Schwelende Rebellion - Leigh Brackett - E-Book

Schwelende Rebellion E-Book

Leigh Brackett

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Beschreibung

Die Menschheit hat die Planeten unseres Sonnensystems besiedelt, aber Krieg und Armut sind deshalb längst nicht überwunden. Die irdische Zentralregierung herrscht mit harter Hand über die Außenwelten. Doch unter der Oberfläche schwelt die Rebellion. Eric John Stark ist ein Außenseiter, aufgewachsen unter den Ureinwohnern der lebensfeindlichen Welt des Merkur, die an der Schwelle zwischen Mensch und Tier stehen. Er befindet sich auf der Flucht vor dem Gesetz, weil er Rebellen auf der Venus mit Waffen versorgt hat. Dabei verschlägt es ihn auf den Mars, wo das uralte Vermächtnis einer fremden Zivilisation schlummert. Wer sich seiner bedient, spielt mit Kräften, an die der Mensch nicht rühren sollte ... Drei Space-Opera-Abenteuer aus der großen Zeit der Pulp-Magazine, in denen Leigh Brackett beweist, dass es bereits damals möglich war, Klischees zu hinterfragen und die Erwartungen der Leser:innen zu unterlaufen.

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Seitenzahl: 358

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Aus dem

amerikanischen Englisch

übersetzt von

Helmut W. Pesch

Impressum

Deutsche Erstausgabe

© 1949, 1949, 1951 by Leigh Brackett

© der Übersetzung 2024 by Helmut W. Pesch

© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Die Übersetzung folgt dem Erstdruck der Originalausgaben: »Queen of the Martian Catacombs« in: PLANET STORIES (Sommer 1949) // »Enchantress of Venus« in: PLANET STORIES (Herbst 1949) [erstmals auf Deutsch unter dem Titel »Die Zauberin von der Venus« in: Die besten Stories von Leigh Brackett [Rastatt: Moewig, 1981], übersetzt von Eva Malsch] // »Black Amazon of Mars« in: PLANET STORIES (März 1951)

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Robert Schekulin

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-14-8 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-15-5 (E-Book)

Inhalt

KÖNIGIN DER MARSKATAKOMBEN

Queen of the Martian Catacombs

ZAUBERIN DER VENUS

Enchantress of Venus

SCHWARZE AMAZONE DES MARS

Black Amazon of Mars

Zur Chronologie der Eric-John-Stark-Geschichten

KÖNIGIN DER MARSKATAKOMBEN

I

Seit Stunden schon floh das erschöpfte Tier mit seinem dunklen Reiter durch die marsianische Wüste. Jetzt war es am Ende. Es strauchelte und blieb stehen, und als der Reiter ihm fluchend die Fersen in die schuppigen Flanken grub, wandte es nur den Kopf und zischte ihn an. Das Tier stolperte noch ein paar Schritte weiter in den Windschatten eines Sandhügels, und dort sank es in den Staub.

Der Mann stieg ab. Die Augen der Kreatur brannten wie grüne Lampen im Licht der kleinen Monde, und er wusste, dass es sinnlos war, sie weiter anzutreiben. Er blickte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.

In der Ferne waren vier schwarze Schemen zu erkennen, die sich durch die endlose Ödnis bewegten. Sie kamen schnell näher. In wenigen Minuten würden sie ihn erreicht haben.

Regungslos überlegte er seinen nächsten Schritt. Vor ihm, weit voraus, war ein niedriger Bergrücken, und hinter dem Bergrücken lag Valkis, wo er in Sicherheit wäre, doch jetzt war es unerreichbar für ihn. Rechts von ihm ragte eine einsame Felsnadel aus dem treibenden Sand. An ihrem Fuß türmte sich Geröll.

Sie haben versucht, mich im Freien zu stellen, dachte er. Aber hier, bei den Neun Höllen, werden sie es nicht so einfach haben!

Dann setzte er sich in Bewegung und lief mit einer Leichtigkeit und Schnelligkeit auf den Felsen zu, wie es nur ein Tier oder ein Wilder vermag. Er war von irdischer Abstammung, hochgewachsen und muskulöser, als er aussah, weil er so sehnig war. Der Wüstenwind war bitterkalt, aber das schien er gar nicht zu spüren, obwohl er nur ein zerschlissenes Hemd aus venusischer Spinnenseide trug, und das offen bis zum Gürtel. Seine Haut war fast so dunkel wie sein schwarzes Haar, unauslöschlich gezeichnet von Jahren unter einer gnadenlosen Sonne. Er hatte auffallend helle Augen, in denen sich das blasse Licht der Monde spiegelte.

Mit der Gewandtheit einer Echse glitt er zwischen die losen Felsbrocken. Als er eine Stelle fand, wo er freien Blick hatte und sein Rücken durch die Felsnadel gedeckt war, hockte er sich nieder. Danach bewegte er sich nicht mehr, außer um seine Pistole zu ziehen. Seine völlige Starre hatte etwas Unheimliches, eine Geduld, die so unmenschlich war wie die des Felsens, der ihn schützte.

Die vier dunklen Gestalten kamen näher und wurden zu berittenen Männern. Sie fanden das Tier, wo es keuchend am Boden lag, und hielten an. Fußspuren, die bereits vom Wind verweht, aber noch deutlich erkennbar waren, zeigten, wohin der Mann gegangen war.

Der Anführer gab ein Zeichen. Die anderen stiegen ab. Mit der raschen Routine von Soldaten holten sie einen Teil ihrer Ausrüstung aus den Satteltaschen und begannen sie zusammenzusetzen.

Der Mann sah von seinem Versteck aus, wie das Gerät Gestalt annahm. Es war ein Banning-Schocker, und er wusste, dass er sich aus dieser Falle nicht würde freikämpfen können. Seine Verfolger befanden sich außerhalb der Reichweite seiner Waffe. Das würden sie auch bleiben. Der Banning mit seinem starken elektrischen Strahl würde ihn erfassen und zu Fall bringen – tot oder bewusstlos, wie es ihnen passte.

Er steckte die nutzlose Pistole in den Gürtel zurück. Er wusste, wer diese Männer waren und was sie von ihm wollten. Sie waren Beamte der Erdpolizei und brachten ihm ein Geschenk: zwanzig Jahre in den Zellenblöcken von Luna. Zwanzig Jahre in den grauen Katakomben, begraben in Stille und ewiger Dunkelheit.

Er nahm das Unabwendbare hin. Er war dergleichen gewohnt – Hunger, Schmerz, Einsamkeit, die Leere von Träumen. Im Laufe seines Lebens hatte er bereits eine Menge davon kennengelernt. Dennoch machte er keine Anstalten, sich zu ergeben. Er blickte in die Wüste hinaus, in den nächtlichen Himmel, und seine Augen glühten, die verzweifelten, seltsam schönen Augen eines Geschöpfes, das den Wurzeln des Lebens sehr nahe war, das weniger und zugleich mehr war als ein Mensch. Seine Hände fanden einen Felssplitter und brachen ihn ab.

Der Anführer der vier Männer ritt langsam auf den Felsen zu und hob den rechten Arm. Seine Stimme war über die Entfernung klar und deutlich zu hören. »Eric John Stark!«, rief er, und der dunkle Mann im Schatten regte sich.

Der Reiter hielt an. Er rief erneut, doch diesmal in einer anderen Sprache. Es war kein Dialekt der Erde, des Mars oder der Venus, sondern eine seltsame Sprache, so rau und kraftvoll wie die glühenden Täler des Merkur, die sie hervorgebracht hatten.

»O N’Chaka, o Mann-ohne-Stamm, ich rufe dich!«

Ein langes Schweigen folgte. Der Reiter und sein Tier warteten regungslos unter den tief stehenden Monden.

Eric John Stark trat langsam aus der Schwärze unter dem Felsen hervor. »Wer nennt mich N’Chaka?«

Der Reiter entspannte sich etwas. Er antwortete auf Englisch: »Du weißt ganz genau, wer ich bin, Eric. Können wir in Frieden reden?«

Stark zuckte mit den Schultern. »Natürlich.«

Er trat hinaus zu dem Reiter, der abgestiegen war und sein Tier zurückgelassen hatte. Er war schlank und drahtig, dieser EP-Beamte. In seinen Augen lag die Unbeugsamkeit der Grenzer. Sein Haar war ergraut, und seine sonnengegerbte Haut hatte tiefe Falten, aber sein hartes, nicht unfreundliches Gesicht und seine auffallend scharfen, dunklen Augen wirkten nicht im Geringsten alt.

»Es ist lange her, Eric«, sagte er.

Stark nickte. »Sechzehn Jahre.« Die beiden Männer maßen einander eine Weile, dann fuhr Stark fort: »Ich dachte, du wärst noch auf dem Merkur, Ashton.«

»Sie haben alle erfahrenen Leute zum Mars beordert.« Er holte Zigaretten hervor. »Rauchst du?«

Stark nahm eine. Sie beugten sich über Ashtons Feuerzeug und standen dann rauchend da, während der Wind roten Staub über ihre Füße trieb und die drei Männer der Patrouille in aller Ruhe neben dem Banning warteten. Ashton ging kein Risiko ein. Der Elektrostrahl konnte betäuben, ohne zu verletzen. Schließlich sagte Ashton: »Ich will jetzt mal grob sein, Eric. Ich werde dich an ein paar Dinge erinnern.«

»Spar dir das«, erwiderte Stark. »Du hast mich gekriegt. Es gibt keinen Grund, darüber zu reden.«

»Ja«, sagte Ashton, »ich habe dich gekriegt, und es war verdammt nicht leicht. Darum hör mir jetzt zu.«

Seine dunklen Augen begegneten Starks kaltem Blick und hielten ihn fest.

»Vergiss nicht, wer ich bin – Simon Ashton. Vergiss nicht, dass ich dabei war, als die Bergleute in dem Tal auf dem Merkur einen wilden Jungen in einen Käfig sperrten und ihn töten wollten, genau wie den Stamm, der ihn aufgezogen hatte. Vergiss nicht all die Jahre danach, als ich den Jungen zu einem zivilisierten Menschen erzogen habe.«

Stark lachte, nicht ohne einen gewissen Humor. »Du hättest mich in dem Käfig lassen sollen. Zum Zivilisieren war ich ein bisschen zu alt.«

»Vielleicht. Ich denke da anders. Wie auch immer, ich erinnere dich daran«, sagte Ashton.

Stark sagte ohne besondere Bitterkeit: »Du brauchst nicht sentimental zu werden. Ich weiß, es ist deine Aufgabe, mich festzunehmen.«

Ashton sagte mit Nachdruck: »Ich werde dich nicht festnehmen, Eric, wenn du mich nicht dazu zwingst.« Dann fuhr er rasch fort, bevor Stark antworten konnte. »Du bist zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden, weil du Waffen an die Stämme im Mittleren Sumpf geliefert hast, als sie gegen die Terro-Venusische Metallgesellschaft rebellierten, und für ein paar ähnliche Aktionen.

Na schön. Ich weiß wohl, warum du das getan hast, und ich will nicht verhehlen, dass ich dich verstehen kann. Aber du hast dich über das Gesetz hinweggesetzt, und das Gesetz gilt auch für dich. Jetzt bist du auf dem Weg nach Valkis. Du bist auf dem Weg in einen Schlamassel, der dir lebenslänglich auf Luna einbringen wird, wenn sie dich das nächste Mal kriegen.«

»Und dafür hast du kein Verständnis.«

»Nein. Was glaubst du, warum ich mir fast den Hals gebrochen habe, um dich abzufangen.« Ashton beugte sich vor, und sein Blick war sehr eindringlich. »Hast du eine Abmachung mit Delgaun von Valkis getroffen? Hat er nach dir geschickt?«

»Er hat nach mir geschickt, aber wir haben noch nichts vereinbart. Ich bin abgebrannt. Pleite. Ich habe eine Nachricht von diesem Delgaun erhalten, wer auch immer das ist, dass es in den Wüstenlanden einen Privatkrieg geben wird und dass er mich gut bezahlen würde. Schließlich ist das mein Beruf.«

Ashton schüttelte den Kopf. »Das ist kein Privatkrieg, Eric. Es ist etwas weit Größeres und Schlimmeres. Dem marsianischen Rat der Stadtstaaten und der Erdkommission steht der Angstschweiß auf der Stirn, und niemand ist in der Lage herauszufinden, was genau vor sich geht. Du kennst die Niederkanalstädte – Valkis, Jekkara, Barrakesh. Kein gesetzestreuer Marsianer, geschweige denn ein Erdenbürger, würde dort fünf Minuten überleben. Und das Hinterland ist absolut tabu. Alles, was wir hören, sind also Gerüchte. Phantastische Gerüchte über einen Barbarenhäuptling namens Kynon, der den Stämmen von Kesh und Shun Himmel und Erde zu versprechen scheint – irgendwelche wilden Geschichten über den uralten Kult der Ramas, von dem alle dachten, er sei seit tausend Jahren ausgestorben. Wir wissen, dass Kynon irgendwie mit Delgaun verbündet ist, einem äußerst effizienten Banditen, und wir wissen, dass einige der größten Schurken des ganzen Systems hierher unterwegs sind, um sich ihm anzuschließen. Knighton und Walsh von der Erde, Themis vom Merkur, Arrod von der Callisto-Kolonie – und, wie ich glaube, auch dein alter Waffengefährte, der Venusianer Luthar.«

Stark zuckte leicht zusammen, und Ashton lächelte kurz.

»O ja«, sagte er. »Ich habe davon gehört.« Dann wurde er wieder ernst. »Du kannst es dir selbst ausrechnen, Eric. Die Barbaren werden losziehen und so etwas wie einen heiligen Krieg führen, der den ganz und gar unheiligen Zielen von Männern wie Delgaun und den anderen dient.

Eine halbe Welt wird in Flammen aufgehen, in den Trockenlanden wird Blut in Strömen fließen – und es wird das Blut der Barbaren sein, vergossen für ein verlogenes Versprechen, und die Aaskrähen von Valkis werden sich daran laben. Es sei denn, wir können es irgendwie verhindern.«

Er hielt inne und sagte dann ganz offen: »Ich möchte, dass du nach Valkis gehst, Eric – aber in meinem Auftrag. Ich will dir nicht damit kommen, dass du der Zivilisation einen Dienst erweist. Du schuldest der Zivilisation weiß Gott nichts. Aber du könntest viele deiner eigenen Leute davor bewahren, abgeschlachtet zu werden, ganz zu schweigen von den Marsianern im Grenzland, die als Erste unter Kynons Axt fallen werden.

Außerdem könntest du deine zwanzig Jahre auf Luna vergessen und vielleicht sogar den Wunsch verspüren, ein richtiger Mensch zu werden anstatt ein Tiger, der von einer Jagd zur nächsten zieht.« Er fügte hinzu: »Wenn du am Leben bleibst.«

Stark sagte langsam: »Du bist klug, Ashton. Du weißt, dass ich Mitgefühl mit allen Primitiven auf diesem Planeten habe, gleich jenen, die mich aufgezogen haben, und daran appellierst du.«

»Ja«, sagte Ashton, »ich bin klug. Aber ich bin kein Lügner. Was ich dir gesagt habe, ist wahr.«

Stark drückte die Zigarette sorgfältig unter seinem Absatz aus. Dann blickte er hoch. »Nehmen wir an, ich bin bereit, in deinem Auftrag nach Valkis zu gehen. Was hindert mich dann daran, die Seiten zu wechseln?«

Ashton sagte leise: »Dein Wort, Eric. Man lernt einen Mann ziemlich gut einzuschätzen, wenn man ihn von Kindesbeinen an kennt. Dein Wort genügt.«

Kurz herrschte Schweigen, dann streckte Stark die Hand aus. »Also gut, Simon – aber nur für diese eine Sache. Danach gibt es keine Versprechungen mehr.«

»Einverstanden.« Sie schüttelten sich die Hände.

»Ich kann dir keine Ratschläge geben«, sagte Ashton. »Du bist auf dich allein gestellt. Du kannst dich über das Büro der Erdkommission in Tarak an mich wenden. Du weißt, wo das ist?«

Stark nickte. »An der Grenze zu den Trockenlanden.«

»Ich wünsch dir viel Glück, Eric.«

Er drehte sich um, und sie gingen gemeinsam zu den drei Männern zurück, die dort warteten. Ashton nickte, und sie begannen den Banning auseinanderzunehmen. Weder sie noch Ashton sahen sich um, als sie davonritten.

Stark blickte ihnen nach. Er füllte seine Lungen mit kalter Luft und streckte sich. Dann weckte er das Tier, das noch immer im Sand lag. Es hatte sich ausgeruht und war bereit, ihn wieder zu tragen, solange er es nicht allzu sehr antrieb. Wieder machte er sich auf den Weg durch die Wüste.

Je näher er kam, desto höher wuchs der Kamm empor, bis er zu einer niedrigen, im Laufe der Jahrhunderte abgetragenen Bergkette wurde. Ein Pass öffnete sich vor ihm, schlängelte sich zwischen den kahlen Felshügeln hindurch.

Er folgte ihm und kam auf der anderen Seite über dem Becken eines toten Meeres heraus. Das leblose Land erstreckte sich in der Dunkelheit, eine riesige Ödnis, noch einsamer als die Wüste. Und zwischen dem Meeresgrund und den Ausläufern der Berge sah Stark die Lichter von Valkis.

II

Weit unten brannten Lichter. Winzige Lichtpunkte, wo Fackeln in den Straßen entlang des Niederkanals loderten – mehr als dieser schwarze Wasserfaden war von einem vergessenen Ozean nicht übriggeblieben.

Hier war Stark noch nie gewesen. Jetzt blickte er auf die Stadt, die sich unter tief stehenden Monden den Hang hinabzog, und ihn schauderte – das primitive Zucken der Nerven, das ein Tier im Angesicht des Todes empfindet.

Denn die Straßen, in denen die Fackeln flackerten, waren nur ein winziger Teil von Valkis. Das Leben der Stadt war von den Klippen herabgeflossen und hatte sich dem sinkenden Meeresspiegel angepasst. Fünf Städte, von denen die älteste kaum noch als menschliche Siedlung zu erkennen war. Fünf Häfen, deren Docks und Kais noch standen, aber halb im Staub versunken waren.

Fünf Epochen marsianischer Geschichte, auf der obersten Ebene gekrönt vom verfallenen Palast der alten Piratenkönige von Valkis. Die Türme standen noch, verwittert, aber unbezwingbar, und im Mondlicht schienen sie zu schlafen, als träumten sie vom blauen Wasser, vom Rauschen der Wellen und von großen Schiffen, die mit Schätzen beladen einliefen.

Stark kletterte langsam den steilen Hang hinunter. Er war fasziniert von den Steinhäusern, die sich, ihrer Dächer beraubt, stumm in der Nacht erhoben. Auf dem Kopfsteinpflaster waren noch die Spuren der Räder zu sehen, wo Fuhrleute zum Marktplatz gefahren und die Fürsten in vergoldeten Kutschen vorbeigezogen waren. Die Kais waren von den Narben der Schiffe gezeichnet, die mit den Gezeiten einst dort auf und ab glitten.

Starks Sinne hatten sich in einer fremdartigen Schule entwickelt, und die dünne Fassade der Zivilisation, die er zur Schau stellte, hatte sie nicht getrübt. Jetzt schien es ihm, als trüge der Wind das Echo von Stimmen und den Geruch von Gewürzen und frisch vergossenem Blut mit sich.

Er war nicht überrascht, als auf der letzten Ebene über der lebendigen Stadt bewaffnete Männer aus dem Schatten traten und ihn anhielten.

Es waren schlanke, dunkle Männer, sehr drahtig und leichtfüßig, und ihre Gesichter waren die von Wölfen – keineswegs von primitiven Wölfen, sondern von Raubtieren, die seit so vielen Jahrtausenden zivilisiert waren, dass sie es sich leisten konnten, das zu vergessen.

Sie waren äußerst höflich, und Stark sah keinen Grund, ihnen die Antwort zu verweigern. Er nannte seinen Namen. »Delgaun hat nach mir geschickt.«

Der Anführer der Valkiser nickte mit seinem schmalen Kopf. »Du wirst erwartet.« Seine scharfen Augen hatten jedes Merkmal des Terraners erfasst, und Stark wusste, dass er sich seine Beschreibung bis ins kleinste Detail einprägen würde. Valkis bewachte seine Tore sorgfältig.

»Frag in der Stadt«, sagte der Wächter. »Jeder kann dir den Weg zum Palast zeigen.«

Stark nickte und setzte seinen Weg im Mondlicht und in der Stille der verlassenen Straßen fort. Mit bestürzender Plötzlichkeit tauchte er in die Straßen der Lebenden ein.

Es war schon sehr spät, aber Valkis schlief noch lange nicht. Vielmehr brodelte es. In den engen, gewundenen Gassen drängte sich das Volk. Von den flachen Dächern tönte das Lachen von Frauen herab. Goldener und scharlachroter Fackelschein erhellte die Weinstuben, wodurch die Schatten der Gassenmündungen noch schwärzer erschienen.

Stark ließ sein Reittier in einem Serai am Rande des Kanals zurück. Die Pferche waren bereits überfüllt. Stark erkannte die langbeinigen Tiere der Wüstenländer, und als er ging, traf eine Karawane ein und zog mit dem Klirren bronzener Armreifen und einem lauten Zischen und Stampfen im Staub an ihm vorbei.

Die Reiter waren hochgewachsene Barbaren – Keshi, vermutete Stark, so wie sie ihr lohfarbenes Haar geflochten hatten. Sie trugen schmuckloses Leder, und ihre blauäugigen Frauen ritten wie Königinnen.

Valkis war voll von ihnen. Seit Tagen, so schien es, strömten sie über den Grund des alten Meeresbeckens, aus den fernen Oasen und den kargen Wüsten des Hinterlandes. Sehnige Krieger aus Kesh und Shun, die am Niederkanal Erholung suchten, wo es mehr Wasser gab, als irgendeiner von ihnen je gesehen hatte.

Sie waren in Valkis, diese Barbaren, aber sie waren kein Teil davon. Während er sich seinen Weg durch die Straßen bahnte, spürte Stark den besonderen Charakter der Stadt, den seiner Einschätzung nach nichts jemals ändern konnte.

Auf einem Platz tanzte ein Mädchen zu den Klängen von Harfe und Trommel. Schwer hing der Geruch von Wein, brennendem Pech und Weihrauch in der Luft. Ein geschmeidiger, dunkelhäutiger Valkiser in hellem Kilt und juwelenbesetztem Gürtel sprang hinzu und tanzte mit dem Mädchen; seine Zähne blitzten, als er sich drehte und in Pose warf. Am Ende trug er sie lachend davon; ihr schwarzes Haar hing ihm über den Rücken.

Frauen blickten Stark nach. Frauen so anmutig wie Katzen, nackt bis zur Taille, die Röcke an der Seite bis zum Oberschenkel geschlitzt. Sie trugen keinen Schmuck außer den winzigen goldenen Glöckchen, die für die Niederkanalstädte typisch waren, sodass die Luft immer von ihrem zarten, lustvollen Läuten erfüllt war.

Valkis besaß eine lachende, verruchte Seele. Stark war schon an vielen Orten gewesen, aber noch nie hatte er einen so verhängnisvollen Puls schlagen hören, unglaublich alt, aber stark und voller Leben.

Schließlich fand er den Palast, ein großes, verwinkeltes Gebäude aus Bruchsteinen mit Türen und Fensterläden aus gehämmerter Bronze, die gegen den Staub und den unaufhörlichen Wind verschlossen waren. Er nannte dem Wächter seinen Namen und wurde ins Innere geführt, durch Säle mit uralten Wandteppichen, deren gekachelte Böden von den Sandalen unzähliger Generationen abgewetzt waren.

Starks halbwilde Sinne sagten ihm, dass das Leben in diesen Mauern nicht friedlich gewesen war. Die Steine flüsterten von uralter Gewalt, und die Schatten waren erfüllt von den Geistern einstiger Leidenschaft.

Man brachte ihn zu Delgaun, dem Herrn von Valkis, in den großen zentralen Saal, der ihm als Hauptquartier diente.

Delgaun war schlank und katzenhaft, wie es seinem Volk entsprach. Sein schwarzes Haar war mit silbernen Sprenkeln durchsetzt, und die harte Schönheit seines Gesichtes war stark ausgeprägt. Falten hatten sich tief darin eingegraben, und alle Zartheit der Jugend war längst verschwunden. Er trug einen prächtigen Harnisch, und seine Augen unter den feinen dunklen Brauen waren wie Tropfen heißen Goldes.

Er blickte auf, als der Erdenmensch eintrat, musterte ihn mit einem raschen, durchdringenden Blick. Dann sagte er: »Du bist Stark.«

Diese gelben Augen hatten etwas Seltsames an sich: Hell und scharf wie die eines Mörderfalken waren sie und doch irgendwie geheimnisvoll, als würden die wahren Gedanken dahinter nie durchscheinen. Stark verspürte eine instinktive Abneigung gegen diesen Mann.

Doch er nickte, ging zum Ratstisch und wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Anwesenden zu: eine Handvoll Marsianer aus dem Gebiet des Niederkanals – Häuptlinge und Krieger, wie an ihrem Schmuck und ihrer stolzen Haltung erkennbar war – und einige Fremde, deren herkömmliche Kleidung nicht zu diesem Ort passte.

Stark kannte sie alle. Knighton und Walsh von Terra, Themis vom Merkur, Arrod aus der Callisto-Kolonie – und Luhar von der Venus. Piraten, Diebe, Renegaten, und jeder ein Experte auf seinem Gebiet.

Ashton hatte recht. Etwas Großes, etwas sehr Großes und sehr Hässliches braute sich zwischen Valkis und den Trockenlanden zusammen.

Aber das war nur ein kurzer, flüchtiger Gedanke in Starks Kopf. Seine Aufmerksamkeit war auf Luhar gerichtet. Bittere Erinnerungen und Hass erwachten in ihm zu wildem Leben, kaum dass er den Venusier erblickte.

Der Mann sah gut aus. Er war ein unehrenhaft entlassener Offizier der Venusgarde, einer Eliteeinheit, sehr schlank, sehr elegant, das helle Haar kurz geschnitten und lockig, seine dunkle Tunika wie eine zweite Haut.

Er sagte: »Der Aborigine! Ich dachte, wir hätten schon genug Barbaren hier, ohne dass wir nach weiteren schicken müssen.«

Stark sagte nichts. Er ging auf Luhar zu.

Luhar sagte scharf: »Es gibt keinen Grund, böse zu sein, Stark. Alle alten Rechnungen sind beglichen. Wir stehen jetzt auf derselben Seite.«

Dann sprach der Erdenmann mit geradezu unheimlicher Sanftheit. »Wir standen schon einmal auf derselben Seite. Gegen die Terro-Venusische Metallgesellschaft. Weißt du noch?«

»Das weiß ich noch sehr gut!« Luhar richtete seine Worte jetzt nicht mehr nur an Stark, sondern an alle Anwesenden. »Ich weiß noch, wie mich deine unschuldigen Barbarenfreunde dort in den Sümpfen an einen Pfahl gebunden haben und wie du mit aufrichtigem Vergnügen zugesehen hast. Wären die Männer der Gesellschaft nicht gekommen, so würde ich jetzt noch dort schreien.«

»Du hast uns verraten«, sagte Stark. »Du hattest es verdient.« Er ging weiter auf Luhar zu.

Delgaun sprach. Er erhob die Stimme nicht, aber Stark spürte die Macht, die darin lag.

»Hier wird nicht gekämpft«, sagte Delgaun. »Ihr seid beide bezahlte Söldner, und solange ihr in meinem Sold steht, vergesst ihr eure Privatfehden. Habt ihr verstanden?«

Luhar nickte, setzte sich und lächelte aus den Mundwinkeln Stark zu, der Delgaun mit zusammengekniffenen Augen ansah.

Er war noch immer halb blind vor Wut auf Luhar. Seine Hände brannten darauf, ihn zu töten. Aber er erkannte Delgauns Autorität an.

Ein Geräusch, das dem Knurren eines Tieres erschreckend ähnlich war, stieg in seiner Kehle auf. Dann entspannte er sich langsam. Mit Delgaun selbst hätte er sich ohne Zögern angelegt. Aber das hätte Ashtons Auftrag, den zu erfüllen er versprochen hatte, zum Scheitern verurteilt. Er zuckte mit den Schultern und setzte sich zu den anderen an den Tisch.

Walsh von Terra erhob sich unvermittelt und streifte durch den Raum. »Wie lange müssen wir noch warten?«, wollte er wissen.

Delgaun goss Wein in einen bronzenen Pokal. »Woher soll ich das wissen?«, blaffte er und schob die Karaffe über den Tisch zu Stark.

Stark schenkte sich ein und trank. Der Wein war warm und süß. Er trank langsam, saß entspannt und geduldig da, während die anderen nervös rauchten oder aufstanden, um auf und ab zu gehen. Stark fragte sich, auf was oder auf wen sie warteten. Doch er stellte keine Fragen.

Zeit verging.

Stark hob den Kopf und lauschte. »Was ist das?«

Ihre weniger empfindlichen Ohren hatten nichts gehört, aber Delgaun stand auf und öffnete die Läden des Fensters neben ihm.

Die Morgendämmerung des Mars überflutete hell und klar den toten Meeresgrund mit gleißendem Licht. Jenseits der schwarzen Linie des Kanals zog eine Karawane durch den aufwirbelnden Staub auf Valkis zu.

Es war keine gewöhnliche Karawane. Vorne und hinten ritten Krieger, deren Speerspitzen in der aufgehenden Sonne blitzten. Die Tiere waren mit Juwelen geschmückt, eine Sänfte mit Vorhängen aus purpurroter Seide – eine barbarische Pracht. Dünn und klar tönte die wilde Musik der Sackpfeifen und das tiefe Pochen der Trommeln.

Ohne dass man es ihm sagte, ahnte Stark, wer da wie ein König aus der Wüste geritten kam.

Delgaun stieß einen heiseren Laut aus. »Kynon, endlich!«, sagte er und drehte sich vom Fenster weg. In seinen Augen blitzte heimliche Belustigung auf. »Kommt, lasst uns den Spender des Lebens begrüßen!«

Stark ging mit ihnen hinaus auf die überfüllten Straßen. Stille hatte sich über die Stadt gesenkt. Valkiser und Barbaren drängten sich in atemloser Aufregung durch die engen Gassen in Richtung Kanal.

Stark fand sich in Delgauns Nähe auf dem großen Platz des Sklavenmarktes wieder, wo er über den Köpfen der Menge auf dem Auktionsblock stand. Die Stille, die Erwartung der Menge war unheimlich …

Unter dem gemessenen Schlag der Trommeln und dem schrillen Dröhnen der Sackpfeifen zog Kynon von Shun in Valkis ein.

III

Die Karawane hielt direkt auf den Platz des Sklavenmarktes zu, und die Menschen wichen an die Mauern zurück. Das Stampfen der beschuhten Hufe auf den Steinen, das Klirren der Geschirre, das kühne Glitzern der Speere und der großen Zweihandschwerter der Trockenlande, die Trommelschläge, die das Herz erschütterten, und das wilde Dröhnen der Pfeifen, welches das Blut in Wallung brachte. Stark konnte eine wohlige Erregung nicht unterdrücken.

Die Vorhut erreichte den Sklavenblock. Mit einem ohrenbetäubenden Knall kreuzten die Trommler ihre Stöcke, die Pfeifen verstummten, und auf dem Platz herrschte vollkommene Stille.

Sie dauerte fast eine Minute, dann ertönte aus jeder barbarischen Kehle der Name Kynon, bis die Steine der Stadt davon widerhallten.

Ein Mann sprang vom Rücken seines Reittiers auf den Block und trat mit erhobenen Händen an dessen äußeren Rand, sodass ihn alle sehen konnten. »Ich grüße euch, meine Brüder!«

Und der Jubel ging weiter.

Stark musterte Kynon und wunderte sich, dass er so jung war. Er hatte einen graubärtigen Propheten erwartet, doch stattdessen stand da ein muskulöser, breitschultriger Krieger, so groß wie er selbst.

Kynons Augen waren von einem hellen, bezwingenden Blau, und sein Gesicht glich dem eines jungen Adlers. In seiner Stimme lag tiefe Musik – eine Stimme, die Menschenmengen in den Wahnsinn treiben konnte.

Stark blickte in die verzückten Gesichter der Menschen – selbst die Valkiser waren von der Stimmung gepackt worden – und dachte, dass Kynon der gefährlichste Mann war, den er je gesehen hatte. Dieser lohfarbene Barbar in seinem Kilt aus bronzebeschlagenem Leder war bereits ein halber Gott.

Kynon rief dem Hauptmann seiner Krieger zu: »Bringt den Gefangenen und den Alten!« Dann wandte er sich wieder der Menge zu und gebot ihr zu schweigen. Als endlich Ruhe eingekehrt war, hallte seine Stimme herausfordernd über den Platz.

»Es gibt immer noch einige, die an mir zweifeln. Deshalb bin ich nach Valkis gekommen, und heute – jetzt! – werde ich den Beweis antreten, dass ich nicht gelogen habe!«

Ein Raunen und Murmeln ging durch die Menge. Kynons Männer hoben einen torkelnden Greis, der von den Jahren so gebeugt war, dass er kaum stehen konnte, und einen Jungen terranischer Abstammung auf den Block. Der Junge war angekettet. Die Augen des Alten brannten, und er blickte mit schrecklichem Verlangen auf den Jungen neben sich.

Stark blieb stehen, wo er war, und schaute sich um. Die Sänfte mit den purpurroten Seidenvorhängen hatte neben dem Block gehalten. Ein Mädchen, eine Valkiserin, stand daneben und sah nach oben. Stark hatte den Eindruck, dass der Blick aus ihren grünen Augen mit schwelendem Zorn auf Kynon ruhte.

Er wandte sich von der Dienerin ab und sah, dass die Vorhänge teilweise geöffnet waren. Eine Frau lag auf den Kissen. Er konnte nicht viel von ihr erkennen, nur dass ihr Haar wie eine dunkle Flamme brannte und dass sie lächelte, als sie den Alten und den nackten Jungen betrachtete. Dann wandte sich ihr Blick, der im Schatten der Sänfte sehr dunkel war, ab, und Stark folgte ihm und sah Delgaun. Jeder Muskel in Delgauns Körper war angespannt, und er schien den Blick nicht von der Frau in der Sänfte abwenden zu können.

Stark lächelte kaum merklich. Die Einheimischen waren in das Geschehen vertieft, etwas anderes interessierte sie nicht. Die Menge war wieder in eine stille, atemlose Spannung verfallen. Die Sonne brannte von einem leeren Himmel herab. Der Staub wehte, und der schneidende Wind roch nach lebendem Fleisch.

Der Alte streckte die Hand aus und berührte die glatte Schulter des Jungen, und sein Zahnfleisch schimmerte bläulich, als er lachte.

Kynon ergriff wieder das Wort. »Es gibt immer noch Leute, die an mir zweifeln, sage ich! Diejenigen, die mich verlacht haben, als ich sagte, dass ich das uralte Geheimnis der Ramas von einst kenne – das Geheimnis, mit dem der Geist eines Menschen in den Körper eines anderen übertragen werden kann. Aber nach dem heutigen Tag wird niemand mehr daran zweifeln, dass ich dieses Geheimnis besitze! Ich selbst bin kein Rama.« Er blickte an seinem eigenen kräftigen Körper hinunter, spannte halb bewusst seine Muskeln an und lachte. »Warum sollte ich ein Rama sein? Ich habe noch keinen Bedarf an der Übertragung des Geistes!«

Die Menge antwortete mit schallendem Gelächter.

»Nein«, fuhr Kynon fort, »ich bin kein Rama. Ich bin ein Mensch wie ihr. Und wie ihr habe ich keine Lust, alt zu werden und irgendwann zu sterben.« Unvermittelt wandte er sich dem Alten zu. »Du, Großvater! Wünschst du dir nicht, wieder jung zu sein – in die Schlacht zu reiten und die Frau deiner Wahl zu nehmen?«

Der Alte jubelte: »Ja! Ja!«, und sein Blick ruhte hungrig auf dem Jungen.

»Und du sollst es sein!« In Kynons Stimme lag die Macht eines Gottes. Er wandte sich wieder der Menge zu und rief: »Jahrelang habe ich allein in der Wüste gelitten, auf der Suche nach dem verlorenen Geheimnis der Ramas. Und ich habe es gefunden, meine Brüder! Ich besitze ihre uralte Macht. Ich allein – in diesen beiden Händen halte ich sie, und mit ihr wird für die Völker der Trockenlande ein neues Zeitalter anbrechen! Es wird Kämpfe geben, ja. Blut wird fließen. Aber wenn alles vorbei ist, wenn die Menschen von Kesh und Shun von der alten Knechtschaft des Durstes befreit sind und die Menschen der Niederkanäle ihre Heimat wiedergewonnen haben – dann werde ich allen, die mir gefolgt sind, neues Leben schenken, nicht endendes Leben. Die Alten, die Lahmen und die Verwundeten können sich unter den Gefangenen neue Körper aussuchen. Es wird kein Alter, keine Krankheit und keinen Tod mehr geben!«

Ein bebendes, schauderndes Seufzen ging durch die Menge. Augäpfel glänzten im bitteren Licht, Münder waren geöffnet ob der Begierde, die der menschlichen Seele am nächsten ist.

»Damit niemand mehr an meinem Versprechen zweifelt«, sagte Kynon, »seht her. Seht her – und ich werde es euch beweisen!«

Sie blickten zu ihm auf. Sie rührten sich nicht, atmeten kaum und schauten zu.

Die Trommeln schlugen einen langsamen, feierlichen Takt. Der Hauptmann der Krieger marschierte mit einer sechsköpfigen Eskorte zur Sänfte und nahm der Frau ein in Seide gewickeltes Bündel aus den Händen. Er trug es, als wäre es unglaublich wertvoll, hob es in die Höhe, und Kynon nahm es entgegen.

Die seidenen Umhüllungen flatterten davon. Und in Kynons Händen schimmerten zwei Kristallkronen und ein glänzender Stab. Er hielt sie hoch, und das Sonnenlicht glitzerte in kaltem Feuer auf dem Kristall.

»Seht!«, sprach er. »Die Kronen der Ramas!«

Die Menge hielt den Atem an, ein langes, rasselndes Ah! Der feierliche Trommelschlag riss keinen Augenblick ab. Es war, als pochte der Puls der ganzen Welt in ihm. Kynon drehte sich um. Der alte Mann zitterte. Kynon setzte ihm eine Krone auf die faltige Kopfhaut, und der tatterige Greis zuckte wie vor Schmerz zusammen, aber sein Gesicht war ekstatisch.

Erbarmungslos krönte Kynon den verängstigten Jungen mit dem zweiten Reif.

»Kniet nieder«, sagte er.

Sie knieten nieder. Hoch über ihnen hielt Kynon den Stab mit beiden Händen zwischen die Kristallkronen.

Licht entsprang dem Stab. Es war kein Widerschein der Sonne. Blau und strahlend floss es den Stab entlang, sprang von ihm auf die Kronen über und hüllte den Alten und den Jungen in ein kaltes, unwirkliches Feuer.

Der Trommelschlag verstummte. Der Alte schrie auf. Seine Hände griffen kraftlos nach seinem Kopf, dann wanderten sie zu seiner Brust und ballten sich dort. Plötzlich fiel er vornüber auf die Knie. Ein krampfhaftes Zittern durchfuhr ihn. Dann lag er still.

Der Junge taumelte und fiel dann, vom Rasseln der Ketten begleitet, ebenfalls nach vorn.

Das Licht in den Kronen erlosch. Kynon stand noch einen Augenblick starr wie eine Statue und hielt den Stab, den immer noch blaue Blitze umflackerten. Dann erloschen auch diese.

Kynon ließ den Stab sinken. Mit klingender Stimme rief er: »Erhebe dich, Großvater!«

Der Junge regte sich. Langsam, ganz langsam stand er auf. Er streckte die Hände aus und starrte sie an, dann berührte er seine Oberschenkel, seinen flachen Bauch und die tiefe Wölbung seiner Brust.

Die staunenden Finger fuhren den festen, jungen Hals hinauf zu den glatten Wangen und dem dichten, blonden Haar über dem Scheitel. Ein Schrei brach aus ihm heraus.

Mit dem perfekten Akzent der Trockenlande rief der Erdenjunge auf Marsianisch: »Ich bin im Körper des Jungen! Ich bin wieder jung!«

Ein Schrei, ein Heulen der Ekstase brach aus der Menge hervor. Sie schwankte wie eine große Bestie, die weißen Gesichter nach oben gewandt. Der Junge sank zu Boden und umklammerte Kynons Knie.

Eric John Stark spürte, dass auch er leicht zitterte. Er warf einen Blick auf Delgaun und die Außenweltler. Der Valkiser trug unter seiner Maske der Ehrfurcht einen Blick tiefer Zufriedenheit. Die anderen standen fast so verzückt und mit offenen Mündern da wie die Menge.

Stark drehte leicht den Kopf und sah auf die Sänfte hinab. Eine weiße Hand zog bereits die Vorhänge zu, sodass die scharlachrote Seide vor stillem Gelächter zu zittern schien.

Die Dienerin daneben rührte sich nicht. Aber sie blickte zu Kynon auf, und in ihren Augen stand nichts als Hass.

Dann brach ein Tumult los, die Menge tobte und trampelte, die Trommeln schlugen, die Pfeifen schrillten, es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Die Kronen und der Kristallstab wurden wieder eingepackt und fortgebracht. Kynon half dem Jungen hoch und löste die Ketten der Gefangenschaft. Er saß auf, mit dem Jungen neben sich. Delgaun ging vor ihm durch die Straßen, und die Fremden schlossen sich an.

Der Leichnam des alten Mannes wurde nicht weiter beachtet, außer von einigen von Kynons Barbaren, die ihn in ein weißes Laken einschlugen und forttrugen.

Kynon von Shun ritt im Triumph zu Delgauns Palast. Er saß neben der Sänfte ab und reichte der Frau die Hand, die daraufhin ausstieg und neben ihm durch das Bronzetor trat.

Die Frauen von Shun sind groß und stark; sie sind dazu geschaffen, ihren Männern im Krieg und in der Liebe zur Seite zu stehen, und diese rothaarige Tochter der Trockenlande konnte mit ihrem stolzen Schritt, ihren weißen Schultern und ihren Augen, die die Farbe von Rauch hatten, das Herz eines Mannes zum Stocken bringen. Starks Blick folgte ihr von Weitem.

Im Ratssaal waren Delgaun und die Fremden sowie Kynon und seine Königin mit dem Flammenhaar versammelt – und keine weiteren Marsianer außer diesen dreien.

Kynon nahm auf dem erhöhten Sitz am Kopfende des Tisches Platz. Sein Gesicht strahlte. Er wischte sich den Schweiß ab, füllte einen Becher mit Wein und sah sich mit seinen leuchtend blauen Augen in der Runde um.

»Schenken Sie ein, meine Herren. Ich bringe einen Trinkspruch aus.« Er hob den Kelch. »Auf das Geheimnis der Ramas und das Geschenk des Lebens!«

Stark stellte seinen immer noch leeren Kelch ab. Er sah Kynon direkt in die Augen. »Du kennst kein Geheimnis«, sagte er hart.

Kynon saß völlig reglos da, nur dass er ebenfalls langsam seinen Kelch absetzte. Niemand sonst rührte sich.

Starks Stimme hallte laut in der Stille. »Und die Demonstration auf dem Platz war von Anfang bis Ende eine Lüge.«

IV

Starks Worte wirkten auf die Zuhörer wie ein elektrischer Schlag. Delgauns schwarze Augenbrauen hoben sich, die Frau trat ein Stück vor und starrte den Erdenmenschen mit großem Interesse an.

Kynon stellte eine Frage, die sich an niemanden im Besonderen richtete. »Wer«, fragte er, »ist dieser große schwarze Affe?«

Delgaun sagte es ihm.

»Ach ja«, sagte Kynon. »Eric John Stark, der wilde Mann vom Merkur.« Er musterte Stark mit drohender Miene. »Gut. Erkläre mir, inwiefern ich auf dem Platz gelogen habe!«

»Gewiss. Zunächst war der Erdenjunge ein Gefangener. Ihm wurde gesagt, was er zu tun hatte, um seinen Hals zu retten, und dann wurde er sorgfältig auf seine Rolle vorbereitet. Zweitens sind der Kristallstab und die Kronen eine Fälschung. Du hast eine einfache Purcell-Einheit in den Stab gesteckt, um eine elektronische Büschelentladung auszulösen. Das hat das blaue Licht erzeugt. Drittens hast du den alten Mann vergiftet, wahrscheinlich mit einer scharfen Spitze an der Krone. Ich habe gesehen, wie er zusammenzuckte, als du sie ihm aufgesetzt hast.«

Stark hielt inne. »Der Alte ist gestorben. Der Junge hat seine Rolle gespielt. Und das war’s.«

Wieder herrschte betretenes Schweigen. Luhar beugte sich über den Tisch, und sein Gesicht glühte vor Hoffnung. Die Augen der Frau waren unverwandt auf Stark gerichtet.

Dann, plötzlich, lachte Kynon. Er brüllte vor Lachen, bis ihm die Tränen kamen.

»Aber es war eine großartige Darbietung«, sagte er schließlich. »Eine verdammt großartige. Das musst du zugeben. Die Menge hat es geschluckt, mit Haut und Haaren.«

Er stand auf, ging um den Tisch herum zu Stark und klopfte ihm auf die Schulter, ein Schlag, der einen weniger kräftigen Mann zu Boden gestreckt hätte.

»Ich mag dich, wilder Mann. Niemand sonst hier hatte den Mut, etwas zu sagen, aber ich wette, sie dachten alle das Gleiche.«

Stark sagte: »Wo warst du, Kynon, in all den Jahren, in denen du allein in der Wüste gelitten hast?«

»Das wüsstest du gerne, nicht wahr? Nun, ich werde dir ein Geheimnis verraten.« Kynon verfiel plötzlich in perfektes Umgangsenglisch. »Ich war auf Terra und habe dort Dinge wie die elektronische Purcell-Entladung kennengelernt.«

Er schenkte Stark Wein ein und reichte ihm den Becher. »Jetzt weißt du es. Jetzt wissen wir es alle. Waschen wir uns also den Staub aus der Kehle und kommen zur Sache.«

Stark sagte: »Nein.«

Kynon sah ihn an. »Was denn nun?«

»Du belügst dein Volk«, sagte Stark ohne Umschweife. »Du machst ihm falsche Versprechungen, um es in den Krieg zu treiben.«

Kynon war ehrlich verblüfft über Starks Zorn. »Aber natürlich«, sagte er. »Ist daran irgendetwas neu oder seltsam?«

Luhar meldete sich zu Wort, und seine Stimme glühte vor Hass. »Hüte dich vor ihm, Kynon. Er wird dich verraten und dir die Kehle durchschneiden, wenn er damit den Barbaren zu helfen glaubt.«

Delgaun sagte: »Starks Ruf ist im ganzen System bekannt. Das musst du uns nicht noch einmal erzählen.«

»Nein.« Kynon schüttelte den Kopf und sah Stark offen an. »Wir haben nach dir geschickt, weil wir das wussten, nicht wahr? Also gut.«

Er trat ein Stück zurück, damit die anderen hören konnten, was er sagen wollte.

»Mein Volk hat allen Grund, Krieg zu führen. Es leidet Hunger und Durst, während die Stadtstaaten an der Grenze zu den Trockenlanden sämtliche Wasserquellen an sich reißen und fett werden. Weißt du, was es heißt, seine Kinder auf einem langen Marsch nach Wasser schreiend sterben zu sehen, endlich die Oase zu erreichen und den Brunnen durch einen Sturm verschüttet vorzufinden – und wieder weiterzuziehen, um Volk und Herde zu retten? Nun, ich weiß es! Ich bin in den Trockenlanden geboren und aufgewachsen und habe die Grenzstaaten oft verflucht, mit einer Zunge wie ein vertrockneter Stock. Stark, du solltest die Denkweise der Barbaren so gut kennen wie ich. Die Männer von Kesh und Shun sind seit Urzeiten verfeindet. Sie plündern und stehlen, führen einen offenen Krieg um Wasser und Gras. Ich musste ihnen einen Anreiz geben, einen Glauben, der stark genug ist, um sie zu vereinen. Die Wiederbelebung der Rama-Legende war meine einzige Hoffnung. Und es hat seinen Zweck erfüllt. Die Stämme sind nun ein Volk. Sie können losziehen und sich nehmen, was ihnen zusteht – das Recht zu leben. Meine Versprechungen sind also gar nicht so weit hergeholt. Verstehst du jetzt?«

Stark sah ihn mit kalten Katzenaugen an. »Wo kommen da die Männer von Valkis ins Spiel, die Männer von Jekkara und Barrakesh? Wo kommen wir ins Spiel, die angeheuerten Bravos?«

Kynon lächelte. Es war ein vollkommen ehrliches Lächeln, das keinen Humor enthielt, sondern nur gewaltigen Stolz und fröhliche Grausamkeit.

»Wir werden ein Reich errichten«, sagte er leise. »Die Stadtstaaten sind schlecht organisiert, zu hungrig oder zu fett, um zu kämpfen. Und die Erde ist dabei, uns zu bezwingen. Bald wird der Mars nur noch ein weiteres Luna sein. Dagegen werden wir kämpfen. Trockenländer und Niederkanalleute, gemeinsam werden wir eine Macht aus Staub und Blut begründen – und es wird reichlich Beute für alle geben.«

»Da kommen meine Männer ins Spiel«, sagte Delgaun und lachte. »Wir Niederkanalleute leben vom Raub.«

»Und ihr«, sagte Kynon, »die angeheuerten Bravos, seid mit von der Partie, um zu helfen. Ich brauche dich, Stark, und den Venusier, um meine Männer auszubilden, Feldzüge zu planen und mir alles beizubringen, was ihr über Guerillakrieg wisst. Knighton hat einen schnellen Kreuzer, er wird uns Nachschub bringen. Walsh ist ein Genie im Waffenbau. Themis ist Mechanikerin und außerdem die klügste Diebin diesseits der Hölle – außer dir, Delgaun! Arrod organisierte und befehligte die Bruderschaft der Kleinen Welten, die die Raumpatrouille jahrelang an der Nase herumgeführt hat. Das kann er auch für uns tun. Da hast du es. Und, Stark, was sagst du?«

Der Erdenmensch antwortete langsam: »Ich mache mit – solange den Stämmen kein Leid geschieht.«

Kynon lachte. »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Nur noch eine Frage«, sagte Stark. »Was passiert, wenn die Leute herausfinden, dass dieses Rama-Zeug nur ein Mythos ist?«

»Das werden sie nicht«, sagte Kynon. »Die Kronen werden in der Schlacht zerstört werden, und das wird sehr tragisch sein, aber endgültig. Niemand weiß, wie man neue herstellen kann. Ach, mit den Leuten werde ich schon fertig! Sie werden glücklich genug sein, wenn sie erst gutes Land und Wasser haben.«

Dann schaute er sich um und sagte seufzend: »Können wir uns jetzt hinsetzen und wie zivilisierte Menschen trinken?«

Sie setzten sich. Der Wein machte die Runde, die Geier von Valkis tranken auf das Glück und die Beute des anderen, und Stark erfuhr, dass die Frau Berild hieß.

Kynon war bester Stimmung. Er hatte sein Ziel erreicht und feierte. Aber Stark bemerkte, dass seine Zunge zwar schwer wurde, aber nicht lockerer.

Luhar wurde immer mürrischer und schweigsamer und warf Stark über den Tisch hinweg verstohlene Blicke zu. Delgaun spielte mit seinem Becher, und sein gelber Blick, der nichts verriet, schweifte unruhig zwischen Berild und Stark hin und her.

Berild trank nicht. Sie saß etwas abseits, ihr Gesicht lag ein wenig im Halbdunkel, und ihr roter Mund lächelte. Ihre Gedanken blieben ihr Geheimnis. Aber Stark wusste, dass sie ihn noch immer beobachtete, und er wusste, dass Delgaun sich dessen bewusst war.

Dann sagte Kynon: »Delgaun und ich haben noch etwas zu besprechen, deshalb verabschiede ich mich vorerst von euch. Ihr, Stark und Luhar – ich werde um Mitternacht in die Wüste zurückkehren, und ihr kommt mit, also schlaft besser etwas.«

Stark nickte. Er stand auf und ging mit den anderen hinaus.

Ein Diener führte ihn in sein Quartier im Nordflügel. Stark hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht geruht und war froh, schlafen zu können.

Er legte sich hin. Der Wein drehte sich in seinem Kopf, und Berilds Lächeln verspottete ihn. Dann kreisten seine Gedanken um Ashton und sein Versprechen. Bald schlief er ein und träumte.