Das Leben der Sternentaucherin - Ingrid Leitner - E-Book

Das Leben der Sternentaucherin E-Book

Ingrid Leitner

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Beschreibung

Die Sternentaucherin ist ein poetisch-autobiographischer Roman über den erstaunlichen Lebensweg eines Mädchens, das mit 15 Jahren fast völlig gelähmt wird, 24 Stunden beatmet werden muss, die letzte Salbung bekommt und trotzdem überlebt. Und nicht nur das: Sie lernt wieder selbst zu atmen, entdeckt ihre Stärken, promoviert in Germanistik, arbeitet als Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk, trotz ihrer körperlichen Behinderung, trotz Rollstuhl – doch sie sitzt nicht im Rollstuhl, sie thront, wie eine Königin. Die Reise der Sternentaucherin ist eine Reise zum eigenen Selbstwert und zur Menschlichkeit. Sie beginnt mit einer abgrundtiefen Verzweiflung und Not und führt zur Entdeckung einer großen inneren Kraft. Die Flügel des Geistes, der Fantasie und Kreativität erschließen ihr ein neues Leben: „Ihr wunderbares, behindertes, mit allen Sinnen genossenes, mit allen Fühlern betastetes, sprudelndes, schmerzhaftes, prunkvolles, zerbrechliches, unbegreifliches Menschenleben!“ Die Autorin erzählt mit dynamischer Sprachgewalt und ergreifender Ehrlichkeit ihre eigene Lebensgeschichte mit unbestechlicher Beobachtungsgabe sich selbst und anderen Gegenüber. Die Sternentaucherin erschüttert und rüttelt das Herz wach, sie ist der Beweis, dass es sich lohnt, sich selbst niemals aufzugeben.

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Seitenzahl: 302

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ISBN eBook: 978-3-95779-118-4

ISBN print: 978-3-95779-112-2

Diesem eBook liegt die 1. Auflage 2019 der Printausgabe zugrunde.

Alle Rechte vorbehalten, © 2019, Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG,

Frankfurt am Main

www.info3.de

Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Lektorat: Mike Kauschke, Monika Cyrani

Über dieses Buch

Das Leben der Sternentaucherin ist ein poetisch-autobiographischer Roman über den erstaunlichen Lebensweg eines Mädchens, das mit 15 Jahren fast völlig gelähmt wird, beinahe stirbt und trotzdem überlebt. Und nicht nur das: Sie entdeckt ihre Stärken, promoviert in Germanistik, arbeitet als Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk, trotz ihrer körperlichen Behinderung, trotz Rollstuhl.

Die Autorin erzählt mit dynamischer Sprachgewalt und ergreifender Ehrlichkeit ihre eigene Lebensgeschichte mit unbestechlicher Beobachtungsgabe sich selbst und anderen Gegenüber. Die Sternentaucherin erschüttert und rüttelt das Herz wach, sie ist der Beweis, dass es sich lohnt, sich selbst niemals aufzugeben.

„Das literarische Zeugnis einer unbändigen Lebenskraft, voller Wucht, voller Verzweiflung, voller Sehnsucht nach Licht und Leichtigkeit. Der Lebenslauf einer, die nicht laufen kann und dennoch oder gerade deshalb der eigenen Spur folgt.“

Liane Dirks

„Wenn sie es nicht schaffte, dass ihr Leben anders verlief, jeden Tag neu, überraschend, erfüllend, jubelnd, niederschmetternd und aufbauend, voll von sie ergreifenden Gefühlen, vernichtenden Niederlagen, blitzenden, alles durchdringenden Gedanken und Erkenntnissen, heiter oder traurig, oder verzweifelt, aber in jedem Fall, in jeder Minute bewegt, dann würde sie nicht leben wollen. Nicht die Behinderung war die Abtötung, auch nicht die Abwertung durch die anderen. Es waren ihre freiwillig geschluckten Pillen, diese Beruhigungsmittel, ihre lebenslangen, lebensumschlingenden, erwürgenden Zwänge, Regeln, ihre selbst angelegten Ketten.“

Über die Autorin

Dr. Ingrid Leitner wurde 1942 in München geboren. Sie erkrankte mit 15 Jahren an Kinderlähmung und war seitdem fast vollständig gelähmt. Trotzdem studierte sie Germanistik, Slawistik und Kunstgeschichte, promovierte in Germanistik und arbeitete über 30 Jahre als Redakteurin in der Redaktion Hörbild und Feature im Radio des Bayerischen Rundfunks.

Ingrid Leitner war Mitgründerin und langjähriges Vorstandsmitglied des Vereins CBF – „Club Behinderter und ihrer Freunde“ – in München. Im Rahmen dieser Tätigkeit schrieb sie regelmäßig für das Mitgliedermagazin des CBF.

1996 erschien nach ausgiebiger Recherche ihr Buch Die Attentäterin Vera Zasulič über das Leben der russischen Revolutionärin des 19. Jahrhunderts.

Ingrid Leitner schrieb zudem mehrere, bisher unveröffentlichte Kindergeschichten rund um die kleine, wunderwirkende Hexe Schilili.

Im März 2016 verstarb Ingrid Leitner an den Folgen ihrer Krankheit.

Die Dunkelheit öffnete ihren tiefsten Abgrund,riss das lahme Mädchen an sich.Das Mädchen fiel hinein,verlor den Boden unter den Füßen,es dauerte eine gefühlte Ewigkeit.Doch dann wurden sie sichtbar, die Sterne,die nur solch eine Dunkelheit gebären kann.Sie funkelten betörend.Die Gelähmte tauchte in sie ein,sie waren ihr Mut, ihre Lebenskraftund die Flügel ihres Geistes.Und sie waren ihre Gabe des Schreibens,sich durch Worte magisch zu bewegen.Nun war sie nicht mehr nur die Lahme,sie wurde zur Sternentaucherin.

Inhalt

1. KAPITELEine Welt zerbarst

2. KAPITELAbgeschnitten von sich selbst

3. KAPITELEinübung in den Ungehorsam

4. KAPITELGriff nach der Macht

5. KAPITELFreiheit im Kopf

6. KAPITELDie Kunst der Verführung

7. KAPITELBildnis des Vaters

8. KAPITELWege der Verzweiflung, der Hoffnung

9. KAPITELSie flog

Nachwortvon Monika Cyrani

1. KAPITEL

Eine Welt zerbarst

Es war ein alles versprechender Sommerabend. Das Kind mit dem dunklen Pferdeschwanz hüpfte aus der finsteren Parterrewohnung – hinaus auf die warmen Asphaltplatten des Bürgersteigs. In seinem kurzen grünen Kleid mit weißen Tupfen über sonnenbraunen Beinen flog es um die Ecke zur Nachbarstraße. Wo waren die Freundinnen? Aus dem gegenüberliegenden Haus des zum Viereck gestellten Wohnblocks der 40er Jahre kam ein anderes Mädchen, zwei Jahre älter und eigentlich gar kein Mädchen. Ein Roboter eher, denn seine Beine – durch Kinderlähmung muskellos – waren mit Stahlschienen gestützt und mit Lederriemen verzurrt. Da half auch kein hübsches Kleid, denn es verdeckte nichts. Mit einer ausholenden Bewegung des Oberkörpers riss die Lahme eines der ins Gestell gequetschten Beine nach vorn. Dann das zweite. Ruck und ruck und ruck. So rückte sie vorwärts. Das mag eine Leistung gewesen sein. Aber nicht schön anzuschauen. Zudem war das Mädchen ernst, mit kurzem, stumpfen Haar und Brille, nicht befähigt zur Freundin, mit der man Geheimnisse teilen, kichern, oder lästern konnte. Kein Kind mochte sie. Im Gegenteil, alle wichen aus und spielten woanders, wenn sie langsam über die Asphaltplatten des Bürgersteigs vor dem Wohnblock roboterte.

Aber da an diesem Sommerabend alles anders war, und keine der Freundinnen weit und breit, sagte eine Nachbarin, die es sich gerade mit einem Kissen im Fenster bequem gemacht hatte, zu der quirligen Kleinen, die einen Kiesel gegen die Hausmauer kickte, da ihr sterbenslangweilig war:

„Spiel doch Federball mit der.“

Die Kleine zuckte mit den Achseln:

„Ja wie denn, wenn sie nicht laufen kann.“

„Dann musst du ihr den Ball immer genau auf den Schläger spielen!“

Die Kleine drehte verlegen den Körper und versuchte zu trotzen. Aber was half das gegen die Erwachsenen, da half nie etwas. Also stimmte sie widerwillig zu – und nachdem der Lahmen von der Mutter die Schläger gebracht worden waren, begann es, das eigentümliche Ballett, das dem wippenden Pferdeschwanz allmählich gefiel, immer mehr gefiel, sie in Leidenschaft und Raserei verfallen ließ. Denn nun lag es an ihr, das begriff sie schnell, ausschließlich an ihr, ob der Roboter, auf seinen schräg gestellten stahlgestützten Beinen balancierend, den Federball auf den Schläger bekam. Und das Robotermädchen erwischte ihn immer öfter, denn vor ihm tanzte ein Irrwisch, ein Springteufel, eine wild hüpfende grüne Orchidee, die dem Ball hinterherjagte, kreiselte, sich nach vorne schmiss und im freien Fall noch das federgekrönte, rotweiße Bällchen erwischte. Sie sprang, raste und schrie für zwei, sodass Pferdeschwanz, grünes Kleid und weiße Tupfen durcheinanderwirbelten. Und der gefiederte Ball sauste in den blaugelben Abendhimmel, segelte launisch in die falsche Richtung, kreuzte energisch geschlagen quer über den grauen Asphalt, fiel beinahe zu Boden. Aber schon war sie wieder zur Stelle, die Leichtfüßige, um den Federball darzubieten, anzuliefern, aufzudrängen: Sie schoss nach allen Seiten, schien sich zu verdoppeln und aufzulösen, und das rotweiße Bällchen sauste steilkurvig hoch, fiel – undankbar rasch langsam geworden – trudelnd aus der Bahn, wurde wieder hochgezwungen und zischte an den Nasen der aus den Fenstern hängenden Zuschauer vorbei. Die gönnten sich nach getaner Arbeit und dem sommerlichen Abendessen noch eine gemütliche Stunde und drehten jetzt nicht nur die Augen hin und her, dem verspielten Ding aus Federn und Gummi hinterher, sondern den ganzen Kopf, so als wäre dieser Federball der Mittelpunkt des sommerabendlichen Geschehens, von dem alles abhing. Der gefiederte Ball aber fing unbeeindruckt die letzten goldroten Sonnenstrahlen und purzelte – sich überschlagend – herunter auf den Schläger des Robotermädchens, traf ihn hart oder gnädig oder auch gar nicht, wurde hochgejagt und getrieben, bis er wieder aus der Bahn geriet, kurz in der schwächelnden Krone der Vorstadtlinde hängen blieb und sich dann aus einem sausenden Wirbel in den gewöhnlichen Gegenstand zurückverwandelte, der er zuvor gewesen war, um erneut zum gefiederten Geschoss zu werden und den Schläger der Lahmen zu bespringen.

Nach Luft schnappend und fröhlich keuchend brach das Mädchen im grünen Kleid das Spiel ab, erschöpft und nicht mehr fähig, Tempo, Kraft und Übermut in gleichem Maß beizubehalten. Aus. Es ging nicht mehr. Wieder irdisch und schüchtern geworden, gab sie dem Robotergeschöpf wortlos den Schläger zurück. Dann hüpfte sie davon. Sie war stolz auf sich, weil sie sich herabgelassen hatte, mit einer Gelähmten zu spielen, so sagten es die Erwachsenen und so legte sie es sich nachplappernd ebenfalls zurecht. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das ihr Glück bis fast zum Wahnsinn getrieben hatte. Es war der Genuss der Anstrengung, des Könnens, der Kunst, der Perfektion, die sie im Spiel entwickelt hatte. Dieses sich steigernde, sich selbst nährende und weitertreibende, bis zu Explosion hochkatapultierte Spiel, das sie gespielt hatte. Das war es. Und eingehüllt in die wehenden Tücher dieses Glücks hüpfte das grünweiße Kind nach Hause. Das Mädchen mit den Roboterbeinen blieb zurück. Es war dem Hüpfgeist fremd geblieben. Denn der besaß die Schwerelosigkeit und sagte sich aus tiefster Seele:

„Gott sei Dank, dass ich nicht so bin wie die da!“

Denn die Raserei der Bewegung war ja wirklich ein Glück – wenn auch ein lahm gelegter Körper kein Unglück sein muss. Aber das wusste das Kind noch nicht, und wusste auch nicht, dass es das noch erfahren sollte.

Die unerreichbare Orange

Sie sitzt im Rollstuhl und wartet.

Krüppel, Rollstuhlfahrer, Invaliden und andere solche warten immer. Warten ist ihre Lebensform. Sie warten, dass sie jemand saubermacht, sie warten, dass sie jemand füttert, sie warten, dass sie jemand schätzt, trotz ihres versehrten, verkümmerten Körpers ihre Seele schätzt und ihren unzulänglichen Körper heiratet.

Sie sitzt nicht und wartet, weil sie so geduldig ist. Sie sitzt und wartet, obwohl sie einen freien Willen hat, der ihr aber nichts nützt. Sie will die Orange, die vor ihr auf dem Tisch liegt. Aber sie kann ihren Arm nicht so weit ausstrecken, dass sie die Orange in die Hand nehmen könnte. Kann den Arm überhaupt nicht bewegen. Nur die Hand. Da kommt eine Freundin, ein Mensch, der gewillt ist, warum auch immer gewillt ist, ihr die Orange zu geben, sie für sie zu schälen – goldfarbene Kugel mit der kühlen, sanft punktierten Schale, innen von weißem Fließ umwattet, die segmentierten Fruchtstücke von durchsichtiger Haut zusammengehalten, und darin, eng aneinandergedrängt, die tropfenförmigen Saftbehälterchen, rosagoldfarben – die muss man auseinandernehmen. Doch genau da liegt das Problem: Sobald ein anderer Wille, eine andere Vorstellung ins Spiel kommt, beginnt der sich windende Krampf, das ziehende Unglück. Zunächst sieht es so aus, als würde dir der andere helfen und er hilft dir ja auch. Er erfüllt dir den geäußerten Wunsch. Aber doch nur irgendwie. Manchmal fragt er gar nicht nach deinen Wünschen. Aber auch wenn er es täte – es wäre belanglos, hoffnungslos. Denn niemals bist du selbst es, der die Orange schält! Du kannst es nicht. Er, der andere, schneidet sie in Scheiben und zerteilt die Scheiben mit dem Messer weiter in kleine Stücke. Genau diesen Umgang mit der Orange magst du aber nicht – überhaupt nicht! Du magst die Frucht so nehmen wie sie sich gibt. Die runde geschälte mattfarbene Saftkugel ohne Messer zerteilen und die vorgegebenen Fruchtsegmente in den Mund stecken, zuerst ein bisschen saugen, dann knapp und glatt zubeißen, ein Stückchen herunterbeißen, so geschickt, dass es nicht spritzt, dann noch einen Bissen und dann den Rest – hinter den Zähnen ausdrücken, mit der Zunge umkreisen, zwischendurch schlucken, jetzt kräftig mit den Zähnen bearbeiten, sodass auch die trockenen, gefaserten Teile zu Brei werden, und beim Schlucken alles langsam am Gaumen vorbeidefilieren lassen, damit der noch einmal den Geschmack hervortastet und dann hinunter, dahin, wo du nicht mehr zuständig bist.

„Das hättest du doch nur sagen müssen, so kann ich sie dir auch herrichten“, sagt ihre Freundin herzlich. Sie nimmt eine zweite dieser goldfarbenen, köstliche Säure versprühenden Früchte, nimmt sie nach ihrer natürlichen Einteilung auseinander, spaltet ein Stück ab und steckt es ihr in den Mund, weil sie das ja nicht selber kann. Aber genau das will sie ebenfalls nicht, will diese freundschaftliche Hand nicht riechen – nicht, dass sie etwas gegen Parfüm hätte, nein, keineswegs, aber nicht im misstönenden Zusammenklang mit ihrer Orange: Ihre wunderschöne Frucht von bittersüß leuchtend goldener Intensität und diese billigen Parfümfinger! Sie weiß schon, dass das ungerecht ist, dass es sie nichts angeht, welches Parfüm die Freundin kauft, es ist ja auch ein teures, durchaus hellduftendes Parfüm, aber in diesem Fall rückt es ihr auf den Leib, dringt ein in ihren Dunstkreis! Außerdem hätte sie sich den Orangenschnitz selbst nicht so weit in den Mund gesteckt, wie ihre Freundin es ziemlich gewaltsam macht. Dabei ist sie gar nicht gewalttätig. Sehr einfühlsam sogar. Aber sie, der Krüppel, sieht es so, kann nur so fühlen, weil das Schicksal oder wer auch immer sie vergewaltigt hat. Aufs Trockene gesetzt. Auf Eis gelegt. Zur Unbeweglichkeit verdammt.

„Ja, wenn du das nicht selber kannst, und es dir auch nicht passt, wenn dir die Freundin hilft, so gut sie kann, dann musst du dich eben aufhängen.“

Genau das geht aber nicht! Sie kann aus einem langen Seil keine Schlinge knüpfen, und selbst wenn sie es könnte, könnte sie die Schlinge nicht an den Haken an der Zimmerdecke hängen, und selbst wenn sie das könnte, sie könnte nicht auf den Tisch klettern, nicht aufstehen, nicht die Schlinge erreichen, nicht den Kopf hineinstecken, nicht vom Tisch springen, um endgültig zu baumeln. Genau das kann sie nicht!

*

Wahrscheinlich war sie ausersehen.

*

Noch ein solcher.

Er kam, und mit einem Schwall von Worten machte er sich wichtig. Sonst hätte man ihn übersehen. Auch so übersah ihn jeder. Doch wer im Rollstuhl sitzt, stößt gleichwohl in die Augen, unangenehm, wird aber trotzdem übersehen. Nein, ausgeblendet. Außer es ist ein Glasknochenmann. Sein Körper ist so unvorhersehbar verrenkt, aus gedrehten Knochen zusammengesetzt und wie hart gewordener Kaugummi – aber eben doch aus Glas. „Pling“, macht es, und der steife Kaugummiknochen ist gesplittert. Den dicken Kartoffelkörper schief in den Rollstuhl gefüllt, Kinderbeine und Kinderarme drangeklebt, mit einer kehlig-gepressten Kindermännerstimme. Die Stimme charakteristisch, sehr charakteristisch. Aber wer will schon Charakteristisches, wenn er Hochglanz haben kann, angenehm verwechselbar und deshalb so wunderbar leicht anzuschauen. Es schlägt dich nicht, es trifft dich nicht.

Dagegen redete er an, viel und laut. Und quietschig.

*

Wir sind ausersehen, denn wir sind Oberfläche und Hülle.

*

Das Kind mit dem dunklen Pferdeschwanz war lange nicht zur Besinnung gekommen, nachdem man es ins Krankenhaus eingeliefert hatte. Sprachlos. Fühllos. Die Bilder des Schreckens verstopften ihm das Hirn. Was war geschehen? Was? Was denn? Der Krankenwagen war in ihre kleine Straße eingebogen. Einer der beiden Sanitäter hatte geklingelt, hatte energisch gefordert, es solle herauskommen. Widerstandslos setzte sich das Kind in Bewegung und wunderte sich, warum es gehen konnte, wo es doch im Schrecken erstarrt war. Bekleidet war es mit einem schäbigen Nachthemd, darüber ein geflickter Morgenmantel – Kleidungsstücke, tragbar verschämt nur in der Intimität der kleinen Schlafkammer, die sie mit ihrer Großmutter teilte, aber nicht außerhalb, keinesfalls. Derart angetan also sollte das Kind jetzt auf die Straße treten. Die beiden Krankenwärter stritten sich, ob es auf die Bahre sollte oder einfach auf eigenen Füßen gehen und in den Wagen steigen. Gegenüber hingen, fielen die Leute aus den Fenstern. Das Kind trat zögernd aus dem Hausflur ins öffentliche Licht, tat einen weiteren Schritt auf den Gehsteig und wunderte sich, warum der Erdboden sich nicht öffnete, sie nicht verschlang und erlöste. Inzwischen waren die Wärter sich einig. Sie sollte sich auf die Bahre legen. Das Kind, fünfzehn Jahre lang dressiert, an Gehorsam gewöhnt, legte sich auf die Bahre. Da lag es. Auf dem Rücken. Ein hilfloser Käfer, der nicht einmal mehr zappelte im Leerlauf der Glieder. Wie viele Tode der Peinlichkeit war es in seinem kleinen Leben schon gestorben. Aber diesmal war es anders, war noch schlimmer: Das Kind konnte laufen, doch man zwang es auf die Bahre, zwang es, sich nicht zu bewegen. Was für ein Zeichen. Was für eine Vorausschau auf Kommendes.

Nach Jahren erst kehrte das Kind wieder zurück in dieses Haus. Da saß es im Rollstuhl, gelähmt bis zum Hals, tausendmal gedemütigt, zerquetscht, vernichtet.

Der Anfang

Was aber hatte seinen Anfang genommen?

Weiß war das Zimmer. Schmutzig weiß die Fensterrahmen. Die Bettwäsche weiß gestärkt. Von dieser Farbe gingen die Schrecken aus. Obwohl sie noch gar nicht wusste, dass die Abgründe, in die sie stürzte, ebenfalls weiß sein würden. Weiß auf weiß. Konturlos. Tief das Loch, hoch die Zellenwände. In Weiß erstickt man.

Da lag das Mädchen. Zuerst auf der Normalstation, dann in der geschlossenen Abteilung. Doch sie konnte laufen, es fehlte ihr nichts. Überhaupt nichts! Angst hatte sie trotzdem, große Angst. Die Hausärztin, eine strenge alte Frau, hatte sie mit ernsten Augen angeschaut und gesagt: „Das ist Kinderlähmung.“ Dann hatte sie sie eingewiesen ins Krankenhaus. Sie hatte es wohl gerochen, dass das Mädchen die Seuche mitgebracht hatte aus Italien. Nein, das konnte gar nicht sein! Sie war ja nicht krank, nur die Glieder schmerzten. Ein ganz klein wenig nur! Was und wer also hatte ihr die Angst eingeblasen? Und warum ließen sie sie nicht nach Hause? Was wussten die, die sie hier festhielten, was sie nicht wusste? Worauf warteten sie?

„Kann ich heute heim?“

„Nein.“

„Warum nicht? – Und morgen?“

An einem Abend dieser ersten beiden Wochen sollte es Pilze in Rahmsoße geben, so stand es auf dem Speiseplan, der herumgereicht worden war und wo man sich ein Gericht aussuchen konnte. Das Mädchen freute sich, es war ein bisschen wie im Hotel, man konnte wählen, was man essen wollte. Und oft war sie mit den Eltern im Wald gewesen, auf der Suche nach diesen fleischig wuchernden Gewächsen, angeordnet in geheimnisvollen Hexenkreisen, wohlriechend, wohlschmeckend. Das war eine ihrer Lieblingsspeisen!

Was jedoch am Abend von einer stummen Helferin im blauen Kittel auf dem Nachtkästchen abgestellt wurde, war eine zähe weiße Mehltunke mit braunschleimigen Brocken. Sie begann zu essen. Versuchte auch zu schlucken – zu Hause wurde immer alles aufgegessen. Sie würgte, der Bissen kam hoch, sie versuchte ihn noch einmal zu schlucken. Würgte und würgte und wollte aufspringen, nichts wie weg, weg von dem Unheil, das auf sie zukroch. Aber ihre Beine schmerzten, hatten bereits am Nachmittag wehgetan. Jetzt ließen sie sich kaum noch bewegen. Sie erbrach nicht nur die Pilze. Gurgelte unverständliche Laute heraus. Da stand auch schon die Schwester in der Tür, als ob sie nur darauf gewartet hätte, warf einen raschen Blick auf das Mädchen mit den panischen Augen, das halb aus dem Bett hing und sich schwerfällig den Schleim vom Mund wischte. Offensichtlich wusste sie einzuordnen, was die Gepeinigte nicht verstand. Dann entstand Bewegung auf der Station. Mehrere Menschen eilten herbei. Die legten das Mädchen in die Eiserne Lunge.

Umschlossen von der Atemtonne, erstarrt unter einer Glocke namenloser Schrecken, rasten blinde Bilder durch ihren Kopf. Gefühle hatte sie keine mehr. So lag sie. Keiner Bewegung mächtig. Machtlos.

Irgendwann nahm sie dann doch etwas wahr. Aber sie verstand es nicht. Sie konnte nicht einmal den Kopf schütteln, den sie draußen gelassen hatten, außerhalb der Eisernen Lunge. Den Hals umwickelt mit einem Kragen, der die Schleuse zwischen Atem-Maschine und Kopf abdichtete. Damit keine Luft entwich. Atemluft.

Drinnen Leere. Leere, gefüllt mit springendem Entsetzen.

Irgendwann pendelte es sich ein. Irgendwann, irgendwie und offenbar auch planmäßig. So als ob das, was passierte, normal wäre. Normal! Normal! Sie verstand es nicht, überhaupt nicht! Begriff gar nichts. Eine fremde Art von Alltag war da im Gange. Sich ähnelnde Vorgänge zumindest. Die sie betrafen, sie aber nichts angingen: Tagsüber die Prozession der Ärzte, auch Schwestern und Eltern in weißen Kitteln, denn Kinderlähmung war ansteckend. Nächte, ertaubt in der Bodenlosigkeit des Geschehenen. Was aber war geschehen? Was eigentlich? Etwas hatte sich an sie herangeschlichen! Aber was? Das zu verstehen war unmöglich und sie verweigerte sich auch.

Die Nächte voll zermalmender Seelenqualen. Stumme Hilfeschreie, rasend hinausgestoßen, hinausgeschleudert. Wem ins Gesicht? Und dann dieses WARUM – „Warum gerade ich?“ – dieses besinnungslose, hemmungslose, zwecklose „Warum“. Sie nahm alles sehr persönlich damals.

Weitere Wochen der Quarantäne. Ärzte, Schwestern, Eltern. Alle in Weiß. Dann heraus aus der weißen Abgeschiedenheit. Was nichts bedeutete, denn es war wieder ein schmales, weißes Zimmer und sie – eingefüllt in die Eiserne Lunge. Die Farbe ewiger Verdammnis ist weiß.

*

Aus der Wüste kam der Wind. Von weit her. Die Ebene vor der Stadt lag schutzlos dargeboten im fahlen Licht. Ein Pferd tauchte aus der Ferne auf, kam rasch näher, blieb zitternd stehen und raste weiter, denn tausend Teufel jagten es. Dann trat wieder Stille ein, die wimmernde Stille des Todes. Da lag es, das Neugeborene. Der Pfahl hatte die Brust durchbohrt, da wo sich die Bronchien befanden. Der weiße kleine Körper atmete fast nicht. Die Glieder bewegten sich einzeln, wie bei einem Käfer, der auf den Rücken gefallen war – ein Ärmchen und dann ein Beinchen und wieder ein Ärmchen. Offenbar lebte das Kind noch, war eine lebende Leiche. Aus der Wunde quoll Schleim. Unaufhaltsam. Weiß die kleinen Glieder, weiß wie die toten Kinder nach dem Mord von Bethlehem. Eine ganze Ebene vor der Stadt voll weißer Maden. Sich windend, zuckend, still. Ganz still. Doch diese hatten die Schergen des Königs getötet. Sie würden nicht ihr Leben lang gepfählt sein. Waren nicht Abfall und Ekel. Und Hass.

Die Nächte

Es waren die Nächte im Krankenhaus, in denen sich ihre Tragödie abspielte. Am Anfang gab es nur Nächte, dann immer weniger Nächte und schließlich schlief sie in der Nacht. Aber auch dann war nichts vorbei. Diese Nächte waren es, in denen sich die Abgründe auftaten und das Unfassbare hervorquoll. Die Welt zerbarst, immer und immer wieder. Und sie wurde zerrieben, zerstückelt. Sie war nicht mehr. In diesen Nächten versuchte sie es sich in den Kopf zu treiben, sich einzuhämmern, die Tragweite abzumessen. Sie lebte – in einer unbeweglichen Hülle. Ihr Leben brüllte, aber es bewegte sich nicht. Tot war sie nicht. Aber was dann? Es sollte ihr endlich klarwerden, was ihr passiert war: Sie hatte lebenslänglich bekommen. Ohne Gerichtsverfahren und ohne Richter, nicht verordnet, nicht verhängt. Einfach so!

„Helft mir! Helft mir doch!“ Immer wieder schrie sie es tonlos hinaus. Das verstopfte sie. Sie war ein starrer, mit Haut überzogener Popanz, eine groteske Vogelscheuche. Der Körper bewegte sich nicht mehr. Aber sie lebte. Wo? Innen drinnen? In einem Betonblock? Aber nein. Ihre Haut war warm und kalt und spürte Berührung. Der Körper vollführte die täglichen Verrichtungen. Nahm Wasser und Essen auf. Er schied Exkremente aus, wenn auch nur mit Nachhilfe. Sie lebte in einem Kokon, gebildet aus eigener Haut, den eigenen Knochen. In der Zwangsjacke des bewegungslosen Körpers.

Zwei Jahre zuvor war sie zwölf gewesen und ihre Erfahrungen mit dem lieben Gott waren bisher wechselweise intensiv oder gleichgültig. Als Kind war sie gezwungen gewesen, jeden Sonntag mit den Eltern in die Kirche zu gehen. Die Mutter hatte geglaubt, dieser Gang sei zu verschönern, wenn sie dem Kind ein frühes Pelzmäntelchen kaufte, ein hübsches weiches graues Fellchen, das das Kind durchaus gerne streichelte. Aber das protzende Wohlmeinen der Mutter hatte das Kind Spießrutenlaufen lassen. Kein anderes Mädchen trug so ein Mäntelchen. Wenn eine Schulfreundin ebenfalls vor der Kirche stand, dann war es weniger bedrückend, dann durfte das Kind auch kurz zur Freundin hingehen und sie begrüßen. Ansonsten hatte es bei den Eltern zu stehen. So stand das Kind – trotz oder vielleicht auch wegen seines teuren Mäntelchens eine graue Maus – auf dem Kies des Kirchplatzes, langweilte sich stumm, wand sich, ausgesetzt in Pein, verhielt sich verstockt, weil es nicht wusste, wie es sich benehmen durfte, grüßte und schüttelte Hände, wenn es befohlen war, denn es hatte gelernt, dass alles befohlen wird, das meiste aber verboten war, in jedem Fall nicht nach eigenem Willen, eigener Meinung, eigenen Wünschen zu handeln ist. Es war ein niedliches Kind, ein Kind, das immer schöner wurde – und gut dressiert. Vor allem die Mutter zeigte es gerne vor.

Dann kam die Periode des sinnlich-erotischen Andrangs zu Gott. Es war wohl zur Zeit der Maiandachten. Ein kleines Altärchen aus einer Streichholzschachtel selber gebastelt, mit einem goldenen Stückchen Stoff überdeckt. Rechts und links zwei winzige Kerzen, dahinter das kleine papierene Marienbildchen. So stand das ehrfürchtig platzierte Dingelchen auf der Kommode in der Kammer, die das Kind mit seiner Großmutter bewohnte. Die Kerzchen durften nicht angezündet werden, denn dann wären sie ja gleich weggeschmolzen und das Altärchen zerstört gewesen. Von hier aus flatterten kleine, stumme, aber inbrünstige Gebete gen Himmel.

Oder besser noch in der Kirche: Das Kind versuchte mit allen Kräften und Sinnen in Ekstase zu geraten, sich von den Weihrauchschwaden betäuben zu lassen, sich dem Gesang hinzugeben, in der weiten Kirchenhalle aufzugehen, sie ganz mit sich zu erfüllen, von ihr erfüllt zu werden. Sie versuchte es – drängender noch als vor seinem Privataltärchen – sehnsüchtig, schmelzend, zerfließend – mit Kraft und hartnäckigem Begehren. Es gelang nicht. Gott offenbarte sich ihr nicht. Da er sie nicht wollte, lehnte auch sie ihn ab. Sie wurde ungläubig – meinte sie. Doch danach im Krankenhaus, da kamen – wie gesagt – die Nächte. Da machte sie endgültig den Aufstand. Sie ganz allein gegen Gott. Allerdings nur, wenn sie allein war, wenn es niemand hörte. Da hatte sie von vornherein schon verloren. Das aber konnte sie noch nicht begreifen. Da trotzte sie wieder. Dann flehte und wimmerte sie. In sich hinein: „Warum geschieht mir so etwas. Wenn Du Gott bist! Warum? Warum? Warum gerade mir?“ Offenbar war das Kind in diesen Nächten der Meinung, die Lahmlegung hätte besser anderen zustoßen sollen. Es war übrigens tatsächlich Kinderlähmung. Die Schluckimpfung kam bald danach. Aber jetzt gab es noch keine Rettung. So hatte es sie getroffen, ausgerechnet sie, sie und nicht die anderen, sie war gezeichnet worden, erschlagen, vernichtet – warum? Warum gerade sie? Sie brüllte lautlos, sie tobte und zerbrach in hilflose Scherben. Denn niemand sollte ihre Qual hören. Und wieder heulte sie und schrie, bis sie in der Wortlosigkeit verelendete, im Schrei erstickte. Sie machte Gott die gröbsten Vorwürfe. Ihm persönlich. Sie pöbelte ihn an, sie spuckte ihm vor die Füße. Als die Anwürfe und der Jammer, die Klagen, die röhrende Verzweiflung, die Auflösung in Tränen, Rotz und Schleim, das fressende Elend und die lähmende Machtlosigkeit nicht mehr zu steigern waren, gab sie den lieben Gott auf, diesmal endgültig. Sie ließ ihn einfach in Ruhe. Er sie auch.

*

Das große unfassbar helle Alleinsein. Strenge Palastmauern. Häuserreihen zum unerbittlichen Viereck gestellt, blendendes Licht, undurchdringlich. Du kannst dich nicht verstecken. Ein Schornstein dahinter, der alles überragt. Daran hält sich mit letzter Kraft ein erstarrtes Rauchwölkchen. Im Wind erfrorene Fahnen auf den Hausgiebeln. Zwei Figuren, die über den riesigen Platz wandern und lange schwarze Schlagschatten werfen. Wo ich?

Die Kröte

Das randlos schwarze Loch könnte der Eingang zu einer Höhle sein. Da sitzt sie, breit hingelagert und unbewegt. Gegenwärtig ist sie sesshaft im ungeformten Raum. Keiner hat sie kommen sehen. Ihre quellenden grüngoldenen Augen blicken groß. Überspielt vom matten Schimmer ihre dunkle Kastanienhaut. Nicht Samt, nicht Leder, pulsierendes Leben, auf dem rote und blaue Lichter schwimmen. Sie ist, was sie war und sein wird: die Muttergottheit des Unfassbaren, Bedrängenden. Keine schwarze Königin, sondern die Einzige, die Göttin des Schleims und des Kots, der Samenflüssigkeit und des Blutes, das rot fließt und stockt und zu stinken beginnt. Schlimmer noch: halb getrocknetes Menstruationsblut, ranzig, schmierig, aus weiblichen Leibern geflossen.

Doch Auswürfe des Körpers sind die Opfergaben, die sie entgegennimmt – ohne Regung. Dunkle Erscheinung einer gärenden, faulenden, lösenden Unterwelt. Nur sie ist hier zu Hause. Sie nimmt den Zerfall nicht übel. Im Gegenteil. Sie beherrscht ihn. Sie ist die Schönheit. Sie ist der Trost. Sie ist.

Die weißen Rosen

Sie war eine junge Krankenpflegerin von den Barmherzigen Schwestern. Das sind die mit den großen, weißen, steifen Flügelhauben, die bei jedem Schritt nicken. Dazu freundliche, oft lachende dunkle Augen. Einfach, kräftig und zupackend. Die Blumen, die das Mädchen von seinen zahlreichen Besuchern bekam und die ihr das Liebste an diesen Besuchern waren, nahm die Schwester nach spätestens einem Tag an sich – für die Krankenhauskapelle. Das bürgerte sich so ein. Weil das Mädchen sehr jung war und verschwenderisch viele Blumen bekam, konnte es großzügig sein. Aber die weißen Rosen, ein überwältigender Strauß weißer Rosen, so kostbar, kalt und unwirklich – den wollte sie nicht hergeben. Ansonsten arrangierte sie sich mit Gott: Als sie Monate später raus war aus der Quarantäne – denn Kinderlähmung ist ansteckend – und der Pater zur Beichte angekündigt wurde, teilte sie sich mit ihrer Zimmernachbarin die Sünden – damit ihnen nicht langweilig wurde und er nicht enttäuscht war. Aber die Kirche rächte sich an dem Mädchen in Person eines neuen Krankenhaus-Pfarrers. Er war jünger und galt als fortschrittlich. Doch er behauptete, dass man nicht grundlos zu seiner Behinderung komme. Das würde immer mit den Sünden zusammenhängen, die man begangen habe. Das Mädchen war fünfzehn und ganz sicher, dass er kapitalen Schwachsinn redete. Aber seine Sinnfindung zu ihren Ungunsten hatte sie doch tief getroffen. Sie konnte lange Zeit nicht von dem Gedanken loskommen, musste ihn immer und immer wieder empört zurückweisen, sich erregen, mit Worten wehren und mit höhnischem Lachen. Und erzählte es allen. Und alle mussten sich gemeinsam mit dem Mädchen empören und bestätigen, dass es nicht so war, nein, auf keinen Fall, was für eine Unverschämtheit, was für ein mittelalterlicher Kirchenspaß, was für ein mitleidsloses Gerede bei einer sowieso mit schwerem Schicksal geschlagenen Jugendlichen. Das war dem Mädchen auch wieder nicht recht. Denn sie war nicht arm, nicht geschlagen, nicht zu bemitleiden. Sie war stolz, schön und dieselbe, die sie immer gewesen war.

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Sie fühlte so viel Kraft, dass sie vor Gelächter zerbarst.

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Atmen ist Schwerarbeit.

Die Eiserne Lunge

Am Tag war es hell. In den Nächten dunkel, oder vielleicht auch hell. Wer weiß. Ihr jedenfalls bedeutete das nichts mehr. Sie lebte in sich hinein. Außer Kopf und Gesicht konnte sie nichts bewegen. Wie hätte sie also nach außen leben sollen. Nach außen greifen. Die Eiserne Lunge war eine große Tonne auf einem Untergestell, die man mit einem gewölbten Deckel öffnen konnte. In diesen länglichen, rundgeformten Sarg, ähnlich einer Jahrmarkts-Rakete oder wie das Unterwasserfahrzeug aus einem James-Bond-Film, nur nicht so windschlüpfig und schick, eher plump, da hatten sie sie hineingehoben, als sie kein Glied mehr rühren, nicht mehr atmen konnte. Dann wurde sie mit dem eisernen Deckel verschlossen. Bloß der Kopf schaute vorne heraus. Der Kopf vom Rumpf getrennt. Geköpft. Der abgetrennte Kopf auf einem Kissen, in einer Art flachen Körbchen, wie bei den Geköpften der Französischen Revolution, nur, dass sie nicht tot war, sondern nur untot. Oder vielleicht doch tot.

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Wie ungerecht von Gott, ein Kind in die Welt zu schleudern, ihm Gaben mitzugeben, die hoffen lassen, hoffen auf eine prächtig sich entfaltende Zukunft, und sie dann mit fünfzehn in einen unbeweglichen Körper zu sperren und sich selber dabei zuschauen zu lassen.

Und wenn es Gott nicht war, dann war es die gleichgültige Natur, der man keinen Vorwurf der Benachteiligung und der Unachtsamkeit, der Untreue und der Vernachlässigung machen kann. Denn sie ist einfach und befördert oder zermalmt alles, was da ist, ohne Anlass, ohne Grund, ohne Absicht.

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Es gibt nichts Unbarmherzigeres als eine Winterlandschaft, in der es schneit und schneit bis ans Ende der Welt und aller Zeiten. Dunkelgrau der Himmel, aschgrau die Landschaft mit eckigen oder rundgebogenen Zweigen an den Bäumen, die leblos hineinragen, hineinstarren in den grauen Brei aus Landschaft und feuchtem Dreck und schmutzigweißen Flocken, die auf den fahl wässrigen Boden fallen, ihn um Feuchtigkeit und Dreck bereichern und alles ertränken in diesem unerbittlich gleichmäßigen Flockenfall. Tauet Himmel den Gerechten. Wolken regnet ihn herab.

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Der größere Rest ihres Körpers wurde beatmet. Mit einer genau eingestellten Frequenz. Alles sehr sachlich. Das tröstete nicht. Aber es forderte Aufmerksamkeit. Der junge Arzt, der ihr erklärte, was sie zu tun hätte, wenn er die Maschine kurz abstellen würde – atmen, fest atmen, so gut es ging. Sie atmete, obwohl es nicht ging. Sie versuchte, Luft hineinzuziehen in sich. Sie schnappte nach Luft, sie röchelte. Nach einer Minute Erstickungsübungen wurde die Maschine wieder angestellt und atmete ihre lahme Lunge zuverlässig. Gott sei Dank. Am nächsten Tag eine Minute mehr ersticken, am nächsten noch eine dazu und so weiter, bis sie nach etwa einem halben Jahr ins Bett gelegt werden konnte und tagsüber ohne Eiserne Lunge auskam. Aber das ist zu weit vorgegriffen.

Der junge Arzt gefiel ihr, und da sie mit der Übersiedlung ins Krankenhaus, in die Gruft der eisernen Lunge, ihrem Familienkindergefängnis entronnen war, konnte sie jetzt anfangen zu leben, ein neues Leben, ein wirkliches Leben, ihr eigenes Leben. War es wirklich ihr eigenes? Darüber machte sie sich damals noch keine Gedanken. Sie war herausgerissen worden aus der Familie. Für sie klang das nach „ausreißen“. Wenn es nicht so gekommen wäre, wäre sie sowieso bald von daheim durchgebrannt – nirgendwohin, überallhin, nur nicht mehr umzingelt von den Eltern, der Mutter.

Als sie zwölf gewesen war und, ohne es selbst richtig wahrzunehmen, voll schüchternem erotischem Interesse einen jungen Mann angestarrt hatte, war ihr Vater mit zerschmetternden Worten über sie hergefallen. „Ah, schau sie an, wie sie Männer anglotzt, anhimmelt! Was willst du denn von den Männern? Wie dir die Augen rausfallen!“ So grob, so viel Spott, so viel Hohn, so viel gemeiner Vorwurf – das war sie von ihm nicht gewohnt. Sie erstarrte und merkte es sich vorläufig lebenslang: Männer nicht anschauen, Männer nicht bemerken sollen. Dieser so massiv begonnene Sexualkundeunterricht war fortgesetzt worden. Mit Sorge, mit Angst um die Kleine. Sie sollte nicht vorzeitig ein Kind bekommen. Es gab ja die Pille noch nicht. Und außerdem war Sex etwas Übles, Ekliges, daran sollte sie immer denken. „Sie haben ein paar Minuten ihren Spaß mit dir, die Männer, und dann sind sie auf und davon“, sagte ihr Vater, der selber ein Mann war und noch dazu ein zarter, mit verächtlich-wütendem Abscheu.

Jetzt also war sie überraschend entflohen aus der Familie. Sie war über Nacht erwachsen geworden, ihr eigener Herr. Ihre eigene Herrin. Sie wollte dem jungen Arzt zeigen, dass er ihr gefiel. Sie konnte es jetzt, denn sie war frei. Sie wusste damals noch nicht, dass lebenslang behinderte Menschen niemals mehr frei sind, keine Menschen sind, sie sind Patienten, bestenfalls Klienten, Objekte, Anschauungsmaterial. Wie zeigt man seine Kleinkinderliebe, wenn man schüchtern gemacht worden war, fünfzehn Jahre lang? Sie sang ihm einen sentimentalen, aber hochaktuellen Schlager vor – „Cindy, oh Cindy, dein Herz muss traurig sein …“ – und immer im Takt der Atemmaschine, die dir jeden Laut nimmt, wenn sie für dich einatmet und dir erst zu reden gestattet, wenn sie dich ausatmet. Sie sang also einen Schlager, mit Atemlücken versetzt, dessen Text sie stolz auswendig wusste. Sie hatte damals nicht begriffen, dass der Angebetete gebildet war, ein Akademiker, der Schlager verachtete, die kleine Bewegungslose in der Eisernen Lunge verachtete. Aber er interessierte sich immerhin für das Stück Treibgut, das ihm da angeschwemmt worden war. Deshalb kam er öfter ins Zimmer und betrachtete immer wieder neugierig seine Versuchsanordnung, die Reaktion des Karnickels, wohlwollend durchaus. Beispielsweise als die Eltern die Fotos von den letzten unbehinderten Ferien mitbrachten. Vom Urlaub am Strand von Caorle.

Sie hatte das Foto lange angesehen. Sie schaute es immer wieder an. Man hatte es auf ihren Wunsch an dem Spiegel befestigt, den die in der Eisernen Lunge Liegenden vor dem Gesicht hatten, damit sie ein wenig hinter sich schauen, wenigstens irgendetwas anschauen konnten. Das Foto machte sie stolz, denn sie war schön auf dem Foto, und machte sie sterbenstraurig, denn was sie jetzt von sich wahrnahm, diese Überreste ihres schönen Körpers, war, ja war – das Gegenteil: war unnennbar, behängt nur mehr mit sich ablösenden Hautfetzen einer mühsam erworbenen italienischen Sonnenbräune. Und unter der abblätternden braunen Haut war ein neues Lebewesen erschienen, hatte sich etwas Unfassbares entpuppt: Der auf dem Foto wohlgeformte Körper war formlos geworden, knochig, schlaff, mit einem Wort unkenntlich – und doch war sie es, ja, sie war es. „Ich bin auf einen Schlag alt geworden, ich werde mein Leben lang alt sein“, sagte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen zu dem jungen Arzt und starrte ihn ungläubig an. Wie sollte sie auch jetzt schon begreifen, was ihr geschehen war. Später erst verstand sie selbst, was sie damals mit dem Satz gemeint hatte. Ihr Körper, also sie, war nicht mehr begehrenswert, ihre Haut konnte nicht mehr zu Markte getragen werden. Sie war im Zeitraffer in ein anderes Leben gerutscht. In eine andere Welt. In die Welt der Minderen, der Wertlosen.

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