oder, nö, eigentlich nicht.

Wenn du eine Adresse brauchst, komm nochmal vorbei.

Jep.

Wir sehen uns.

Na, schon angebandelt?

Quatsch. Das war nur so tralala. – Aber, jetzt sag doch mal: Was ist denn wirklich hier alles so anders? Die Leute sehen ganz normal aus. Auf der Straße oder im Supermarkt ist mir auch nichts Besonderes aufgefallen. Gut, es gab ein paar Produkte, die ich nicht kannte. Das wäre aber vermutlich nicht viel anders, wenn ich in Kenia oder Bolivien wäre. Was war mit diesen Krisen, die du erwähnt hattest?

Was, du hast den mit den zwei Köpfen am Eingang nicht gesehen?

Haha, jetzt veräppel mich aber so richtig.

Geschenkt. Du warst doch bloß am anderen Ende der Welt, aber schon noch auf der Erde, oder?

Ja, schon. Ich war aber ziemlich abgeschottet. Die Arbeit, das ungewohnte Umfeld. Am Anfang war alles neu für mich. Ich habe überhaupt nichts mitgekriegt – und wollte das wohl auch nicht. Es hat mich schon ziemlich gestresst, als ich abgehauen bin. Hier war ja kaum ein Stein auf dem anderen geblieben, dann die Familie … Du weißt doch.

Tja, alles nicht so einfach. – Wo soll ich anfangen? Was hast du als letzte Erinnerungen?

Naja. Da war diese Pandemie, wegen der sich alle in die Hose gemacht haben. Am Ende war’s natürlich doch nur eine Riesenaufregung, aber alles lag am Boden und jeder hatte eine Stinkwut auf alles und jeden – und das Vertrauen auf ganz vielen Ebenen der Gesellschaft war beim Teufel. Dann ist die EU in die Binsen gegangen, als die Südländer immer beharrlicher nach Geld geschrien haben. Die Briten haben sich die Hände gerieben, weil sie schon vorher ausgestiegen waren. Die Skandinavier waren schneller weg, als man sich das vorstellen konnte, der Osten und Südosten war ziemlich vor den Kopf geschlagen, was denn nun werden soll und der Rest – das Zentrum – war in heller Panik und versuchte zu retten, was zu retten war. Ach so – in Belgien war ordentlich war los, davon habe ich aber wenig mitbekommen. In diesem Stadium habe ich das Land verlassen und habe dann mindestens drei, vier Monate nichts, aber auch gar nichts mitbekommen. Danach habe ich mich erstmal mit meinem neuen Umfeld beschäftigt und ein neues Leben aufgebaut. Das ist mir dann nicht so schlecht gelungen und ich habe kein Interesse für die „alte Heimat“ mehr entwickeln können. Bis der erste Anruf von Meike kam.

Als Rüdiger 50 wurde, nicht wahr?

Ja, nein, nicht ganz. Wir hatten schon vorher Kontakt und irgendwie wollte ich mich da auf nichts einlassen. Dann kam der Anruf wegen Rüdigers Fünfzigsten und da war ich wahrscheinlich immer noch ein bisschen bockig. Sie hat nicht lange gefackelt und mich gefragt, ob ich kommen will. Wir haben lange geredet …

Und es ist nichts daraus geworden, ich weiß.

Du warst dort?

Ja. Es war keine schlechte Party. Ziemlich viele Leute, auch wichtige und bekannte. Aber ich habe dich unterbrochen.

Da gibt’s nicht viel zu unterbrechen. Ich war nicht beim 50. Geburtstag meines lieben Bruders, wie du bemerkt hast. Dann habe ich ungefähr ein Jahr lang nichts mehr gehört und dann rief Meike wieder an und erzählte etwas von dieser Ehrung oder Berufung oder so. Ich wollte davon erst auch nichts wissen, aber sie hat sich nochmal gemeldet und fast ein wenig Druck aufgebaut. Beim letzten Telefonat haben wir Details abgemacht. Und jetzt bin ich da.

Jetzt bist du da. Und da du dich ja so in das Tal der Unbedarften und Unbekümmerten begeben hast, soll ich dich sicher ein bisschen aufschlauen, damit du mit den aktuellen Verhältnissen klarkommst, oder?

So etwa hatte ich mir das vorgestellt, ja. Ich zahl auch dein Bier. Das Grinsen kann ich mir nicht verkneifen.

Also gut. Ein Bier wird aber kaum ausreichen. Außerdem empfehle ich, auch ein wenig einzuwerfen. Bibi hat normalerweise ganz gute Baguettes und auch das Chili ist nicht zu verachten.

Na, dann wollen wir uns mal aufmunitionieren.

Nach einem frugalen Kneipen-Mahl geht es los.

Also, fangen wir mit dem Zerbrechen der EU an. Das hattest du ja schon selbst erwähnt und genau so war es auch. Dänen, Schweden, Finnen waren ruckzuck weg. Der Gerichtshof hat überhaupt nicht mehr getagt, so viele Verstöße gab es, die zu ahnden gewesen wären. Aber das hat keinen mehr interessiert. Die Holländer und Luxemburger haben gewaltig geschossen und die Ösis natürlich auch. In Belgien hat sich der Umbruch auch intern fortgesetzt, sodass es das ganze Land zerrissen hat.

Der flämische Aufstand, so hieß das doch, oder?

Ja, genau, der flämische Aufstand. Die Flamen und Wallonen waren sich ja noch nie grün und beim Zerfall der EU hat es dann so richtig gefunkt. Man hat alles in Frage gestellt, ganz schnell waren ziemlich viele Leute bewaffnet und haben ziemlich auf den Putz gehauen. Die Politik war vollkommen kopflos. Alles hat auf Brüssel geschaut – also als EU-Hauptsitz; aber da war nichts mehr. Brüssel als belgische Hauptstadt hat genau so aufgehört zu funktionieren. Dann hatten alle eine Riesenangst vor den Franzosen, also vor allem die Flamen, kannst du dir ja vorstellen. Die deutsche Regierung hat wie immer gezögert, was das Zeug hält und bestenfalls eine diplomatische Note erwogen. Auf die hat dann aber keiner mehr gehört. Und da …

Lass mal noch. Wie war das dann mit Belgien?

Naja, die Holländer sind mit Bürgerwehren reingegangen und haben die Rathäuser übernommen.

Was meinst du mit Bürgerwehr, das ist doch was Lokales?

Ja, schon. Mir fällt aber kein besserer Begriff ein, vermutlich weil das ganz normale Leute waren, die da reingegangen sind. Also Lehrer, Handwerker, Angestellte – Bürger eben. Und die haben dann nicht nur vor ihrer Haustür gekehrt, sondern haben sich um die Region bekümmert, auch die Nachbarregion. Haben zugesehen, dass das öffentliche Leben möglichst normal weitergeht. Wichtig war, dass keine Polizei und auch kein Militär dabei waren. Wenigstens am Anfang nicht, später kamen schon welche dazu, das war dann aber auch egal und wurde vor allem allgemein akzeptiert. Was wollte ich jetzt sagen? Ah ja, also die waren sehr überlegt und haben sich für meine Begriffe vorbildlich benommen. Plötzlich waren im ganzen flämischen Landesteil die Holländer. Die haben peinlich darauf geachtet, dass niemand die Grenzlinie zwischen Flandern und Wallonien übertritt. Gab’s die überhaupt, also historisch meine ich?

Weiß ich doch nicht, wahrscheinlich schon.

Na egal. Auf jeden Fall waren die Holländer plötzlich in Belgien, also in Flandern und haben einen auf vereinigte Niederlande gemacht. Tja, und alle Welt hat erwartet, dass auf der anderen Seite die Franzosen auftauchen. Aber da kam keiner.

Wieso?

Wegen diesem dämlichen Türken, der plötzlich gemeint hat, er müsse Zypern eingemeinden. Und natürlich das Erdöl rund um Zypern gleich mit. Das hat den Franzosen überhaupt nicht gefallen und die sind mit ihrer Marine ins östliche Mittelmeer gefahren und haben sich mit den Türken angelegt. Die Griechen natürlich gleich mit. Es gab etliche richtige Seegefechte und die Türken mussten sich zurückziehen. Aber es gab immer wieder Sticheleien und die Franzosen sind mindestens zwei Jahre dortgeblieben. Die europäische Politik hat in dieser Zeit natürlich verrückt gespielt. Alle haben immer nach den Amis geschaut, was die machen oder zumindest, wie sie sich äußern, aber von dort kam überhaupt nichts. Als deren Präsident im Amt gestorben ist, haben die ja selbst Riesenprobleme bekommen und waren lahmgelegt. Blondschopf lässt grüßen. Europa war aus amerikanischer Sicht quasi nicht existent, die waren einfach mit sich selbst beschäftigt – und sind es ja bekanntlich noch.

Wow. Ich habe da in meinem Bergdorf einfach nichts mitbekommen.

Jaja, schon gut. Also verstehst du so langsam? Wie Europa damals aussah? Keine NATO mehr, die EU kaputt, die Briten draußen. Die hatten auch noch gewaltig zu kämpfen, bis sie sich mit der neuen Situation arrangiert hatten, also politisch und wirtschaftlich. Haben es aber hinbekommen, nur dass sie dabei Nordirland verloren haben. Die ganzen Südländer standen vor dem innenpolitischen Zerfall, da keiner mehr Geld hatte. Arbeit gab’s auch keine, dafür einige Aufstände. Belgien und Niederlande habe ich schon skizziert. Im Norden haben sie sich heftig abgeschottet, sind aber untereinander ziemlich stark zusammengerückt. Daraus ist später der Nordische Bund entstanden. Polen, Tschechei und Ungarn – total orientierungslos, kein Geld, keine Arbeit, Schiss vor den Russen. Wenn die, also die Russen, nicht ihre Spielchen in Amerika getrieben hätten, wahrscheinlich auch, um die Chinesen zu beschäftigen, wäre im östlichen Europa so einiges passiert.

Was meinst du?

Na, die alten Strukturen aus der Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs hätten sich vielleicht wieder bilden können. Nur um einiges stärker und mit den ganzen Erfahrungen der jüngeren politischen Entwicklungen im Handgepäck. Du weißt doch noch, wie es damals in Georgien und der Ukraine zugegangen ist.

Ich glaube zumindest, ein bisschen zu verstehen. Du hast jetzt gerade aber gekonnt einen Ring um unser liebes Vaterland gelegt. Also ganz Europa war im Aufruhr, viele der bestehenden Strukturen gab’s nicht mehr. Was war mit Deutschland?

Ja. Denk ich an Deutschland in der Nacht.1 Nicht wahr?

So ähnlich. Wenn ich dieses Heine-Gedicht auf mich übertrage, gibt es so einige Parallelen. Aber erzähl.

Alles ringsum war im Chaos. Keiner hat sich mehr um den andern gekümmert. Selbst die Flüchtlinge sind weggeblieben, nachdem sie gemerkt haben, dass sie nicht in ein sicheres Umfeld gelangen. Die Regierung in Deutschland war mehr oder weniger weggeplatzt, überall gab es Bürgerinitiativen, das Chaos auch bei uns.

Also Zeit für einen kleinen Wicht mit Schnauzbärtchen sich zum großen Zampano aufzuspielen?

Das haben viele befürchtet, aber es ist Gott sei Dank ausgeblieben. Vielmehr haben diese lokalen und regionalen Initiativen und Komitees ziemlich gut funktioniert. Man könnte fast meinen, dass alles, was in der jüngeren Geschichte schon einmal versucht worden ist und was dann gescheitert ist, diesmal klappt. Warum soll man nicht mal Glück haben?

Schon. Aber wie seid ihr aus dem Chaos herausgekommen?

Puh. Das musst du andere fragen. Ich habe damals ein bisschen mitgemacht aber weitgehend nur zugesehen, dass ich halbwegs ungeschoren bleibe. Und es hat seltsamerweise nicht sonderlich lange gedauert, bis wir erste Strukturen hatten und die haben sich dann immer mehr verfestigt. Eine wichtige Rolle dabei haben die Österreicher gespielt.

Also doch ein Österreicher mit einem Bärtchen?

Quatsch. Die Ösis hat es einfach nicht ganz so stark gerissen, wie uns. Die haben ziemlich schnell nach außen dichtgemacht und konnten sich dann genau anschauen, was sich gerade abspielt. Auf der anderen Seite haben die natürlich die Klappe gehalten, da sie durch ihr Opponieren extrem stark zum Scheitern der EU beigetragen haben. Und das haben ihnen viele übel genommen. Also die Österreicher haben sich dann mit den Niederlanden – dem anderen großen Opponenten – zusammengetan und dann gab es plötzlich ganz viele Gespräche mit deutschen Regionen. Und dann ist alles ganz schnell gegangen.

Äh, wie jetzt?

Also – ja. Es gab da natürlich ein paar Leute – Wortführer ist vielleicht kein schlechter Begriff –, die das Zepter geschwungen haben. Aber die hatten immer Rückendeckung aus der Bevölkerung. Dann gab es diesen Beschluss in allen Regionen. Das kannst du dir nicht vorstellen. In sechs Wochen wurde das organisiert – basisdemokratisch, so wie in der Schweiz. Überall, in jedem Dorf, gab es Versammlungen und innerhalb einer Woche haben alle abgestimmt. Per Akklamation und es war nur eine ganz einfache Frage zu beantworten

Wollt ihr den totalen Krieg?

Jetzt lass doch mal diesen Unfug. Nein. Es gab allerhand an Erklärungen, damit man eine gewisse Vorstellung davon bekam, wohin es gehen soll. So mit gemeinsamen Werten oder ähnlich verlaufener Geschichte, gleichen kulturellen Wurzeln und vor allem: gleichen oder doch zumindest sehr ähnlichen Interessen. Ganz wichtige Erklärer waren übrigens unser jetziger Unionspräsident und ein Entertainer, den quasi alle kennen, Armin Egck.

Kenn ich nicht.

Auch egal. Und natürlich kamen noch viele Aspekte dazu, zum Beispiel von früher, wie „nicht mehr fremdbestimmt sein“ und so.

OK, was war also die zentrale Frage?

Wollt ihr, dass wir den Weg gemeinsam weitergehen? „Wir“ ist dann auch noch erklärt worden, also ausgehend von den früheren Ländern: die Deutschen, die Österreicher, die Südtiroler, die Niederländer, die Flamen, die Luxemburger und die Slowenen. Ich glaube, ich habe niemanden vergessen.

Irre. Und wieso die Südtiroler und die Slowenen?

Die Südtiroler haben die Österreicher mitgezogen. Oder die Südtiroler sind bei den Österreichern auf der Matte gestanden und haben gesagt, „schnell weg von Italien“ oder so ähnlich. Und die Slowenen sind plötzlich dagewesen und haben darum gebeten, auch dabei sein zu dürfen. Klingt blöd, was?

Allerdings.

Ich weiß auch nicht. Jedenfalls war es so und es wurde auch niemand ausgegrenzt bei der Abstimmung. Also waren die mit dabei.

Und die anderen Länder, also EU-Länder?

Hat keiner gefragt.

Warum nicht die Schweiz und Liechtenstein?

Zu kompliziert. Da wollte weder von uns noch von den Ösis jemand Initiative entwickeln. Die anderen sowieso nicht. – Übrigens ist Liechtenstein so en passant der Schweiz beigetreten.

OK, ich verstehe es zwar immer noch nicht. Aber so ist es wohl gekommen. Das habe ich immerhin auch noch halbwegs mitbekommen. Und dann gab es diese Abstimmung.

Ja, über eine Woche hin. Es gab zwar viele Leute, die sich engagiert haben, das voranzubringen. Aber in einigen Fleckchen gab es dann doch eher niemanden, der sich gekümmert hätte. Deswegen musste hin- und hergereist werden. Am Ende gab es aber wirklich überall Abstimmungen. Und alle haben sich dafür ausgesprochen, dass es zusammen weitergehen soll.

Eine schöne Geschichte.

Du glaubst mir nicht.

Das ist doch alles total phantastisch. Die Leute sind doch nicht so, so altruistisch. Die meisten sind ausschließlich auf ihre eigenen Interessen bedacht und ein Staatswesen kümmert sie einen Dreck.

Ja, stimmt. Aber mit dieser Abstimmung haben sie doch genau das erreicht. Ihre eigenen Interessen konnten vorangetrieben werden und das mit dem Staatswesen … Da mögen sie in der Tat andere Vorstellungen gehabt haben, aber letztendlich hat sie das auch nicht wirklich interessiert.

Wieso?

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.2 Du weißt doch, Bert Brecht.

Schweigen. Uns ist beiden die Luft ausgegangen und wir starren in unser Bier. Sebastian geht mal raus und ich stelle mich an die Bar.

Bibi, ich glaube, ich brauch mal was Stärkeres.

Ich habe schon gesehen, dass ihr beide heftig diskutiert habt. So schlimm?

Schlimm, ich weiß nicht. Es ist einfach alles so anders, so unerwartet, so …

Verstehe. Also: Aquavit, Grappa, Willy – alles ziemlich viele Umdrehungen. Was darf’s denn sein?

Tagebuch

Was sind das für Eindrücke? Und was sind die Tatsachen?

Das habe ich gestern noch geschrieben, quasi als Anregung für jetzt, nach dem Aufstehen.

Also ich muss jetzt mal sortieren:

Das Land ist viel größer, als ich es kenne. Und es hat sich auf basisdemokratischem Weg gebildet – und das auch noch in Windeseile. Wenn mir da der Glaube fehlt, sollte sich keiner wundern.

„Wollt ihr den Weg gemeinsam weitergehen?“ Was für eine Frage? Aber offensichtlich haben sich die Leute auf diese Frage eingelassen und eine Antwort gegeben – eine Antwort, die dieses Land gebildet hat.

Hier müsste ich jetzt eintragen: Kopfschütteln – eine Minute lang.

Zum Land gehören ganz viele Nationen – und die scheinen sogar gut miteinander auszukommen. Kann man sich mit uns Deutschen vertragen?

Wir haben mal nicht angefangen, die Welt neu zu ordnen, so wie 1914 oder 1939 oder auch 1871 – oder wann auch immer. Schon erstaunlich.

Und es gab keinen Krieg. Gut, weltweite Umwälzungen, aber keinen Krieg.

Aber es trägt uns doch bestimmt irgendeiner nach, dass es so gekommen ist, wie es jetzt ist. Da muss ich eventuell mal näher nachfragen.

Wenn Sie möchten, können Sie nun etwas notieren.

1 Siehe Zitate auf Seite 308

2 Siehe Zitate auf Seite 308

5. Kapitel – Orientieren

Beim Frühstück ist Sebastian noch etwas brummig, taut aber bald auf.

Na, wie sind deine Pläne für heute?

Ach, ein wenig spazieren gehen. Vielleicht treffe ich jemanden, den ich kenne. Oder mir fällt jemand ein und ich gehe mal dort vorbei. Dass ich schon ein konkretes Ziel habe, muss ich ihm ja nicht gleich aufs Brot schmieren. Das gäbe eventuell gleich wieder eine Diskussion wie gestern, worauf ich gerade keine Lust habe.

Ziemlich optimistisch. So viele von früher sind nicht mehr hier und ältere Herrschaften, auf die du eventuell anspielst, leben teilweise nicht mehr. Wir sind auch nicht mehr ganz so knackig, weißt du? Immerhin ist dein Bruder vor zwei Jahren 50 geworden und ich bin nächstes Jahr dran – und du, wenn ich richtig informiert bin, ein Jahr später.

Richtig. Trotzdem würde ich gerne versuchen, ein oder zwei Leute zu besuchen, die ich früher immer Dinge fragen konnte – und vor allem Antworten bekommen habe.

OK, verstehe ich. Ich bin auch ganz froh, wenn du nicht nur mir Löcher in den Bauch fragst. Das ist ganz schön anstrengend. Quäl ruhig mal andere Leute damit.

Eine halbe Stunde später bin ich unterwegs. Streife durch die Straßen; kenne mich sogar noch ganz gut aus. Da ist es. Eine kleine Villa, alles sehr gediegen, der Garten perfekt gepflegt. Dr. Ernst Anschütz – das Klingelschild ist noch genau so wie früher.

Meine Güte, Daniel. Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Kommen Sie doch erst einmal herein.

Begrüßungszeremonie. Sehr herzlich, so wie früher, so wie immer. Ich kann keine Veränderung wahrnehmen. Die Bilder, die ich immer als anregend empfunden habe, der angenehme Geruch, alles. Wir sitzen im Wohnzimmer.

Wie geht es Ihrer Gemahlin? Ganz automatisch verfalle ich in eine andere, gepflegtere, Sprechweise.

Sie ist leider vor fünf Jahren verstorben.