Das Leben ist kurz - brechen wir die Regeln - Gabrielle Jesberger - E-Book

Das Leben ist kurz - brechen wir die Regeln E-Book

Gabrielle Jesberger

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Beschreibung

Nach der Entlassung aus dem Internat verliebt Annerose sich Hals über Kopf in einen Mann, der ihr den Himmel auf Erden ver-spricht. Beim Wiedersehen nach Anneroses Tod erkennen ihre Freundinnen die Besonderheit ihrer Freundschaft. Gisela erfährt durch den Ausdruck des feministischen Geistes in der Kunst ein Heilmittel für ihre Seele, um das Trauma der Vergewaltigung zu verarbeiten. Barbara findet nach ihrer Scheidung einen neuen Partner. Murielle entdeckt nach einer schweren Ehekrise die Liebe zu ihrem Mann neu. Verena folgt endlich den Spuren ihres Heimwehs nach ihren jüdischen Wurzeln und reist nach Kreta. Der grausame Mord durch die Stasi an Barbaras Cousin kommt erst nach dem Mauerfall ans Licht. Jede findet ihren Weg, wenn es dabei auch so manchen scheinbaren Umweg gibt. Der rebelli-sche Geist ihrer frühen Jahre wird sanfter. Visio-nen haben alle noch, doch auch diese veränder-ten sich im Laufe der Zeit. Das alte Motto hat ausgedient. Jetzt gilt: "Das Leben ist kurz, machen wir es uns gegenseitig so schön wie möglich. Und Männer können kommen oder gehen, aber unsere Freundschaft bleibt!"

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Seitenzahl: 745

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Gabrielle Jesberger

Das Leben ist kurz - brechen wir die Regeln

Roman über die 68er

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

VORWORT

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6

Teil 7

Impressum neobooks

VORWORT

Das Leben ist kurz –

brechen wir die Regeln

ROMAN

über die 68er

GABRIELLE JESBERGER

Das Leben ist kurz!

Brich die Regeln,

vergib schnell,

küsse langsam,

liebe wahrhaftig,

lache unkontrolliert

und bereue nichts,

was dir ein Lächeln geschenkt hat.

Mark Twain

MEINER LIEBEN FAMILIE

Ohne das Glück

das ihre Liebe meinem Leben schenkt

hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.

Wir alle sind Grenzgänger.

Um voranzuschreiten im Leben und

uns weiterzuentwickeln,

müssen wir manchmal Grenzen überschreiten.

Im Jahr 1907 publizierte Einstein in seinem „Jahrbuch der Radioaktivität“ die berühmte Gleichung (Energie ist Masse mal Lichtgeschwindig­keit zum Quadrat, kurz: E=mc²) und die Welt war plötzlich eine andere. Die Entdeckung der Kernspaltung war danach nur eine Frage der Zeit und 1938, ein knappes Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, war es dann soweit. Die fatale Wirkung wurde der Welt dann am 6. August 1945 mit dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima bewusst. Doch zuvor, im Frühjahr 1945, ging der 2. Weltkrieg in Europa mit 60 Millionen Toten und einem unermesslichen Leid zu Ende.

Für den östlichen Teil Europas endete der 2. Weltkrieg allerdings erst Ende der 80er-Jahre, als die sowjetische Macht – aus welchen Gründen auch immer – auf den Einsatz von Waffen gegen die nach Freiheit strebenden Menschen verzichtete. Die Zeit davor war gekennzeichnet von Mauern und Zäunen, vom Kalten Krieg, atomarer Aufrüstung, Rivalitä­ten bei der Eroberung des Weltalls, blutiger Niederschlagung demokrati­scher Bewegungen im Ostblock sowie Studentenbewegungen und Links-Terror in Westeuropa. Es folgten Frauenbewegungen, Anti-Atomkraft-Demonstrationen, die Tschernobyl-Katastrophe und der sowjetische Niedergang.

Bis heute noch wird darüber diskutiert, ob der Kommunismus eine wunderbare Idee von Gleichheit, Brüderlichkeit und Solidarität – fast im Sinne christlicher Tradition – ist, die nur einfach schlecht umgesetzt worden ist, oder doch eine grauenhaft totalitäre Ideologie, welche mit Perfektionismus realisiert wurde (beim nationalsozialistischen Faschismus wohl unbestritten, dennoch ist man bis heute auch in demokratischen Gesellschaften kaum daran interessiert, beide Systeme vergleichend zu betrachten).

Heutzutage erleben die kommunistischen Ideen eine erneute Beliebtheit. Deutlich wird dies bei den gegenwärtigen Protest- und Klimaschutz-Demonstrationen, wo gelegentlich auch rote Fahnen mit Hammer-und-Sichel-Symbolen zu sehen sind. Dazu könnte einem der be­rühmte Scherz von Winston Churchill in den Sinn kommen: „Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit vierzig Kommunist ist, keinen Verstand“, was den Sinn dieser Demonstrationen aber sicher nicht trifft.

Bei dem Buch von Gabrielle Jesberger handelt es sich damit nur auf den ersten Blick um einen historischen Roman über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit schonungsloser Dokumentation politischer Geschehnisse. Im Hintergrund des Konflikts der Ideologien präsentiert sich ihre Philosophie der Einheit und der Liebe: „Es geht eine Türe auf – sagt eine ihrer Protagonistinnen – ich erfahre die Wirklichkeit jenseits des Alltags in mir und erkenne, ich bin viel mehr als dieser vergängliche Mensch. Ich finde die ursprüngliche Heimat allen Lebens und fühle mich verbunden mit dem, was viel größer ist als mein vergängliches Ich.“ Dem kann man nicht widerstehen.

„Was dir begegnet, wurde für dich von Ewigkeit an vorbereitet, und die Verflechtung der Ursachen verkettet seit Urzeiten dein Entstehen und dieses Begebnis“, schrieb Marc Aurel in seinem Buch „Wege zu sich selbst”, 2. Jahrhundert n. Chr.

Wir beide haben die Welt mit dem Beginn des Kalten Krieges im Jahr 1961 erblickt, wuchsen getrennt durch den Eisernen Vorhang in ideologisch sich gegenüberstehenden Systemen auf und trafen uns zum ersten Mal, als der Eiserne Vorhang längst Geschichte war. Vergangene Ideologien konnten es nicht schaffen, unsere Herzen und geistige Verwandt­schaft zu trennen. Hermann Hesse schrieb einmal: „Gewonnen hat im­mer der, der lieben, dulden und verzeihen kann.”

Uhwiesen, Schweiz, im Mai 2020

lic. iur. et phil. Katja Hiller

Dr. oec. J. David Hiller

Katja Hiller, geb. in Bulgarien, Rechtsanwältin in eigener Kanzlei und David Hiller, geb. in Stuttgart, Unternehmer in der Klebstoffbranche, leben seit 1996 bzw. 2003 in der Schweiz.

Unsere Verabredung mit dem Leben

findet im gegenwärtigen Augenblick statt.

Und der Treffpunkt ist genau da,

wo wir uns gerade befinden.

Gautama Buddha

PROLOG

Sommer 1945: Der Zweite Weltkrieg war zu Ende, Hitlers Reich zerstört, das alte Deutschland gab es nicht mehr. Hunderttausende Ausgebombte oder aus der Heimat Vertriebene suchten ein Dach über dem Kopf. Mit gehäuften Angriffen und endlosem Bombenhagel auf deutsche Städte seit Frühjahr 1942 wollten die Alliierten den Widerstand der Bevölkerung brechen, es war ein Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung. Bald hatte der Fliegeralarm zum Alltag gehört.

Rund sechshunderttausend Zivilisten sind nach Schätzungen von Historikern in Deutschland durch die Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs umgekommen. Die Bomben und der Feuersturm mit etwa tausend Grad – wie 1943 im Juli in Hamburg, 1945 im Februar in Dresden, im März in Frankfurt, Würzburg und Aschaffenburg – hatten etwa neunzig Prozent der Städte zerstört. Von Berlin bis Freiburg traf es fast jede größere Stadt. Heute noch werden Blindgänger geborgen, die bei Bauarbeiten oder von Kindern beim Spielen gefunden werden. Nach Schätzung von Experten müssen etwa fünfhundert Jahre vergehen, bis alle Bomben und Handgranaten des Zweiten Weltkrieges entschärft sind. Es heißt, das erste Opfer eines Krieges ist die Unschuld, es ist auch sein letztes.

Im Oktober 1945 begann der erste Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Deutsche Politiker, Militärs und NS-Funktionäre wurden für die Planung und Durchführung eines Angriffskrieges, Verbrechen an der Zivilbevölkerung und an Kriegsgefangenen sowie für den Massenmord in den Vernichtungslagern strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Von den vierundzwanzig Angeklagten wurden zwölf zum Tode, sieben zu Freiheitsstrafen verurteilt und drei freigesprochen. „Ver­brechen gegen die Menschlichkeit“ ist ein Straftatbestand im Völker­strafrecht, gekennzeichnet durch einen ausgedehnten oder syste­mati­schen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung, erstmals festgelegt für den Internationalen Militärgerichtshofs. Der englische Begriff „human­ity“ kann sowohl mit Menschlichkeit als auch mit Menschheit übersetzt wer­den. Karl Jaspers und Hannah Arendt sprachen von Verbrechen gegen die Menschheit. Arendt schrieb dazu 1963: Das den Nürnberger Prozes­sen zugrunde liegende Londoner Statut hat […] die „Verbrechen gegen die Menschheit“ als „unmenschliche Handlungen“ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geworden sind; als hätten es die Nazis lediglich an „Menschlichkeit“ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.

Das Land lag am Boden, aufgeteilt von den Siegermächten Großbritannien, Frankreich, USA und der Sowjetunion, die die Kontrolle im Land übernahmen und vier Besatzungszonen errichteten. Die westlichen Besatzer wollten die Bevölkerung zur freiheitlichen Demokratie erziehen, um sich wieder selbst versorgen zu können. Für den Wiederaufbau und die Verwaltung wurden Fachleute gebraucht, doch es gab zu wenig durch die Kriegsopfer und nur wenige, die durch das NaziRegime nicht belastet waren. Das ganze Ausmaß des Holocaust sollte erst nach und nach ans Tageslicht kommen.

Zu den tiefsten Sehnsüchten der Menschen gehört der Frieden. Nach sechs Jahren war er endlich wieder im Land. Doch spätestens ab 1947 standen die USA und die UdSSR in einem – in unterschiedlicher Intensität geführten – sogenannten Kalten Krieg, der Europa zerriss. Was dies bedeuten sollte, konnte sich anfangs niemand vorstellen. Ebenso wenig, dass die ganze Menschheit jahrzehntelang eine ultimative Konfrontation der beiden Weltmächte erleben sollte, weil die Supermächte sich als Feinde gegenüberstehen würden. Eine Machtprobe, bei der die ganze Welt auf dem Spiel stand. Und doch gehörte der Kalte Krieg irgendwann für die Bevölkerung in Ost und West zum Alltag. Und nach der Angst während des Zweiten Weltkrieges sollte bald eine neue Angst die Gesprächsthemen beherrschen: Die Gefahr eines Atomkrieges.

Die Überlebenden sammelten alle Kräfte, die sie in ihrer Erleichte­rung und Freude durch das Ende des himmelschreienden Wahnsinnes dieses Krieges fanden. Doch wie konnte ihnen mit dem Erbe des Nazi-Regimes ein Neuanfang gelingen? Und wie war das Vakuum zu füllen, das die Nazis hinterlassen haben? Entschlossen sprachen sie von der Stunde Null und schauten nur nach vorn. Zwölf Millionen Menschen waren heimatlos. Geschlagen und ohne Hoffnung drängten die meisten in die Städte, von denen zahlreiche mit Hilfsgeldern des Marschallplanes wiederaufgebaut wurden. Der Osten führte die allgemeine Arbeitspflicht ein. Die Frauen wurden als sogenannte Trümmerfrauen eingesetzt, nur so bekamen sie Lebensmittelkarten. Im Westen waren Frauen die Ausnahme beim Wiederaufbau.

Anfang 1948 war Ludwig Erhard zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der amerikanisch-britischen Bizone – Vorgängerregierung vor Gründung der Bundesrepublik mit Sitz in Frankfurt – ernannt worden. Heute wird Erhard als „Vater des Wirtschaftswunders“ der Wiederaufstieg Westdeutschlands zugeschrieben. Anfangs war seine Politik extrem umstritten. Fast vergessen ist, dass es im November 1948 den bislang einzigen Generalstreik in der Bundesrepublik gab. Die Gewerkschaften hatten mehr als neun Millionen Beschäftigte dazu mobilisiert. In tausenden Betrieben stand alles still. In der DDR kam es am 17. Juni 1953 zum Generalstreik gegen die stalinistische Wirt­schaftspolitik. Es war der erste offene Protest, die erste politische und demokratische Erhebung. Russische Panzer schlugen sie brutal nieder. Es gab Tote und Verletzte.

Die Not in den Nachkriegsjahren war groß; Millionen Menschen hungerten und hausten in unbeheizten Baracken und Ruinen. Für das alte, praktisch wertlose Geld konnten sie kaum etwas kaufen. Die Produktion der Wirtschaft lag am Boden. Im Juni 1948 hatte Erhard einen ökonomisch revolutionären Schritt gewagt: Es gab erbitterte Proteste der SPD und KPD und auch Bedenken bürgerlicher Politiker, als er die von den Amerikanern vorbereitete Währungsreform nutzte, um einen Großteil der geltenden Preiskontrollen abzuschaffen. Nur auf dem Schwarzmarkt gab es ein breites Angebot zu überhöhten Preisen. Die Preisfreigabe löste einen sensationellen Effekt aus: Plötzlich waren die Schaufenster voll mit Lebensmitteln, Kleidung, Schuhen. Alle vorher gehorteten Waren und Rohstoffe – und was nur gegen streng rationierte Bezugskärtchen erhältlich war –, gab es wieder frei im Angebot. Aber gleichzeitig schossen die Preise in die Höhe bei weiterhin niedrigem Einkommen. Auf die kurze Begeisterung der Bürger folgte Ernüchterung, die Preise stiegen viel schneller als gedacht. Grundnahrungsmittel wurden um dreißig Prozent teurer. Die Menschen hatten kaum Geld, um das zu kaufen, was sie brauchten und ohne Wucherpreise zahlen zu müssen. Laut einer Umfrage lehnten siebzig Prozent die Marktwirtschaft ab. „Weg mit Erhard und seiner bankrotten Wirtschaftspolitik“, tönte es. Es stand auf der Kippe, ob er politisch überleben würde. Doch da der Streik nur einen Tag dauerte, verpuffte die Wirkung. Auch ein Generalstreik konnte seine Reformen nicht stoppen. Nun forcierte er das sogenannte „Jedermann-Programm“: Hunderttausende Schuhe, Kindermäntel und Stoffe für Kleider wurden verbilligt an die Bevölkerung abgegeben. Das Material stammte zum Teil aus Armeebeständen. Erhard blieb stur. Ja, die Preise seien gestiegen, gab er zu, doch das werde nur vorübergehend ein Problem bleiben. „Wirtschaft ist zu fünfzig Prozent Psychologie“, sagte er und sollte rechtbehalten. Der marktwirtschaftliche Kurs war gerettet. Schon im nächsten Jahr wuchs die Produktion. In der folgenden Hochkonjunktur – mit durch­schnittlich acht Prozent Wachstum in den 50er Jahren – wurde die hohe Arbeitslosigkeit nach und nach abgebaut, und ab Mitte des Jahrzehnts kam Vollbeschäftigung in Sicht. Das vielbesungene Wirtschaftswunder begann. Die Erinnerung an die jämmerlichen Anfangsjahre verblasste. Die SPD erklärte 1959 im Godesberger Pro­gramm, dass sie die Marktwirtschaft akzeptiere. Zwischen 1960 und ‘65 verdreifachte sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Vergleich zu den 50er Jahren. Die Amerikaner trugen dazu bei, denn der Marschallplan kurbelte den Handel an durch den überseeischen Export; die Rohstoffversorgung verbesserte sich durch die liberale grenzüberschreitende Wirtschaft. Deutschland hatte wieder etwas zu bieten. Der Wohlstand wuchs.

Im Dezember 1950 kamen die ersten Italiener mit ihren kleinen schwarzen Pappkoffern. Bald folgten Spanier und Griechen. Ohne die ersten Gastarbeiter aus Italien wäre das deutsche Wirtschaftswunder so nicht möglich gewesen. Zunächst kamen sie ohne ihre Familien und holten sie später nach. Bald wurden die Gastarbeiter unentbehrlich. Den Türken, die ab 1961 kamen, wurde es schwerer gemacht. Es war nicht eingeplant, dass sie bleiben. In die DDR kamen sogenannte Vertragsarbeiter aus Vietnam und Afrika.

Der Wiederaufbau forderte den Einsatz der Deutschen. Aus dem Verdrängen der Nazizeit wurde unmerklich ein Verdrängen der Risiken im Kalten Krieg. Welche Gefahr drohte durch die Aufrüstung, war zu Be­ginn der Bevölkerung kaum bewusst. Europa sollte zum Schauplatz des Kalten Krieges werden. Schritt für Schritt näherte sich die Welt der Alarmstufe rot. 1954 baute die USA das erste nukleargetriebene U-Boot der Welt, die USS Nautilus. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung in den USA auf einen Atomkrieg vorbereitet. Die meisten verhinderten durch ihre Geschäftigkeit das Realisieren des Geschehens in ihrem Land. Die Studenten waren unter den ersten, die auf die Bedrohung durch die atomare Aufrüstung aufmerksam machten. Bald wurde auch in der DDR der Widerstand immer sichtbarer.

Die nächste Generation war erschüttert, als sie von den Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg erfuhr. Es war ein Leben zwischen Licht und Schatten. Die jungen Menschen suchten das Licht der Freiheit und wurden doch den Schatten des Krieges nicht los; es schien, als verfolge er sie auf Schritt und Tritt und eine Unruhe breitete sich aus, die sich nach und nach an die Oberfläche drängte. Wie fühlte sich der Alltag an in der Hitler-Diktatur, wie im Krieg? Sie suchten den Blick hinter die Kulissen der Nazizeit. Warum wollten so viele Männer in den Krieg ziehen? Wie konnte das Regime von Kindheitstagen an alles beherrschen? Warum haben so wenige aufbegehrt? Für viele Familien war die Nazizeit ein blinder Fleck. „Redet mit uns, helft uns zu verstehen, warum all dies geschehen konnte und warum wir so sind wie wir sind!“

Im September 1939 hatte der Zweite Weltkrieg begonnen und alles verändert. Vor Kriegsbeginn beherrschten Paraden und Reden, der schöne Schein die Stimmung wie auf einem Volksfest. „Nach tausenden von Jahren wird man noch davon sprechen!“, verkündete Hitler mit perfekt einstudierten Gesten. Viele jubelten ihm zu, wenn er bellend und kläffend seine Parolen verkündete, begrüßten seine Reichsübernahme und den Boykott der jüdischen Geschäfte. Die Städte wurden getränkt vom Nationalsozialismus. Der Antisemitismus war 1933 eine Form der Staatsraison. Immer größer wurde der Druck auf Juden, ihr Eigentum zu verkaufen, meist zu Schleuderpreisen. Hätten vielleicht auch wir es großartig empfunden, davon zu profitieren?

Wer aufmerksam beobachtete, konnte ahnen, dass es auf einen An­griff auf Polen hinauslief. Schon bald jagten erste Stukas (Sturzkampf­flugzeuge) über den Himmel und auf Warschau fielen Bomben. Nur mit einem nervenstarken Volk könne er Politik machen, sagte Hitler und sorgte für Erholungsmöglichkeiten: Die nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ war eine politische Organisation mit der Aufgabe, die Freizeit der Bevölkerung zu gestalten, zu überwachen und gleichzuschalten. Den Deutschen ging es gut, sie machten mit. Die Gesellschaft wurde in kurzer Zeit umstrukturiert. Jeder, der Augen hatte zu sehen, konnte es sehen. Die breite Bevölkerung nahm es hin. Die Symbole (wie Hakenkreuze u. a.) der Diktatur wurden Teile des Alltags, auch in den Haushalten. Es galt, möglichst viele Kinder für das auf­strebende Reich auf die Welt zu bringen. Die Frauen erfuhren dadurch eine Aufwertung. Als die Juden in Lkws abtransportiert wurden – und weder Geld noch Wertpapiere oder Schmuck mitnehmen durften –, standen die Leute am Straßenrand und sahen zu. Von den ersten tausend Menschen, die im September 1940 abtransportiert wurden, überlebten nur neunundvierzig. Heute erinnern Stolpersteine an sie.

Überall saßen noch lange nach Kriegsende Nazis in führenden Positionen. Schon Kritik daran galt als staatsfeindlich. Die überwiegende Mehrheit der neuen Bundeswehroffiziere hatte in der Wehrmacht des NS-Staates gedient. Mehrere Hundert waren sogar Waffen-SS-Kader gewesen. Kiesinger, ehemaliges NSDAP-Mitglied, wurde 1966 Bundes­kanzler. Alt-Nazis waren Professoren an den Unis und saßen noch bis in die 70er Jahre fest auf ihren Stühlen. Darüber durfte nicht gesprochen oder gefragt werden, was sie vor 1945 gemacht hatten. Die Schriften und Biografien wurden aus den Bibliotheken entfernt. Fleischhacker, der viele Juden, Männer und Frauen für seine menschenverachtenden Versu­che in den Tod trieb, verwendete seine Unterlagen aus der Nazizeit 1951 für seine Habilitationsschrift. Er lehrte als Professor an der Universität Frankfurt. Allerdings begannen die Biologie-Studierenden in den 70er Jahren, seine Lehrveranstaltungen zu boykottieren. Er hatte im Prozess erklärt, er habe von den Konsequenzen seiner anthropologischen Messungen nichts ahnen können, wurde 1971 freigesprochen und starb hochgeehrt.

Das Gespenst des Kommunismus ging um. Im Fernsehen wurden das alte Feindbild und der Konflikt der Generationen in der Serie „Ekel Alfred“ gezeigt, in der es auch um eine Bewegung gegen die Väter ging, die in der Nazi-Zeit – aus der Sicht der Jungen – versagt hatten und nicht mit der Vergangenheit konfrontiert werden wollten. Mitglieder der DKP durften nicht als Lehrer weiterarbeiten.

Der Kalte Krieg und die Konfrontation mit dem Ostblock forderte die Aufmerksamkeit der Deutschen. Es gab keine Auseinandersetzung mit der Ermordung der Juden, Sinti, Roma, der Behinderten. Nur ganz langsam begann ein Wandel der öffentlichen Meinung. Der Osten behauptete, Nazis habe es bei ihnen nicht gegeben, auch keine NSVerbrechen und hielt sich für die Guten. Dennoch zog er etwa doppelt so viele NS-Täter zur Verantwortung; hinter dem Rücken der Öffentlichkeit suchte die Stasi Nazi-Verbrecher und verurteilte sie zum Tod oder zu lebenslanger Haft.

In der 68er Bewegung zeigte sich immer mehr die Trennung zwischen den Nachkriegskindern und deren Vätergeneration, den Beteiligten, den Mitläufern, denen die nicht hinschauten.

Leben ist

miteinander zu reden,

aufeinander zu bauen,

füreinander zu kämpfen.

Leben ist Hoffnung, Mut und Vertrauen.

Rolf Zuckowski

Das Ringen um ihre Identität im Schatten des Kalten Krieges und dem Erbe der Nachkriegszeit führt fünf Mädchen – Annerose, Gisela, Murielle, Verena und Barbara – wie unzählige andere junge Menschen in unserem Land auf Lebenswege, die mutige Entscheidungen fordern.

Die bewegenden Schicksale sind zu authentisch, um erfunden zu sein und erscheinen dennoch mitunter zu fiktiv, um wahr zu sein: Unge­schminkt, mitten aus dem Leben gegriffen, basieren sie alle auf Tatsa­chen und laden ein in eine bewegte Zeit, eine Ära der Kulturrevolte jun­ger Menschen, die heute gleichzeitig als Erfolgsstory bezeichnet werden kann.

Teil 1

LIEBE IST MEHR ALS EIN GEFÜHL

Das siebte Treffen mit den Freundinnen im Sommer 1977 wollte Annerose absagen; sie sei nicht in Stimmung. Doch dies alarmierte die anderen, denn noch nie hatte eine von ihnen gefehlt. Nach einigen Telefon­gesprächen berieten sie, sich nicht – wie geplant – in Aschaffenburg zu treffen, sondern zu ihr nach Mainz zu fahren, das Haus sei groß genug. Annerose hatte nicht die Kraft, nein zu sagen.

Am Abend lassen sie nun in ihrer Wiedersehensfreude den Sektkorken knallen und stoßen auf ihre Freundschaft an. Nach dem ersten Glas beginnt Annerose zu reden. Sie gibt offen zu, als Hans sie endgültig verließ, wollte sie nicht mehr weiterleben. Verena nimmt mitfühlend ihre Hand, Gisela legt mit einer zärtlichen Geste den Arm um sie, Murielle fährt ihr liebevoll über den Rücken und Barbara steht auf, geht zur Stereoanlage und sucht eine Schallplatte unter der umfangreichen Sammlung heraus: Careless love …. Alle lauschen auf die rauchige Stimme von Janis Joplin, die ihnen durch Mark und Bein geht.

„Love seemed to be so strong ... – but that’s no longer true …“, flüstert Annerose kaum hörbar, ihre Augen schwimmen in Tränen und ein Schluchzen erstickt ihre Stimme: “Careless love …”

Es ist offensichtlich, Annerose ist in eine tiefe Depression gestürzt. In den nächsten Stunden gelingt es den Freundinnen, sie etwas aufzumuntern. Gemeinsam stehen sie in der Küche, bereiten die Lieblingsspeise ihrer gemeinsamen Internatszeit „Dampfnudeln mit Vanillesoße“ zu und erzählen aus ihrem Alltag. Murielle klagt nebenbei, dass sie schon wieder ein Pfund zu viel auf der Waage hat, die anderen scherzen über ihren vollen Busen und wie gut ihr das Gewicht steht.

„Gib mir doch was ab“, meint Gisela und deutete lachend auf ihre kleine Brust.

Sie sind so gelöst, dass Annerose die Topflappen beiseite legt, nachdem sie den Bräter mit den duftenden Dampfnudeln auf den Küchentisch gestellt hat, und mit weit ausgebreiteten Armen auf die Freundinnen zugeht. Eng umschlungen stehen sie einige Herzschläge lang und atmen Wange an Wange, bis Annerose mit Tränen in den Augen ruft: „Mädels ich bin ja so glücklich, dass ihr gekommen seid!“

Es scheint, als sei sie wieder die „Alte“. Beim Essen erzählt sie von der Geburt ihrer kleinen Nichte, deren Patin sie demnächst werden soll und fragt nach den Plänen der Freundinnen.

Am nächsten Morgen erscheint Annerose nicht zum Frühstück. Die Freundinnen haben auf der Terrasse den Tisch mit dem blauen Zwiebelmuster aus dem Familienerbe ihres Vaters gedeckt. In den Tassen dampft der Kaffee, und die Vögel in den Bäumen singen fröhlich ihre kleinen Hymnen an die Sonne.

Murielle lehnt sich zurück und lässt ihren Blick durch den Garten schweifen. „Er ist ein kleines Paradies!“, schwärmt sie. „Schaut mal, die Sonnenblumen dort am Zaun, gerade öffnen sie ihre Blüten. Ist das nicht ein gutes Omen?“, sagt sie heiter und beißt herzhaft in ein frisch aufge­backenes duftendes Croissant.

Immer wieder schauen sie erwartungsvoll zur Terrassentür; nach einer halben Stunde werden sie unruhig, bis Verena aufsteht: „Ich glaub, ich schau mal nach Anne, vielleicht schläft sie ja noch.“

Die Freundinnen haben auf einem Matratzenlager im Wohnzimmer übernachtet, Annerose sollte ihre Ruhe haben; sie klagte am Abend über Kopfschmerzen und zog sich früh zurück.

Barfuß auf Zehenspitzen geht Verena nach oben und klopft leise an die Schlafzimmertür. Als keine Antwort kommt, drückt sie vorsichtig die Klinke herunter und öffnet die Tür einen Spalt. Annerose liegt – noch im Schlafanzug – reglos vor dem Bett. „Schnell, kommt hoch! Beeilt euch!“, ruft Verena hinunter und kurz darauf heben die Freundinnen sie gemeinsam auf und legen sie vorsichtig auf ihr Bett.

Murielle schüttelt nur stumm den Kopf, als sie sieht, dass Annerose ein Foto von Hans umklammert hält. Während sie es ihr vorsichtig aus der Hand nimmt, kommt sie langsam wieder zu sich, öffnet ein wenig die Augen und murmelt: „Ich hätte nie geglaubt, dass er mich einmal verlassen würde.“

Murielle bleibt bei ihr auf der Bettkante sitzen, während die anderen wieder hinuntergehen. Ellas liebevoller Zuspruch ist genau das, was Anne jetzt braucht, denkt Barbara während sie aus der Küche eine Tasse Pfefferminztee holt, den Gisela schon zubereitet hat, legt einen Zwieback dazu und geht wieder zu den anderen, die inzwischen das wertvolle Meißner Porzellan von Hand abspülen und Ordnung machen.

„Sie ist noch lange nicht darüber hinweg!“, sagt Verena besorgt, als Barbara gerade wieder hereinkommt und Gisela nickt.

„Stellt nicht die Bibel unter anderem auch Fremdgehen unter Strafe?“, fragt Murielle wie nebenbei, während die anderen in der Küche hantierten, und schaut etwas provozierend zu Barbara. „Du bist doch einigermaßen bibelfest“, sagt sie und schubst sie von der Seite an.

„Die Zehn Gebote kann ich nicht mehr auswendig, Ella!“, antwortet sie etwas gereizt und zuckt mit den Schultern.

„Für viele Beziehungen bedeutet es eine Katastrophe“, mischt Verena sich ein. „Meist gibt es doch nur Verlierer.“

„Unsere Eltern glaubten noch, das Glück warte im Jenseits auf sie und hielten aus in unglücklichen, unzufriedenen Ehen“, sagt Gisela zynisch. „Auch meine Mutter hat nie an Scheidung gedacht, da bin ich mir sicher.“

„Wir alle wollen uns ganz bestimmt nicht aufs Jenseits vertrösten lassen, sondern hier auf Erden glücklich sein“, gibt Verena in sachlichem Ton zurück.

„Meine Mutter kann mich allerdings nicht verstehen“, bekennt Barbara.

„Geht es nicht auch um den Kick, sich wieder selbst zu spüren, wieder begehrt zu werden, das Selbstbewusstsein aufzuladen?“, fragt Verena herausfordernd. Murielle horcht auf und runzelt die Stirn.

Plötzlich steht Annerose unter der Tür, vermutlich hört sie schon einige Zeit zu. „Ich hab in letzter Zeit morgens beim Aufstehen öfter Kreislaufprobleme“, sagt sie entschuldigend.

„Das kenn’ ich“, tröstet sie Barbara. „Komm, setz dich zu uns und trink einen Kaffee, der hilft mir immer!“ Die Freundinnen kümmern sich liebevoll um sie und lesen ihr jeden Wunsch von den Augen ab.

Gisela fragt besorgt: „Geht es dir wieder besser, Anne?“

Sie nickt und nimmt sich einen Küchenhocker: „Ich wollte euch nicht unterbrechen, redet einfach weiter. Ich hör’ euch gern’ zu“, sagt sie mit leiser Stimme.

„Vielleicht können manche Affären eine Beziehung retten, weil sie die Paare zwingt, endlich wieder zu reden, zu reden über Wünsche, die mit der Zeit vergessen wurden, über Wünsche an die Partnerschaft, um wieder an den Ursprung zurückzukommen und zurück zu uns selbst“, sagt Verena nachdenklich.

„Es ist doch wichtig zu erkennen, dass es in unserer Hand liegt, wie wir unsere Beziehung gestalten. Ob Aufmerksamkeit oder Gleichgültigkeit unser Miteinander bestimmt. Ob Empathie oder Egozentrismus vorherrscht. Ich meine, ob das Wir oder das Ich im Vordergrund steht“, sagt Murielle und schaut die anderen fragend an. „Das bedeutet allerdings Mühe und Selbstdisziplin. Und das bekommt man nicht geschenkt. Glaubt mir, davon kann ich ein Lied singen!“, sagt sie mit einem vielsagenden Blick.

Sie kann schon wieder nach vorn schauen, das ist gut, denkt Verena erleichtert. Wenn nur auch Anne schon so weit wäre!

„Früher war die Ehe doch eine Institution. Ich glaub, der Wunsch, sich weiter zu entwickeln ist heute beim Fremdgehen eine treibende Kraft.“ Verena will das Thema nochmal anstoßen, das sie selbst seit einiger Zeit beschäftigt. „Während einer Affäre erlebt eine Frau sich neu. Sie bringt Saiten in ihr zum Schwingen, die in der Ehe verlorengegangen sind. Vielleicht bringt die Episode mit einem anderen Partner etwas in unserer Seele zum Klingen, was vorher noch gar keine Resonanz fand. Und dann kommt das Instrument Seele so richtig zum Beben!“ Verena erschrickt selbst über die Heftigkeit ihrer Worte und hält inne. Soll ich jetzt darüber reden? Nein, entscheided sie, noch nicht. Da hört sie auch schon Barbara fragen:

„Geht es nicht auch um die Sehnsucht, aus der alten Rolle auszubrechen und jemand anderes zu sein?“

„Geht es nicht im Grunde um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, also um Selbstfindung?“, gibt Verena zurück.

„Meine Mutter war nie verheiratet, aber eure Mütter bleiben höchstwahrscheinlich bis zum Tod bei ihrem Ehemann“, wirft Barbara ein. „Wir alle, die wir uns als unabhängige Töchter fühlen, halten doch si­cherlich nicht an der Ehe fest, wenn die Liebe verschwunden ist.“

Ihre versteckte Anspielung geht unter durch Verenas spontane Reaktion: „Für unsere Mütter war Sex in der Ehe eine Pflicht, wie für alle Frauen. Wir, ihre Töchter, erleben dagegen Sex als Vergnügen!“, behauptet sie vehement.

„Die Erwartungen von uns Frauen heute, unsere Wünsche haben sich eindeutig verändert“, bestätigt Barbara und auch Murielle, Gisela und Verena nicken. Nur Annerose senkt den Kopf und schweigt.

„Ich denke gerade an den Satz, den deine Mutter einmal geäußert hat, Anne, als du ihr von deinem Glück mit Hans erzählen und nebenbei dein erfülltes Sexleben erwähnen wolltest.“

„Ach ja“, gesteht Annerose mit tonloser Stimme und einer wegwerfenden Geste. „Sie mochte es überhaupt nicht hören und sagte nur: Du wirst auch einmal noch froh sein, wenn du deine Ruhe hast.“

„Du warst damals so vor den Kopf gestoßen, dass du nicht mehr wusstest, was du dazu sagen solltest und noch richtig fertig, als du es uns erzählt hast!“, erinnert Gisela.

„Glauben wir trotz unserem Spaß an der Sexualität nicht gleichzeitig – vielleicht sogar noch mehr als unsere Mütter – immer noch an die romantische Liebe als Grundlage der Ehe?“, fragt Verena nachdenklich.

„Untreue ist für mich immer noch ein ultimativer Verstoß. Und der Betrug an der Liebe wird immer zur Katastrophe!“, behauptet Annerose.

Sie klingt so verbittert, dass Verena mit sanfter Stimme meint: „Das muss aber nicht unbedingt sein! Außerdem, in einer Ehe gibt es viele Arten von Betrug: Gleichgültigkeit, Vernachlässigung, Verachtung. Untreue ist doch nur eine Möglichkeit, die eine Ehe auf die Probe stellt.“

„Ich glaub, unsere Wünsche unterscheiden sich nicht wesentlich von denen unserer Mütter, außer dass wir behaupten, dass wir das Recht auf Erfüllung dieser Wünsche haben. Sind wir nicht alle überzeugt, dass wir es verdienen, glücklich zu sein?“, fragt Annerose trotzig.

„Ich denke, es ist ein großer Irrtum, wenn wir glauben, dass Frauen in einer Affäre nach einem neuen Partner suchen. Ich glaub, wenn einer der beiden nicht bereit ist, sich weiterzuentwickeln, entsteht eine gefährliche Distanz, dann fehlt der Austausch im Gespräch und irgendwann ist der andere einfach emotional unterernährt“, meint Verena und seufzt.

„Mein Seitensprung entstand aus der Unzufriedenheit in meiner Ehe, aus Einsamkeit und auch dem Verlust der Intimität“, gesteht Barbara.

„Jetzt machst du uns aber neugierig, Bärbel“, unterbricht Gisela sie.

„Das erzähle ich euch ein andermal. Ich bin jetzt nicht in der richtigen Stimmung“, weicht Barbara plötzlich aus.

Und Verena sagt schnell: „Ich bin überzeugt, dass eine Affäre immer ein Anzeichen ist, dass etwas falsch läuft oder fehlt.“

„Es ist interessant, dass die Gesellschaft auch heute noch nicht akzeptiert, dass ein betrogener Mann bei seiner Frau bleibt. Früher schäm­ten sich die Frauen, wenn sie geschieden waren, als hafte ein Makel an ihnen, den sogar die Kinder schmerzlich spüren mussten“, meint Gisela.

„Ist es nicht so, dass sich Frauen heute schämen, wenn sie trotz Betrug bleiben?“, fragt Verena zögernd mit belegter Stimme. „Selbst bei einer Vielzahl von Gründen, wie kleine Kinder, gemeinsamer Besitz oder weil sie dennoch eine gute Beziehung zu ihrem Mann haben!“

„Die reelle Chance ist doch, wenn der oder die Betrogene wieder lernt zu vertrauen. Das bedeutet allerdings eine große Anstrengung“, meint Murielle nachdrücklich.

„Seid mal ehrlich! Was haben wir über Beziehung eigentlich gelernt von unseren Müttern?“, fragt Verena und schaute der Reihe nach ihre Freundinnen an.

„Langweilige Frauen haben meist blitzsaubere Küchen!“, ruft Gisela wie aus der Pistole geschossen.

„Jetzt mal ernsthaft!“, protestiert Verena. „Mussten sich unsere Mütter nicht entscheiden, ob sie rechthaben oder geliebt werden wollen?“

„So wie meine Mutter, will ich auf keinen Fall werden“, sagt Annerose. „Sie wurde viel zu früh schwanger, musste nur noch für die Familie da sein und hat sich aufgerieben in der Pflege meines Vaters, der immer bestimmen wollte. Entschuldigen konnte er sich nie, und Differenzen wurden lautstark ausgetragen. Meine Geschwister und ich haben uns dann immer die Ohren zugehalten und in unsere Zimmer verkrochen.“

Ich werde ganz sicher kein Kind mehr bekommen, denkt Gisela. Die Zeit wird kommen, wo sie sich ihren Freundinnen anvertrauen kann. Heute ist sie noch nicht so weit.

„Hat deine Mutter nie geheiratet?“, fragt Annerose und schaut Barbara an. „Es gab mal kurze Zeit einen Mann in ihrem Leben. Mama bemühte sich, es vor mir geheim zu halten, vermutlich war er verheiratet. Ich glaub, seither will sie sich wohl nicht mehr einlassen auf eine Beziehung.“

„Meine Eltern haben immer schwer gearbeitet, um zu einem gewissen Wohlstand zu kommen. Dadurch konnten wir jeden Sommer nach Italien ans Meer fahren und im Winter in die Berge zum Skilaufen. Doch die scheinbare Freiheit und mehr Glück, das der Wohlstand versprach, hatten einen hohen Preis“, sagt Verena. „Und die Angst, etwas, das angehäuft wurde, zu verlieren nahm zu. Meine Eltern hatten regelrecht schlaflose Nächte, wenn eine Finanzkrise drohte. Für meine Schwester und mich hatten sie nie Zeit, außer in den drei Wochen Urlaub im Jahr, aber auch da wurden wir in einen Skikurs oder Schwimmkurs abgeschoben. Das Ergebnis ist heute Vereinsamung. Meine Mutter hat keine Freundin mehr, weil sie nie Zeit hatte, überhaupt eine Freundschaft zu pflegen. Das darf uns nicht passieren!“

„Das wird es ganz sicher nicht, dafür sorgen wir alle, unsere Freundschaft ist uns doch viel zu wichtig!“, betont Barbara und die anderen nicken.

„Schon bevor ich mein Studium aufgab, bin ich ganz bewusst aus dem Hamsterrad der Ansprüche ausgestiegen, dem ständigen Anreiz, Produkte zu kaufen. Das kapitalistische System funktioniert, es hält die Wirtschaft am Laufen. Auf der Suche nach mehr Individualität und um diese zu demonstrieren, gaukelt uns der Wohlstand, der vermeintliche Fortschritt, mehr Glück vor. Außerdem, seit ich mich nicht mehr die ganze Zeit mit meinen Problemen und mit mir selbst beschäftige, geht es mir viel besser. Das seh ich auch in meinem neuen Freundeskreis in Frankfurt.“

„Seit meine Mutter ein paar Tage im Kloster Andechs war, behauptet auch sie nun: Wenn der Mensch nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, wird er zufriedener“, bestätigt Murielle.

„Der Kontakt mit der Natur und mein Engagement zu ihrem Schutz, all meine ehrenamtlichen Aufgaben geben meinem Leben einen ganz neuen Sinn“, sagt Gisela. „Ich kann heute ohne diese grenzenlose Freiheit, nach der ich als Studentin gestrebt habe, mein Leben mehr genie­ßen.“ Sie ist die einzige, die immer noch nicht verheiratet ist, aber sie strahlt eine Zufriedenheit aus, um die Annerose sie beneidet.

„Die Alten sagen: Die Jugend hat Hummeln im Hintern, sie brechen aus. Die Jungen protestieren: Sie gießen Wahnsinn in Beton und Unrecht in Gesetze“, sagt Gisela spöttisch. „Demokratie ist keine einfache Sache. Auch Kinder müssen lernen, dass unsere Zukunft offen und gestaltbar ist, weil Leben eben einfach Veränderung bedeutet. In einer echten Demokratie wird immer auch um Kompromisse gerungen. Es muss möglich sein, das zu ertragen, und wir müssen uns damit auseinandersetzen. In unserem Kinderladen bemühen wir uns, den Gemeinschaftssinn zu fördern. Wir wollen keine Wohlstandskinder großziehen. Auch in der Seniorengruppe, die ich regelmäßig besuche, erlebe ich, dass noch im Alter kleine Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen Sinn stiftet.“

„Geht es in einer Ehe nicht vor allem darum, wie weit ich mich auf die Geborgenheit einer Partnerschaft einlassen kann und will?“, fragt Verena nach einer Weile, um zu dem Thema zurückzukommen, das ihr unter den Nägeln brennt. „Wenn ich uns zuhöre, hab ich den Eindruck, die moderne Ehe lebt mit der Vorstellung, dass die beiden, die heiraten, nicht zwei Hälften sind, die ein Ganzes bilden, sondern zwei Ganzheiten, die sich jeweils in den Dienst des anderen stellen.“

„Ich hab sehr spät erkannt, dass ich mich nicht wirklich eingelassen hab auf meinen Mann. Diese Distanz hat ihn von mir entfernt. Erst jetzt, wo ich versteh, dass meine Angst, einen Menschen und seine Liebe zu verlieren, mit meinem Vater verbunden ist, der nie da war, wird mir dieser Zusammenhang klar. Als ich klein war, litt ich sehr darunter, dass es ihn nicht gab. Wenn ich euch erlebt hab beim Besuch eurer Väter im Internat, war das so schrecklich für mich, dass ich mich in eine Ecke verkroch, um nicht zusehen zu müssen bei der Begrüßung. Ich wollte nicht die Freude in euren Gesichtern sehen und nicht eure Väter, die mir wie eine Schutzmacht erschienen, die ich nicht kannte. Jedes Mal wurde mir nur noch mehr bewusst, was mir fehlte. Und ganz früh schon spürte ich den Schmerz meiner Mutter, die mich allein großziehen musste, manchmal konnte ich in den Gesichtern der Menschen um uns herum lesen, was sie über eine Frau mit einem unehelichen Kind dachten. Und das Schlimmste überhaupt war, dass ich mich schuldig fühlte. Auch dafür, dass mein Vater meine Mutter im Stich gelassen hat, weil er keine Verantwortung für ein Kind übernehmen wollte und es nicht in sein Leben und die Beziehung mit meiner Mutter passte. Tief in mir war später die Angst, irgendwann doch wieder verlassen zu werden, so wie auch mein Vater meine Mutter und mich verlassen hat. Ich glaubte, ich wäre es nicht wert, dass ein Mann mir ein Leben lang seine Liebe schenkt. Und wenn ich meinen Mann nicht in mein Herz lassen würde, wäre der Schmerz nicht so groß, wenn er mich wieder verlässt“, bekennt Barbara. „Ich hab therapeutische Unterstützung gesucht und mich erneut dem alten Schmerz gestellt, der immer noch in mir war. Endlich konnte ich meine Angst zulassen, sie spüren und wie einen Freund sehen, der mich an die Hand nimmt und mir sagt: Genau da, wo es wehtut, geht’s lang, mach einfach nur den nächsten Schritt.“

„Bärbel, diesen Prozess, den du gerade beschreibst, kenne ich auch, zwar geht es bei mir um ein anderes Thema. Aber auch ich lerne immer noch, dass es nur so funktioniert: Mein Weg geht durch die Angst hindurch. Das ist der erste Schritt und dann gelingt auch der nächste. Lang genug hab ich meine Angst verdrängt, und sie lief doch stets wie ein unsichtbares Gespenst neben mir her, um mich in einem Moment, wo ich sie ganz und gar nicht brauchen konnte, mit einer Macht zu überfallen, der ich nicht gewachsen war“, gesteht Gisela.

Barbara atmet auf, sie ist erleichtert, dass die Freundin so unerwartet mit ihr fühlt: „Du nimmst mir die Worte aus dem Mund, Gila! Ich hab ein altes Gedicht für euch mitgebracht.“ Sie zieht ihr Notizbuch, das sie immer bei sich hat, aus der Handtasche und liest mit bebender Stimme:

„Du Vater

Wo war deine Hand

Als ich den Weg begann

In dieses abenteuerliche Leben?

Ich sehnte mich nach deinen Armen

Suchte den liebenden Blick deiner Augen

Seit ich meine eigene Bahn ziehe

Treffe ich einen Mann in meinen Träumen

Sehe mich in seinen strahlenden Augen

Und mit Stolz verkünde ich allen:

Ja, das ist mein Papa – für immer“

„O Bärbel!“, sagt Gisela leise, „jetzt erst wird mir klar, wie sehr du deinen Vater vermisst hast!“

Unter Tränen bekennt Barbara: „Gila, ich musste akzeptieren, dass es den Vater, nach dem ich mich all die Jahre so sehr sehnte, nie gegeben hat. Dieses Gedicht ist entstanden, als ich die Wahrheit noch nicht wusste. Danach wurde alles noch viel, viel schlimmer wie ihr wisst! – Nach einer kurzen Pause sagt sie mit fester Stimme: „Heute hat das Kind in mir einen liebenden Vater, denn ich kann mich inzwischen selbst ‚bevatern!’ – Ich habe meinen inneren Vater gefunden!“

Jetzt strahlt Bärbel tatsächlich wie ein glückliches Kind, denkt Verena und lächelnd sagt sie mit einer ganz besonderen Wärme in ihrer Stimme: „Bevatern!, wie schön das klingt, Bärbel!“

„Auf der Straße des Lebens einfach weiterzugehen, ohne ständig zurückzuschauen, darum geht es“, sagt Murielle leise. „Aber dazu brauchen wir Vertrauen!“

„Wir alle treffen im Laufe unseres Lebens Entscheidungen, das Schwierige ist oftmals, mit ihnen zu leben“, sagt Annerose mit einer Traurigkeit in ihrer Stimme, dass in Verena eine düstere Vorahnung aufsteigt. Nach einer Weile steht sie leise auf und legt die Cassette von Rio Reiser ein: Halt’ dich an deiner Liebe fest.

Barbara legt – wie immer, wenn sie hingebungsvoll lauscht – mit geschlossenen Augen ihren Kopf etwas zur Seite. Als Rio Reisers eindringliche Stimme verklingt, hebt sie ihren Kopf, schaut in die Runde und sagt mit ihrer melodischen Stimme: „Gute Beziehungen fühlen sich richtig an, sie tun nicht weh. Ich bin überzeugt, wahre Liebe schützt vor Verletzungen. Wenn man sich verletzt, ist es keine Liebe!“

„Ja, dann ist es tatsächlich besser, sich zu trennen“, bekräftigt Verena mit einem nachdenklichen Blick zu Annerose, die ebenfalls die ganze Zeit mit geschlossenen Augen dasaß.

Auf einmal beginnt Gisela zu kichern. „Was ist denn daran so lustig?“, will Barbara wissen und zieht die Augenbrauen hoch.

„Ach, ich war gerade ganz woanders, mir fiel ein Spruch meiner Oma ein: Mä koann sisch im Läwe veänn wie e Kuh onne Glogge. Ob doin Moann steibd oddä disch velässd oddä obä ze onnä onnere gäihd. Doann muss mä oafach hoamgaihn, doohie, wou mä uff die Wäld kumme iss. Mä muss oafach midde Noachbänn babbele, zoammehogge unn die olde Liedä singe.“ Da alle etwas unsicher lachten, sagt sie: „Gell, da guckt ihr, ich kann nicht nur berlinerisch, ich kann auch unterfränkisch! Ich übersetz’ mal für euch: ‚Man kann sich im Leben verirren wie eine Kuh ohne Glocke. Egal, ob der Mann an deiner Seite stirbt oder dich verlässt und zu einer anderen geht. Dann muss man nach Hause gehen, dorthin wo man geboren wurde, mit den Nachbarn reden, zusammensitzen und die alten Lieder singen.“

Jetzt brechen alle in schallendes Gelächter aus. „Köstlich!“, ruft Barbara, „einfach köstlich!“

Verena wird ernst und meint: „Ich glaub, damit hatte deine Oma nicht mal unrecht.“

„Ich vermute, das war ihre eigene Erfahrung“, sagt Gisela. „Sie hat in ihrem letzten Lebensjahr auch manchmal ganz merkwürdige Monologe geführt. Einmal hörte ich sie murmeln: Man sollte dieses Leben nicht ohne das Gefühl von Vollendung verlassen. So richtig verstanden hab ich allerdings bis heute nicht, was sie damit sagen wollte.“

„Vielleicht, dass man am Ende seines Lebens ausgesöhnt sein soll mit allem und allen, auch mit all den verlorenen Träumen“, meint Verena. „Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Großeltern zwei Weltkriege erdulden mussten.“

„Wenn ich darüber nachdenke, wird mir erst so richtig bewusst, wie gut es unserer Generation geht“, ergänzt Murielle.

„Ja, wir haben zwar keinen Krieg, wie ihn unsere Eltern erlebten, der Kalte Krieg ist allerdings dennoch eine ständige Bedrohung, die mir schon Angst macht“, mischt Gisela sich ein.

„Verdrängen wir denn nicht meist diese Angst? Erst wenn wieder in den Nachrichten eine Meldung erscheint, sind wir alarmiert“, sagt Barbara.

„Ich engagiere mich seit Jahren in der Friedensbewegung. Mir ist diese Bedrohung immer bewusst!“, beharrt Gisela.

„Aber müssen wir denn nicht diese Angst im Alltag auch wieder hinter uns lassen, um uns ganz dem Leben widmen zu können?“, fragt Murielle nachdenklich.

„Wenn alle so denken würden wie du und die Hände in den Schoß legen!“, entrüstet sich Gisela, „würde das Wettrüsten ständig so weitergehen, bis irgendwann einer der Großmächte durchdreht!“

Verena, die die neue Single von Katja Ebstein mitbrachte, lenkt ab: „Lasst uns noch ein wenig Musik hören, um in eine andere Stimmung zu kommen.“ Wunder gibt es immer wieder … Sie dreht die Lautstäke hoch und ruft in den Raum: „Gibt der Song nicht die allgemeine Stimmung im Kalten Krieg wieder?“

„Und die Sehnsucht nach Frieden“, seufzt Murielle.

„Ich habe mich von meinem Mann getrennt“, sagt Barbara unvermittelt, während sie mit den Freundinnen ein paar Stunden später in der Küche das Mittagessen vorbereitet. Sie rührt weiter in der Béchamelsoße und lächelt dabei so geheimnisvoll, dass es überflüssig ist, ein Bedauern zu äußern. Doch die Augen der Freundinnen sind jetzt erwartungsvoll auf sie gerichtet. „Anfangs war ich sehr beeindruckt von Robert, von seiner Lebenserfahrung, von seinem Selbstbewusstsein. Er wusste immer, was er wollte und bekam es auch. Wenn er mich nach der Berufsschule mit seinem großen Mercedes abholte und zum Essen in ein Restaurant führte, fühlte ich mich einfach großartig! In der ersten Zeit verlief mein Leben so, wie ich es mir gewünscht hatte.“ Barbara seufzte. „Robert war ein fürsorglicher Ehemann und Vater für unsere beiden Kinder. Zu Beginn las er mir jeden Wunsch von den Augen ab. Wann es anfing, kann ich nicht mehr sagen, aber irgendwann fühlte ich mich genauso einsam, wie ich es in meiner frühen Kindheit war. Erst ihr habt mich davon befreit, als ich ins Internat geschickt wurde. Dazu kam, dass ich immer öfter das Gefühl hatte, Robert geht mit mir um wie mit unseren Kindern, so als ob ich nur das Älteste unter ihnen sei, das er erziehen wollte. Manchmal hatte ich schon ‚ja, Papa’ auf den Lippen und konnte es mir gerade noch verkneifen.“

Murielle muss ein Lachen unterdrücken und hält sich die Hand vor den Mund. „Lacht nur, inzwischen kann ich selbst darüber lachen. Damals war mir öfter nur zum Heulen zumute. Und heut – mit genügend Abstand – kommt es mir vor, als sei ich in eine Vaterfalle getappt.“

„Das ist in deiner Situation gut nachzuvollziehen“, meint Verena tröstend. „Du hattest halt schon immer ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit! Ich bin dir da recht ähnlich, deshalb kann ich dich so gut verstehen, Bärbel!“

„Wahrscheinlich hast du – genau wie ich – früher schon Gila bewundert, die immer wieder mal was Neues braucht und absolut unabhängig ist“, sagt Annerose mit einem bewundernden Blick zu Gisela.

„Das ist aber auch ihr Temperament“, stellt Murielle fest.

Gisela macht große Augen. „Na, det iss ja ma interessant, wie ihr mich seht! Irjendwann erzähl ich euch, was mich immer wieder so anjetrieben hat, dann könnt ihr mich besser verstehn. In den letzten Jahrn hab ick ‘was janz Wesentliches jelernt: Zwar kann nur ick allene es schaffen, mein Leben zu bewältigen, aber dennoch bin ick nicht allene. Und det Jefühl, nie alleene zu sein, was auch kommen mag, hat mir vor allem unsere einjeschworene Clique jejeben.“ Gisela konnte manchmal etwas ruppig sein in ihrer kumpelhaften Art, aber nun liegt in ihrer Stimme und ihrem Gesicht eine Zartheit und Aufrichtigkeit, die die Freundinnen tief berührt.

„Mit Robert schloss sich ein Kreis für mich“, erzählt Barbara weiter. „Er wurde zum Vater, den es in meiner Kindheit nicht gab. Zu erkennen, dass ich mein idealisiertes Vaterbild in ihn hineinprojiziert hab, dass er den Vater, nach dem ich mich als Kind gesehnt und von dem ich geträumt hab, ersetzen sollte, war, als hebe sich ein Schleier vor meinen Augen. Zwar kümmerte er sich rührend um die Kinder, aber für mich interessierte er sich immer weniger. Damit war er irgendwann aber ebenso abwesend wie früher mein Vater. Es war wirklich ein langer Prozess, das kann ich euch sagen!“ Barbara schaut von einer zur anderen und es ermutigt sie, als alle verständnisvoll nicken. „Lange war mir das alles so gar nicht klar. Als Robert von mir eine Begründung für die Trennung verlangte, konnte ich ihm gar keine nennen. Damals kannte ich die tiefere Ursache je selbst noch nicht. Es war ganz einfach ein Riesenfehler, einen Mann zu heiraten, der fünfundzwanzig Jahre älter ist als ich!“

„Ach Bärbel, ein Fehler ist ein Fehler. Nur wer den gleichen Fehler zweimal begeht, macht sich zum Narren!“, sagt Gisela gelassen. „Oder würdest du heute nochmal einen Mann heiraten, der dein Vater sein könnte?“ Barbara schüttelt heftig den Kopf. Und Gisela ruft heiter: „Dornröschen ist also aufgewacht! Glückwunsch!“

„Es ist einfach großartig!“, ergänzt Verena.

Murielle umarmt sie spontan und versichert: „Da hast du wirklich etwas bewältigt, Bärbel!“

„Es gibt Momente im Leben, da muss man seinen ganzen Mut zusammenfassen und einfach springen!“, sagt Gisela mit geschlossenen Augen.

So kann Gila nur aus eigener Erfahrung sprechen, denkt Verena und sieht sie nachdenklich von der Seite an.

Nach dem Mittagessen im Garten ruht Verenas Blick lange auf Barbara: „Verrätst du uns nun auch noch, was dein geheimnisvolles Lächeln bedeutet, wenn du dich unbeobachtet fühlst?“

„Ich warte doch schon die ganze Zeit nur auf den passenden Moment“, erklärt sie, denn ihr ist bewusst, ihre Freundinnen können es kaum erwarten, dass sie sie endlich in ihr Geheimnis einweiht. „Ich weiß, es klingt ein wenig verrückt, was ich euch jetzt erzähle.“ Barbara hält inne als suche sie die richtigen Worte für etwas, das sie selbst noch nicht verstehen kann. Als die Freundinnen sie aufmunternd anschauen, gibt sie sich einen Ruck:

„Seit ein paar Monaten begleite ich die Mutter eines Schulfreundes unseres Sohnes zu ihrer Agentur, die Modeschauen für verschiedene Firmen organisiert. Zuerst ging ich nur mit, um mal auf andere Gedanken zu kommen. Das tägliche Einerlei im Büro meines Mannes verlief immer im gleichen Trott. Ich kam kaum noch aus dem Haus. In der Agentur lernte ich neue Menschen kennen, die ein völlig anderes Leben führen. Ich wurde wieder gesellig und war unter Gleichaltrigen. Und wenn wir uns wöchentlich zum Proben trafen, saßen wir oft hinterher noch miteinander in der Kneipe. Glaubt mir, es war wirklich nur eine angenehme Ablenkung, mehr nicht“, beteuert sie. „Dass meine Stimmung sich verbesserte, war mir zunächst gar nicht bewusst, kam aber auch unseren beiden Kindern zugute.

Als mein Mann meine Veränderung bemerkte, begann er, misstrauische Fragen zu stellen. ‚Warum hast du dich heute so aufgedonnert?’ Oder ‚musst du schon wieder zu diesen Paradiesvögeln gehen?’ Dabei war alles völlig harmlos. Bis zu dem Tag, an dem ich irgendwann allein neben unserem Fotografen herging, den ich bisher nur bemerkt hatte, weil er immer neben der gleichen jungen Frau saß und sich angeregt mit ihr unterhielt. Thomas spielte den Beschützer und begleitete mich zum Auto. Es war ein milder Frühlingsabend und die ersten Sterne erschienen am Himmel. Wir gingen sehr langsam nebeneinander her, blieben immer wieder stehen und sprachen über My baker, den Song für die Performance, die für die nächste Modenschau eingeübt wurde, bis der Brunnen auf dem Marktplatz uns mit seinem leisen Plätschern anzog. Hinterher wusste ich nicht mehr, von wem der Impuls ausging.“

Barbara schaut verlegen zur Seite und ihre Stimme wird leise. „Doch ich muss euch sagen, dass mich mein Mann noch nie so geküsst hat. Ich hörte nicht mehr das Rieseln des Wassers neben mir und sah nicht mehr den Vollmond über uns. Thomas legte seine Hände an meine Wangen, sah mich zärtlich an und flüsterte: ‚In deinen Augen spiegelt sich der Glanz der Sterne.‘ Es klang wie eine Liebeserklärung. Solche Worte hat Robert nie für mich gefunden. Ich schloss meine Augen und erwiderte seinen Kuss, als ob ich noch nie geküsst hätte. Ich dachte nicht mehr an meinen Mann zuhause, eigentlich dachte ich gar nichts. Ich spürte nur noch seine weichen Lippen, die zuerst sanft und dann leidenschaftlich das Echo in mir herausforderten.“

Die Freundinnen hörten fasziniert zu und Annerose schwärmt: „Mann o Mann, das klingt wie in einem Liebesroman!“ Barbara bekommt rote Wangen, lässt sich aber nicht ablenken:

„Roberts Küsse waren mir längst lästig geworden. Es war sogar unangenehm, wenn er mit seiner Zunge in meinen Mund stieß und hin und her bewegte, als wolle er ihn vermessen wie ein Landschaftsingenieur.“

Murielle hält sich vor Lachen den Bauch. „Wie gut, dass du deinen Humor nicht verloren hast, Bärbel!“

„Dieser Kuss am Brunnen war wohl der zündende Funke“, ruft Gisela dazwischen und klatscht in die Hände.

„Du hast ja recht, Gila, wie so oft! Dieser Kuss weckte etwas, das in mir schlummerte. Und es stimmt auch, was du heute Morgen gesagt hast, Dornröschen ist wirklich aufgewacht.“ Jetzt lacht auch Barbara und wischt sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. „In dieser Nacht fuhr ich nachhause, als wäre ich ein wenig beschwipst, dabei hatte ich keinen Tropfen Alkohol getrunken.“

„Endlich wissen wir, woher dein Strahlen kommt“, schmunzelt Verena.

„Ich seh Thomas jede Woche bei den Proben, und auch auf den Modeschauen ist er meist als Fotograf aktiv. Inzwischen war ich auch schon bei Fotosessions im Studio und in der Natur.“

„Du hast hoffentlich ein paar dabei?“, will Murielle wissen und schaut erwartungsvoll auf Barbaras Handtasche.

„Beim nächsten Mal denk ich dran, ganz bestimmt. Ich hab bereits ein ganzes Album voll. Geh ich über den Laufsteg, um die Mode der nächsten Saison entsprechend zu präsentieren, seh’ ich nur seine Augen im Publikum und dreh mich nur für ihn, um ihm noch einmal einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen, den nur er verstehen kann.“ Barbara schließt für einen Atemzug die Augen und taucht ein in das Bild der letzten Modenschau, das gerade in ihr aufsteigt: Wenn sie auf dem Laufsteg eine Hand an ihre Hüfte legte, um den Stoff des Kleides ein wenig zu heben – so weit weg von ihm –, dachte sie doch nur an ihn und war ihm nah. Und Thomas wusste, diese Frau, der jetzt gerade unzählige begehrliche Blicke folgen, würde noch heute Nacht nur in seinen Armen liegen, nur ihm ganz allein für die lange Nacht gehören, und niemand im großen Saal ahnte es.

„In den nächsten Wochen wurde ich erfinderisch, nutzte jede Gele­genheit, wenn ich mich aus dem Büro unter einem Vorwand, etwas Dringendes zu erledigen, wegstehlen konnte. Es war so einfach geworden zu lügen“, sagt Barbara schuldbewusst und bemüht sich um ein zaghaftes Lächeln.

„Besitzt der Mensch nicht eine natürliche Neigung zur Lüge?“, tröstet Verena sie.

„Man glaubt ja mit der Zeit selbst an seine Lügen, je mehr und je öfter man lügt“, seufzt Barbara.

„Und manchmal ist es wohl auch besser einfach zu schweigen, denn Worte sind oft die Ursache für Missverständnisse“, ergänzt Gisela mitfühlend und fügt hinzu: „Der Erfinder der Notlüge liebte den Frieden mehr als die Wahrheit, wusste auch James Joyce, der irische Schriftsteller.“

Barbara ist dankbar für das Mitgefühl der Freundinnen und lächelt erleichtert. „Irgendwann hatte ich das Gefühl, Thomas ist ständig in meinem Kopf“, erzählt sie weiter. Dabei lag mir noch nie etwas an einem Techtelmechtel. Und ich bemerkte gar nicht, dass es längst mehr war, dass ich – wo doch mein Leben zu meiner Zufriedenheit geregelt schien und so perfekt geordnet war – die Kontrolle darüber längst verloren hatte. Wenn ich im Büro über meiner Schreibmaschine saß, wusste ich, er ist nur einen Steinwurf weit entfernt, denn er war in einer Agentur in der nächsten Straße beschäftigt. In mir war eine berauschende Schwerelosigkeit, allein durch das Wissen, er ist in meiner Nähe, wenn auch nicht in unmittelbarer, es war nur ein Katzensprung. Ich wusste, jederzeit kann ich ihn anrufen, seine Stimme am Telefon hören, aus der ebenso die Sehnsucht klang wie aus meiner. Und ich wusste auch, ich könnte ihn gerade jetzt – wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick – sehen und spüren. Wir suchten die Gelegenheiten und fanden sie. Manchmal nur für eine knappe Stunde in der Mittagspause, mit einer Decke im Einkaufskorb, um auf einer unbelebten Wiese am Stadtrand den Alltag zu vergessen, ineinander zu verschmelzen und mit dem Abdruck der Vereinigung wieder zurückzukehren, und weiter mit derselben Leichtigkeit durch den Alltag zu schweben.“

„Der Seitensprung, die Untreue, das betraf doch früher mehr die Männer, heute holen die Frauen auf. Auch in scheinbar glücklichen Ehen. Frauen lassen sich inzwischen scheiden, nicht weil sie unglücklich sind, sondern weil sie vielleicht glücklicher sein könnten mit einem neuen Partner“, wirft Gisela ein.

„Allerdings nur, wenn sie finanziell unabhängig sind, die Abhängigen trauen sich nicht“, sagt Verena. „Ich beobachte das seit einiger Zeit in unserem Freundeskreis und unsere Mandanten sind tatsächlich immer öfter Frauen, die die Scheidung beantragen“, sagt Verena als rechte Hand einer renommierten Anwältin, die sie auch regelmäßig zu den Gerichts­terminen begleitet. „Seit dem 1. Juli ‘77 können Ehen geschieden werden, die zerrüttet sind, so steht es nun im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das ist das Ende des Schuldprinzips und eine Ehe kann geschieden werden, wenn sie gescheitert ist“, erklärt Verena.

„Ich hab Glück“, sagt Barbara und klingt erleichtert: “ Nach einem ausführlichen Gespräch sah Robert ein, dass Thomas nicht der Grund für unsere Trennung war, sondern nur der Auslöser. Wir konnten endlich miteinander reden. So war es uns auch möglich, in beiderseitigem Einvernehmen auseinanderzugehen.“

„Mit dem neuen Ehe- und Scheidungsrecht kehrt mehr Gerechtigkeit ein ins Familienrecht“, erklärt Verena. „Vorher war eine Scheidung nur bei Feststellung der Schuld eines Ehepartners möglich. Wurde man schuldig geschieden, gab es keine Chance, das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen. Auch Unterhaltszahlungen blieben aus. Das hatte zur Folge, dass vor Gericht viel schmutzige Wäsche gewaschen wurde. Es ging so weit, dass Trennungswillige den Richter belogen. Wenn sich Eheleute im Guten trennen wollten, wurde darüber verhandelt, wer die Schuld auf sich nimmt. Oder sie blieben verheiratet, obwohl sie seit Jahren getrennte Wege gingen. Schuldig geschieden gibt es nun nicht mehr.“

„Es war aber auch an der Zeit“, sagt Gisela, „dass endlich an der angeblichen Unauflöslichkeit der Ehe gerüttelt wurde.“

„Außerdem durfte bisher eine Frau nur arbeiten, wenn der Mann einverstanden war. Die Aufteilung der Arbeiten im Haushalt bleibt jetzt den Eheleuten überlassen“, ergänzte Verena. „Endlich muss eine Frau bei der Heirat auch nicht mehr ihren Mädchennamen ablegen, bisher war sie doch gezwungen, den Namen des Mannes anzunehmen.“

„Es war ein langes Wochenende, ihr Lieben! Ich muss mich langsam verabschieden. Morgen um halb acht muss ich fit sein für unsere Kleinen im Kinderladen“, erklärt Gisela ihren abrupten Aufbruch.

„Oh, ich hab so gehofft, ihr bleibt alle noch einen Tag“, sagt Anne­rose enttäuscht.

„Na du kennst doch den Spruch: Fische und Gäste haben etwas ge­meinsam, am dritten Tag fangen sie an zu stinken!“, antwortet Gisela flapsig.

„Du lieber Himmel!“, ruft Annerose erschrocken, „doch nicht ihr!“ „Gila, du hast uns noch gar nichts erzählt von dem neuen Film über Rosemarie Nitribitt, den du dir angeschaut hast“, erinnert Annerose, um sie noch ein wenig zum Bleiben zu bewegen.

Gisela winkt ab: „Der Film ist eine hochspekulative Fortsetzung von Das Mädchen Rosemarie, der ‘58 ein Hit war, und nicht mehr als ein Erotikfilm, aber sicher entstanden, weil der Mord bis heute nicht aufgeklärt wurde.“

„War das nicht die berühmte Edelhure aus Frankfurt?“, fragt Verena.

Gisela nickt: „Man kann sagen, ihr Leben und Sterben sind ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte. Nitribitt war erst vierundzwanzig bei ihrem Tod, aber sie konnte sich als Symbol des deutschen Wirtschaftswunders sehr erfolgreich inszenieren. Auf ihre ganz besondere Weise wurde sie – mit ihrem Körper als Kapital – eine Spitzenverdienerin.“

„Sie war einfach ein Flittchen und ohne moralische Skrupel!“, sagt Annerose verächtlich.

„Auch der Millionen-Erbe aus der Familie Krupp soll neben anderen schwerreichen Industriellen ihr Liebhaber gewesen sein. Im ersten Film wurde gezeigt, dass diese ‚Wunderbonzen’, die in ihrem Appartement ein- und ausgingen, Direktoren deutscher Konzerne waren, die unter Tarnfirmen an Rüstungsaufträgen arbeiteten. Als die ins westliche Ausland weitergeleiteten Tonbänder – die während ihrer Schäferstunden mitliefen – mit den Werksgeheimnissen ihrer Freier einen Skandal auslösten, brachte man sie um. Der Mord wurde von der Polizei vertuscht, der Rechtsstaat war noch in den Kinderschuhen. Die Bundesregierung versuchte, die Aufführung des Filmes in Cannes zu verhindern. Der eigentliche Skandal ist, dass der Fall höchst­wahrscheinlich nie aufgeklärt wird.“

„Komm doch über die Feiertage zu uns!“, sagte Verena vor einem halben Jahr am Telefon zu Murielle. Sie war inzwischen mit ihrer Familie nach München gezogen, ihr Mann wurde an die dortige Universität berufen. Murielle sollte nicht alleine sein an Weihnachten, nachdem sie und Christoph sich auseinandergelebt hatten. Widerstrebend nahm sie die Einladung an. Es war mehr der Gedanke, die Fürsorge der Freundin nicht zurückweisen zu wollen, der sie dazu bewogen hat. Doch Verena fiel ein Stein vom Herzen.

„In unserer allerersten Zeit waren wir so unbeschwert. Dann verloren wir uns in unseren Schicksalsschlägen. Christoph nahm mich irgendwann einfach nicht mehr wahr.“ Verena hörte die unterdrückten Tränen in Murielles Stimme. „Ich sah mich ja selbst nicht mehr damals“, berichtete sie am Telefon.

Pfeifend rast der Zug in einen Tunnel. Murielle sieht ihr müdes Gesicht vor dem Dunkel im Fensterglas und wendet sich ab. Als es wieder hell wird, zieht die Landschaft, deren Grün immer mehr von einem in der Sonne glitzernden Weiß überzuckert ist, an ihr vorbei. Hin und wieder spürt sie die Blicke der Mitreisenden, wenigstens lassen sie sie jetzt in Ruhe. Murielle lehnt ihren Kopf an und schließt die Augen. Als der Zug im Hauptbahnhof einfährt, wacht sie auf und schaut erschrocken auf ihre Armbanduhr. Sie hat fast eine Stunde geschlafen.

Bei Verena in München findet Murielle eine wohltuende Geborgenheit, die ihr zuhause fehlt. „Du weißt, ich bin immer für dich da. Aber wenn du alleine sein möchtest, dann nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst“, sagt die Freundin und führt sie in das kleine Zimmer mit einem Schlafsofa, das ihr Rückzugsort zum Schreiben ist.

Nachdem Murielle ihre Reisetasche ausgepackt hat, steht sie am Fenster und schaut hinaus: Gerade geht hinter den majestätischen Berggipfeln die Sonne glutrot unter. Purpurne Schatten füllen die tiefen Täler. Wie von flüssigem Gold umsäumt leuchtet der Schnee auf den Alpen. Mit einem tiefen Seufzer atmete sie auf: Allein für diesen Anblick hat sich meine Reise schon gelohnt, denkt sie, als wäre dieses himmlische Schauspiel nur für mich gemacht.

Christoph war Murielles große Liebe und der erste Mann in ihrem Le­ben. Im Taumel ihrer Verliebtheit war sie nicht in der Lage gewesen, hinter seine nach Außen gezeigte selbstsichere Haltung zu schauen. Als sie heirateten, kannten sie sich erst vier Monate. Murielle beendete gerade ihr Referendariat in der Grund- und Mittelschule Mönchberg in Würzburg, Christoph gab seine Stelle in Erlangen auf und wechselte als Ressortleiter zum Maschinenbau König. In Randersacker fanden sie ein kleines älteres Haus mit einem großen Garten und einem traumhaften Blick auf die Weinberge.

So wie Murielle wünschte auch Christoph sich Kinder. Die erste Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt schon im dritten Monat. Murielle hatte plötzlich starke Bauchkrämpfe, und als sie auf der Toilette saß, spürte sie, dass sie dieses winzige Leben verliert. Entsetzt starrte sie es an. Nein, nein, das darf nicht wahr sein!, schrie es in ihr. Sie war außer sich, doch Christoph zuckte – scheinbar unberührt – nur mit den Schultern.