Das lange Morgen - Leigh Brackett - E-Book

Das lange Morgen E-Book

Leigh Brackett

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Beschreibung

Len Colter und sein Vetter Esau wachsen in einer Welt auf, die sich von der unseren grundlegend unterscheidet: Nach einem Atomkrieg, der sämtliche Städte zerstörte, wurde die Verfassung der Vereinigten Staaten um einen Zusatzartikel erweitert, der es den Menschen nur noch gestattet, in kleinen Dörfern zusammenzuleben. Das ganze Land ist von religiöser Demut geprägt und von einfachsten agrarischen Verhältnissen. Die beiden jungen Burschen wollen sich damit jedoch nicht zufriedengeben. Nachdem Len und Esau auf ein technisches Wunderwerk stoßen, das ihnen ein anderes Leben verspricht, machen sie sich auf die Suche nach dem geheimnisvollen, kulturell hochentwickelten »Bartorstown« – und entdecken eine Welt, in der im Ringen mit der Vergangenheit über die Zukunft entschieden wird. Ein in seiner pastoralen Schlichtheit überwältigender Roman, der uns, bei aller Ambivalenz, vor Augen führt, was wirklich wichtig ist.

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Aus dem

amerikanischen Englisch

neu übersetzt von

Hannes Riffel

Impressum

Titel der Originalausgabe: The Long Tomorrow

Erstmals erschienen 1955 bei Doubleday in New York

© 1955 by Leigh Brackett

© 1983 by QSO 20 LLC

© der Übersetzung 2023 by Hannes Riffel

© dieser Ausgabe 2023 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Die deutsche Erstausgabe erschien, übersetzt von M. F. Arnemann, 1975 als UTOPIA GROSSBAND 110 bei Pabel in Rastatt, nachgedruckt 1966 als TERRA EXTRA 86 bei Moewig in Rastatt // Eine Neuübersetzung von Horst Hoffmann erschien 1983 als UTOPIA CLASSICS 50 bei Pabel in Rastatt // Die vorliegende Übersetzung folgt der 2012 innerhalb der Library of America in New York erschienenen Fassung: American Science Fiction. Four Classic Novels 1953-1956 [hrsg. von Gary K. Wolfe], Seite 367-584 // Der Übersetzer widmet seine Arbeit an diesem Buch Karen Nölle und Frank Heibert, die ihm – und nicht nur ihm – den Weg weisen …

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Helmut Pesch

Korrektorat: Robert Schekulin

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-04-9 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-05-6 (E-Book)

»Nirgendwo in den Vereinigten Staaten von Amerika soll eine Stadt, eine Ortschaft oder eine Gemeinde von mehr als tausend Einwohnern oder zweihundert Gebäuden je Quadratmeile errichtet werden oder erlaubt sein.«

Verfassung der Vereinigten Staaten

30. Zusatzartikel

ERSTES BUCH

1

Len Colter saß an der Wand des Pferdestalls im Schatten, aß Maismehlbrot mit süßer Butter und erwog, eine Sünde zu begehen. Er war vierzehn Jahre alt, und er hatte sie alle auf der Farm in Piper’s Run zugebracht, wo es wohltuend selten Gelegenheiten gab, ernsthaft zu sündigen.

Aber jetzt war Piper’s Run mehr als dreißig Meilen weit weg, und er blickte in eine Welt, die ihn mit grellbunten Versprechungen lockte. Er war auf dem Jahrmarkt in Canfield. Und zum ersten Mal in seinem Leben musste Len Colter eine wichtige Entscheidung treffen.

Und die fiel ihm sehr schwer.

»Pa wird mich windelweich prügeln«, sagte er, »wenn er das rausfindet.«

Vetter Esau sagte: »Haste Schiss?« Vor drei Wochen erst war er fünfzehn geworden, also musste er nicht mehr mit den Kindern zur Schule gehen. Er war noch ein ganzes Stück davon entfernt, zu den Männern gezählt zu werden, aber es war ein bedeutender Schritt, und Len war entsprechend beeindruckt. Esau war größer als Len, und er hatte dunkle Augen, die fortwährend leuchteten und funkelten wie die Augen eines ungezähmten Füllens, stets auf der Suche nach etwas, ohne es je zu finden, vielleicht weil er noch nicht wusste, wonach er suchte. Seine Hände waren ruhelos und äußerst geschickt.

»Na?«, wollte er wissen. »Haste?«

Len hätte am liebsten gelogen, aber er wusste, dass sich Esau keine Sekunde würde täuschen lassen. Er wand sich ein wenig, aß den letzten Brocken Brot, lutschte die Butter von den Fingern und sagte: »Ja.«

»Ach«, sagte Esau. »Ich dachte, du wirst langsam erwachsen. Du hättest dieses Jahr noch mal mit den Knirpsen zu Hause bleiben sollen. Vor Prügel Angst haben!«

»Ich hab oft genug Prügel bezogen«, sagte Len, »und wenn du meinst, Pa könnte nicht zulangen, kannst du es ja mal selbst versuchen. Die letzten beiden Jahre hab ich nicht mal geheult. Na ja, jedenfalls nicht viel.« Er versank in Nachdenken, die Knie hochgezogen, die Arme darüber verschränkt, das Kinn auf die Arme gestützt. Er war ein schlanker, gesunder Junge mit eher ernsthafter Miene. Er trug selbstgenähte Hosen und feste, von Hand genagelte Stiefel, die mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren, und ein Hemd aus grober Baumwolle mit einem engen Halsbund und ohne Kragen. Sein Haar war hellbraun und über den Schultern und den Augen gerade geschnitten. Auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen braunen Hut mit flacher Krone.

Lens Familie gehörte zu den Neu-Mennoniten, und diese trugen braune Hüte, um sich von den ursprünglichen Alt-Mennoniten zu unterscheiden, die schwarze Hüte trugen. Früher, im zwanzigsten Jahrhundert, vor kaum zwei Generationen, hatte es nur Alt-Mennoniten und die Amischen gegeben, und auch nur ein paar Zehntausend davon, die als kauzig und verschroben gegolten hatten, weil sie an althergebrachten Handwerksbräuchen festhielten und nichts mit Städten und Maschinen zu tun haben wollten. Aber als die Städte unbewohnbar wurden und die Menschen feststellten, dass in der veränderten Welt ausgerechnet diese Leute am besten für das Überleben gerüstet waren, hatten sich die Mennoniten rasch vermehrt und waren zu den Millionen geworden, die sie jetzt zählten.

»Nein«, sagte Len bedächtig. »Vor Prügel hab ich keine Angst. Aber vor Pa. Du weißt, was er von diesen Predigten hält. Er hat’s mir verboten. Und Onkel David dir. Du weißt, was sie davon halten. Ich will einfach nicht, dass Pa auf mich wütend ist, jedenfalls nicht so.«

»Was soll er schon machen außer dich verhauen?«, sagte Esau.

Len schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Na schön, dann geh halt nicht hin.«

»Und du gehst ganz sicher?«

»Ganz sicher. Aber dich brauch ich dafür nicht.«

Esau lehnte sich an die Wand und schien Len vergessen zu haben. Len bewegte seine Stiefelspitzen hin und her und zeichnete zwei stummelige Fächer in den Staub, wobei er weiter nachgrübelte. Die warme Luft roch durchdringend nach Futter und Tieren, und irgendwo wurde auf Holzfeuern gekocht. Von überall her hallten Stimmen, zu viele Stimmen, die alle zu einem einzigen Summen verschmolzen. Man hätte meinen können, es wäre ein Bienenschwarm oder der Wind, der in den Strauchkiefern an- und abschwoll, aber es war mehr als das. Die Welt sprach.

Esau sagte: »Die fallen hin und schreien und wälzen sich rum.«

Len holte tief Luft und zitterte innerlich. Der Jahrmarktsplatz erstreckte sich endlos in alle Richtungen, vollgestopft mit Wagen und Karren und Ställen und Vieh und Menschen. Heute war der letzte Tag. Eine Nacht noch würde er, gegen die Septemberkälte in warme Decken gehüllt, unter dem Wagen liegen, die rot und geheimnisvoll leuchtenden Feuerstellen beobachten und sich über die Fremden den Kopf zerbrechen, die um sie herum schliefen. Morgen würde der Wagen davonklappern, zurück nach Piper’s Run, und er würde so etwas ein Jahr lang nicht wiedersehen. Vielleicht nie wieder. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Vielleicht brach er sich nächstes Jahr ein Bein, oder Pa befahl ihm, zu Hause zu bleiben wie Bruder James in diesem Jahr und sich um Grandma und das Vieh zu kümmern.

»Auch Frauen«, sagte Esau.

Len schlang die Arme fester um seine Knie. »Woher weißt du das? Du warst doch noch nie da.«

»Hab ich gehört.«

»Frauen«, flüsterte Len. Er schloss die Augen, und unter seinen Lidern erschienen Bilder von wilden Predigten, wie sie noch kein Neu-Mennonite gehört hatte, von großen qualmenden Feuern und von diffuser Raserei und einer Gestalt, die Ma mit ihrer Haube und ihren wallenden handgewebten Röcken recht ähnlich sah, auf dem Boden lag und wie die kleine Esther während eines Wutanfalls mit den Füßen strampelte. Die Versuchung kam über ihn, und er war verloren.

Er stand auf und blickte zu Esau hinab. »Ich komme mit«, sagte er.

»Ah«, sagte Esau und stand ebenfalls auf. Er streckte die Hand aus, und Len schüttelte sie. Grinsend nickten sie einander zu. Len hatte Herzklopfen, und er fühlte sich schuldig, als stünde Pa direkt hinter ihm und hörte jedes Wort, aber es hatte auch etwas Berauschendes. Zurückweisung von Autorität, Selbstbehauptung, das Gefühl, in der Welt zu sein. Er spürte plötzlich, dass er mehrere Zoll gewachsen war und eine breitere Brust hatte und dass Esau ihn mit neuem Respekt ansah.

»Wann gehen wir los?«, fragte er.

»Nach Einbruch der Dunkelheit. Spät. Halt dich bereit. Ich geb dir ein Zeichen.«

Die Wagen der Colter-Brüder standen dicht beieinander, das würde also nicht allzu schwer sein. Len nickte.

»Ich leg mich schlafen, tu aber nur so.«

»Hoffentlich«, sagte Esau. Er drückte so fest zu, dass Len die Knöchel schmerzten. Damit er ja daran dachte. »Erzähl das bloß niemandem, Lennie.«

»Au«, sagte Len und stülpte wütend die Unterlippe vor. »Hältst du mich vielleicht für ein Kleinkind?«

Esau grinste und verfiel in die unbefangene Kumpelhaftigkeit, die sich unter Männern geziemte. »’türlich nicht. Dann ist das geklärt. Lass uns zu den Pferden zurückgehen. Vielleicht kann ich meinem Dad ja noch einen guten Rat geben wegen der schwarzen Stute, auf die er es abgesehen hat.«

Gemeinsam gingen sie um den Pferdestall herum. Das war der größte Stall, den Len je gesehen hatte, vier- oder fünfmal so groß wie der zu Hause. Die alte Verschalung war schon oft geflickt worden, und die Witterung hatte alles gleichmäßig grau werden lassen, aber hier und dort, wo das ursprüngliche Holz geschützt war, konnte man noch immer einen Fleck roter Farbe erkennen.

Len sah sich das an, und dann hielt er inne und ließ den Blick über den Jahrmarktsplatz schweifen, wobei er die Augen zusammenkniff, sodass alles tanzte und zitterte.

»Was machst du da?«, fragte Esau ungeduldig.

»Ich versuch zu sehen.«

»Also, mit geschlossen Augen siehst du doch nichts. Und überhaupt, was meinst du, du ›versuchst zu sehen‹?«

»Wie die Gebäude ausgeschaut haben, als sie noch alle gestrichen waren. Grandma hat das doch erzählt, weißt du noch? Als sie ein kleines Mädchen war.«

»Ja«, sagte Esau. »Manche rot, manche weiß. Das sah bestimmt toll aus.« Auch er kniff die Augen zusammen. Die Ställe und Häuser verschwammen, aber bunt wurden sie davon trotzdem nicht.

»Sei’s drum«, sagte Len mit Nachdruck und gab auf. »Ich wette, so einen großen Jahrmarkt hatten die damals nicht, ganz bestimmt nicht.«

»Was redest du da?«, erwiderte Esau. »Grandma hat erzählt, dass es hier früher eine Million Menschen gab und eine Million Automobile, oder wie sie das nannten, alle in langen Reihen nebeneinander, so weit das Auge reichte, und die Sonne schien auf die glänzenden Teile. Millionen davon!«

»Ach«, sagte Len, »das ist doch unmöglich. Wo hätten die denn alle ihr Lager aufschlagen sollen?«

»Dummkopf, die mussten kein Lager aufschlagen. Grandma hat gesagt, die waren von Piper’s Run in weniger als einer Stunde hier und am selben Tag wieder zurück.«

»Ich weiß, was Grandma gesagt hat«, entgegnete Len nachdenklich. »Aber glaubst du das wirklich?«

»Klar glaub ich das!« Esaus dunkle Augen loderten. »Ich wollte, ich hätte damals gelebt. Was ich dann nicht alles getan hätte!«

»Was denn?«

»Ich wäre mit einem dieser Autos gefahren, und zwar schnell. Fast wie fliegen, vielleicht.«

»Esau!«, sagte Len zutiefst bestürzt. »Lass das bloß deinen Pa nicht hören.«

Esau wurde ein bisschen rot und murmelte, dass er keine Angst hätte, aber er schaute sich beklommen um. Dann bogen sie um die Ecke und traten vor die Giebelseite des Stalls, wo über dem Tor vier aus Holzstücken zusammengesetzte Zahlen angenagelt waren. Len blickte zu ihnen hoch. Eine Eins, eine Neun, der unten ein Stück fehlte, eine Fünf, von der vorne was weggebrochen war, und eine Zwei. Esau sagte, das sei das Jahr, in dem der Stall gebaut wurde, noch vor Grandmas Geburt. Len musste an das Versammlungshaus in Piper’s Run denken – Grandma sagte noch immer Kirche dazu –, an dem ebenfalls eine Jahreszahl angebracht war, ganz hinten, unter den Fliederbüschen verborgen. Da stand 1842 – noch bevor, wie Len meinte, irgendjemand geboren war. Er schüttelte den Kopf, von dem Gefühl überwältigt, wie alt die Welt doch war.

Sie gingen rein und schauten sich die Pferde an, unterhielten sich altklug über Widerristhöhen und Sprungbeine, hielten sich aber von den Männern fern, die in kleinen Grüppchen vor dieser oder jener Box zusammenstanden, mit bedächtigen Worten und äußerst wachsamen Augen. Es waren alles Neu-Mennoniten, und sie unterschieden sich von Len und Esau nur durch ihre Größe und den prächtigen Bart, der sich über ihrer Brust auffächerte, wobei ihre Oberlippe glattrasiert war. Ein paar trugen allerdings dichte Backenbärte und ganz unterschiedliche Schlapphüte, und ihre Kleider waren nach keinem bestimmten Muster geschnitten. Len starrte sie, von heftiger Neugier getrieben, verstohlen an. Diese Männer, oder andere wie sie – vielleicht sogar Männer, wie er sie noch nie gesehen hatte –, trafen sich heimlich auf den Feldern und in den Wäldern, predigten und schrien und wälzten sich auf dem Boden umher. Er hatte Pas Stimme noch im Ohr: »Woran jemand glaubt oder welcher Kirche er angehört, ist seine Sache. Aber diese Leute haben keinen Glauben und keine Konfession. Das ist Pöbel, mit der Furcht und der Grausamkeit des Pöbels, und mit halbverrückten, hinterlistigen Männern, die er auf andere hetzt.« Und als Len nachgefragt hatte, war Pa schweigsam und grimmig geworden und hatte gesagt: »Du gehst da nicht hin, und damit Schluss. Kein gottesfürchtiger Mensch nimmt an so einem Frevel teil.« Jetzt verstand er – kein Wunder, dass Pa nicht über Frauen reden wollte, die sich auf dem Boden herumwälzten, sodass man ihren Schlüpfer sehen konnte und alles. Len schauderte vor Erregung. Wenn es nur schon Nacht wäre!

Esau befand, dass die schwarze Stute zwar einen leichten Hirschhals hatte, aber sonst so aussah, als würde sie sich im Geschirr gut führen lassen, auch wenn er natürlich den braunen Hengst ganz vorne in der Reihe genommen hätte. Ja, mit dem würde der Wagen fliegen! Aber man musste auch an die Frauen denken, die etwas Sicheres und Sanftes brauchten. Len stimmte ihm zu, und sie schlenderten wieder hinaus, und Esau sagte: »Lass uns mal schauen, was sie mit den Kühen machen.«

Sie bedeutete Pa und Onkel David, aber Len wollte Pa jetzt lieber nicht begegnen. Also schlug er vor, stattdessen zu den Wagen der Händler rüberzugehen. Kühe gab es immer und überall zu sehen. Aber Händlerwagen … das war etwas anderes. Drei- oder viermal im Sommer kam einer in Piper’s Run vorbei, und hier waren es neunzehn auf einmal.

»Außerdem«, sagte Len, der schlicht und ergreifend Heißhunger verspürte, »weißt du nie. Vielleicht schenkt uns Mr. Hostetter noch ein paar von diesen Zuckernüssen.«

»Wohl kaum«, sagte Esau. Aber er kam mit.

Die Wagen der Händler standen alle in einer Reihe, die Deichsel nach außen gerichtet und das Heck einem länglichen, offenen Stall zugewandt: riesige, mit Planen abgedeckte Wagen, und drinnen an den Streben hingen alle möglichen Dinge, sodass sie halbdunklen, von den unterschiedlichsten Gerüchen erfüllten Höhlen auf Rädern glichen.

Len betrachtete sie mit großen Augen. Für ihn waren das keine Wagen, sondern Abenteuerschiffe, die von weither gekommen waren. Er hatte den zwanglosen Unterhaltungen der Händler gelauscht, und ein unbestimmtes Traumbild des ganzen weiten und stadtlosen Landes war vor ihm aufgetaucht, des grünen, stillen, friedvollen Ackerlandes, in dem sich nur ganz wenige alte Leute an die gewaltigen Städte erinnern konnten, die vor der Zerstörung die Welt beherrscht hatten. In seinem Kopf schwirrte eine verschwommene Vielzahl ferner Orte herum, von denen die Händler erzählten: die kleinen Schiffersiedlungen und Fischerdörfer am Atlantik, die Holzfällerlager in den Appalachen, die weiten Felder der Neu-Mennoniten im Mittleren Westen, die Jäger und Farmer in den Hügeln des Südens, die großen Flüsse, die Kähne und Boote westwärts trugen, die Ebenen dahinter mit den Pferden und Herden wilder Rinder, die erhabenen Berge und das Land und das Meer noch weiter im Westen. Ein Land, das heute so weitläufig war wie vor Jahrhunderten; und über diese staubigen Straßen und durch diese verschlafenen Dörfer rollten die großen Händlerwagen, machten hier und da kurz Halt und rollten weiter.

Mr. Hostetters Wagen war der fünfte in der Reihe, und diesen kannte Len sehr gut, denn Mr. Hostetter kam damit jeden Frühling auf dem Weg nach Norden durch Piper’s Run, und im Herbst auf dem Weg nach Süden wieder, und das schon seit mehr Jahren, als Len sich erinnern konnte. Andere Händler kamen aufs Geratewohl vorbei; aber Mr. Hostetter schien fast schon zu ihnen zu gehören, obwohl er irgendwo aus Pennsylvania stammte. Er trug den gleichen flachen Hut und den gleichen Bart wie sie, und wenn er zufällig am Sabbat da war, besuchte er die Versammlungen, und Len war einigermaßen enttäuscht gewesen, als Mr. Hostetter ihm erzählt hatte, dass es da, wo er herkam, nicht viel anders war als da, wo Len herkam, außer dass es da keine Berge gab, was irgendwie nicht zu einem Ort mit einem magischen Namen wie Pennsylvania zu passen schien.

»Wir«, sagte Len und kam damit auf die Zuckernüsse zurück, »könnten ihm anbieten, sein Gespann zu füttern und zu tränken …« Betteln war nicht erlaubt, aber wer arbeitete, durfte belohnt werden.

Esau zuckte mit den Achseln. »Wir können es versuchen.«

Der lange Schuppen, vorne offen, aber hinten geschlossen, damit die Wagen vor dem Regen geschützt waren, war in Boxen unterteilt, eine für jeden Wagen. Jetzt, nach zweieinhalb Tagen, war nicht mehr viel darin übrig, aber Frauen feilschten noch immer um Kupferkessel, um Messer aus den Dorfschmieden im Osten, um Ballen Baumwollstoff aus dem tiefen Süden oder Uhren aus Neuengland. Die Rohrzuckergebinde waren, das wusste Len, gleich am Anfang weggegangen, aber er hoffte, dass Mr. Hostetter seinen alten Freunden zuliebe noch ein paar kleinere Schätze zurückbehalten hatte.

»Oh«, sagte Esau. »Schau dir das an.«

Mr. Hostetters Box lag leer und verlassen da.

»Ausverkauft.«

Len starrte die Box stirnrunzelnd an. Dann sagte er: »Sein Gespann muss trotzdem gefüttert werden, oder? Und vielleicht können wir ihm helfen, den Wagen zu beladen. Gehen wir nach hinten.«

Sie schritten durch das Tor auf der Rückseite des Stalls, duckten sich unter der Ladeklappe des Wagens hindurch und stapften seitlich an ihm vorbei. Die großen Räder mit den sechs Zoll dicken Stahlreifen waren größer als Len, und die Wagenplane erhob sich wie eine Wolke über ihnen. In ordentlichen Buchstaben stand da, von Sonne und Regen ganz verblasst: EDW. HOSTETTER, GEMISCHTWAREN.

»Er ist da«, sagte Len. »Ich höre ihn reden.«

Esau nickte, und sie gingen am Vorderrad vorbei. Mr. Hostetter befand sich unmittelbar auf der anderen Seite des Wagens.

»Du bist verrückt«, sagte Mr. Hostetter. »Ich sage dir –«

Die Stimme eines anderen Mannes fiel ihm ins Wort. »Mach dir keine Sorgen, Ed. Alles wird gut. Ich muss nur …«

Als Len und Esau um den Wagen bogen, verstummte der Unbekannte. Er sah sie über Mr. Hostetters Schulter hinweg an, ein großer, hagerer junger Kerl mit langen rötlichen Haaren und einem Vollbart, gekleidet in einfaches Leder. Offenbar ein Händler irgendwo aus dem Süden, Len hatte ihn schon mal im Stall gesehen. Der Name auf seiner Wagenplane lautete William Soames.

»Besuch«, sagte er zu Mr. Hostetter. Ihn schien das nicht zu stören, aber Mr. Hostetter wandte sich um. Er war ein großer, ungelenker Mann mit kräftigen Gliedmaßen, ziemlich brauner Haut, blauen Augen und, rechts und links von seinem Mund, zwei breiten grauen Streifen im sandfarbenen Bart. Seine Bewegungen waren stets langsam, und sein Lächeln war stets freundlich. Aber jetzt drehte er sich sehr schnell um, und er lächelte kein bisschen, und Len blieb stehen, als hätte er einen Schlag abbekommen. Er starrte Mr. Hostetter an und sah einen Fremden, und Mr. Hostetter betrachtete ihn mit einem seltsamen Blick, starr und nahezu wütend. Und Esau murmelte: »Die sind wohl beschäftigt, Len. Wir gehen besser.«

»Was wollt ihr?«, fragte Hostetter.

»Nichts«, sagte Len. »Wir dachten nur, vielleicht …« Er brachte den Satz nicht zu Ende.

»Vielleicht was?«

»Vielleicht könnten wir Ihre Pferde füttern«, sagte Len kleinlaut.

Esau packte ihn am Arm. »Er hatte es auf die Zuckernüsse abgesehen«, sagte er zu Hostetter. »Sie wissen doch, wie Kinder sind. Los, komm, Len.«

Soames lachte. »Ich glaub nicht, dass er noch welche hat. Aber wie wär’s mit ein paar Pekannüssen? Die sind köstlich!«

Er griff in seine Hosentasche, holte vier oder fünf Nüsse heraus und drückte sie Len in die Hand. Len sagte: »Dankeschön«, und blickte zu Mr. Hostetter. Dieser sagte ruhig: »Mein Gespann ist versorgt. Haut ihr besser ab, Jungs.«

»Jawohl, Sir«, sagte Len und rannte los. Esau heftete sich ihm an die Fersen. Nachdem sie um eine Ecke des Schuppens gebogen waren, blieben sie stehen und teilten die Pekannüsse unter sich auf.

»Was war denn mit dem los?«, fragte Len und meinte Hostetter. Genauso erstaunt wäre er gewesen, wenn der alte Hirtenhund daheim auf der Farm sich zu ihm umgedreht und ihn angeknurrt hätte.

»Ach«, sagte Esau und knackte die dünnen braunen Schalen, »der und der Fremde haben sich bloß wegen irgendwas Geschäftlichem gestritten, das ist alles.« Er war wütend auf Hostetter, also versetzte er Len einen ordentlichen Stoß. »Du und deine Zuckernüsse! Los, komm, es ist fast Zeit fürs Abendessen. Oder hast du vergessen, dass wir später noch was vorhaben?«

»Nein«, sagte Len und verspürte einen köstlichen Schmerz in der Magengrube. »Das hab ich nicht vergessen.«

2

Nachdem Len sich unter dem Wagen der Familie in seine Decke gewickelt hatte, hielt ihn anfangs nur ein nervöses Zwicken im Bauch wach. Hier draußen war es kühl, doch die Decke war warm, er hatte anständig zu Abend gegessen, und es war ein langer Tag gewesen. Immer wieder sanken seine Augenlider herab, um ihn her wurde es angenehm dunkel, und alles rückte in weite Ferne. Und dann – peng – zuckte dieser ganz spezielle Nerv und warnte ihn; sein Körper spannte sich an, und er erinnerte sich wieder an Esau und an das Predigen.

Nach einer Weile begann er Geräusche zu hören. Im Wagen über ihm schnarchten Ma und Pa, und auf dem Jahrmarktsplatz war es, abgesehen von der nachglühenden Kohle in manchen Feuerstellen, stockfinster. Es hätte völlig still sein müssen. Aber das war es nicht. Len hörte leises Pferdegetrappel und das Klirren von Zaumzeug. Ein leichter Karren setzte sich klappernd in Bewegung, und weiter weg ächzte ein schwerer Wagen, als das Gespann schnaubend anzog. Die Fremden, die Nicht-Mennoniten wie der in Leder gekleidete Rothaarige, waren alle gleich nach Sonnenuntergang aufgebrochen, um sich die Predigt anzuhören. Wer jetzt erst ging, wollte nicht gesehen werden. Plötzlich war Len nicht mehr müde. Er lauschte auf die unsichtbaren Hufe und die verstohlenen Räder, und allmählich wünschte er, er hätte sich nicht auf diese Sache eingelassen.

Er setzte sich auf, schlug die Beine übereinander und zog sich die Decke über die Schultern. Esau war noch nicht gekommen. Len starrte zu Onkel Davids Wagen hinüber – vielleicht war Esau ja selbst eingeschlafen. Es war ein weiter Weg, es war kalt und dunkel, und sie würden ganz sicher erwischt werden. Außerdem hatte er während des ganzen Abendessens ein schlechtes Gewissen gehabt, und er hatte Pa nicht in die Augen schauen können. Es war das erste Mal, dass er eine Anweisung seines Vaters vorsätzlich missachtete, und er war überzeugt gewesen, dass ihm das schlechte Gewissen anzusehen war. Aber Pa hatte nichts gemerkt, und das machte die Sache aus irgendeinem Grund noch schlimmer. Denn es bedeutete, dass Pa ihm blind vertraute.

In der Düsternis unter Onkel Davids Wagen regte sich etwas – Esau kam auf allen vieren herübergeschlichen.

Ich sag’s ihm, dachte Len. Dass ich nicht mitkommen will.

Esau kam näher. Er grinste breit, und in seinen Augen loderte das nur mühsam eingedämmte Feuer. Er legte den Kopf dicht an Lens Wange und flüsterte: »Sie schlafen alle. Roll deine Decke so zusammen, als lägst du noch drunter, nur zur Sicherheit.«

Ich geh nicht mit, dachte Len. Aber er sprach es nicht aus. Er rollte seine Decke zusammen und folgte Esau in die Nacht hinaus. Und kaum war er außer Sichtweite des Wagens, verspürte er eine freudige Erregung. Die Finsternis war voller Menschen, die sich heimlich davonstahlen, und er war einer von ihnen. Die Verruchtheit schmeckte süß, und die Sterne hatten noch nie so hell geleuchtet.

Sie bewegten sich vorsichtig, bis sie an einen breiten Weg gelangten, und dann rannten sie los. Ein hochrädriger Karren raste, von einem schnellen Pferd gezogen, an ihnen vorbei, und Esau keuchte: »Los, beeil dich!« Er lachte, und Len stimmte, während er weiterlief, in sein Lachen ein. Kurz darauf hatten sie den Jahrmarktsplatz hinter sich gelassen und befanden sich auf der Hauptstraße, die nach drei Wochen ohne Regen von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Staub hing in der Luft, von den Rädern dicht aufeinander folgender Wagen aufgewirbelt. Neben ihnen tauchte, groß und gespenstisch, ein Pferdegespann auf; Schaum troff von den Trensen. Es zog einen Wagen mit offenem Verdeck, und der Mann, der die Leinen hielt, sah aus wie ein Hufschmied – er hatte kräftige Arme und einen blonden Bart. Neben ihm saß eine stämmige rotwangige Frau. Statt einer Haube hatte sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden, und ihre Röcke flatterten im Wind. Unter dem hochgerollten Verdeck blickte eine Reihe kleiner Köpfe hervor, alle so gelb wie Maisgrannen. Esau rannte laut schreiend neben dem Wagen her, und Len folgte ihm mit schweren Schritten.

Schließlich zügelte der Mann seine Pferde und blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihnen herüber. Auch die Frau drehte sich um, und beide lachten.

»Schau dir das an«, sagte der Mann. »Kleine Flachhüte! Wohin seid ihr ohne eure Mama unterwegs?«

»Wir wollen uns die Predigt anhören«, rief Esau. Er war wütend wegen der Flachhüte und noch wütender wegen dem klein. Trotzdem wollte er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. »Könnten Sie uns mitnehmen?«

»Warum nicht?«, erwiderte der Mann und lachte erneut. Er sagte etwas über Heiden und Samariter, das Len nicht ganz verstand, und noch etwas über das Wort Gottes, und dann sagte er, sie sollten aufsteigen, sie seien sowieso schon spät dran. Die Pferde waren während der ganzen Zeit nicht stehengeblieben, und Len und Esau stolperten durch das Gestrüpp am Straßenrand, um Schritt zu halten. Sie kletterten über die hintere Ladeklappe und blieben keuchend auf dem Stroh liegen. Der Mann rief den Pferden etwas zu, und sie nahmen wieder Fahrt auf. Der Wagen schaukelte heftig, und durch die Ritzen zwischen den Bodenbrettern stob Staub empor. Auch das Stroh war staubig. Ein großer Hund saß darauf und sieben Kinder, die Len und Esau alle feindselig anglotzten. Sie glotzten zurück, und der älteste Junge deutete mit dem Finger auf sie und sagte: »Schaut euch diese komischen Hüte an.« Sie lachten alle. Esau fragte: »Was geht dich das an?«, und der Junge erwiderte: »Das ist unser Wagen, also geht’s mich wohl was an, und wenn dir das nicht passt, kannst du ja aussteigen.« Sie fuhren fort, sich über ihre Kleider lustig zu machen, und Len machte ein finsteres Gesicht und dachte bei sich, dass die Knirpse besser die Klappe halten sollten. Alle sieben waren barfuß, und Hüte hatten sie auch keine auf, aber sie sahen wohlgenährt aus und auch sauber. Er blieb ihnen jedoch eine Antwort schuldig, und Esau desgleichen. Drei oder vier Meilen waren ein langer Weg mitten in der Nacht.

Der Hund war zutraulich. Er leckte ihnen das Gesicht ab und sprang völlig unbefangen den einen wie den anderen an, ganz ohne Angst. Und Len fragte sich, ob die Frau, die auf dem Kutschbock saß, sich auf dem Boden wälzen würde und der Mann mit ihr. Das sah bestimmt furchtbar albern aus! Er musste kichern und war plötzlich nicht mehr wütend auf die blonden Kinder.

Dann fuhr der Wagen endlich auf ein großes, offenes Feld hinaus, wo bereits zahlreiche andere standen. Das Feld fiel zu einem kleinen Fluss hin ab, der bei dem trockenen Wetter vielleicht noch gut fünf Meter breit war und kaum die Uferböschung erreichte. Len schätzte, dass hier genauso viele Leute zusammengekommen waren wie auf dem Jahrmarkt, nur dass sie sich dicht an dicht drängten. Fuhrwerke und Karren bildeten einen ungefähren Halbkreis, in dem sich die Menschen versammelt hatten und auf dem Boden saßen. In Ufernähe stand ein Pritschenwagen, ohne Gespann. Alle hatten sich ihm zugewandt, und auf der Ladefläche stand, im Schein eines großen Lagerfeuers, ein Mann – ein junger, hochgewachsener und breitschultriger Mann. Sein schwarzer Bart reichte ihm fast bis zum Gürtel und glänzte wie ein Krähennest im Frühling. Während er auf und ab schritt, schüttelte er fortwährend den Bart, warf den Kopf in den Nacken und redete laut. Seine Stimme war hoch und schrill, und er reihte die Worte nicht fortlaufend aneinander, sondern schrie sie abgehackt hinaus, sodass sie klar und deutlich bis in die hintersten Reihen drangen. Es dauerte einen Moment, bis Len begriff, dass der Mann predigte. Bei den Zusammenkünften am Sabbat, die er kannte, ging es anders zu – dort konnte Pa oder Onkel David oder jeder andere aufstehen und zu Gott oder über Gott sprechen. Und das taten sie stets leise und mit gefalteten Händen.

Len hatte das alles vom Wagen aus beobachtet. Jetzt, noch bevor die Räder zum Stillstand kamen, versetzte ihm Esau einen Knuff. »Los, komm!« Er sprang über die Heckklappe, und Len folgte ihm. Der Mann rief ihnen etwas über Gottes Wort nach, und alle sieben Kinder schnitten Grimassen. Len sagte höflich: »Danke, dass Sie uns mitgenommen haben.« Dann rannte er Esau hinterher.

Von hier sah der Prediger klein aus und weit entfernt, und Len konnte kaum verstehen, was er sagte. Esau flüsterte: »Ich weiß, wie wir dichter rankommen, aber mach keinen Lärm.« Len nickte. Sie machten einen Bogen, bis sie sich hinter den abgestellten Wagen befanden, und Len stellte fest, dass sie nicht die Einzigen waren, die unbemerkt bleiben wollten. Hinter der Menschenmenge standen etliche Leute, die Len nur als dunkle Silhouetten im Feuerschein erkennen konnte. Manche von ihnen hatten den Hut abgenommen, doch der Schnitt ihrer Kleider und ihrer Haare verriet sie trotzdem. Das waren Glaubensgenossen von ihm. Er wusste, wie sie sich fühlten. Auch er hatte Scheu, gesehen zu werden.

Während er und Esau zum Fluss hinunterschlichen, wurde die Stimme des Predigers allmählich lauter. Sie hatte etwas Schneidendes, diese Stimme, und sie ging einem durch und durch, wie das Wiehern eines wütenden Hengstes. Allmählich konnten sie ihn besser verstehen.

»… haben einem fremden Gott nachgejagt, diese Hurensöhne. Ihr wisst, wovon ich rede, meine Freunde. Eure eigenen Eltern haben euch davon erzählt, eure eigene Großmutter und euer greiser Großvater haben es euch gebeichtet – wie sich die Sünde in den Herzen der Menschen einnistete, die Blasphemie und die Wollust …«

Len verspürte ein Kribbeln der Erregung auf der Haut. Er folgte Esau durch das Gewirr der Wagenräder und Pferdebeine und hielt den Atem an. Endlich erreichten sie eine Stelle, wo sie, im Halbdunkel gut verborgen, zwischen zwei Wagenrädern hindurchsehen konnten. Der Prediger war nur wenige Meter entfernt.

»Ihre Wollust war geweckt, meine Brüder! Sie gierten nach allem, was fremd, neu und widernatürlich war. Und Satan sah es mit Wohlgefallen, und er nahm ihnen das Augenlicht, er blendete die himmlischen Augen der Seele, sodass sie waren wie törichte Kinder, die lauthals nach Luxus und seelenzerfressenden Freuden verlangten. Und sie vergaßen Gott …«

Ein Stöhnen lief durch die Menge, und die Leute, die auf dem Boden saßen, wiegten sich vor und zurück. Len umfasste mit jeder Hand eine Radspeiche und beugte sich vor.

Der Prediger trat bis an den Rand des Wagens. Der Nachtwind zauste ihm den Bart und das lange schwarze Haar, und hinter ihm loderte das Feuer; Rauch stieg auf, und Funken stoben himmelwärts. Auch die Hände des Predigers brannten, groß und schwarz. Er streckte sie aus, deutete auf die Zuschauer und sagte in einem seltsamen, rauen Flüsterton, der so weit trug wie ein Schrei: »Sie vergaßen Gott!«

Wieder ertönte das Stöhnen, lauter dieses Mal, und wieder wogte die Menge. Len spürte, wie ihm das Herz in der Brust pochte.

»Ja, meine Brüder. Sie vergaßen ihn. Aber hat Gott sie vergessen? Nein, sage ich euch, das hat er nicht! Er wachte über sie. Er sah das Unrecht, das sie begingen. Er sah die Macht, die der Teufel über sie ausübte, und er sah, dass es ihnen gefiel – ja, meine Freunde, es gefiel ihnen, von diesem Verräter angeleitet zu werden, und sie hielten ihm die Treue auf Kosten Gottes, des Herrn! Und warum? Weil die Wege Satans leicht und bequem waren, und stets warteten neue Freuden hinter der nächsten Biegung auf dem abschüssigen Pfad.«

Len senkte den Blick, und er betrachtete seinen Freund, der neben ihm im Staub kauerte. Esau starrte den Prediger an, und seine Augen funkelten. Sein Mund stand weit offen. Lens Puls ging immer schneller. Die Stimme des Predigers schien einen Nerv in ihm zu treffen, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass es ihn gab. Er vergaß Esau wieder, klammerte sich an die Radspeichen und dachte begierig: »Sprich weiter! Sprich weiter!«

»Und was also hat Gott getan, als er sah, wie sich seine Kinder von ihm abwandten? Ihr wisst, was er getan hat, meine Brüder! Ihr wisst es!«

Ein Stöhnen. Ein Wogen. Und das Stöhnen schwoll zu einem leisen, eigenartigen Heulen an.

»Er sprach: ›Sie haben gesündigt! Sie haben wider meine Gesetze gesündigt und wider meine Propheten, die sie schon im alten Jerusalem vor den Freuden Ägyptens und Babylons warnten! Und in ihrem Stolz haben sie sich erhoben. Sie sind in den Himmel hinaufgestiegen, der mein Thron ist, und sie haben die Erde aufgerissen, die mein Schemel ist, und sie haben das heilige Feuer freigesetzt, das im Herzen der Dinge brennt und das nur ich, ihr Herr Jahwe, berühren darf.‹ Und Gott sprach: ›Und trotzdem werde ich barmherzig sein. Mögen sie von ihren Sünden gereinigt werden!‹«

Das Heulen wurde lauter, und überall auf dem Feld stießen Arme in die Höhe, und Köpfe zuckten hin und her.

»Sie sollen gereinigt werden!«, rief der Prediger. Sein ganzer Körper war angespannt und zitterte, während hinter ihm die Funken emporschossen. »So sprach Gott, und sie wurden gereinigt, meine Brüder! Mit ihren eigenen Sünden wurden sie gezüchtigt. Sie verbrannten in dem Feuer, das sie selbst entfacht hatten, und fürwahr, ihre stolzen Türme gingen in Flammen auf und fielen dem Zorn Gottes zum Opfer! Und Feuer und Hunger und Durst und Angst vertrieben sie aus ihren Häusern, aus den Heimstätten des Frevels und der Wollust – darunter unsere eigenen Väter und die Väter unserer Väter, die gesündigt hatten, und die Heimstätten des Frevels wurden ausgelöscht wie einst Sodom und Gomorra.«

Irgendwo in der Menge schrie eine Frau, fiel hintenüber und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Len bemerkte nichts davon.

Die Stimme des Predigers sank wieder herab, wurde wieder zu einem heiseren, weittragenden Flüstern.

»Und so blieben sie durch Gottes Barmherzigkeit verschont, um auf seinen Weg zurückzufinden und ihm zu folgen.«

»Halleluja!«, schrie die Menge. »Halleluja!«

Der Prediger hob die Hände. Die Menge verstummte. Len hielt den Atem an. Sein Blick war auf die schwarzen, schwelenden Augen des Mannes auf dem Pritschenwagen gerichtet. Er sah, wie sie schmal wurden, bis sie den Augen einer sprungbereiten Katze glichen, auch wenn sie die falsche Farbe hatten.

»Aber«, sagte der Prediger, »Satan weilt noch immer unter uns.«

Die Reihen der Menschen wogten mit einem wilden Schrei vorwärts, und nur die Hände des Predigers hielten sie zurück.

»Er will wieder Macht über uns erlangen. Der Teufel weiß nur zu gut, wie es war, als ihm all die zarten, weißhäutigen Frauen dienten und all die reichen Männer – als in den Städten ihm zu Ehren noch hell die Lichter brannten! Er weiß es, und er sehnt sich danach zurück! Und so schickt er seine Sendboten zu uns – ach, und ihr könnt sie nicht von uns Gottesfürchtigen unterscheiden, so demütig, wie sie sich geben, so schlicht, wie sie sich kleiden! Insgeheim aber sind sie schon am Werk, um uns zu bekehren – sie führen die Knaben und jungen Männer in Versuchung, locken sie mit den verbotenen Früchten der Schlange, und auf der Stirn eines jeden von ihnen prangt das Zeichen des Tiers – das Zeichen von Bartorstown!«

Len horchte auf. Der Name Bartorstown war in seiner Gegenwart bisher erst einmal gefallen. Seine Grandma hatte ihn ausgesprochen, und er erinnerte sich noch daran, weil Pa ihr so grob ins Wort gefallen war. Die Menge jaulte, und einige sprangen auf. Esau drängte sich dichter an Len; er zitterte am ganzen Leib. »Ist das nicht Wahnsinn?«, flüsterte er. »Ist das nicht Wahnsinn?«

Der Prediger blickte in die Runde. Diesmal beschwichtigte er die Menge nicht, sondern wartete ab, bis sie sich von selbst beruhigte, gespannt auf das, was er als Nächstes zu sagen hatte. Len spürte, dass etwas Neues in der Luft lag. Er hätte nicht sagen können, was, aber es erregte ihn so sehr, dass er am liebsten laut geschrien hätte und auf und ab gesprungen wäre. Die Menschenmenge wusste allerdings, worum es ging, und der Prediger desgleichen.

»Hier und heute«, sagte der Mann auf dem Pritschenwagen leise, »gibt es verschiedene Sekten, alles gottesfürchtige Leute, die sich nach Kräften bemühen, daran zweifle ich nicht. Sie glauben, es genüge, zu einem dieser Boten Satans zu sagen: Geh fort, verlass unsere Gemeinde und komm nie wieder. Vielleicht begreifen sie nur nicht, dass sie in Wirklichkeit sagen: Geh fort und verderbe jemand anderen, wir halten Ordnung in unserem Haus!« Er hob unvermittelt die Hand und erstickte damit einen Aufschrei der Zuschauer, als hätte er ihnen einen Korken in den Mund gestopft. »Nein, meine Freunde. Wir schlagen einen anderen Weg ein. Unsere Nachbarn sind uns ebenso viel wert wie wir selbst. Wir gehorchen dem Gesetz der Regierung, welches besagt, dass es keine Städte mehr geben darf. Und wir gehorchen dem Wort Gottes, das uns gebietet, unser rechtes Auge auszureißen, wenn es uns Anstoß gibt, und unsere rechte Hand abzuhauen, wenn sie uns Anstoß gibt. Die Gerechten dürfen sich mit den Sündern nicht gemein machen – nein, selbst dann nicht, wenn sie unsere Brüder oder Väter oder Söhne sind!«

Ein Raunen ging durch die Menge, bei dem es Len ganz heiß wurde; seine Augäpfel prickelten, und es schnürte ihm die Kehle zu. Jemand warf Holz auf das Feuer. Blendend helle Flammen loderten auf, Funken stoben, und jetzt wälzten sich Menschen auf dem Boden, Männer wie Frauen, gruben ihre Finger ins Erdreich und schrien. Ihre Augen waren weiß, und es war überhaupt nicht komisch. Und über die Menge und das Feuer hinweg hallte die Stimme des Predigers, brüllte so schrill und gewaltig wie ein großes Tier in der Nacht.

»Wenn das Böse unter uns weilt, müssen wir es austreiben!«

Ein schmächtiger Junge, dem am Kinn die ersten Barthaare wuchsen, sprang auf. Er deutete mit dem Finger und rief: »Ihn klage ich an!«, und der Schaum rann ihm aus den Mundwinkeln.

In einer der hinteren Reihen kam es zu einem wilden Handgemenge. Ein Mann hatte versucht wegzulaufen, und andere hielten ihn fest. Ihre Schultern wogten, und ihre Beine tänzelten, und die Leute um sie herum duckten sich, um ihnen auszuweichen, schubsten und zogen. Schließlich zerrten sie den Mann herbei, und Len konnte ihn deutlich sehen. Es war der rothaarige Händler William Soames. Doch sein Gesicht hatte sich verändert, es war blass und ausdruckslos – ein schrecklicher Anblick.

Der Prediger schrie etwas über Stumpf und Stiel. Er kauerte jetzt am Rand der Ladefläche, die Hände in der Luft. Einige Männer begannen dem Händler die Kleider auszuziehen. Sie rissen ihm das feste Lederhemd vom Rücken und die Wildlederhosen von den Beinen, bis er nackt und weiß vor ihnen stand. Er trug weiche Stiefel an den Füßen, einer davon fiel ihm ab, den anderen behielt er an. Dann wichen die Leute von ihm zurück, und er stand allein in der Mitte einer freien Fläche. Jemand warf einen Stein.

Der Stein traf Soames am Mund. Er taumelte ein wenig und hob die Arme, doch da kam ein weiterer Stein geflogen und noch einer, und Stöcke und Erdklumpen, und bald war seine weiße Haut ganz fleckig und verschmiert. Er wandte sich hierhin und dorthin, drohte zu fallen, stolperte, krümmte sich vornüber, versuchte zu fliehen, versuchte die Schläge abzuwehren. Sein Mund stand offen, und Blut rann ihm über die Zähne und in den Bart, aber Len konnte nicht hören, ob er etwas schrie oder nicht, zu groß war der Lärm, den die Menge veranstaltete, ein gefräßiges Keuchen, ein obszönes Kreischen, und die Steine trafen ihn in einem fort. Dann wälzte sich der ganze Pöbel auf den Fluss zu und trieb ihn vor sich her. Er kam dicht an dem Karren vorbei, wo Len sich im Halbdunkel hinter den Speichen versteckte, und Len sah ihm direkt in die Augen. Die Männer folgten ihm, wirbelten mit ihren schweren Stiefeln den Staub auf, und auch die Frauen folgten ihm mit wehenden Haaren und Steinen in den Händen. Soames stürzte die Böschung hinunter in den seichten Fluss. Die Männer und Frauen folgten ihm und bedeckten ihn wie Fliegen den Abfall nach der Schlachtung, und ihre Hände hoben und senkten sich.

Len wandte den Kopf und sah Esau an. Er weinte, und jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Esau hatte sich die Arme um den Bauch geschlungen und krümmte sich vornüber. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Plötzlich drehte er sich um und verschwand auf allen vieren unter dem Karren. Len krabbelte ihm nach, verlor im Dunkeln die Orientierung. Die ganze Zeit musste er daran denken, wie Soames ihm die Pekannüsse gegeben hatte. Ihm wurde übel, und er hielt an, um sich zu übergeben. Eine schreckliche Kälte breitete sich in ihm aus. Die Menschenmenge am Ufer tobte noch immer. Von Esau keine Spur.

In panischer Angst flüchtete er zwischen die Wagen und Karren. »Esau! Esau!«, brabbelte er in einem fort, doch er bekam keine Antwort, und wenn doch, konnte er sie nicht hören, denn die Stimmen der Mörder dröhnten ihm noch in den Ohren. Blind stürzte er ins Freie, und vor ihm tauchte eine hochgewachsene Gestalt auf, streckte die langen Arme aus und hielt ihn fest.

»Len«, sagte sie. »Len Colter.«

Es war Mr. Hostetter. Len spürte, wie seine Knie nachgaben. Alles wurde schwarz und still, und er hörte Esaus Stimme, und dann die von Mr. Hostetter, aber weit weg und leise, wie Stimmen, die an einem drückend heißen Tag vom Wind herbeigetragen werden. Dann befand er sich in einem Wagen, einem großen Wagen voller ungewohnter Gerüche, und Mr. Hostetter half Esau hinter ihm herauf. Esau sah aus wie ein Gespenst. Len flüsterte: »Du hast gesagt, es würde Spaß machen.« Und Esau antwortete: »Ich hatte doch keine Ahnung, dass sie …« Er schluchzte und setzte sich neben Len, den Kopf auf die Knie gestützt.

»Bleibt hier«, sagte Mr. Hostetter. »Ich muss noch was holen.«

Er ging weg. Len hob den Kopf und sah ihm nach. Sein Blick wurde wie magisch von dem Feuer angezogen und von dem heulenden, schluchzenden, kreischenden Pöbel, der hin und her wogte und schrie, sie seien gerettet. Rühmt ihn, rühmt ihn, Halleluja, der Lohn der Sünde ist der Tod.

Mr. Hostetter lief über den offenen Platz zu dem Wagen eines anderen Händlers, der neben einigen dicht beieinander stehenden Bäumen abgestellt war. Den Namen auf der Plane konnte Len nicht erkennen, aber er war sich sicher, dass er Soames lautete. Auch Esau schaute hinaus. Der Prediger hatte wieder die Stimme erhoben und fuchtelte wild mit den Armen.

Mr. Hostetter sprang aus dem anderen Wagen und kam zurückgerannt. Unter einem Arm trug er eine Schatulle, die vielleicht zwei Handspannen maß. Er stieg auf den Kutschbock, und Len krabbelte in dem Wagen nach vorn. »Bitte«, sagte er. »Darf ich neben Ihnen sitzen?«

Hostetter reichte ihm die Schatulle. »Verstau das irgendwo. Na schön, komm hoch. Wo ist Esau?«

Len wandte sich um. Esau hatte sich auf den Bodenbrettern zusammengerollt und lag mit dem Gesicht nach unten auf einem Stoffbündel. Er rief nach ihm, erhielt aber keine Antwort. »Der ist ohnmächtig geworden«, sagte Hostetter. Er entrollte seine Peitsche, ließ sie knallen und trieb seine Pferde lautstark an. Die sechs kräftigen Rotbraunen legten sich ins Zeug, und der Wagen fuhr los. Er wurde schneller und schneller, und der Feuerschein blieb ebenso hinter ihnen zurück wie das Raunen der Menge. Vor ihnen lag die dunkle Straße, daneben ragten schwarz die Bäume empor, und es roch nach Staub und friedlichen Feldern. Die Pferde fielen in einen etwas leichteren Trab. Mr. Hostetter legte den Arm um Len, und Len klammerte sich an ihn.

»Warum haben die das getan?«, fragte er.

»Weil sie Angst haben.«

»Vor was?«

»Vor dem Gestern«, sagte Mr. Hostetter. »Und dem Morgen.« Plötzlich stieß er, maßlos aufgebracht, eine Folge von Flüchen aus. Len starrte ihn mit offenem Mund an. Hostetter biss mitten in einem Wort die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Len spürte, dass der große Mann am ganzen Leib zitterte. Als er weitersprach, war seine Stimme fast wieder normal.

»Halte dich an deine eigenen Leute, Len. Bessere findest du nirgends.«

Len murmelte: »Jawohl, Sir.« Danach schwiegen sie. Der Wagen schaukelte die Straße entlang, und Len wurde müde. Aber es war keine gute Müdigkeit, wie sie einem erholsamen Schlaf vorausgeht – er war einfach nur erschöpft. Esau rührte sich noch immer nicht. Schließlich bewegte sich das Gespann nur noch im Schritt, und Len sah, dass sie wieder auf dem Jahrmarktsplatz angekommen waren.

»Wo ist euer Wagen?«, wollte Hostetter wissen, und Len sagte es ihm. Als der Wagen vor ihnen auftauchte, sahen sie, dass das Lagerfeuer wieder brannte, und daneben standen Pa und Onkel David. Sie blickten finster drein, und als die Jungen vom Wagen stiegen, sagten sie kein Wort, sondern bedankten sich nur bei Hostetter. Len sah Pa an. Er wollte auf die Knie fallen und sagen: »Vater, ich habe gesündigt.« Doch er konnte nur zitternd dastehen und schluchzen, zu mehr war er nicht imstande.

»Was ist passiert?«, fragte Pa.

Hostetter erklärte es ihm in vier Worten. »Sie haben jemanden gesteinigt.«

Pa sah von Esau und Onkel David zu Len und seufzte. »So etwas tun sie nur alle paar Jahre, aber ausgerechnet jetzt musste es geschehen. Die beiden wussten, dass es ihnen verboten war, aber sie wollten da unbedingt hin, also blieb es ihnen nicht erspart.« Er wandte sich zu Len um. »Sei still, mein Junge. Es ist alles vorbei.« Er schob ihn nicht unsanft zum Wagen. »Na los, Lennie, hol deine Decke und geh schlafen.«

Len kroch unter den Wagen und wickelte sich in die Decke. Ein Gefühl von Schwäche überkam ihn, und die Welt begann ihm zu entgleiten, wobei ihm weiter Soames’ Gesicht vor Augen stand. Durch die Wagenplane hindurch hörte er, wie Mr. Hostetter sagte: »Ich habe heute Nachmittag versucht, ihn zu warnen, dass unter den Fanatikern Gerüchte über ihn im Umlauf sind. Heute Abend bin ich ihm gefolgt, um ihn da wegzuholen. Aber es war zu spät, ich konnte nichts mehr tun.«

»War er schuldig?«, fragte Onkel David.

»Ob er versucht hat, irgendjemanden zu bekehren? Das glauben Sie doch nicht im Ernst! Die Leute aus Bartorstown wollen niemanden bekehren.«

»Dann war er also aus Bartorstown?«

»Soames stammte aus Virginia. Ich kannte ihn als Händler und braven Menschen.«

»Schuldig oder nicht«, sagte Pa mit ernster Stimme, »das war eine unchristliche Tat. Und gotteslästerlich. Aber solange es solche abgefeimten Wirrköpfe gibt, findet sich auch ein Pöbel, der ihrem Ruf folgt.«

»Wir alle«, erwiderte Hostetter, »werden von Ängsten geplagt.«

Er stieg wieder auf den Kutschbock und fuhr davon. Doch Len hörte nicht mehr, wie der Hufschlag in der Ferne verklang.