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Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit, den Grabenkämpfen der beiden Konfessionen ausgeliefert und doch trotz aller Widerstände und der drohenden Flucht aus dem Leben den "Eigen(en)Sinn" hinübergerettet in tiefer Verbundenheit mit dem Glauben, der meine Kindheit prägte. Ein Blick zurück in das Leben der Eltern und Großeltern, nicht um anzuklagen, sondern zu verstehen und unter all den Verstrickungen die Liebe zum Leben zu entdecken.
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Seitenzahl: 667
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Gabrielle Jesberger
Liebes Leben
Ein Mädchen im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Liebes Leben
Prolog
Teil 1
Die Schlossers Großeltern
Die Friese Großeltern
Sagen, Legenden und märchenhafte Fantasie
Meine Internatszeit in Miltenberg
Mit sechzehn fängt das Leben erst an
Die große Chance
Die allzu früh übernommene Verantwortung
Der große Tag
Herzlich danken
Die Hochzeitsreise
Sehnsucht nach einem Kind
Nach Papas Tod
Herzlich danken
Fußnoten
Teil 2
Teil 3
Impressum neobooks
Ein Mädchen im Spessart
inmitten Märchen, Magie, Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit
Biografischer Roman
Gabrielle Jesberger
Für meine neun Enkelkinder
Es ist mein Herzenswunsch, ihnen zu danken.
Seit sie in mein Leben kamen, wuchs mein Anliegen,
meine Kindheitsgeschichte für sie aufzuschreiben.
Denn um zu wissen, wer wir sind und wo wir hinwollen,
ist es hilfreich, wenn wir sehen können, wo wir herkommen.
Impressum
Texte: © Copyright by Gabrielle Jesberger
Buchcoverdesign: Sarah Buhr /www.covermanufaktur.de
unter Verwendung von Bildmaterial
vonulkas78/Depositphotos sowie Anton
Petrus / Shutterstock
Verlag: Jesberger c/o AutorenServices.de
Birkenallee 24, 36037 Fulda
Druck: epubli, ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-7467-4547-3
Erschienen 2017, überarbeitet 2022
Printed in Germany
Dieses Buch über die ersten 20 Jahre des Lebens der Autorin ist ganz außergewöhnlich und ausgesprochen vielschichtig. Vordergründig bietet es einen sehr interessanten Einblick in das Nachkriegsleben einer 1947 geborenen Frau in dem Dorf Sommerau des Spessarts. Dort haben die Eltern mit großem Fleiß (sie betreiben eine Tankstelle, eine Schlosser-Werkstatt und einen kleinen Laden) Anteil am beginnenden Wirtschaftswunder. Die katholische Kirche ist in Familie, Kindergarten, Schule und Internat mit allen Facetten präsent.
Von vielen mundartlichen Redewendungen im Spessart-Dialekt begleitet haben Leser*in Anteil an dem sehr detailreich und lebendig vermittelten Leben eines heranwachsenden Mädchens, dessen familiäres Umfeld alles andere als gewöhnlich ist. Das Buch ist aber auch - und das macht es so wertvoll - die Geschichte einer Frau, die mit ihren Erinnerungen an Kindheit und Jugend mit allen Sinnen um ein Verständnis ihrer Herkunft und ihres eigenen, zum Teil sehr schmerzhaften Werdens ringt. Der Prolog bringt dieses Ringen mit dem Satz Ich werde den Schleier des Vergessens lüften, anschreiben gegen das Vergessen, um zu verstehen und letztendlich zu heilen wunderbar zum Ausdruck. So wird das Bemühen der Autorin um eine auf die Kraft der Liebe basierende Verarbeitung und Befreiung von den Fesseln der Vergangenheit immer wieder spürbar.
Der Rückblick auf ihr Leben besteht aus drei Teilen. Der erste Teil ist der Kindheit gewidmet, mit vielen, ausgesprochen detaillierten, liebevollen Erinnerungen an das dörfliche Umfeld, an das recht entbehrungsreiche Familienleben, an die prägenden menschlichen Begegnungen, auch mit Großeltern, Tanten und Onkeln. Wir begegnen einer tiefen sinnlichen Emotionalität und einer großen Lebenslust der Autorin. Dieser Teil wird ergänzt durch einen Rückblick auf das Leben der Eltern und Großeltern, ohne den ein liebevolles Verständnis für die eigenen Eltern nicht möglich wäre.
Die glückliche Kindheit, wie sie der Leserin geboten wird, endet aber ziemlich abrupt mit Beginn der Schulzeit. Der bis dahin liebevolle, zärtliche Papa (Isch ghör moim Babba!) traktiert seine Tochter immer wieder mit unerbittlichen Schlägen und harten Vorwürfen und Herabsetzungen, die bitteres Leid hervorrufen.
Der zweite Teil handelt vom Leben im Internat der Armen Schulschwestern in Miltenberg am Main, das die Autorin nach der Volksschule bis zur Mittleren Reife besucht, einerseits eine Befreiung von elterlichen Zwängen, andererseits aber die Konfrontation mit anderen bedrückenden Einschränkungen. Diese vermögen aber die Lebensenergie der Autorin nicht zu ersticken!
Der dritte Teil schließlich beginnt mit Udo, ihrer großen Liebe und ihrem heutigen Ehemann. In diesem Lebensabschnitt setzt ein körperlicher und geistiger Reifeprozess ein, der mit Heirat, Krankheit und Tod der Eltern abschließt.
Das Buch endet mit einem versöhnenden und von großer Liebe geprägten Rückblick auf die Eltern. Die strenge, katholische, die zum Teil sogar beklemmende Gewalt in der väterlichen Erziehung konnte letztendlich der tiefen Liebe der Autorin zu ihren Eltern nichts anhaben. Dies mag überraschen, ist aber stimmig in Anbetracht der großen Empathie und der positiven Lebenskraft der Autorin.
Für mich, der ich – 1943 geboren – in der Großstadt Hamburg nach dem Krieg relativ sorglos und geborgen aufwuchs, sind die Lebensumstände der Autorin im dörflich-katholischen sozialen Umfeld in fast allen Belangen verschieden von den meinen. Auch wenn ich mit Kirche in Berührung kam – so nahm ich regelmäßig an (evangelischen) Kindergottesdiensten teil – erscheinen mir die hier beschriebenen kirchlich-katholischen Prägungen fast übergriffig. Aber genau diese Andersartigkeit hat mich gefesselt. Das Buch ließ mich in eine mir unbekannte Welt eintauchen und hat mich tief berührt. Ich bin mir sicher, dass es als ein großartiges Geschenk für Kinder und Enkel angenommen werden wird.
Hamburg, 15. Februar 2022 Dr. Bodo Werner
Isch woar noch kloa
Un bin gelaafe hie un her
Oft woar moi Wäld debei sou leer
Doa noam isch goanz oafach
En Oannän midd
Soa hie un her, im sälbe Schridd
Uff oamoal was isch, es is woa
Hoab isch ze wenisch Lieb
Do geid noa oans
Lieb no meä!
Des iss doch kloa
Ich war noch klein und
Bin gewandert hin und her
Fand meine Welt oft liebeleer
Früh nahm ich einen andern mit
Hin und her, im gleichen Schritt
Bis bald mir wurde offenbart
Das Liebeleer
Braucht nur eines:
Liebe mehr!
Und dann betrachte ich unser Dorf,
dieses kleine warme Genist,
worin jede Linie und Fläche
mir so lange und genau bekannt.
Hermann Hesse in Montagnola
Die Wertschätzung und Dankbarkeit, die mich heute mit Mama, Papa, dem Bruder, den Großeltern und allen mir nahestehenden Menschen meiner Kindheit verbindet, umhüllt und beschützt mich wie ein wärmender Mantel im kalten Winter. Erst jetzt erkenne ich, wie sehr mich alle in ihrer unnachahmlichen Persönlichkeit geprägt haben und wie das vom Schicksal unsichtbar gewebte Band der Liebe über den Tod hinaus weiterwirkt.
Verschwommene Bilder, die auftauchen wie Lichtblitze, zerfließen, sobald ich sie greifen will, wenn sehnsuchtsvolle Erinnerungen mich mit Wehmut erfüllen und verborgene Wunden erahnen lassen. Diffuse Gerüche, Geräusche, flüchtige Fragmente, überwältigende Gefühle verflüchtigen sich in einem Nebel wie aus einer anderen Welt. Den Schleier durchdringen, den ersten Schritt wagen, dem Sog folgen, nicht mehr ausweichen; stehenbleiben kann ich nicht mehr, zurück auch nicht. Nein, ich will mir nichts mehr vormachen, mich nicht mehr verstecken, mich nie mehr selbst belügen. Wie ein Höhlenforscher suche ich die Erinnerungen, folge mit klopfendem Herzen spontanen Impulsen, dem Drängen meines inneren Scheinwerfers. Ein ahnungsvolles Bangen ergreift das auftauchende Bild als könne es sofort wieder im Dunkel verschwinden. Ich werde den Schleier des Vergessens lüften, anschreiben gegen das Vergessen, um zu verstehen und letztendlich zu heilen. Ich muss mich um eine Vorstellungskraft bemühen, die mich von sehnsuchtsvollen Erinnerungen und romantischer Nostalgieschwärmerei frei macht, sie entstauben, um die Nüchternheit zu erlangen, die ich brauche, um meine Kindheit wie auf einer Leinwand anzuschauen und die Lücken zu füllen, die mir für ein tiefes Verstehen fehlen. Selbst meine Großeltern sind nur noch flüchtige Schatten, die ich nachzeichnen muss, um sie in den Labyrinthen meines Gedächtnisses nicht zu verlieren.
Schon schreibe ich nicht mehr auf Wunsch unserer Kinder, erahne meine Chance. Wie Gäste, die meiner Einladung folgen, tauchen nach und nach meine Wegbegleiter wieder auf. Urplötzlich ist er wieder da, dieser längst verlorene Geruch der Kindheit. Ich schließe die Augen und atme ihn tief ein. Unschuldige blaue Kinderaugen schauen mich unverhofft an. Sie versprechen mir, Geschichten zu erzählen aus einem längst verlorenen Paradies. Ich will diesem offenen, unerschrockenen Blick des kleinen Mädchens, das ich so lange vergessen glaubte, nicht mehr ausweichen, das in Sprachlosigkeit Erstarrte erlösen und vor allem lauschen. Altvertraute Angst findet zum ersten Mal eine Stimme. Ungeahntes Vertrauen schafft Mut und eine Leichtigkeit, als ob mir Flügel wachsen, die mich tragen wohin ich nur will. Ich frage, was ich nie zu fragen wagte, bekomme Antworten, die mich tief berühren, lausche den Botschaften aus einer längst vergangenen Zeit. Die schwarzen Löcher meiner Erinnerungen schrumpfen, ihre Bedeutungen beginnen sich mir zu offenbaren. Alte Wunden können heilen, wenn mein Begreifen zulässt, dass aus verriegelten Kammern mehr und mehr Bilder, Gerüche, Wortfetzen auftauchen. Sobald ich schreibe, brechen immer wieder neue Bruchstücke, Relikte wie Blitzlichter auf. Gestalten lösen sich aus dem Dunkel, in dem sie jahrzehntelang verborgen waren, jede mit ihrem eigenen Gesicht, ihrer eigenen Stimme, ihren Leidenschaften und Hirngespinsten. Familienschicksale aus der Zeit vor meiner Geburt ordnen sich Schritt für Schritt, ebenso wie die Aufzeichnungen aus meinen alten Tagebüchern. Immer wieder brauche ich Mut, um nicht mehr wegzuhören sondern weiterzulauschen, schenke dem Unerhörten Gehör, gewinne die Anekdoten meiner Mutter zurück, mit denen sie mich so gern in ihrer bildreichen Sprache und der mir so vertrauten unterfränkischen Ausdrucksweise am Küchenherd oder an der Nähmaschine in eine vergangene Zeit entführte. Bisweilen öffnen sich Schleusen, überschütten Geschichten mich wie Sturzbäche, die mich in ihrem Strudel mitreißen. Der Alltag verliert an Bedeutung, die Zeit wird zur Illusion, bis ich endlich bewusst tief Atem holen und mich so in die Gegenwart retten kann. Ich beginne zu ahnen, dass etwas in mir all die Jahre nur darauf gewartet hat, die so fest verschlossene Tür endlich zu öffnen. Nach dem ersten mühsamen Schritt ist jeder nächste leichter, bis ich irgendwann ganz leichtfüßig mich hineinbewegen kann. Das Kaleidoskop meiner Kindheit und Jugend, durch das ich zurückschaue, dreht sich immer schneller, wird zum Rausch, dem ich mich nicht mehr entziehen kann und auch nicht will. Eine ungeheure Erregung erfasst mich wie ein Fieber – wieder und wieder aufs Neue. Ungeduldig und begierig, als ob alles unmittelbar wieder an den Ort des Vergessens entfliehen könnte, versuche ich, die Fundstücke zusammenzusetzen. Will ich fliehen vor schmerzhaften Gefühlen, locken mich innere Stimmen wie Sirenen auf geheimnisvoll verschlungene Pfade. Die Erinnerungen kommen zunächst schubweise. Dann ist es plötzlich wie ein Dammbruch. Beinahe schlagartig ist alles wieder da, was tief in mir versteckt war: der Zauber, die Magie, das Unbekümmertsein wie auch das Schmerzliche, das Erschütternde, die übermächtige Angst. Es ist ein Aufbrechen, das meinen ganzen Körper elektrisiert wie ein Stromschlag.
Vorübergehend rette ich mich einige Zeit in den Alltag. Ungläubig staunend lese ich Wochen später das dem Vergessen Entrissene und erkenne mich kaum wieder. Es ist, als ob ich in meinen Aufzeichnungen eine andere entdecke, fühle ein starkes Unbehagen und eine große Unruhe breitet sich in mir aus. Gelingt es mir, nicht davonzulaufen, mich dieser Unbekannten zu stellen, erlebe ich urplötzlich, wie aus einer Metaperspektive, dass die beiden beginnen, vorsichtig Kontakt aufzunehmen und sich gegenseitig Fragen stellen, um Antworten zu finden, bis eine subtile Vertrautheit mich aufatmen lässt. Wenn das Chaos mir am größten erscheint, eine alte, vergessen geglaubte Angst nichtsahnend wieder ihre Hand nach mir ausstrecken will, hält mich eine geheimnisvoll vertraute Kraft, die die einzelnen Puzzleteile nach und nach zu einem überraschenden Ganzen ordnet und mir erlaubt, den alten Schmerz zuzulassen und zu erkennen, dass er sein darf, weil er zu mir gehört und meine Entwicklung entscheidend geprägt hat. Endlich kann ich die heilsame Trauer zulassen. Schmerzvolle Einsicht und eine tiefe Traurigkeit treiben mir Tränen in die Augen, bis sich langsam eine wohlige Mattigkeit in mir ausbreitet und alles zur Ruhe kommt. – In bunten Bildern liegen schicksalshafte Zusammenhänge vor mir, entdecke ich meinen Platz neu in der Familiengeschichte, erkenne staunend, dass der Rückzug in meiner Kindheit und Jugend, die Ablehnung aller Erziehungsdoktrine nichts anderes waren, als das unbeirrbare Folgen meines inneren Kompasses, um mich hinüberzuretten, um irgendwann einmal mich selbst zu finden. Das Schreiben hilft mir, meine eigene Geschichte zu würdigen, mich selbst zu umarmen, um frei zu sein. Ich kann dem vergessen geglaubten Kind wieder begegnen, diesem neugierigen, wilden, verspielten und verträumten Mädchen mit dem herzhaften Lachen, unverstellt, voll unbändiger Lebenslust und Neugier und das Leuchten in ihren strahlend blauen Augen sehen.
Manchmal habe ich mich gefragt, warum ich so lange dazu brauchte, aber das zählt nicht mehr, denn mit jeder Zeile die ich schreibe, bin ich auf meinem ureigenen Weg und eine neue Dankbarkeit wächst, die sich ausweitet zu einem tragenden Fundament meines Lebens.
An diesem kühlen Herbstmorgen, einem Samstag Ende Oktober 1960 – im Institut sind Herbstferien – schleiche ich mich sehr früh auf Zehenspitzen fast geräuschlos aus meinem Elternhaus. Mama, Papa und mein Bruder schlafen hoffentlich tief und fest. Noch ist es dunkel; durch die Nebelschwaden schimmern vereinzelt Straßenlaternen im fahlen Licht. Behutsam schließe ich mit einem leisen Quietschen hinter mir die Haustür, halte kurz inne, horche hinein, drin bleibt alles ruhig. Begierig atme ich die kühle feuchte Luft und laufe los. Morgendunst hüllt mich ein, es riecht nach Herbst. Fröstelnd ziehe ich meine Schultern hoch, stecke entschlossen meine Fäuste in die Jackentaschen. In meinem Bauch regt sich ein unbekanntes, aber angenehmes Kribbeln. Mein Atem wird schneller je weiter ich mich vom Elternhaus entferne. Schon bin ich an der ersten Straßenbiegung vorbei.
Jetzt würden die Eltern mich nicht mehr sehen können. Ich verlangsame meinen Schritt, mit jedem weiteren wächst meine Entschlossenheit. Das Dorf ruht, niemand begegnet mir, keiner kann mir unangenehme Fragen stellen: „Wohin bist du denn schon so früh unterwegs? …“ Heute bin ich scheinbar die erste, die ihre Schuhabdrücke im feuchtglänzenden dunklen Asphalt hinterlässt. Mein Weg führt mich vorbei an der Kirche, unserem Spessartdom – aus dem warmen roten Buntsandstein, mit dem hohen schlanken Turm und den gotischen Ornamenten –, dem alten Fachwerkhaus, meiner Schule, die ich fünf Jahre besucht habe, hoch zum Erzgraben, wo meine Großeltern früher Felder und Äcker bewirtschafteten. Gedanken, dass ich zum allerersten Mal etwas wage, das meine Eltern niemals verstehen oder erlauben würden, bewegen mich. Nur einen winzigen Augenblick halte ich inne, dann gelingt es mir, die aufsteigenden Zweifel beiseite zu schieben und mit jedem Schritt wächst meine Entschlossenheit. Mit jedem Meter Abstand vom Elternhaus gewinne ich Sicherheit und Selbstvertrauen. Noch ist mir nicht klar, wie weit ich gehen werde.
Energisch richte ich mich auf, unterdrücke den erneuten Impuls zurückzuschauen, gehe mit festem Schritt weiter, suche mein unbekanntes Ziel. Vereinzelt hängen noch kleine Mostäpfel an den Bäumen, die Wiese ist übersät mit faulendem Obst, ich atme den süßlich modrigen Duft. Der nebelblasse Vollmond begleitet mich mit seinem sanften Schimmer, bis mich die Dunkelheit des Waldes vor mir aufhält. Es ist wie ein Morgengebet, als ich am Waldrand in die Stille der Morgendämmerung lausche, die mich wie eine zärtliche Geste umhüllt. Gedankenverloren erkunden meine Hände die samtzarten nebelfeuchten Moospolster auf dem mächtigen knorrigen Stamm vor mir auf dem Boden, der im Morgentau silbern schimmert. Er erzählt vom einst hohen Wuchs, den weit ausladenden Zweigen, der Vielfalt seiner Blätter, den üppigen kleinen Eicheln, dem hohen Alter, so manchem Sturm Widerstand bietend. Eine verkrüppelte Eiche, sicher schon vor Jahren gefällt, seit langem der Witterung ausgeliefert und nun Heimat für Flechten, Moos und kleine Käfer. Tief atme ich den modrig herben Geruch des Laubes. Beinahe geräuschlos nimmt der weiche Waldboden mit seinen braunen und rostroten Flecken meine Schritte auf. Noch scheint auch die Natur zu schlafen, kein Windhauch berührt mich. Nur hin und wieder rascheln ein paar trockene Blätter, löst sich leise taumelnd ein einzelnes kupferglänzendes müdes Blatt aus den Zweigen über mir, um sich in einem schwerelosen letzten Tanz zur Erde in den ewigen Kreislauf des Lebens zu ergeben.
Ergriffen drehe ich mich um und schaue hinunter auf mein Dorf. Plötzlich scheint es weit weg zu sein. Einzig die schlanke Kirchturmspitze lugt durch den opalschimmernden samtigen Nebelschleier, der wie ein weit ausgespannter Schirm behütend über den Dächern schwebt. Niemals zuvor gab es einen solchen Moment, es ist wie ein Zauber. Oder ist es nur ein Traum?
Ich bin ganz allein, habe die Einsamkeit, die ich doch so sehr fürchte, zum allerersten Mal gesucht. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Ruhe umhüllt mich wie ein schützender Raum. Die panische Angst vor dem Alleinsein, die mich seit meiner Geburt wie ein lähmender Schatten überall hin begleitet, verliert sich urplötzlich in einem Rausch der Euphorie. Doch dann steigt eine nie gekannte Schwermut in mir auf, ein Gefühl der Trauer, als ob ich nun alles und alle in meinem Leben hinter mir lassen würde: das Heimelige, so innig Vertraute und doch auch Beengende und Beängstigende. Ein Ahnen des Abschiednehmenmüssens überfällt mich, lähmt meine Gedanken, als ob mich eine unbekannte Kraft in die Tiefe ziehen will. Alles geschieht ganz langsam, wie in Zeitlupe. Reglos versuche ich mit letzter Konzentration zu beobachten, was in mir geschieht, will die Kontrolle nicht verlieren, bis ein Sog jeglichen Widerstand auflöst und ich mich völlig ergreifen lasse.
Unendlich sanft gleite ich aus der Zeit, gebe mich hin, sinke ein in die morbide Stimmung dieses magischen Morgens. – Zeitlose Stille umfängt mich. – Da ist plötzlich eine merkwürdige Fremdheit in mir und ein Gefühl, das mich bewegungsunfähig macht, als ob sich meine Körperkonturen auflösen würden und sogar atmen überflüssig wird. – Wer bin ich? – Bin ich Baum? – Bin ich Moos? – Bin ich Stein? – Bin ich die Luft, der Atem der Natur? …
Plopp – plopp – plopp … Ist das der Morgentau, der von den noch verbliebenen Blättern der alten Eiche auf meinen Kopf tropft oder ist es mein Pulsschlag? Die Kühle lässt mich plötzlich frösteln. Noch nie hab‘ ich das Pochen in meiner Brust so kraftvoll gespürt. Sanftes Morgenlicht gleitet über die Felder und Wiesen. Ist es der Ruf einer Lerche ganz in der Nähe, den ich höre, als ob ihr Jubeln nur mir gilt? Von weither dringt das Rattern eines Traktors zu mir herüber. Irgendwo kräht ein Hahn. Das Dorf, mein geliebtes Nest, erwacht, ein neuer Arbeitstag ist angebrochen. Jetzt schlägt die Kirchturmuhr zweimal. Ist es schon halb acht? Mit klopfendem Herzen und dem Gefühl, größer zu sein als zuvor richte ich mich auf, hebe meinen Kopf, blinzle in die aufgehende Sonne und wische mir die zarten Spinnenfäden aus dem Gesicht, die meine Nase kitzeln. Ich schiebe meine taufeuchten Haare hinter die Ohren, lecke mir den Morgentau von den Lippen, er schmeckt süß wie der Saft der Taubnessel, die ich als kleines Kind so gerne ausgelutscht habe. Wie lange schon sitze ich hier? Ein Ahnen sagt mir, nie wieder werde ich so sein wie bisher. Tief atme ich die frische Morgenluft. Es ist wie ein Aufbrechen zu etwas völlig Neuem, Unbekanntem, als ich endlich höre, wie ich ja sage. Meine zaghafte Stimme klingt fremd an meinem Ohr, zuerst flüsternd, dann immer lauter, kraftvoller, bis es erklingt wie eine Melodie. Ich rufe, singe und juble es förmlich heraus aus meinem Herzen, immer wieder, mein Ja zum Leben. Ich will es schmecken, fühlen, ergründen, das Mysterium meines Lebens.
Mein Geheimnis werde ich wie einen Schatz behüten in meinem Herzen. Seither sehe ich meine Welt mit anderen Augen, erlebe die Vielfalt in der Natur, den Wald, die Bäume, den Gesang der Vögel, die Schönheit der Früchte, die Stille der Nacht, meine Verbindung mit allem, was um mich herum existiert, die Menschen in meinem Leben, als ob ein zusätzliches, ein drittes Auge all das wahrnimmt, was den anderen beiden Augen verborgen ist.
Mein Leben lang bin ich seither immer wieder auf der Suche nach jenem Augenblick, in dem Natur und Herz wieder neu zusammenklingen. Auf der Suche nach diesen wunderbaren Empfindungen in der Natur, dem Eingebettetsein, dem Glücksgefühl für das es keine Worte gibt, nach Erinnerungen, viel älter als mein Bewusstsein, Erinnerungen, die unsere Erde bewahrt an eine Zeit, in der wir noch nicht existierten, ein Geheimnis, das uns Menschen nur zugänglich ist, wenn wir uns mit allen Sinnen dafür öffnen.
Der lange Winter 1947/48 mit vielen frostigen Nächten war nach einem außergewöhnlich heißen Sommer sehr kalt. Zu heizen war in dem kleinen Lehmhäuschen nur die Küche durch einen kleinen weißemaillierten Herd, der mit Holz und Eierkohle befeuert wurde. War das Feuer schon zu weit heruntergebrannt und die Holzkiste leer, sprang Mama – mit einem fürsorglichen Blick auf den erschöpft auf dem Sofa liegenden Papa – auf, rief „ich houl schnäll nochen Oaffel Holz!“1 und eilte hinaus. Das heiße Wasser im Wasserschiff des Herdes musste am Abend zum Waschen für alle ausreichen. Zuerst wusch Mama mein Gesicht und die Hände mit einem Waschlappen. Zuletzt kam Papa an die Reihe, der sehr schnell das kostbare Nass schwarz färbte. Er brauchte viel Kernseife für sein vom Schweißen rußgeschwärztes Gesicht und mit Hilfe einer groben Wurzelbürste schrubbte er seine ölverschmierten Hände. Oft kam er aus der Werkstatt mit Verletzungen an den Fingern, die er in einer schwarzen Brühe aus Eichenrinde badete, bevor er über Nacht seine schwieligen Hände mit dem glänzenden Melkfett einrieb. In der winzigen Wohnstube stand eines Tages ein kleiner braunglasierter ausrangierter Ofen, der nur einmal im Jahr benutzt wurde: an Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag. Durch die winzigen alten Sprossenfenster, von denen der vergilbte Lack abblätterte und der Kitt bröckelte, zog die kalte Luft in das kleine Haus. Mama musste zusammengerollte Decken auf die Fensterbank legen, um die Kälte ein wenig abzuhalten und die Feuchtigkeit aufzufangen. Zum Schlafen in der Nacht packte Mama mich in einem wollenen Mützchen, Jäckchen, Handschuhen und einer Wärmflasche in den Stubenwagen.
Da Mama mich nicht stillen konnte und man nirgends Säuglingsmilch kaufen konnte, setzte Papa sich auf sein Motorrad, Wurst und Butter im Gepäck zum Tauschen gegen Haferflocken. Doch als Mama sie sah, entschied sie, die Qualität sei so schlecht, dass man bestenfalls das Schwein damit füttern könne. Jetzt hatte sie nur noch Mehl, um die mit Wasser verdünnte Kuhmilch ein wenig zu binden. Allerdings stellte sich bald heraus, dass ich eine Milchallergie hatte, denn auf meinem Kopf breitete sich ein nässender Schorf aus. Auch meine Augen waren am Morgen verklebt mit eitrigem Sekret. Mama musste meine Augen mit Kamillentee betupfen, um den Schorf ein wenig aufzulösen, damit ich die Augen öffnen konnte. Bald zeigten sich am ganzen Körper mehrere Furunkel, dazu kam hohes Fieber mit Krämpfen. Dr. Drescher wurde gerufen, aber als er sah, wie ich ohne Bewusstsein mit blauen Lippen im Fieberkrampf in Mamas Armen lag, wollte er die Verantwortung nicht übernehmen und entschied, Papa müsse mich sofort nach Aschaffenburg in die Kinderklinik bringen, denn er äußerte Bedenken, ob ich diese Krankheit überleben würde. Doch Papa beschloss: „Wenn uns der Herrgott unser Kind wieder nehmen will, dann muss er es aus meinen Armen holen.“ Im Nachbardorf Eichelsbach fand er einen pensionierten Arzt, Dr. Pfeiffer, dessen Sohn mich auf die Welt geholt hatte. Der alte Arzt war so mutig, bei einem drei Monate alten Kind ohne Betäubung die Furunkel zu öffnen, damit der Eiter abfließen konnte. Dazu musste Papa mich nackt mit einem Kissen auf den Küchentisch legen und meine Arme und Beine festhalten. Mama ertrug es nicht zuzusehen, ging hinaus und hielt sich verzweifelt die Ohren zu, um mein Schreien nicht hören zu müssen. Hinterher war jedes Mal das Kissen von Urin durchnässt. Tagelang kam dieser hochbetagte Arzt zu Fuß, war eine gute Stunde unterwegs, um einen weiteren Eiterherd zu öffnen und legte anschließend die gleiche Strecke wieder zurück. Papa und Mama mussten mich in dieser schweren Zeit stundenlang abwechselnd herumtragen. Sobald sie stehenblieben, begann ich zu schreien. Und wenn sie dachten, jetzt schläft ihr Kind endlich und wollten sich setzen oder mich ins Bett legen, um sich etwas zu erholen, fing ich schon wieder an. Sie waren bald völlig übermüdet und erschöpft, denn dies wiederholte sich tage- und nächtelang und auch die Arbeit in der Werkstatt, an der Tankstelle und im Haushalt musste erledigt werden. Mamas Erzählungen ließen nie einen Zweifel daran, dass Papas Entscheidung, mich nicht ins Krankenhaus zu bringen und vor allem ihre liebevolle Fürsorge mir das Leben rettete.
Nachdem Dr. Drescher erkannte, dass es doch noch Hoffnung für mich gab, ordnete er an, ich müsse dringend Muttermilch bekommen, um gesund werden zu können. Nun suchten meine Eltern nach einer Amme, die sich glücklicherweise im Dorf fand, weil sie gerade einen Jungen zur Welt gebracht und ihre Brust Milch im Überfluss hatte. Eilig wurde ich im Kinderwagen zu Frau Kaufmann in den Wiesenhof gefahren und an ihre Brust gelegt. Die fürsorgliche Frau tat ihr Bestes; mehrmals versuchte sie mit Mama, mich durch kleine Tricks zum Saugen zu bewegen. Es war vergebens, immer wieder drehte ich mich mit einer Kopfbewegung von ihrer Brust weg, die Mama als nein interpretierte. Sie erzählte später mit nicht überhörbarem Stolz, dass ich die fremde Brust ablehnte. Meiner lieben Amme blieb nichts anderes übrig, als die Milch mühsam abzupumpen, damit Mama sie mir mit der Flasche füttern konnte.
Da durch Mamas Arbeit an der Tankstelle wenig Zeit für mich blieb, schob sie mich bereits mit etwa fünf Monaten im Kinderwagen, in dem das Milchfläschchen und die Windeln verstaut waren, in den Kindergarten. Die schon lange ausgediente Kinnerschees2 mit den hohen Speichenrädern, denen der Gummibelag fehlte, rüttelte mich so heftig durch, dass ich oft den Inhalt des frischgetrunkenen Fläschchens in hohem Bogen wieder ausspuckte. Schon nach kurzer Zeit brachte ich Läuse mit nach Hause. In den Jahren nach dem Krieg war das nichts Ungewöhnliches. Wenn sich eine Kinderkrankheit ausbreitete, war Mama darauf vorbereitet, denn ich bekam in den fünfeinhalb Jahren alle bekannten Kinderkrankheiten. – Mädchen, die einen großen Bruder hatten, betrachtete ich voller Neid und suchte vor allem den Kontakt zu Freundinnen, die mehrere Geschwister hatten. Bereits damals malte ich mir aus, später selbst einmal eine große Familie mit sechs Kindern zu haben. Zu Hause war es mir allein oft langweilig. Schon bald fand ich im Kindergarten einen vier Jahre älteren Freund, der mich beschützte wie ein großer Bruder. Sein Lachen hatte etwas Ansteckendes: Es blitzte schelmisch in seinen himmelblauen Augen, wenn die Grübchen in seinen Wangen mitlachten. Als einziger durfte er mich necken und foppen. Wenn er sich um mich kümmerte, war ich selig. Ich bewunderte ihn, schaute zu ihm auf, vertraute ihm rückhaltlos und wusste, er würde mich gegen jeden verteidigen, der mich angriff oder auch nur vielleicht hätte angreifen können. Täglich kam er mit seinem Freund Gerd, holte mich von zu Hause ab und am Mittag brachte er mich wieder zurück. Auch für die Nachmittagszeit im Kindergarten waren die beiden wieder meine fürsorglichen Begleiter, die ihren Spaß hatten mit der fröhlich plappernden Kleinen. Dieses Glück hielt leider nur zwei Jahre. Nach den Sommerferien vermisste ich meinen Freund. Udo musste im Nachbarort zur Schule gehen und erst vierzehn Jahre später sollte ich ihn wiederfinden. Mag sein, dass diese kindliche Liebe den Grundstein legte für meinen frühen Heiratsantrag, als ich Udo endlich mit sechzehn Jahren wiederfand und nun nie mehr verlieren wollte.
Auf dem Foto sind fünfundzwanzig Kinder im Alter von zwölf Monaten bis sechs Jahren auf der Treppe vorm Kindergarten zu sehen. Die Kleinsten sitzen in der ersten Reihe, ich in der Mitte, dreizehn Monate alt, mit nackten Speckbeinchen. Auf der nächsten Stufe überragt mich der fünfjährige Udo mit Beschützermiene. – Kamen wir nach dem Essen von zu Hause zurück, hielten wir Mittagsschlaf. Kleine Feldbetten aus dunkelgrauem Tuch wurden aufgebaut, die Schwester zog die schweren Vorhänge zu. Wir stellten die Schuhe in Reih und Glied auf und krochen unter eine steife graumelierte Wolldecke, die schrecklich kratzte. In dem dunklen Raum musste absolute Stille herrschen. Auch wenn ich nicht jeden Nachmittag in den Schlaf sank, hüllte ein behagliches Gefühl mich ein. Die Bettchen standen eng nebeneinander. Ich lauschte auf die gleichmäßigen Atemgeräusche der schlafenden Kinder, ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus, ich war nicht allein, ich war geborgen. – Waren wir besonders brav, erzählte unsere Schwester Geschichten aus dem Leben von Jesus, der Gottesmutter und den Heiligen, deren Namenstag gerade im Kalender stand oder las aus ihrem großen dicken Märchenbuch vor. Während das kleinste Kind auf ihrem Schoß sitzen durfte, saßen wir anderen auf unseren kleinen Stühlen im Halbkreis vor ihr. Auch wenn ich das Märchen von Schneewittchen oder Dornröschen schon so oft gehört hatte, dass ich es mühelos nacherzählen konnte, waren diese Stunden die allerschönsten im Kindergarten. Hingebungsvoll lauschte ich den Worten unserer Schwester und verwandelte mich, während meine Ohren auf den Singsang ihrer Stimme konzentriert waren, in Dornröschen, das in einen langen Schlaf fiel und von ihrem Prinzen träumte, der sie mit einem Kuss aufwecken würde. Regelmäßig betete unsere Schwester mit uns am Morgen vor dem Auspacken des mitgebrachten Vespers und auch nach dem Essen, übte mit uns das Kreuzzeichen und hielt uns an, die Hände korrekt vor der Brust zu falten. Vorher schickte sie uns aber alle zur Toilette und zum Händewaschen. Die kleinen Kloschüsseln waren viel bequemer als zu Hause, ich konnte die Füße auf dem Boden abstellen und auch am Waschbecken ohne Hilfe den Wasserhahn aufdrehen. Und an Haken mit einem eigenen Symbol, auf Holzschildchen gemalt, für jedes Kind hingen die kleinen Handtücher. Es war so schön im Kindergarten; am liebsten wäre ich auch am Sonntag dort gewesen.
Mama besuchte generell die Vorabendmesse am Samstag. Während Papa am Sonntag zum Hochamt ging, war sie mit dem Kochen beschäftigt. Wenn sie mir ein frisches Kleidchen angezogen, das Deckhaar zu einer Tolle auf dem Kopf gewickelt und einen großen farblich passenden Schlupp3 dahinter platziert hatte, wartete sie nur noch auf das Angelus-Läuten, um abzuschätzen, wann sie mich losschicken konnte. Papa sah mich schon von weitem, wenn ich ihm so herausgeputzt strahlend entgegenlief, um in seine ausgestreckten Arme zu fliegen. Stolz auf seine bezaubernde kleine Tochter genoss er die Blicke der anderen Kirchenbesucher, wenn er Hand in Hand mit mir auf dem Heimweg war. Meist nahm er mich anschließend mit zum Frühschoppen in den Löwen oder gegenüber in die Gastwirtschaft und bestellte für mich einen Apfelsaft.
Der Ostersonntag 1952 war ein ganz besonderer Festtag. Pfarrer Ball hatte sich mit der Unterstützung der Pfarrgemeinde für die neuen Glocken eingesetzt, die endlich wieder mit ihrem Geläute dem Spessartdom die angemessene Würdigung erwiesen. Während des zweiten Weltkrieges wurden drei Glocken, bis auf die kleinste, abgehängt und für die Rüstungsindustrie konfisziert. Der Klang der einzig verbliebenen war in den sieben Jahren wie ein leises Wehklagen. Nun würden zum ersten Mal fünf Glocken am Weißen Sonntag vom Sommerauer Kirchturm in den Tonstufen d – f – g – a „Deinen Frieden Gib Allen“ zum Gottesdienst rufen.
Mama hatte eine ganze Sammlung verschiedenfarbiger Schleifen, jeweils passend zum Kleid und besaß großen Ehrgeiz, mich täglich hübsch zurechtzumachen. Trotz der Unmöglichkeit, in den ersten Nachkriegsjahren ein neues Kleid zu kaufen, gelang es ihr geschickt, aus einem Stoffrest ein Kleidchen zu nähen, das sich abhob von der üblichen Bekleidung vieler Mädchen, die auftragen mussten, was die große Schwester ablegte. Als der Fotograf in den Kindergarten kam und fragte, ob dieses so adrett gekleidete Kind dem Dorfarzt gehöre, empfand es Mama als Lob, was sie noch mehr anspornte. Bald durfte ich sie sonntags zum Gottesdienst begleiten. Mucksmäuschenstill saß ich neben ihr in der Kirchenbank und beobachtete sie neugierig. Mit großer Andacht bemühte ich mich, es ihr nachzumachen, wenn sie sich abwechselnd kniete, bekreuzigte, aufstand und sich wieder hinsetzte. – Schwester Romana hatte uns erzählt: „Der liebe Gott sieht alles und wenn ihr nicht brav seid, bestraft er euch!“ Natürlich glaubte ich ihr, wie ich ihr überhaupt alles glaubte, was sie sagte: dass Gott allmächtig ist, also alles machen kann, auch Gewitter und die Ernte vernichten und so die Menschen bestraft, wenn sie sündigen. Wenn das ferne Grollen ein Gewitter ankündigte und es draußen dunkler wurde, versammelte sie uns um sich, zündete eine geweihte Kerze an und betete mit uns: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“ Gewitter konnten mich in eine solche Panik versetzen, dass ich mich mit pochendem Herzen in eine dunkle Ecke verkroch – weit weg vom Fenster – und krampfhaft die Augen zukniff um nicht zu sehen, wie der Blitz vom Himmel fuhr. Bei jedem Donnerkrachen zuckte ich zusammen. Bei jedem Blitz hatte ich Angst, er könne mich treffen. Die ernste Stimme der Schwester drang von fern an mein Ohr: „Jetzt straft Gott die Menschen, weil sie böse waren.“ Ich dachte sofort an den Großonkel, der bei der Feldarbeit vom Blitz erschlagen wurde. Er musste sehr böse gewesen sein. Auch alle meine kleinen kindlichen Untugenden fielen mir ein. Gestern erst hatte ich wiedermal Siegfried verpetzt, weil er heimlich am Pudding genascht hatte. Mama schimpfte, ich wäre eine Tierquälerin, weil ich unserer Katze unbedingt ein Puppenkleid anziehen wollte und sie in den Puppenwagen legte, um mit ihr im Hof spazierenzufahren. Anfangs blieb sie brav sitzen, aber sobald ich zu schieben begann, hüpfte sie schnell wieder heraus und sprang im Puppenkleidchen davon. Ich war überzeugt, es müsse meiner Katze gefallen, in diesem niedlichen Kleidchen im Wagen zu liegen, rannte hinter ihr her und fing sie wieder ein. Geduldig bemühte ich mich immer wieder, weil ich mich nicht davon abbringen ließ, dass sie das Puppenwagenfahren doch noch lernen würde, musste aber bald enttäuscht aufgeben. „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz!“, sagte Mama in ihrem besten Hochdeutsch mit erhobenem Zeigefinger. Und nun fühlte ich mich sündig und betete voller Inbrunst, der liebe Gott möge mir nicht mehr böse sein. Wenn er allmächtig ist, wie die Schwester sagt, wenn er alles kann, dann soll er doch bitte, bitte, mein Herz wieder rein machen und mich nicht bestrafen mit einem schrecklichen Gewitter, bei dem mich ein Blitz erschlagen könnte. Mit Tränen in den Augen versprach ich dem lieben Gott, dass ich niemals mehr meine Katze quälen oder Siegfried verraten würde. Überhaupt wollte ich mich noch viel mehr anstrengen, ein braves Kind zu sein.
In unmittelbarer Nähe des Kindergartens lebte ein älterer Pfarrer. Dass er ein Verwandter meiner Mama war, hat mir niemand erzählt. Bei Wind und Wetter zog er tagtäglich über die Baumannnshohl hoch zu den ausgedehnten Feldern und Wiesen. Dabei schimpfte er laut vor sich hin und gestikulierte unablässig, als ob er auf der Kanzel stehen würde, um seiner Pfarrgemeinde eine Standpauke zu halten. Wenn er an mir vorbeiging und ich ihn höflich grüßte, wie ich es gelernt hatte: „gelobt sei Jesus Christus!“, bekam ich keine Antwort, er schaute förmlich durch mich hindurch. Ihn umgab etwas fremdartig Düsteres, das mir Angst einjagte, sodass ich künftig möglichst einen großen Bogen um ihn machte. Dass dieser Mann ein Pfarrer sein sollte, ließ mir aber keine Ruhe und ich bohrte so lange, bis Mama mir erzählte, er würde schon länger keine Pfarrei mehr betreuen. „Wasde, der ist oafach üwergeschnabbt. Der woar in de Schuul immä de Alläbäsd und hod noa Oanser geschriewe.4 Genialität und Wahnsinn liegen ganz nah beisammen!“, wusste Mama. Lange musste ich darüber nachdenken und es beruhigte mich ungemein, vom Genie weit entfernt zu sein. Ich hörte die Erwachsenen über den Wahn des Pfarrers tuschelten, der Teufel würde ihn in der Nacht heimsuchen und er habe sich nicht nur von Gott abgewandt, sondern würde ihn auch noch unflätig beschimpfen. Alle waren sich einig: Mit ihm würde es einmal ein böses Ende nehmen. Eines Tages hieß es, der Pfarrer sei in der Nacht nach einem grausamen Todeskampf, bei dem seine Schreie häuserweit zu hören waren, gestorben und einige Frauen hörte ich munkeln, während sie sich ängstlich bekreuzigten: „Jedz hoaden de Deifel wäiglisch gehoald!“5
Zweimal im Jahr, vor Weihnachten und vor den Sommerferien, übte Schwester Romana Lieder und kleine Theaterstücke mit uns ein, die wir den Eltern anlässlich einer kleinen Feier im Kindergarten vorführen durften. In der Adventszeit war es ein Krippenspiel, in dem ich – wahrscheinlich wegen meines Namens – den Erzengel Gabriel spielte. Dabei wäre ich so gerne, nur ein einziges Mal wenigstens, die Maria gewesen: Aber mit meinen kurzen dunklen Haaren und der pummeligen Figur war ich der zartgliedrigen Gottesmutter auf dem Bild an der Wand völlig unähnlich. Zudem standen für die begehrte Rolle immer mehrere anmutige Mädchen mit langen blonden Zöpfen, deren Haare für diese Rolle offen in Locken über die Schultern rieselten, bereit. In der Sommeraufführung aber war meine Stunde gekommen: Stolz fuhr ich mit meinem Puppenwagen zu der Strophe: „In einem kleinen Stäädsche fuhr einmal ein Määdsche …“ über die Bühne. Ganz ohne Begleitung sang ich lautstark und sonnte mich in der Aufmerksamkeit der anwesenden Eltern. Danach saßen wir auf unseren kleinen Stühlen im Halbkreis und jedes Kind hatte seinen kurzen Text aufzusagen. Durch das gemeinsame Üben waren mir auch die Verse der anderen vertraut. Meine Cousine, die keine Freude am Vortragen hatte, war an der Reihe, brachte aber vor Aufregung kein Wort über ihre Lippen. Mit bläulichem Mund saß sie ängstlich auf ihrem Stuhl und tat mir so leid, dass ich es nicht länger ertragen konnte wie sie litt und aufstand, um an ihrer Stelle das Gedicht vorzutragen. Einige Jahre später wurde ein schwerer Herzklappenfehler bei ihr diagnostiziert. Tapfer überstand sie mehrere komplizierte Operationen, zweimal wurde eine neue Herzklappe eingesetzt.
Spielsachen waren sehr spärlich vorhanden und manche auch schon recht abgenutzt. Es gab zwei alte Puppen aus Zelluloid und ein Bettchen, mit denen meist nur die Mädchen spielten. Begeistern konnte ich mich vor allem für den Zeitvertreib mit den ausgeschnittenen Püppchen aus Pappe, denen ich Kleidchen aus dünnem buntbedrucktem Papier anziehen konnte, indem ich die dafür vorgesehenen Ecken umknickte und um die Puppe klappte. Mit dem Gestalten der vorgezeichneten Stickbildchen aus dickem Papier – in feinen Stichen mit Nadel und buntem Garn – konnte ich mich stundenlang beschäftigen. Die verschiedenfarbigen Blumen, Tiere und Häuser trug ich stolz für Mama und Papa nach Hause. – Im Sommer machte ich es den Großen nach, an der mächtigen Trauerweide zu schaukeln, die hinter dem Sandkasten stand und den nötigen Schatten spendete. Ich stieg auf die Bretter, zog einen kräftigen Zweig zu mir her, stieß mich ab und ließ mich hin und her schaukeln bis die Blätter rauschten. Wenn meine Arme müde wurden, ließ ich mich einfach in den Sand plumpsen. Im Mai hockte ich mich unter die Büsche der Spiräen, die ihre üppige Blütenpracht in Kaskaden zur Erde neigten. In der weißen Höhle fühlte ich mich geborgen, streichelte mit meinen Fingern das zarte duftende Weiß, schloss die Augen, atmete es tief ein und fühlte mich wie Dornröschen in der Rosenhecke. Für Spielgeräte in dem großen Garten fehlten die finanziellen Mittel und die Eltern waren in der schweren Nachkriegszeit, der Zeit des Wiederaufbaus, vollauf beschäftigt, für den kargen Lebensunterhalt zu sorgen. Man war schon zufrieden, wenn die Familie jeden Tag satt werden konnte und etwas zum Anziehen hatte. Es beruhigte die Eltern, dass ihre Kinder gut aufgehoben waren, damit sie ungestört ihrer Arbeit nachgehen konnten.
Mama war stolz auf ihre gelungene Reinlichkeitserziehung. In den Zeiten der Stoffwindeln musste die gesamte Wäsche von Hand gewaschen werden. Am Montagmorgen schürte Mama im Keller unter dem großen Kessel – in dem im Herbst beim Schlachtfest auch die Wurtsuppe gekocht wurde – das Feuer an, bis das Wasser die nötige Hitze hatte. Danach bearbeitete sie die Wäsche kräftig mit einem riesigen Stück Kernseife, während ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. Zuerst wurde die helle Wäsche gewaschen; Papas ölverschmierten Hosen und Jacken von der Werkstatt kamen zuletzt, weil die gesamte Wäsche nacheinander im gleichen Wasser sauber werden musste. Danach waren Mamas Hände tagelang rot angeschwollen und rissig. Als ich größer war, half ich ihr in der warmen Jahreszeit, die saubere Wäsche in der nahen Elsava zu spülen, um Wasser zu sparen. Wir schleppten den schweren Wäschekorb an den Henkeln über die Wiese hinunter zum Bach. Anschließend wurde die weiße Wäsche, vor allem die Bettwäsche, zum Bleichen und Trocknen auf der Wiese ausgebreitet. Aber meist zierte die Wäsche auf der Leine – die von langen dünnen Holzstangen gestützt wurde – zwischen den Apfelbäumen den großen Garten. Im Winter hing die Wäsche im Speicher, wo ich mit großem Vergnügen auf die bretthart gefrorenen Wäschestücke klopfte, die durch den Frost bizarre Formen angenommen hatten. Sparsamkeit war eine große Tugend. Selbst als Mama 1959 ihre erste Waschmaschine bekam, die in der Küche den Platz des alten Kohleherdes einnahm – der gegen einen kleinen Gasherd ausgetauscht wurde –, stand Mama daneben, um das abfließende Waschwasser mit Eimern und Schüsseln aufzufangen, um es weiterzuverwenden für die kleinere Handwäsche und die Spülgänge zum Blumengießen.
Regelmäßig machte ich brav „mein Geschäft“ bereits mit einem Jahr ins Töpfchen. Bei unseren Sonntagsausflügen mit Papas Auto waren auch unsere beiden Gesellen Robert und Heinz gerne dabei. Sie kamen aus Mönchberg, saßen zum Mittagessen mit uns am Küchentisch und schliefen auch manchmal, vor allem im Winter, bei uns. Für mich gehörten sie daher ganz selbstverständlich zu unserer Familie. Etliche Jahre später erfuhr ich, dass Robert ein unehelicher Sohn von Hans, „Bahn-Günthers“ Bruder war. An der Bahnstation Eschau-Mönchberg, wo ich von Herrn Günther liebevoll Peterle genannt wurde, hielt ich mich gerne auf, während meine Eltern einen Spaziergang machten, bekam Frachtzettel zum Bemalen und vertrieb dem netten Onkel die Zeit. Später, als Udo in meine Familie kam, wurde uns klar, dass er und Robert Cousins sind, da ihre Väter Brüder waren. An Kindern, die unehelich geboren waren und vor allem, wenn ihre Mütter anschließend unverheiratet blieben, haftete ein unsichtbarer Makel, unter dem die Kinder zu leiden hatten. Roberts Mutter war katholisch und die evangelische Familie seines Vaters verbot eine Heirat. Zu Roberts Glück scherte Papa sich nicht darum, nahm den Bub gerne in die Lehre und half ihm, ein tüchtiger Schlosser zu werden. Heinz wurde später Lehrer an der Gewerbeschule. Beide sprachen noch nach Jahren über ihre Dankbarkeit meinen Eltern gegenüber.
Bei einem dieser Ausflüge meinte Mama, dass es Zeit wäre für mich, Pipi zu machen. Also hielt Papa an und wollte mich am Straßenrand über der Wiese „abhalten“, aber vergebens. Mama fragte mich fürsorglich: „Gabriellsche, mussde ned emol rabbele?“6 Ich nickte brav, aber obwohl ich dringend musste, weigerte ich mich. Nach weiteren Fehlversuchen und Papas geduldigem „psch, psch, psch“ … fuhr er entnervt weiter. Da entdeckte Mama im Vorbeifahren auf einem Müllhaufen einen alten durchgerosteten Nachttopf, den ich endlich akzeptierte. Triumphierend saß ich nun mitten auf der Wiese auf der ausgedienten Nachtschüssel und konnte endlich mein lange zurückgehaltenes „Geschäft“ verrichten, das im Boden versickerte. Mama und Papa schauten sich erleichtert an und riefen wie aus einem Mund: „Hod die en Dickkopp!“ Oma Blandina nannte das „brunsen“. Bevor ich aus dem Haus ging, fragte sie mich regelmäßig liebevoll mit ihrer so typischen gedehnten, ruhigen Aussprache: „Hosde aaa scho gebruunsd?“7 – zog dabei das „u“ betont in die Länge – mit einer Selbstverständlichkeit, als würde sie sagen: „Hast du auch eine warme Jacke angezogen?“
Ein weichgekochtes Ei war mein bevorzugtes Abendessen. Während Mama mich auf dem Küchentisch wickelte, stand daneben der Einplattenkocher, in einem Töpfchen schwamm mein Ei im siedenden Wasser. In einem Moment der Unachtsamkeit zog ich am Kabel und der kochende Inhalt schwappte über meinen Arm und die Brust. Mein entsetzliches Schreien rief Tante Vrone im Nachbarhaus zu Hilfe und als die beiden versuchten, mich auszuziehen, klebte das Hemdchen auf der verbrühten Haut, dass ich nur unter großen Schmerzen davon befreit werden konnte. Papa setzte sein heilkundliches Wissen ein und behandelte mich erfolgreich. Das Abheilen brauchte seine Zeit, aber es blieben – zur Verwunderung aller – keinerlei Narben zurück. – Auf dem Schwarzmarkt gelang es Papa eine Tafel Schokolade zu ergattern, die sehr sparsam vernascht wurde. Auch ich sollte zum ersten Mal in den Genuss kommen und Mama schob mir eine kleine Rippe in den Mund. Skeptisch schaute ich das merkwürdige dunkelbraune Ding an und spuckte es sofort wieder aus: „Bähh, A A!“ rief ich aus, weil die Farbe mich an mein großes Geschäft erinnerte, das ich in den Topf machte. Mama lachte und lutschte genussvoll auf ihrer Schokolade bis ich neugierig wurde und beim zweiten Anlauf das allererste Stück dieser Köstlichkeit genießen konnte.
Ein großer Krach meiner Eltern, der in meinem dritten Lebensjahr meine Kinderseele heftig erschütterte, wurde durch die Diskussion über das fachmännische Räuchern ausgelöst. Papa wollte dazu Holz benutzen, aber Mama war vom Sägemehl überzeugt, weil sie es vom Bauernhof zu Hause kannte. Sie hatte bereits einige riesengroße ausgediente Ölbehälter von der Tankstelle damit gefüllt und in die Küche geschleppt. Nun sollten sie nur noch über die enge Treppe in den Speicher getragen werden. Papa kam in die Küche, sah die, bis zum Rand, mit Sägemehl gefüllten Kübel, bekam einen hochroten Kopf und trat wutentbrannt, laut brüllend gegen die Eimer, dass sich die Küche mit Sägemehl und einer Staubwolke füllte. Mama rannte laut weinend davon und Papa stapfte zornig wieder in die Werkstatt. In ihrem Streit hatten sie ihr Kind völlig vergessen, das schluchzend im Sägemehlnebel auf dem Chaiselongue saß. Während ich verzweifelt wartete, wurde die Zeit zur Ewigkeit und die erbarmungslose Angst, von meinen Eltern verlassen worden zu sein, kroch in mir hoch. – Allein in der Küche kletterte ich eines Tages in meiner Entdeckerfreude auf den Herd, setzte mich an den Rand des alten grauen Steinbeckens und drehte den Wasserhahn auf bis es nicht mehr weiterging. Aus dem dünnen roten zitternden Gummischlauch plätscherte lustig das Wasser in das Becken, dass ich nur so staunte. Erst als ich sah, wie das Wasser begann, über den Rand zu laufen und den Küchenboden unter Wasser setzte, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Rasch wollte ich den Hahn zudrehen, Mama durfte nichts merken, aber so sehr ich mich auch bemühte, es war vergeblich. Er ließ sich keinen Millimeter mehr zurückbewegen. Panik überfiel mich. Ich sah das Wasser immer höher steigen und brüllte in meiner Not aus Leibeskräften bis mir die Luft ausging. – Einen noch größeren Schaden richtete ich an, als ich die Schere ausprobieren wollte, die mir verboten war und die ich in der Schublade des Küchentisches fand. „Messer, Gabel, Scher‘ und Licht, sind für kleine Kinder nicht!“, mahnte Mama. Die dunkelrote Samtdecke auf Papas Chaiselongue, die Mama gegen allerhand Essbares von Omas und Opas Bauernhof eingetauscht hatte, war ihr ganzer Stolz. Ausgerechnet an dieser Decke machte ich meine ersten verbotenen Schneideversuche. Geduldig wartete ich bis Mama endlich die Küche verließ. Mitten auf dem Sofa thronte ich und vergnügte mich damit, um mich herum die Decke mit kurzen Schnitten in verschiedene Richtungen zu „verzieren“. Als Mama hereinkam, meldete sich sofort mein schlechtes Gewissen und ich versteckte schnell die Schere hinter meinem Rücken. Ihr entgeisterter Blick ließ mich erahnen, dass ich etwas sehr Schlimmes angestellt hatte. Doch mit Mamas Kreativität und ihrem Geschick entstand an vielen Abenden aus dem zerstörten Überwurf eine wunderschöne Patchwork-Decke aus lauter kleinen roten Samtkaros, die durch bunte Häkelborden in passenden Farben verbunden waren, ein unvergessliches Unikat und noch viel schöner als zuvor. – In ihren ersten Ehejahren half Mama noch regelmäßig auf dem Bauernhof ihres Bruders bei der Ernte mit. Nach dem Essen, wenn Papa wieder in die Werkstatt ging und ich meinen Mittagsschlaf hielt, nutzte Mama die Zeit, schwang sich auf ihr Fahrrad, um ihrem Bruder auf dem Feld zu helfen. Nicht jedes Mal kam sie rechtzeitig zurück, um mich vor kleinen Katastrophen zu bewahren. Einmal fand sie mich vergnügt in meinem Bett mit dem Inhalt der Windel spielen. Nach und nach hatte ich mein „großes Geschäft“ herausgeholt, damit die Maschen des weißen Metallbettes beschmiert und saß jauchzend inmitten meines stinkenden Kunstwerkes. Beim nächsten Mal angelte ich mir das volle Honigglas neben dem Bett, in das Mama gerne vor dem Schlafen meinen Schnuller tunkte. Mit großem Appetit holte ich mit meinen kleinen Händen den Honig aus dem Glas und leckte genüsslich die Finger ab bis alles leer war. Dachnach löste für viele Jahre bereits der Geruch von Honig ein Ekelgefühl aus. Um mir den Duddel8 abzugewöhnen, erfand Mama eine List: Doch ihn in Senf zu tauchen statt in Honig scheiterte schon beim ersten Mal. Nachdem ich skeptisch mit der Zungenspitze daran leckte, weil schon der Geruch verdächtig war, rubbelte ich den Tröster geschickt so lange an meinem Schlafanzug bis er sauber war, schob ihn mir dann – unter den enttäuschten Blicken meiner Eltern – siegessicher in den Mund und gab ihn an diesem Abend nicht mehr her. Die Gefahr hatte ich erkannt, ihre Absicht verstanden und so versteckte ich den Schnuller vorsorglich immer wieder sehr geschickt an unterschiedlichen Plätzen, bis sich irgendwann sein Material durch das viele Nuckeln auflöste und Mama keinen mehr kaufte.
Da es zu Hause wenig Abwechslung gab, schloss ich mich nach dem Kindergarten gern einer Freundin oder einem Freund an. Wie andere Familien wohnten, interessierte mich sehr und wenn es sich ergab, setzte ich mich gerne zu ihnen an den Tisch. Es schmeckte immer besser als zu Hause. Lores Vater kam zum Vespern in die Küche des Bauernhauses, setzte sich auf die Bank hinter den großen Esstisch, legte einen schweren geräucherten Schinken vor sich auf die Tischplatte, schnitt mit einem scharfen Messer hauchdünne Teile ab, legte sie auf eine Brotscheibe – so lang wie eine große Schuhsohle – vom selbstgebackenen Bauernlaib und obendrauf kamen noch zarte rohe Zwiebelscheibchen. Ich musste schlucken, denn schon diese Duftmischung ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Herr Schmidt sah, dass ich jedem seiner Handgriffe mit begehrlichem Blick folgte, schnitt ein großes Stück ab und schob es mir lächelnd zu. Glücklicherweise fügte es sich immer wieder einmal, dass ich gerade zur Vesperzeit bei Lore sein konnte.
Einkaufen was man gerne hätte, wie wir es heute kennen, war auch nach Kriegsende noch nicht möglich. Aber der Schwarzmarkt blühte und es gab die sogenannte Zigarettenwährung. Die junge Familie hatte Glück, dass der Bauernhof von Opa Eduard und Oma Maria genug einbrachte, was eingetauscht werden konnte und die Selbstversorgung garantierte. Seit Kriegsbeginn gab es Lebensmittelkarten. Die dafür ausgegebenen Rationen an Brot, Fleisch, Fett, Zucker, Kaffee-Ersatz etc. wurden entsprechend den Möglichkeiten festgelegt. Aus Gerste, Malz, Roggen, Eicheln, Bucheckern oder auch den Wurzeln der Zichorie wurde Ersatzkaffee gewonnen. In den Großstädten standen die Menschen zum Teil vierzig Stunden an, um irgendwelche Reste oder Abfälle zu bekommen. Durch öffentliche Aushänge wurden an den Wochenenden die – für die jeweils nächste Woche – käuflichen Waren „aufgerufen“. In den Jahren 1948/49 wurden die Mengen schrittweise erhöht, während die Lebensmittelkarten immer weniger wurden. Brauchte man in den Jahren zwischen 1945 und 48 zeitweise für 1 kg Brot 60 Reichsmark, für 1 kg Butter 250 RM, für 1 l Speiseöl 295 RM und für 1 kg Zucker 250 RM, erhielt ein Arbeiter einen Monatslohn von 175 RM. Erst 1950, vier Jahre nach Kriegsende, wurden die Lebensmittelkarten abgeschafft. Am 12. März 1947 wurde die Truman-Doktrin durch den US-Präsidenten verkündet. Sie gilt als Ausgangspunkt des Kalten Krieges, deren Hintergrund die Irankrise bildete: In den Jahren 1945 und 46 versuchte die Sowjetunion, die von Kurden und Aserbaidschanern bewohnten Provinzen Irans abzuspalten, um dort prosowjetische Staaten zu etablieren. Truman drohte mit ernsthaften Konsequenzen, bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Für ihn stand außer Frage, dass die Kontrolle des iranischen Öls durch die Sowjetunion zu einer Verschiebung des Machtgleichgewichts in der Welt führen würde und die aufstrebende westliche Wirtschaft massiv beschädigen könnte. In den USA war inzwischen der Marshallplan (nach dem US-Außenminister benannt, der 1953 den Friedensnobelpreis bekommen sollte) in Vorbereitung. Das Wiederaufbauprogramm sollte der – in Westeuropa an den Folgen des Krieges leidenden – Bevölkerung zugutekommen. Es bestand aus Krediten, Rohstoffen, Lebensmitteln und Waren im Wert von ca. zwölf Milliarden Dollar. Das Programm wurde im April 1948 vom Kongress der Vereinigten Staaten verabschiedet und von Präsident Truman für vier Jahre in Kraft gesetzt. Hundert Millionen CARE-Pakete wurden in ganz Europa verteilt. Fast zehn Millionen erreichten zwischen 1946 und 60 Westdeutschland; davon gingen drei Millionen nach West-Berlin, insbesondere 1948/49 über die Berliner Luftbrücke. Zwar war dieser Plan als Hilfe gedacht für die notleidende Bevölkerung, sollte aber auch gezielt der Schwächung der Sowjetunion und Eindämmung des Kommunismus dienen. Zudem öffnete er einen Absatzmarkt für die US-amerikanische Überproduktion. Am 20. April trafen sich völlig geheim, ohne Außenkontakt, deutsche Finanzexperten in einem amerikanischen Kasernengelände. Gezielt wurde das Gerücht gestreut, man arbeite an geheimen Atomwaffen. Alle wichtigen Entscheidungen hätten die Amerikaner schon getroffen. Hermetisch abgeriegelt hatte zuvor in den USA achtundvierzig Tage ein Gremium getagt. Der erst 26-jährige Tennenbaum hatte die rettende Idee der Währungsreform. Eilig wurde die neue Deutsche Mark gedruckt. Am 18. Juni 1948 informierte man die Bevölkerung durch den Rundfunk und über Aushänge über die anstehende Währungsreform und den Ablauf. In dreiundzwanzig Kisten, 100 Tonnen schwer, wurde die neue Währung – die Morgengabe der USA – in derselben Nacht mit dem Flugzeug nach Frankfurt zur Zentralbank, der neu geschaffenen Bank Deutscher Länder, befördert. Am Morgen der Ausgabe standen Rekordschlangen an, um das neue Geld zu bestaunen und die alte Reichsmark loszuwerden. Der Überraschungseffekt sollte Spekulationen verhindern. Die Deutsche Mark war nun alleingültiges Zahlungsmittel. Pro Kopf wurden in zwei Schritten 40 RM 1:1 in DM und einen Monat später in 20 DM bar umgetauscht. Unternehmen erhielten 60 DM pro Mitarbeiter. Löhne, Gehälter und Mieten wurden 1:1 umgewertet, Sparguthaben 1:10 abgewertet. Besitzer von Sachwerten gehörten zu den Gewinnern der Reform. Sparguthaben und Bargeld verloren dagegen stark an Wert. Über den Rundfunk verkündete Ludwig Erhard den Aufbruch in bessere Zeiten. Und die meisten Deutschen gingen irrtümlich davon aus, dass Wirtschaftsminister Erhard der Vater der D-Mark sei. Der einzige Bezugsschein war jetzt nur noch die Deutsche Mark. Die Währungsreform bedeutete schlagartig das Ende des Schwarzmarktes und läutete den Beginn des deutschen Wirtschaftswunders ein. Gleichzeitig aber begann die Blockade von Berlin. Die neue Währung bedeutete die Spaltung Deutschlands. Am 20. September 1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet und die Verfassung im Bundestag bekanntgegeben. Adenauer wurde als Bundeskanzler vereidigt, er verkündete das Grundgesetz und vor allem die Gleichstellung von Mann und Frau. An dieser Durchsetzung war maßgeblich die Juristin Barbara Selberts beteiligt. Das Umdenken – vor allem in den Köpfen vieler Männer – brauchte allerdings noch viel Zeit. Und so zeigte diese neue Verordnung der Gleichstellung nur sehr langsam ihre Wirkung und hat sich bedauerlicherweise bis heute noch nicht in vollem Umfang durchgesetzt. 1950 wurde die Bundesrepublik Mitglied des Europarats. Ein Jahr später folgte die Gründung des Bundesgrenzschutzes als Sonderpolizei und unterstand dem Bundesinnenministerium.
Den Konflikt zwischen den Westmächten unter Führung der USA und dem Ostblock unter Führung der Sowjetunion trugen sie von 1947 bis 89 mit nahezu allen Mitteln aus. Zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen den Supermächten und ihren jeweiligen Militärblöcken kam es jedoch nie. Letztendlich trat der Kalte Krieg als Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus in Erscheinung. Dabei wurden jahrzehntelang auf beiden Seiten politische, wirtschaftliche, technische und militärische Anstrengungen unternommen, um den Einfluss des anderen Lagers weltweit einzudämmen oder zurückzudrängen. Als Synonym für diese Ära des zwanzigsten Jahrhunderts wird heute auch die Bezeichnung Ost-West-Konflikt verwendet, in der die unterschiedlichen Phasen der sich ständig wandelnden Beziehungen zwischen den Blöcken besser berücksichtigt sind. Dieser Konflikt sollte dreimal äußerst bedrohlichen Charakter annehmen, sodass die Möglichkeit eines „heißen“ Krieges (einschließlich eines Atomwaffeneinsatzes) näherrückte: in der Berlin-Blockade 1948/49, in der Kubakrise 1962 und im Streit um die Mittelstreckenraketen von 1979 bis 82/83. Zwischen diesen Phasen kam es zu Perioden mit geringerer Konfliktintensität oder auch der Entspannung.
Als Opa Eduard für vier Jahre in den Ersten Weltkrieg ziehen musste und danach noch zwei Jahre in französische Gefangenschaft geriet, wurde Onkel Edmund, Opas älterer Bruder, die große Stütze für Oma und ihre Kinder auf dem Bauernhof. Mamas Ersatzvater und Lieblingsonkel starb, als ich gerade drei Jahre geworden war. Die beiden hatten ein besonders inniges Verhältnis. Für den Onkel war Mama zeitlebens sein Annele. Am Nikolausabend, dem 5. Dezember 1913, kam sie zur Welt und bereits ein halbes Jahr später kämpfte der Vater an der Front. Sein Bruder setzte durch, dass sie nach Tante Anna Adelgunde, die ihr Leben als Ordensschwester verbracht hatte, genannt wurde. Der Winter 1913/14 kam früh und die Kälte zog unerbittlich in die Mauern des alten Bauernhauses aus rotem Buntsandstein. Kaum ein paar Wochen alt war das winzige Kind, als es eine schwere Lungenentzündung bekam. Der Onkel war in großer Sorge, das Schicksal ihrer zwei älteren Geschwister, die kurz nach ihrer Geburt gestorben waren, könne sich wiederholen und brachte das kleine Mädchen eilig nach Hobbach zu den Großeltern und Omas Schwester, die noch unverheiratet war und sich Zeit nehmen konnte für das schwerkranke Kind. Es wurde schon dunkel, als er kurzentschlossen den Leiterwagen aus der Scheune holte, ein Pferd anspannte und das kleine Bündel warm eingepackt in einem Wäschekorb im Schneegestöber in den Nachbarort brachte. Alle waren überzeugt, die liebevolle Fürsorge und Pflege in Hobbach rettete Mama das Leben. Gut behütet lebte sie bis zur Einschulung bei ihren Großeltern und Tante Josefa, die alle Joseef nannten. Mama wurde nie müde, auch im Alter noch mit leuchtenden Augen von ihrer schönen Kindheit dort zu erzählen. Edmund blieb Junggeselle und wachte sein ganzes Leben lang liebevoll über seinem Annele. Er ließ es sich nicht ausreden, holte eines Tages sein mühsam Erspartes unter der Matratze hervor und erfüllte Mamas großen Wunsch: „Moi Aonnele sell e Foarroad griesche!“9 Noch sah man selten ein Fahrrad im Dorf. Mama übte heimlich im Hof, der nicht einsehbar war von der Straße. Aber schon bald fuhr sie voller Stolz durch Sommerau und wurde von vielen beneidet, ein kleines Stück Freiheit an manchen Sonntagnachmittagen.
Nun musste sie Abschied nehmen von ihrem treuen Wegbegleiter. Völlig unvorbereitet nahm sie mit ernster Miene schweigend meine Hand und führte mich im Haus der Großeltern über die große durchgetretene Holztreppe im düsteren Treppenhaus hinauf in Onkel Edmunds Zimmer. Aus dem Oberlicht des kleinen Sprossenfensters schien fahles Licht vom Hof auf den alten Eichenboden. An der Tür hielt Mama einen Augenblick inne. Am Eingang sah ich einen wuchtigen Schrank aus dunklem Holz mit groben Schnitzereien. Dann fiel mein Blick auf die gegenüberliegende Wand und ich erschrak. Der Onkel lag mit dem Kopf auf einem dicken Kissen in seinem hochbeinigen Bett, das klein und verloren wirkte in der großen spärlich möblierten Stube mit der hohen Decke. In seinem weißen Hemd hob er sich mit seiner gelben Hautfarbe kaum ab von der verblichenen Bettwäsche. Trotz der verschränkten Finger seiner knotigen Hände auf dem dicken Federbett, die einen Rosenkranz hielten, sah er aus, als würde er schlafen. Leise und vorsichtig – als wollten wir ihn nicht aufwecken – traten wir näher. Die Dielen knarrten unter unseren Füßen in der gespenstischen Stille und ich klammerte mich ängstlich an Mamas Hand, als sie mich langsam hinter sich herzog. Der Anblick seines Kopfes irritierte und fesselte mich zugleich. Er sieht aus wie der Mann im Bilderbuch, nachdem ihm der Arzt einen Zahn gezogen hatte. Waren vielleicht die Zahnschmerzen des Onkels schuld, dass er so komisch aussieht? Ein großes rotkariertes Taschentuch hob sich grell vom maskenhaften Gesicht ab. Es war unter dem Kinn hochgebunden und auf dem Kopf verknotet. Gebannt beobachtete ich, wie Mama zu einem kleinen Zweig in einer Schale griff, die auf seinem Nachttisch stand und mit Tränen in den Augen Abschied nahm von ihrem Lieblingsonkel, indem sie ihn von oben bis unten in Form eines Kreuzzeichens mit Weihwasser benetzte. Mama faltete ihre Hände und murmelte ein Vaterunser und Gegrüßet-Seist-Du-Maria. Ich rührte mich nicht von der Stelle, ließ Mamas Rockzipfel keinen Augenblick los, wagte kaum zu atmen, ließ den Onkel nicht aus den Augen und wartete ängstlich und neugierig zugleich auf eine Regung, als ob er jeden Augenblick wieder aufwachen und die Augen aufschlagen würde. Ungeduldig zog ich Mama wieder zur Tür. Ein seltsam unheimliches Gefühl beschlich mich und ein gruseliger Schauer lief mir über den Rücken, wie manchmal in düsteren, muffigen alten Gemäuern oder der längst verlassenen Burgruine Wildenstein bei Eschau. Es war dasselbe Gefühl der Erleichterung, danach endlich wieder im Freien die frische Luft im Gesicht zu spüren und tief einzuatmen, wie nach dem Besuch in Onkel Edmunds Sterbezimmer. Mama war froh, dass sie mich bald zum Mittagsschlaf ins Bett legen konnte. Die Erwachsenen hatten die Beerdigung zu organisieren und ich blieb mit meiner Verwirrung allein. Ich musste an die gruseligen Gespenstergeschichten denken, mit denen die älteren Kinder im Kindergarten ihren Spaß hatten, uns Kleinen Angst einzujagen. Die Vorstellung, dass der tote Onkel uns vielleicht nun als Gespenst nachts heimlich in unserem Haus besuchen würde, ließ mich nicht los. Noch lange schaute ich mich Abend für Abend ängstlich nach dem Zu-Bett-Gehen im Zimmer um und hoffte inständig, er möge nicht erscheinen. Daheim ging Mama ihrer Arbeit nach. Keiner hatte Zeit für mich. Die Eltern lebten es mir vor, dass man über Gefühle nicht spricht und es am besten ist, gar keine zu haben. Still saß ich in meinem Kinderbett, allein im abgedunkelten Elternschlafzimmer, aufgewühlt von den Eindrücken: Tod, der kommt doch eigentlich nur in den Märchen vor. Gibt es den wirklich? Schwester Romana hat erzählt: „Am Ende unseres Lebens werden wir von einem Engel abgeholt und in den Himmel geführt.“ Nun war es, als ob für einen Augenblick der Flügel eines Todesengels meine Kinderseele berührte. Ich hatte große Angst, er könne nun auch mich abholen. Nie zuvor hatte ich einen toten Menschen gesehen und die Botschaft der Sterblichkeit öffnete ein unbekanntes Fenster in dem Kokon meiner drei Jahre hinaus in ein fremdes, geheimnisvolles Leben. Herein wehte ein unbarmherzig eisiger Wind, der wie ein Sog mit seinem drohenden Ahnen seit diesem Augenblick meine Kindheit und Jugend überschattete, bis es in mir irgendwann zur erschreckenden Gewissheit gerann, auch ich bin sterblich wie der Onkel.