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Das Leben schreibt meist die spannendsten Geschichten: Mary Wagner-Wehsarg wurde am 19.08.1857 in St. Louis, Missouri, geboren und verstarb am 20.05.1920 in Sommerau, Unterfranken. Ihre Lebensgeschichte beginnt - durch die Flucht ihres Vaters nach seiner Beteiligung an der Deutschen Revolu¬tion 1848/49 - im fernen Amerika und wurde durch seine demokratische Einstellung sowie der Förderung der Frau¬enbewegung tief geprägt. Die Botschaft, die Mary uns hinterlässt, in einer Zeit, in der ein Mann eine Frau mit den Augen des patriarchalen Selbstverständnisses anschaute, zeigt, wie sie ihr Leben an der Seite des - im ganzen Spessart bekannten - "reitenden Doktors" selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten wusste. Es gelang ihr, eine Existenz aufzubauen für ihre Fami¬lie, eine natürliche leitende Funktion einzunehmen, dabei der innere Motor zu sein für die vielfältigen Aktivitäten ihres Mannes. Ihren Kindern und Enkeln lebte sie vor, dass es möglich und absolut kein Widerspruch ist, ganz weiblich zu sein und gleichzeitig das Ruder in die Hand zu nehmen als Kapitän, der die Richtung vorgibt. Mit ihrer ganz besonderen Anziehungskraft, ihrer bezaubernden Natürlichkeit ging Mary trotz ihrer Krankheit unbeirrt ihren Weg und brauchte keinen Titel, um ihren Zauber zu entfalten. Sie war der Inbegriff der Anteilnahme. Mit ihrer Einfühlungsgabe und ihrem weiten Herzen konnte sie alle Menschen, denen sie begegnete, annehmen, so unterschiedlich sie auch waren. Die Lebensfreude, die sie ausstrahlte, sprang über und erhellte das Leben aller, die sie erlebten.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Gabrielle Jesberger
Mary und das geheimnisvolle Gemälde
Schicksalswege der Liebe vom Mississippi in den Spessart
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Titel
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
Teil 6
Teil 7
Die „Spessartzeitschrift“
Die Spessarteisenbahn
Der Erste Weltkrieg
Die blaue Stunde
Frieden – nach vier Kriegsjahren
Frühling 1920
Epilog
Impressum neobooks
Gabrielle Jesberger
More than we can know
für Marys und Richards Enkel,
Mathildes und Richards Enkel,
alle Urenkel und nachfolgenden Generationen
Der überwiegende Teil dieses Buches bezieht sich auf tatsächliche Begebenheiten und
historische Tatsachen.
Die Ergänzungen bestehen aus begründeten Zusammenhängen und Vermutungen.
Letting go at the end of our life and
having to leave this world
is probably the hardest
what is demanded of us humans.
But it's a consolation
to know that something of us lives on in this world,
in our children, grandchildren and great-grandchildren and
in all whose hearts we sensitively touch
diese Welt verlassen zu müssen
ist wohl das Schwerste,
was uns Menschen abverlangt wird.
Doch es ist ein Trost,
zu wissen, dass etwas von uns weiterlebt
in dieser Welt,
in unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln und
in allen, deren Herz wir einfühlsam berühren.
Mary Wagner-Wehsarg
Vorwort
In unserer heutigen Zeit fehlt leider oft etwas wesentlich Menschliches: Wertschätzung, die aus einer echten Empathie kommt. Das ist das Besondere - zusammen mit einer liebevollen familiären Verbundenheit - an diesem Buch.
Es geht um Mary, die Urgroßmutter des Mannes der Autorin, die eine sehr liebenswerte Persönlichkeit ist, zu der Gabrielle, ausgelöst durch ein besonderes Gemälde von ihr, seit 50 Jahren eine innige Beziehung hat.
Um diese herzensgute Frau noch besser zu verstehen, wurde aus diesem Geist ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. Auch „für Marys Urenkel, deren Kinder und die nachfolgenden Generationen“.
Das Ganze ist eingebettet in historische Zusammenhänge von den Anfängen unserer Demokratie (Hambacher Fest) bis zum Nationalsozialismus. Es war eine Zeit, die in der jetzigen Generation so und in ihrer ganzen Tragweite kaum jemand sich vorstellen kann. Deshalb ist es heute auch für uns wichtig, durch verschiedene Informationen die demokratische Entwicklung zu Freiheit und Menschenwürde in unserem Land zu kennen und für diese Werte einzustehen.
Der Vater von Mary, Franz Wagner, hat als Jurist liberales Gedankengut verinnerlicht und sich tatkräftig in den demokratischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Seine aktive Teilnahme bei den Hambachern, im Parlament in der Paulskirche (als Delegierten-Berater) und der Revolution war lebensgefährlich, da von den ungerecht Herrschenden die sogenannten Landesverräter wegen Rebellion und Hochverrat hart mit Gefängnis oder Tod bestraft wurden. Grausam gingen die Truppen gegen das „rote Lumpenpack“ vor und alle Aufstände wurden durch die militärische Übermacht blutig niedergeschlagen.
Franz Wagner konnte, wie u. a. auch Hecker, der Verhaftung entkommen und in die Neue Welt nach Amerika flüchten. Dort errichtete er eine „Beratungsstelle für Rechtsfragen und Einbürgerung“, gründete eine erfolgreiche Pelz- und Lederfirma und heiratete. So wurde Mary in St. Louis geboren.
Im Buch wird gut beschrieben, wie viele Deutsche in Amerika lebten, sich halfen und ihre Kultur pflegten. Vor allem blieben sie ihren demokratischen Ideen treu. So waren z. B. 175.000 Deutsche im amerikanischen Bürgerkrieg beteiligt.
Es geht in dieser Zeit auch um die Sklavenbefreiung, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, z. B. die beiden großen Wirtschaftskrisen 1857 und 1877, wobei die Gründe und Auswirkungen erstaunlich denen in der jüngsten Vergangenheit ähneln.
Der Vater von Mary konnte, nachdem die Gefahr der Verhaftung nicht mehr bestand, wieder in seine Heimatstadt Mainz mit seiner Familie zurückkehren, wo er „Bürgermeister des Wohlfahrtsamtes“ wurde.
Mary, die künstlerisch sehr begabt war, durfte in Brüssel Musik und in Wien Malerei studieren, was damals für Frauen nicht selbstverständlich war. Die jahrhundertealten unfassbaren Diskriminierungen der Frauen in einer unglaublich ungerechten patriarchalischen Welt waren immer noch vorhanden. Deshalb ist es erstaunlich, wie selbstständig und dem Mann gleichwertig Mary war!
Sie durfte eine besondere Liebesbeziehung zu ihrem Mann, Dr. Richard Wehsarg, einem Arzt im Spessart, erleben. Aus dieser Ehe gingen mehrere Kinder hervor. Trotz ihrer Krankheit (Bleivergiftung durch das damalige giftige Weiß beim Malen), die ihr öfters Schmerzen bereitete, behielt sie ihren Mut und vor allem ihre große Liebe zu allen Menschen, auch den Patienten im Sanatorium ihres Mannes.
Mary hatte einen besonderen „Zugang zum Wahren und Guten in der Poesie, der Malerei, der Musik“. Ausdruck ihres ästhetischen Empfindens war auch der kleine Kurpark des Sanatoriums, den sie selber gestaltete. Die Liebe zur Natur und Stille waren besonders wertvoll für sie und eine Kraftquelle für ihr Leben.
Mary starb 1920, während ihr Mann noch 21 Jahre überlebte, bis zuletzt ganz untröstlich. Richard hatte sich nicht nur als besorgter und geachteter Arzt, sondern auch für die Verbesserung der armen Menschen eingesetzt (z. B. Tourismus durch „Spessartzeitschrift“ und Spessarteisenbahn).
Sehr interessant sind auch die Informationen über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Zeit und den Nationalsozialismus. Dazu gehört vor allem der Antisemitismus, verwurzelt im jahrhundertealten Antijudaismus, Judenhass Luthers und das Versagen der evangelischen Kirche (auch teilweise der katholischen), ausgenommen einige wenige Mutige.
Der Begeisterung großer Bevölkerungskreise für Hitler (nach 45 wollten viele es nicht gewesen sein), u. a. auch missbrauchtem Idealismus und geschickter „Inszenierung von Massenerleben“, Versprechen von „goldenen Zeiten“, erlag auch Marys Mann. Das späte Erkennen der grausamen Realität der Nazis war für ihn der Zusammenbruch seines Weltbildes. Eine ehrliche Selbstkritik (im Gegensatz zu Verstockten, Unbelehrbaren nach 45).
Marys Pflege der Kunst ist so wichtig in einer gewalttätigen Welt. Vor allem ihre Botschaft von Liebe und Frieden ist heute besonders aktuell! So drückt es ja auch Willigis Jäger aus: „Wir müssen uns zuerst und vor allem die Frage stellen, wie viel wir geliebt haben.“
Das Buch lässt uns auch wieder erkennen: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ (Jean Paul)
Moos-Weiler, im November 2017
Bernd Wagenbach
Studiendirektor i. R.
Was wir am Ende unseres Lebens in Händen halten,
sind nicht unsere Leistungen und unsere Werke.
Wir werden uns zuerst und vor allem der Frage stellen müssen, wie viel wir geliebt haben.
Willigis Jäger
Einleitung
Seit mehr als fünfzig Jahren spricht das Bild der Maria zu mir. Es hängt an der Wand in unserem Wohnzimmer: ein Ölgemälde, auf dem ein madonnengleiches feingeschnittenes Gesicht mit einem melancholischen, nach innen gewandten Gesichtsausdruck zu sehen ist, umhüllt von einem zarten durchsichtigen Schleier über der Stirn und einem taubenblauen Umhang, der vom Haupt bis über die schmalen Schultern reicht.
Das Bild war ein Geschenk der Großmutter meines Mannes zu unserer Hochzeit. Die Bedeutung des Zeremoniells - dieser etwas außergewöhnlichen Übergabe - enthüllte sich mir erst im Laufe unzähliger Zwiesprachen mit „meiner Maria“.
Bereits im ersten Augenblick, als ich ein etwa 35 x 45 cm großes Bild vor mir sah, das provisorisch an vier Holzlatten hing, die Ecken lose baumelnd, ging etwas Geheimnisvolles von ihm aus: ein altes Ölbild, sehr dunkel und von unzähligen kleinen Rissen überzogen, mit Mühe war in dem dämmrigen Licht ein Frauenkopf zu erkennen. Omi hatte es gerade aus einem staubigen Winkel vom Speicher geholt, wo es wohl lange Zeit unbeachtet lag. Und doch ging eine Faszination von diesem Bild aus, dass ich nicht nein sagen konnte, als sie mich fragte, ob ich es möchte. „Meine Mutter hat es gemalt“, damit drückte Omi mir ihr Geschenk in die Hand. Später, beim ersten Betrachten bei Licht zu Hause, war ein Madonnen-Portrait zu erkennen.
Mit meinem letzten mühsam Ersparten suchte ich einen Restaurator auf, dafür musste der Küchenzettel einige Zeit schmaler ausfallen. Mit Kennerblick versprach er mir, das Bild schonend und sorgfältig zu reinigen und aufzufrischen. Ich suchte einen passenden Rahmen aus, in dem sich - wie ein blaues Band um das Gemälde - die Farbe des Umhanges wiederholt.
Als ich meine Madonna beim Abholen sah, erkannte ich sie kaum wieder. Der Anblick ergriff mich, dass ich keine Worte fand. Der Restaurator sah die Tränen in meinen Augen und schwieg. Behutsam, beinahe mit Andacht, packte er das Gemälde ein und ich transportierte „meine Maria“ sorgsam auf dem Schoß quer durch Regensburg in der Straßenbahn und dem Bus zu unserer ersten Wohnung im zwölften Stock eines Hochhauses. Das Ölgemälde fand einen Ehrenplatz in unserem Wohnzimmer und stand in völligem Kontrast zu unseren ersten billigen Kunststoffmöbeln in der kleinen Wohnung.
Seither überstand das Madonnen-Bildnis innerhalb fünfzig Jahren wohlbehütet sieben Umzüge, überdauerte jeden einzelnen Gegenstand der vorhergehenden Wohnungseinrichtungen und wurde als Symbol der Gottesmutter - ihres Namens und des Namens der Erschafferin dieses Bildnisses - zum Pol der Familie und schuf ein Leitmotiv, die innige Verbindung zur Urgroßmutter meines Mannes und ihrer Familie.
Während des Schreibens wurde das Bild zu einer Offenbarung für mich, weil es Schritt für Schritt seine Geheimnisse über die außergewöhnliche Lebensgeschichte einer charismatischen Frau enthüllte. Eines dieser Geheimnisse zeigte sich mir durch das Foto eines Selbstportraits Marys, das sie während ihres Studiums in Wien gemalt hatte und auch diesmal wieder als Geschenk in meine Hände gelangte. Lange stand ich davor, bis ich begriff: Die Madonna auf meinem Bild ist sie selbst: „Meine Maria“ ist Mary.
Seit ihrer Kindheit suchte Mary die Einsamkeit in der Natur, die Momente, wenn sich die Dinge um sie herum verdichteten zu Worten, zu Musik, zu Farben und Formen. Nur so erschien ihr das Geheimnis des Lebens, der Ausdruck des Göttlichen in der großen Leere und Ungewissheit des Raumes um sie herum verständlich. Den Zugang zum Schönen und Wahren in der Poesie, der Malerei, der Musik fand sie erst, wenn sie die Augen schloss, im Phosphoreszieren der Dinge, in dem die Farben erst sichtbar wurden, wenn alle lauten äußeren erloschen, die Töne erst hörbar wurden, wenn sie im Außen verklungen waren, die Worte erst zu ihr sprachen in der Stille.
Gleichzeitig war sie fasziniert von Gesichtern, von Menschen als den Akteuren auf der großen Bühne des Lebens. Mit ihrem liebevollen, einfühlsamen Wesen gelang es ihr, tiefer zu sehen, hinter die Fassade, um letztendlich mit unendlich zärtlichem Blick in die Herzen zu schauen. Ihren Charakter beim Malen zu erspüren und auf der Leinwand auszudrücken, nichts Geringeres suchte sie zu durchdringen, um das Verborgene, die Geheimnisse hinter dem Sichtbaren zu erfassen. Sie, deren Geist, Fantasie und Sinn für die Menschen und die Natur sich bis heute in ihren Gemälden, in den von ihr bevorzugten Klavierkompositionen sowie in ihren Briefen spiegeln und wie eine Wesensbeschreibung, ein Ausdrücken der Freiheit als Entwicklungsimpuls in die nächsten Generationen weitergetragen wird.
Teil 1
Sommer 1946 in Sommerau
Der kleine Udo wuchs mit seinem Bruder Wolfgang und später seinen zwei weiteren Geschwistern in der Villa seiner Großeltern und des Opapas auf. Seit Kriegsbeginn wohnte auch Tante Annemarie mit ihrer kleinen Tochter Inge zeitweise wieder bei ihren Eltern. Täglich tobte Udo um die Wette mit seinem drei Jahre älteren Bruder Wolfgang durch die Räume, immer im Kreis herum durch die hohen Flügeltüren, von einem Zimmer ins nächste, durch den Salon und wieder über die nächste Schwelle, bis sie atemlos keuchten und die Dielen begannen im Rhythmus zu schwingen dass auch der Flügel leise Töne hervorzauberte, als ob die Tasten von Geisterhand zart berührt würden.
„Pssst!“, zischte Mami und legte ihren Zeigefinger auf den Mund, als sie aus der Küche eilte. Sie hatte mit den Töpfen vom Mittagessen hantiert, ließ alles stehen und liegen, als sie den Lärm hörte, wischte sich die Hände an der Schürze ab und bemühte sich, eine ernste Miene zu machen. Zu sehen, wie der Dreijährige versuchte, den Großen einzuholen, der immer wieder einmal kurz stehenblieb, zurückschaute, aber schnell wieder losrannte, wenn sein kleiner Bruder ihn fast eingeholt hatte, war eine wohltuende Ablenkung ihrer sorgenvollen Gedanken.
„Ihr wisst doch, Opapa hält seinen Mittagsschlaf!“, ermahnte Mami ihre lebhaften Söhne. „Wollt ihr nicht runtergehen in den Garten, die Sonne scheint und außerdem haben die Ziegen sicher Hunger. Ingelein ist auch schon unten und wartet auf euch.“
Dass Opapa seit einigen Tagen auffallend wenig Appetit hatte, meist schweigend mit verlorenem Blick in seinem Lehnstuhl saß und ihm sogar seine geliebte bodenlange Pfeife nicht mehr schmecken wollte, stimmte Lilo nachdenklich. Erst gestern kam sie dazu, als er auf seinen Stock gestützt, versonnen vor der alten Vitrine stand und seinen Blick nicht mehr von der Urne mit der Asche seiner Frau wenden wollte, die dort nun seit mehr als sechsundzwanzig Jahren stand.
Nach Marys Tod 1920
Am schlimmsten waren die Nächte, die nicht enden wollenden Stunden ohne Mary an seiner Seite. Sie war der einzige Mensch in seinem Leben, der ihn rückhaltlos annahm; sie kannte ihn wie niemand sonst, nahm geduldig seine Rastlosigkeit oftmals sogar mit Humor hin, stellte seinen Patriotismus nie in Frage. Mary hatte ihm all seine Unsicherheiten genommen, die nun plötzlich wieder wie alte Gespenster in allen Ecken lauerten.
Immer noch waren überall im Haus Marys Spuren. In ihrem Schlafzimmer lag aufgeschlagen ihr Notizheft und das letzte Buch, das sie gerade gelesen hatte. An den Wänden hingen ihre Gemälde, er betrachtete sie stundenlang. Ihre Kleider waren im Schrank neben den seinen. Nie ging Richard zu Bett ohne ihr Kopfkissen in den Arm zu nehmen, das immer noch ihren unverkennbaren Duft verströmte. Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen und drückte seine Lippen darauf.
Obwohl das Geschäft mit der Saya- und Korkproduktion gut lief, war Richard sehr niedergedrückt. Else beschrieb ihren Vater als „ungemütlich und anstrengend“. Seinen brillanten Humor hatte er offensichtlich vollständig verloren.
Wie sehr er sich verlassen fühlte seit dem Tod seiner Frau, entging der Tochter nicht, doch sie war in ihrer eigenen Trauer um die geliebte Mutter gefangen und es schien ihr, als stünde eine unsichtbare Wand seither zwischen ihnen. Else hatte erlebt, wie ihre Mutter in all den Jahren in unerschütterlicher Liebe und Treue bis zu ihrem viel zu frühen Tod an der Seite ihres Mannes stand. Ihren Vater nun mit einem Mal so hilflos zu sehen, tat weh und machte sie ratlos. Wie grau seine Haare geworden sind und wie schütter in den letzten Wochen, stellte sie fest. Er schien um Jahre gealtert. Ich bin sicher, dass er erst jetzt nach und nach erkennt, was unser liebes Mutterle für ihn war, schrieb sie an Tante Lucy in New York.
Von der jüngsten Tochter Hermine, die Richard nun sehr selten sah, weil sie öfter vor der erdrückend stillen Atmosphäre, in dem einst so fröhlichen Haus, zu einer Freundin nach Mainz floh, sprach er mit rührenden Worten, die sich Else täglich anhören musste. „Vater verhält sich wie ein Märtyrer, läuft mit leidender Miene umher, erwartet, dass ich ihm seine Wünsche von den Augen ablese, wie es zuvor seine Frau getan hatte!“, stöhnte sie.
Am Rande einer großen Erschöpfung stellte Else, die ihr viertes Kind erwartete und bereits mit den Aufgaben für ihre eigene Familie ausgelastet war, eine neue Haushaltshilfe ein. Das bedeutete zwar eine Entlastung, aber auch zusätzliche Ausgaben. Dafür war Else gerne bereit, von den 7000 Reichsmark, dem Erbe ihrer Mutter, etwas abzugeben.
Vater und Bruder Franz bemühten sich, Aufgaben zu übernehmen, die bisher die Mutter, wie so vieles andere, ganz selbstverständlich erledigt hatte. Else sah zumindest ihren guten Willen, wenn sie sich nun selbst täglich Feuer in ihrem Zimmer machten und den Aschekasten hinaustrugen. Insgeheim hoffte sie allerdings, dass Franz bald seine Theda heiraten würde. „Damit ich dann wenigstens seine Socken nicht mehr stopfen muss“, beklagte sie sich und bemühte sich dabei um einen humorvollen Unterton, der ihr nicht so recht gelingen wollte. Auch Franz läuft - wie Vater - seit Mutters Tod mit einem ernsten, fast strengen Blick umher, dass ich ihm aus dem Weg gehe, um ihm nicht so oft ins Gesicht schauen zu müssen, schrieb Else verzweifelt.
Sie gab sich doch alle Mühe, versuchte mit ihrer ganzen Kraft, die Mutter zu ersetzen. Warum sieht Papa das nicht?, fragte sie sich. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass ihre Kinder und ihr Mann oft zu kurz kamen. Als Ludwig nach Kriegsende endlich zu ihr zurückgekommen war, äußerte er wieder seinen langgehegten Wunsch, irgendwo in der Nähe - ohne den ganzen Anhang - alleine mit seiner eigenen Familie zu wohnen. Nun konnte vom Wegziehen keine Rede mehr sein. Völlig selbstverständlich übernahm Else die Rolle, die die Mutter vorher ausgefüllt hatte. Ludwig musste wohl oder übel die neue Situation akzeptieren und fügte sich stillschweigend in das Unvermeidliche. Das Sanatorium wurde nun endgültig aufgelöst, so gab es wenigstens ausreichend Wohnraum für die junge Familie.
Der Tod der Mutter lag noch keine fünf Monate zurück, als kurz vor der Mittagszeit, am 7. Oktober 1920, der kleine Wolfgang Richard Georg geboren wurde. Mary war in großer Sorge gewesen, als sie im Frühjahr von der Schwangerschaft erfuhr. Der kleine Franzkarl war knapp zehn Monate und ihre Tochter hatte sich von der letzten Geburt noch nicht erholt, sie war sehr mager und auffallend blass. Zwar war ein Kindermädchen im Haus, doch ohne dass es abgesprochen werden musste, übernahm nun vor allem die große Schwester Lilo mit ihrer jüngeren Schwester Annemarie die Erziehung des Bruders Franzkarl. Obwohl er ein kleiner Wildfang war und sie nie wussten, was er gerade wieder ausheckte, war er doch bemüht, den älteren Schwestern nachzueifern. „Dickel“, riefen sie den pummeligen Knirps scherzhaft, was ihn anspornte, die Schwestern mit seinen Grimassen und Faxen zum Lachen zu bringen. „Du Spitzbub“, rief Lilo zärtlich, wenn sie versuchte ihn einzufangen, während er lachend davonlief, dabei Haken schlug wie ein Hase und seine große Schwester atemlos anfeuerte „krieg mich doch!“ Vor allem Opapa trieb gern seine Späße mit ihm, nannte ihn naseweis, weil er alles wissen wollte und ununterbrochen fragen konnte, und in seiner Stimme klang unverhohlener Stolz: „Der kleine Bursche ist halt einfach aus dem „Wehsarg-Holz“ geschnitzt!“
Das erste Weihnachtsfest 1920 ohne Mary war ein trauriges Familientreffen. Else hatte den Christbaum geschmückt, die Haushälterin die traditionelle Speise, wie an jedem Heiligen Abend, zubereitet. Der schwere ovale Tisch war festlich geschmückt, die gestärkten weißen Damast-Servietten lagen als Dreiecke gefaltet auf den goldumrandeten Tellern, die Kristallgläser funkelten im Schein der Kerzen. Franz, der zum Medizinstudium in Würzburg war, reiste an und auch Hermes, die gerade wiedermal eine Freundin in Mainz besucht hatte, kam leise herein und legte ein Gedicht - auf einem mit Blumen und Ornamenten verzierten Blatt - in einem schlichten Rahmen unter den Baum. Alle hatten sich auf das Wiedersehn gefreut und doch lag eine bedrückende Stimmung im Raum. Liselotte und die kleine Mie konnten nicht mehr stillsitzen, hüpften mit Franzkarl aufgeregt von einem Fuß auf den anderen durch das Wohnzimmer und konnten es kaum erwarten bis sie das Glöckchen vom Christkind hörten. Opapa hatte unten in seinem Zimmer durch die Decke das Getrappel der Kleinen gehört, kam mit schwerem Schritt die Treppe hoch, nahm Mie und Lilo, die den kleinen Franzkarl hinter sich herzog, an die Hand und führte sie in den kleinen Salon. „Schaut her, sagte er zu ihnen, „unser Christkind schläft zufrieden in seiner Wiege.“ Er kämpfte mit den aufsteigenden Tränen, als er lächelnd auf sein jüngstes Enkelkind sah. Wie sehr würde sich Mary jetzt mit ihm freuen.
Unter dem Arm hatte Richard ein kleines, in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen und legte es unter den Lichterbaum. Als Else es auspackte, rief sie freudig überrascht: „Oh Papa, du malst wieder!“ Wie oft hatte sie an manchen Wochenenden gesehen, wie die Eltern gemeinsam an ihrer Staffelei saßen. Während Mary Federzeichnungen von Motiven aus dem Spessart oder Portraits mit Ölfarben schuf, begann Richard, die prächtigen Blumen, die im Park wuchsen und die idyllische Landschaft oder seine Jagdtrophäen mit Pastellfarben in seinen Stillleben festzuhalten. In den letzten Wochen hatte er wieder begonnen, mit Oskar Hagemann in seinem Atelier im Schlosspark zu malen, wo der Maler ihm einen eigenen Raum zur Verfügung stellte. Doch Richard war nicht mehr der Unterhaltsame und Humorvolle. Marys Tod hatte ihn bis ins Mark getroffen. Inzwischen planten Hagemanns ihre Rückkehr nach Karlsruhe. Die geselligen Abende im Hause Wehsarg gehörten der Vergangenheit an. Es gab nichts mehr, was das Künstlerpaar in Sommerau noch halten konnte.
Heute zeigte Richard sein neuestes Werk der Familie: die vollerblühten Sonnenblumen vom letzten Herbst in einem schmalen vergoldeten Rahmen hinter Glas. Else atmete auf. Ihr Vater war wieder zurückgekommen ins Leben.
Nach dem Essen ging Hermi zu Mutters Flügel und spielte Stille Nacht … Richard schloss die Augen und lauschte, er erkannte Marys Anschlag. Auch Hermes konnte dem schweren Instrument mit einer Sanftheit eine perlende Melodieführung entlocken, die alle tief berührte und sie begann zu singen, wie jedes Jahr am Heiligen Abend. Else stimmte ein und auch die Kleinen mit ihren glockenhellen Stimmen. Richard blieb stumm, die Erinnerung überfiel ihn, er war wehrlos. Alle sehnten sich nach der vertrauten Weihnachtsstimmung wie all die Jahre zuvor und hatten doch gleichzeitig nur einen Gedanken: Ma ist bei uns. Elses Stimme wurde von Tränen erstickt, nach und nach verstummten alle, bis die kleine Liselotte alleine mit ihrer zarten Stimme die erste Strophe beendete.
Hermes holte ihr Gedicht unter dem Baum hervor und begann zu lesen:
Einst zog sie jung und möwengleich
von weither übers Meer.
In ihr des Frühlings Hoffnungsreich;
sie liebte die Welt so sehr.
Dann war sie Amselsommersang,
kannte Liebe, Freud‘ und Leid,
sang zu der Abendglocken Klang
von Glück und Traurigkeit.
Früh kam der Herbst. Ein blinder Sturm
trug sie auf Schwingen fort,
stark wie der Falke auf dem Turm.
Wohin? An welchen Ort?
nach Irene Fischer
Wie sehr Mary ihnen allen fehlte, spürten sie gerade heute. Noch immer mangelte es ihnen an Zeitgefühl, doch der Kalender sagte ihnen, dass sie bereits seit sieben Monaten nicht mehr unter ihnen lebte. Sie war der Mittelpunkt der Familie gewesen. Nun war ihr Platz leer und doch ihre Anwesenheit immer noch in jedem Winkel des Hauses, im Garten und im Malepartus zu spüren. Else ertappte sich immer wieder, dass sie – mitten im Alltag - zum Flügel blickte und erwartete, wie seit ihrer Kindheit, dort die Mutter zu sehen; immer noch hörte sie die vertrauten Klänge, wie früher Tag für Tag, und summte mit. Mary fehlte ihnen allen so sehr, dass - trotz der Ablenkung durch die Kinder - der Schmerz ihre Lebensfreude immer wieder lähmte.
An manchen Tagen war es Else, als würde sie erst jetzt die Endgültigkeit erfassen und die Trauer ergriff erneut ihre Brust mit einer Heftigkeit, dass sie in Tränen ausbrach und die Sehnsucht nach der Mutter sie aufstöhnen ließ. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie mit ihr auch ihre einzige Freundin verloren hatte, dass es nun niemanden mehr gab, mit dem sie so offen über alles reden konnte, was sie bewegte, wie mit ihrer geliebten Ma.
Urplötzlich war eine Stille im Zimmer, man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können. Und mit einem Mal war diese Andacht erfüllt vom Aroma des vertrauten Parfums mit dem dezenten Lavendelduft und einem Hauch Bergamotte, als ob die geliebte Mutter anwesend wäre. Else schloss die Augen, sie konnte es sich nicht erklären und wusste doch: Ma ist bei uns. Sie spürte ihre Arme, so wie nie ein Tag vergangen war ohne eine herzliche Umarmung von ihr und ohne ein paar liebevolle Worte.
Und ganz plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl von einst, die Liebe der Mutter. Else hörte in ihrem Inneren die wohlklingende Stimme mit dem vertrauten amerikanischen Akzent, wenn sie - wie jedes Jahr - vom Wunder der Christnacht sprach, das in uns allen geschieht, wenn wir dazu bereit sind. Sie hörte, wie Ma mit ihrer sanften Stimme sagte: „Mein Elsle, das Leben in der Liebe geht weiter als der Tod.“ Else war sich sicher, Mutters Hand zu spüren, die ihr liebevoll und zärtlich die Wange streichelte. Sie legte eine Hand auf die Brust und atmete tief ein. Ja, dies war ihr Wunder dieser Christnacht. Sie würde den Geist dieses Hauses weiterpflegen, Marys Herzensgüte wie ein Vermächtnis bewahren und mit neuem Leben erfüllen. Else erhob sich, ging auf ihren Vater zu, umarmte ihn schweigend, zum allerersten Mal seit Mutters Tod, und ging mit dieser liebevollen Umarmung von einem zum anderen.
In der darauffolgenden Woche hatte Richard seine Praxistätigkeit wieder aufgenommen. Nach und nach fand er auch erneut Freude daran, Artikel und Kurzgeschichten, aus denen die Liebe zu seinen „Spessartern“ und ihrem kantig-herzlichen Naturell sprach, für die „Spessartzeitschrift“ zu verfassen. Unermüdlich war er wieder das Sprachrohr für die Sorgen um die wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Spessartbewohner. Als Arzt im Spessart, seiner Wahlheimat, trat er in all den Jahren immer nur für das Wohl „seiner Spessarter“ ein, war vertraut mit ihren Sorgen und Freuden, ihren Wäldern, ihren Feldern und Wiesen. Er kannte die Bauern, Köhler, Fuhrleute, Holzhauer, die er bei ihrer Arbeit beobachtet hatte. Und mit den Jahren erhellte nach dem Tod seiner geliebten Frau nun vor allem die Malerei mehr und mehr seinen Lebensabend.
Endlich raffte Richard sich auch auf, Mathilde zu schreiben. Sie kannte Mary nicht persönlich, wusste aber von ihrer Krankheit. Und Mary, der er die Beziehung gestand als am 16. September 1906 der gemeinsame Sohn Helmut zur Welt kam, wusste um seinen Kontakt und seine Besuche dort. Ich werd Euch bald wieder besuchen. […] Und gib unserem lieben Bub einen Kuss von seinem alten Vater!, fügte er mit seiner großen schwungvollen Schrift am Schluss an. Dabei nagte das schlechte Gewissen an ihm, denn er wusste, dass sein jüngster Sohn seinen Papa viel zu selten sah.
Seine Jüngste, die erst 19-jährige Hermi, wohnte mittlerweile in Altona bei Onkel Franz, Marys Bruder, und sollte dort als Arzthelferin in seiner Praxis ausgebildet werden. Bevor sie abgereist war, hatten die beiden Schwestern begonnen, die schönen Kleider ihrer Mutter untereinander aufzuteilen und waren sich nicht immer einig. „Ich möchte so gerne Mas Ring nach Altona mitnehmen, damit ich etwas von ihr bei mir habe“, bat Hermi ihre Schwester. Schweren Herzens trat Else ihr den wertvollen Diamantring ab, den Mary schon vor ihrer Heirat besaß und den sie nie abgelegt hatte.
Die große Schwester war ein wenig neidisch auf die jüngere, die nun in Altona ein unabhängiges Leben führen konnte, wogegen sie selbst im Elternhaus blieb und - wie für alle selbstverständlich - die Aufgaben ihrer Mutter übernommen hatte. Trotz all ihrer Bemühungen wurde sie das Gefühl nie los, nicht genug zu tun, denn Papa und Bruder Franz, der regelmäßig heimkam, hatten ständig etwas auszusetzen. In Hermi sah Else das verwöhnte Nesthäkchen. Eine Bitte von Dir hat Pa noch nie abgeschlagen, wogegen er sich mir gegenüber oft als geizig zeigt!, beklagte Else sich im Brief an ihre Schwester. Sie selbst hatte keine Einnahmen und Ludwig verdiente noch nicht genug, um die Kosten für das Haus und die Angestellten übernehmen zu können. Die Haushaltsführung lag inzwischen in Elses Hand und es war ihr äußerst unangenehm, wenn sie ihren Vater nun um Geld bitten musste. „Er ist so knausrig, gibt mir immer nur kleine Summen, als ob er Sorge hätte, ich würde zu viel ausgeben“, klagte Else. „Papa ist immer noch genauso schweigsam wie früher. Ich weiß über die finanzielle Situation im Haus nicht Bescheid, zudem verschickt Vater seine Praxisrechnungen immer selbst.“
Else konnte ebenfalls nicht wissen, dass ihr Vater in finanziellen Schwierigkeiten von Mathilde unterstützt wurde und jeweils einen Schuldschein ausstellte, weil er das Geliehene später zurückzahlen wollte. Sie kam aus gutsituiertem Haus. Ihr Vater war der Ökonomierat Wilhelm Pfeifer, der mit seiner Familie auf dem Schlossgut Wöllershof in der Oberpfalz lebte.
Richard, der es als seine väterliche Pflicht ansah, seine jüngste Tochter darin zu unterstützen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, hatte dafür gesorgt, dass Marys Bruder sie in seine Familie aufnahm. Nun, da sie zum ersten Mal so weit von ihm weg war, vermisste er sie. In Hermles Gesicht fand er dasselbe Leuchten, wenn sie lächelte, wie bei seiner Frau. Es war Marys strahlendes Wesen, eine Anmut, die ihm vertraut war, wenn er nun sah, wie seine Jüngste auf Menschen zugehen und sie in den Bann ziehen konnte. Je mehr er erkannte, wie ähnlich sie ihrer Mutter war, umso mehr vermisste er sie und schrieb ihr schwermütige Briefe nach Altona. Die Tochter plagte im fernen Norden immer mehr das schlechte Gewissen, gerade jetzt nicht an Vaters Seite zu sein. Dass sie schon lange die Sehnsucht in sich trug, endlich einmal etwas von der Welt zu sehen, wussten die Eltern seit einiger Zeit. Nun hatte der Vater selbst eingesehen, dass ihr als jüngere Schwester an Elses Seite im Elternhaus kein eigenständiges Arbeiten möglich war.
Schon am 16. Januar 1921 war ein Brief an sein liebes Hermle unterwegs: Verzeih, wenn ich manchmal brummig war. Verzeih dem einsamen Vater, denn Du bist fort und er ist noch immer brummig. Mit Dir ist auch Frau Musika, Eurer lieben Mutter Freundin, aus dem Hause gezogen.
Seit Marys Tod stand der Flügel verlassen, wie ein vergessenes Möbelstück, im Speisezimmer. Es war, als hätte die Trauer im Haus nicht nur das Lachen der Menschen, sondern auch seinen Klang verstummen lassen. Trotz seiner Schwermut legte Richard der Tochter dringend ans Herz, weiterhin im Haus des Onkels zu bleiben: Und wenn Dich einmal Herz und Heimweh ruft, dann komm wieder zu uns. Vorderhand kann vom Fortgehen von Lu oder gar Else und den Kindern noch keine Rede sein. Gegebenenfalls würde das auch nicht von heute auf morgen gehen. Linus (der Knecht) ist ja jetzt nicht mehr bei uns und wird höchstens einmal auf 14 Tage kommen. Diese Kosten sind dann gespart und da es zweifelhaft, ob Lene (die Haushälterin), die fort möchte, also auch der Trauer entfliehen wird, noch länger bleibt, so haben wir auf Tante Linas Empfehlung hin ein Fräulein Wohlgemuth, vierzig Lenze zählend, im Sinne, anzunehmen. […] dann wäre doch jemand da, der sich ganz alleine verantwortlich der Hausführung widmen würde. Ich bin nicht optimistisch, sehe aber ein, dass ich so jemanden haben muss.
Gestern Abend war ich mit Else und Lu auf einem Konzert in Eschau, das der Musiklehrer Wolf am Klavier, begleitet von einem Cello und einer Sängerin, veranstaltete. Alle Größen waren vertreten und nach Schluss wurde bei Pfarrer Löffelholz weiter musiziert. Ich war zu trübe gestimmt, mir fehlte Euer Mutterle. Ich ging vorzeitig heim und las bis die anderen kamen. […] Ich muss ja jetzt doch die Stelle Eurer Mutter einnehmen und dabei die nötigen Briefe schreiben. So lang es geht, geht es, wie man sagt. Allmählich verkleinert sich ja auch der Kreis, um dann mit mir ganz aufzuhören …
Im fernen Altona litt Hermi immer mehr unter Heimweh. Im Haus des Onkels und der Tante fehlte die liebevolle Atmosphäre, die sie von ihrer Mutter kannte. Sie waren zwar freundlich zu ihr, aber distanziert. Auch das Arbeiten in der Arztpraxis erfüllte Hermes nicht. Einzig die Abende, an denen sie mit Onkel Franz musizieren konnte, machten die Zeit erträglich. Nach einem halben Jahr war sie erleichtert, wieder abreisen zu können. Doch ohne Ma war auch die Villa Elsava nicht mehr ihr Zuhause. Durch die Unterstützung ihrer Mainzer Freundin begann sie bald eine Ausbildung zur Korsettmacherin und konnte nach kurzer Zeit ein eigenes kleines Geschäft eröffnen. Es sprach sich schnell in Mainz herum, wie geschickt sie Mieder nach Maß anfertigen konnte und die Damen der gehobenen Gesellschaft wurden bald gute Kundinnen.
Frieden und Krieg
Am 24. Juni 1922 ging eine Eilmeldung durch die Presse: Außenminister Walter Rathenau auf dem Weg insAuswärtige Amt ermordet! Am Abend zuvor hatte er noch bis in die frühen Morgenstunden bei einem Essen mit dem amerikanischen Botschafter Alanson Houghten den deutschen Standpunkt in der Reparationsfrage erläutert und über eine „Abkehr von der bisherigen Erfüllungspolitik“ diskutiert. Durch seine widerspruchsvolle politische Haltung wurde er von vielen Seiten angefeindet und hatte Mühe, Unterstützung zu finden für seine neue entspannungsfördernde Politik. Zwar war Berlin weit weg, doch die Erleichterung über den Frieden wurde allgemein getrübt durch den verlorenen Krieg und den erzwungenen Friedensvertrag von Versailles. Die tief empfundene Ungerechtigkeit heizte landesweit die Debatten im Volk an.
Am 31. Januar 1922 war Rathenau zum Außenminister ernannt worden, um Deutschland bei der Weltwirtschaftskonferenz in Genua zu vertreten. In der Reparationsfrage gelangen ihm keine Fortschritte, aber er fand sich unter Bedenken bereit, am 16. April 1922 mit Sowjetrussland einen bilateralen Sondervertrag abzuschließen, um Deutschland außenpolitisch mehr Handlungsspielraum zu verschaffen. Obwohl dieser Schritt von nationaler Seite begrüßt wurde, hielt es die Organisation Consul nicht davon ab, später ein Attentat auf Rathenau zu verüben. Er wurde als ältester Sohn des deutsch-jüdischen Industriellen Emil Rathenau (des späteren Gründers der AEG) in Berlin geboren. Rückblickend schrieb er über seine Jugendzeit: In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann. Die traumatisch erlebte Kluft zwischen Zugehörigkeit zur Elite und gleichzeitiger Diskriminierung begleitete ihn lebenslang und enthält vielleicht die Quintessenz der deutsch-jüdischen Geschichte, nämlich den - sich über Generationen hinstreckenden - Versuch, die jüdische und die deutsche Identität miteinander in Einklang zu bringen, ohne sich weder in der einen noch in der anderen wirklich zu Hause zu fühlen. Als Präsident der AEG reichte Rathenaus Einfluss weit über den Konzern hinaus. Er war überzeugt, eine Planwirtschaft wäre die notwendige Ergänzung zum Marktmechanismus und könne so dazu verhelfen, soziale Schieflagen und überzogene Profite zu vermeiden. Noch am Tag der Ermordung Rathenaus wurden die Funktionäre der rechtsextremen Organisation Consul festgenommen. Die O. C. war eine nationalistisch und antisemitisch gesinnte terroristische Vereinigung während der Weimarer Republik, eine paramilitärische Organisation, die als Geheimbund aufgebaut war. Sie verübte politische Morde mit dem Ziel, das demokratische System der jungen Republik zu destabilisieren, eine Militärdiktatur zu errichten und die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges, insbesondere den Friedensvertrag von Versailles, zu revidieren. Bei der vorzeitigen Haftentlassung einer der Mörder Rathenaus wurde der Täter von einer Musikkapelle der paramilitärischen Wehr-Organisation „Stahlhelm“ begrüßt, dessen Ehrenmitglied Reichspräsident von Hindenburg war. Dies zeigte schon seine undemokratische, reaktionäre Einstellung. Im August 1921 wurde der bei den Rechten verhasste Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im Schwarzwald von der O. C. ermordet. Der Mordversuch am 4. Juni 1922 an Philipp Scheidemann, der bereits 1883 in die verbotene SPD eingetreten war, scheiterte. Vermutlich war die Gruppe auch verantwortlich für die Ermordung von Karl Gareis, der überzeugter Sozialist und zuletzt als Lehrer in Aschaffenburg tätig war. Ihre etwa 5000 Mitglieder bestanden zum größten Teil aus ehemaligen Offizieren des Deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine sowie der Freikorps. Ihr Motto war die Bekämpfung alles Antinationalen und Internationalen, des Judentums, der Sozialdemokratie und der linksradikalen Parteien, mit dem Ziel, durch die Ermordung von exponierten Personen der Demokratie, die Republik zu beseitigen. Vor allem Politiker jüdischer Abstammung zählten dazu, aber auch Politiker der demokratischen Parteien der Mitte, der Linken sowie Pazifisten und Politiker, die an den Verhandlungen des Versailler Vertrages beteiligt waren. In einer Hetzschrift der Freikorps hieß es: Auch Rathenau, der Walter, erreicht kein hohes Alter. Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau.
Eines der bekanntesten O.-C.-Mitglieder war der Schriftsteller Ernst von Salomon, der als Rechtsterrorist (Für einige Historiker gilt er als Wegbereiter des Nationalsozialismus.) an der Vorbereitung von politischen Verbrechen, wie dem Mord an Rathenau, beteiligt war. Anfangs war die Organisation sogar von der Reichsregierung und der Reichswehrführung geduldet, da sie hofften, mit ihrer Unterstützung die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages unterlaufen zu können. Salomon erreichte mit seinen Büchern „Dokumente vom Kampf um die Wiedergeburt der Nation“ etc. im Nationalsozialismus sehr hohe Auflagen. Auf der Grundlage des im Juli 1922 erlassenen Republikschutz-Gesetzes wurde die O. C. verboten. Als Nachfolgeorganisation wurde der Bund Wiking gegründet. In der Zeit des Dritten Reiches wurden die Mitglieder der O. C. der SS unterstellt.
Rathenau war lange Zeit einer beispiellosen antisemitischen Hetzkampagne ausgeliefert gewesen. Seine Aussage, wonach die Geschicke der Welt von etwa 300 mächtigen Männern geleitet würden, war zu der Denunziation umgedeutet worden, Rathenau selbst wäre einer der „300 Weisen von Zion“, die mit ihm an die Macht gelangt seien. 1920 wurde erstmals eine deutsche Fassung - der ursprünglich in Russland erschienenen - unter dem Titel „Die Geheimnisse der Weisen von Zion“ (von Ludwig Müller von Hausen) herausgegeben. Der Gründer und Vorsitzende des Verbandes gegen die „Überhebung des Judentums“ pflegte in Berlin intensive Kontakte zu rechtsextremen russischen Emigranten. Diese sogenannten Protokolle waren nur eine von vielen antisemitischen Veröffentlichungen, die das Land überschwemmten. Dennoch zeigte ihr publizistischer Erfolg, dass in der Weimarer Republik das Bedürfnis nach einem Sündenbock für den Sturz der Monarchie und für die Niederlage im Weltkrieg angesichts der eigenen rassischen Überlegenheit - die die völkische Bewegung immer verkündet hatte - groß war. Die „Protokolle“ vereinten eine Vielzahl von Klischees, die den antisemitischen Diskurs prägten. So wurden darin Juden grundsätzlich als Feinde der Christen dargestellt. Als Ziel der Juden wurde die weltweite Herrschaft - ihres Glaubens und des Glaubens an ihre „göttliche Auserwähltheit“ - in dem von ihnen beherrschten „Universalstaat“ dargestellt. Zudem wurden ihnen Ehrgeiz, Rachsucht und Hass auf die Christen unterstellt. Die Vorstellung, die Juden seien grundsätzlich feindlich gegen Christen eingestellt, wurzelt im Antijudaismus (seit Beginn des Christentums), der ihnen „verstockte“ Verweigerung von Bekehrung und Taufe, Gottesmord, Hostienschändung sowie angebliche Bündnisse mit dem Teufel vorwarf. Zweifel an der Echtheit der Protokolle kamen schon sehr früh auf. Es wurde vermutet, dass der gesamte Text ein böswilliges Phantasieprodukt war, wonach die Juden wegen ihrer angeblichen Rolle in der russischen Revolution 1905 verleumdet wurden.
Die NSDAP stützte sich in ihrer Propaganda stark auf diese „Protokolle“ und verbreitete deren „aufsehenerregenden Enthüllungen“ seit 1921 in auflagestarken Flugblättern. In „Mein Kampf“ schrieb Hitler: Die Protokolle der Weisen von Zion sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die Frankfurter Zeitung in die Welt hinaus, der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. Irgendein Beweis, dass die sog. Protokolle irgendwo und irgendwann von einem oder mehreren Juden im Auftrag einer geheimen „jüdischen Weltregierung“ ausgearbeitet, vorgetragen oder beraten worden sind, wurde nie erbracht. Die Nationalsozialisten solidarisierten sich noch während der Weimarer Republik mit den Attentätern, obwohl die Mörder Rathenaus eine monarchistische Gegenrevolution auslösen wollten und keine faschistische Nationalrevolution.
Nach 1945 wurde das Schlagwort von dem „ersten Opfer des Dritten Reiches“ populär. Rathenau sei sowohl ein erstes Opfer des Dritten, wie ein letztes Opfer des Zweiten Reiches gewesen. Die politischen Reaktionen auf das Attentat waren enorm. Es kam zu Tumulten, Millionen Deutsche demonstrierten in Protestkundgebungen und Trauerzügen gegen den konterrevolutionären Terror, aber der Bürgerkrieg, auf den die Terroristen gesetzt hatten, blieb aus. Die Reaktionen auf die Ermordung Rathenaus stärkten letztendlich die Weimarer Republik. Das Deutschlandlied wurde zur Nationalhymne erhoben. Die Bevölkerung sah die Ermordung ihres Außenministers als Opfer für die Demokratie.
Else und Ludwig hatten sich ihr Leben mit den Kindern nun endgültig in der Villa eingerichtet. Schweren Herzens musste Ludwig seine beruflichen Pläne aufgeben. Jetzt, nach Kriegsende, fand er den Anschluss an sein Philosophie-Studium nicht mehr. Dozent an einer Universität zu werden, war während der Kriegsjahre sein ersehntes Ziel gewesen.
Dennoch arbeitete Ludwig in Anlehnung an Platons Werk „Politeia“ an einer Abhandlung „Der Staatsmann“, die in einem Buch des „Leuchter“, einem Verlag für philosophische Schriften in Darmstadt, 1922 veröffentlicht wurde. Er ließ seine Frau nicht nur gerne teilhaben an seinen Gedanken, er diktierte ihr sogar den über zweihundert Seiten langen Text, den sie mit ihrer schönen Handschrift für den Verlag zu Papier brachte. Lu zitierte Platon, der Sokrates‘ Texte niederschrieb: Das wichtigste, was wir Menschen im Leben lernen müssen, ist nachzudenken. Er vertiefte sich in Nietzsches Werke und stimmte überein mit Hegel: Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden.
Else war durch eine unerwartete Schwangerschaft sehr erschöpft und die übernommene Verantwortung überforderte sie. Ihre Schwiegereltern und die Schwägerin boten ihr an, die siebenjährige Liselotte einige Zeit zu sich zu nehmen. In Rheinhessen konnte sie zur Schule gehen und erhielt die bestmögliche Förderung des Opas, der ihre musische Begabung erkannte und nach den Hausaufgaben täglich mit ihr am Klavier saß.
Am 19. Januar 1923 kam der kleine Wilhelm Otto Franz zur Welt. Die Geburt setzte sehr plötzlich und einige Wochen zu früh ein. Der zarte Junge war zu schwach und lebte nur einen Tag. Else war sehr geschwächt und erholte sich nur langsam.
Mie bemühte sich täglich, Opapa von seinem Heimweh nach Lisekind abzulenken, die inzwischen in Darmstadt ein Gymnasium mit Internat besuchte, und die beiden temperamentvollen Buben brachten ihn mit ihren Streichen zum Lachen.
Am Heiligen Abend 1935 überraschte Richard seine Tochter Else mit einem Bild, auf dem er einen Rosenstrauß in zarten Pastellfarben festhielt, den er erst einen Tag zuvor zusammengestellt hatte. Der sonnige Herbst war in einen außergewöhnlich milden Winter übergegangen. Kein Frost hatte die zarten Rosenblüten zerstört und Richard schnitt behutsam von Marys Rosenstock die letzten vollerblühten weißen Rosen. Viele Stunden hatte er sich mit Hingabe seinem Werk gewidmet, versunken in Erinnerungen der gemeinsamen Jahre. Bevor er das fertige Bild in den vergoldeten Rahmen legte, schrieb er Rosen zu Weihnachten 1935 darunter. Else wusste, Papa hatte die weißen Rosen für seine Frau gemalt und stellte das Bild neben Mutters Urne.
Sie konnte nicht wissen, dass er auch für Mathilde ein Bild mit einem Rosenbouquet gemalt und ihr zu Weihnachten geschickt hat.
1933 war die Machtergreifung durch Adolf Hitler erfolgt. Am 11. September 1938 schrieb Else begeistert auf ihrer Ansichtskarte mit einem Foto vom Führer - neben B. von Schirach, dem Leiter der HJ, - in seiner Grußhaltung mit ausgestrecktem Arm (der stereotype „Deutsche Gruß“) beim Vorbeimarsch der Hitlerjugend unter dem Hakenkreuz: Hurra, den Führer gesehen! Tapfer erkämpft im drückendsten Gewimmel. Hoffe heute Abend wieder erleben zu dürfen, den Führer zu sehen. Innigst EureMutsch. Else und Lilo waren in Begleitung einer Freundin mit dem Fahrrad mehrere Tage unterwegs gewesen nach Nürnberg zum Reichsparteitag. Seit einigen Monaten leitete Else mit ihren beiden Töchtern für den BDM (Bund deutscher Mädchen) im Park ein fröhliches Beisammensein für junge Frauen im Dorf. Sie kamen gerne, denn die leichte Gymnastik und frohen Lieder waren wie eine Belohnung für die harte Arbeit zu Hause auf dem Bauernhof. Daneben war Else engagiertes Mitglied in der NS-Frauenschaft.
Nach einundzwanzig Jahren einer fragilen Friedenszeit und der Machtergreifung Hitlers brach 1939 erneut ein Krieg aus. Die Wunden des verlorenen Ersten Weltkrieges waren noch lange nicht verheilt. Eine ganze demoralisierte Generation ließ sich vom Hitler-Regime überzeugen, dass die Schmach des verlorenen Krieges nur durch einen grandiosen Sieg in einem erneuten Krieg zu vergelten wäre. Kaum einer im Land wollte nicht gerne den Versprechungen glauben.
Nach Hitlers Überfall auf Polen 1939 (ausgelöst durch eine von der SS inszenierten, angeblich polnischen Besetzung des Reichssenders Gleiwitz, Nähe Kattowitz) und der daraus resultierenden Kriegserklärung Englands und Frankreichs, aufgrund des Beistandspaktes mit Polen, war der Flächenbrand mitten im Herzen Europas entfacht und breitete sich als Zweiter Weltkrieg aus. Nach den schnellen Anfangssiegen, des sogenannten Blitzkrieges über Polen und Frankreich, gelang es Hitler, mit seinen Parolen und Versprechungen eines Endsieges, den Kampfgeist für das Vaterland bei vielen jungen Männern zu wecken.
Am Abend war Richard - wie am Ende jedes Tages - in Gedanken bei seiner geliebten Frau und erzählte ihr von den aktuellen Ereignissen. Vor allem lauschte er auf ihre vertraute Stimme, ihre warmherzigen Worte, die trotz der jahrelangen Trennung, nach wie vor nicht in ihm verklungen waren: Jetzt sah er wieder in ihre tränenfeuchten Augen, als sie vor Jahren zu ihm sagte: „Richard, ich denke gerade an die Worte von Hegel: ‚Alle großen weltgeschichtlichen Vorgänge ereignen sich zweimal.“ Hatte Mary den Zweiten Weltkrieg etwa vorausgeahnt?
Nach Kriegsende 1918 hatte Ludwig eine Stelle als Ausbilder im Werksunterricht der „Glanzstoff“ - die größte Firma im Umkreis für Kunstfaserprodukte - angetreten. Diese Aufgabe war allerdings nicht das, was er sich nach seinem Philosophie-Studium vorgestellt hatte und so sah er seine erneute Einberufung zum Militär als eine Herausforderung, die ihm Abwechslung brachte und auch neue Anerkennungen, mit denen er an seine Auszeichnungen während des Ersten Weltkrieges anknüpfen konnte. Im Mai 1940 hielt Ludwig sich bereits in Bad Orb als Hauptmann mit seiner Kompanie zur Ausbildung auf. Auch sein Sohn Richard hatte sich freiwillig gemeldet und war längst mit seinen Kameraden auf dem Weg nach Finnland.
Vereinzelt kamen die Meldungen von gefallenen Soldaten aus den Nachbarorten. Zu wissen, dass draußen der Kampf tobte, die Männer der Familie bis auf den alten Opapa und den neunzehnjährigen Franzkarl, den Dickel, noch zu Hause waren, machte die plötzliche Ruhe im Haus fast unerträglich.
Ende Mai 1940 meldeten die Nachrichten grandiose Erfolge, wie sie angeblich die Weltgeschichte noch nie erlebt hatte. Else schrieb euphorisch an Lu: Alles wird beseelt von dem einen Manne, der Deutschlands Glück und Hoffnung ist, und wie Du schreibst, die Weltgeschichte gestalten wird.
Franzl, als Kind der kleine Rebell in der Familie, von dem Opapa manchmal kopfschüttelnd sagte: „der Bub ist wie ein kleines Füllen, das um sich schlägt, wenn man ihm zu nah kommt“, wurde in letzter Zeit sehr still. Jetzt, wo auch Edgar, Annemaries Mann, eingezogen worden war und Willi, Liselottes Mann, bei den Luftlandetruppen kämpfte und bereits das Eiserne Kreuz erhalten hatte, fühlte sich auch Franzkarl mitgerissen von der Euphorie, die die Feldpostbriefe ins Haus brachten, war er doch mit seinem Bruder Richard durch ihre gemeinsame Zeit in der Hitlerjugend längst eingestimmt: „Meine Ehre heißt Treue“, klang es begeistert im Chor. „Auch Willi ist ein willensstarker, großartiger Kämpfer!“,rief Else anerkennend aus.
Franzkarl traute sich allerdings noch nicht, der Familie seine Pläne zu offenbaren, da er wusste, seine Schwester Lilo war dagegen. Wie in einer Vorahnung gab sie sich alle Mühe, ihren Bruder zurückzuhalten, sich bei der Luftwaffe zu melden.
Über das Grauen des Krieges, die Leiden der Soldaten, die Erschöpfung, wie sie es aushalten konnten, auf Menschen zu schießen, die Schmerzensschreie der Verwundeten und Sterbenden zu erleben, sprach keiner und auch in den Feldpostbriefen wurde nur von den Heldentaten berichtet. Selbst nach dem Krieg blieb diese Haltung unverändert und somit konnten die Traumata noch lange nicht aufgearbeitet und damit nicht geheilt werden. Aber es gab auch andere Stimmen, wie der Soldat Emil G. in einem authentischen Feldpostbrief am 24.06.41 über die verhungerten Kinder des Warschauer Ghettos schrieb, das er kurz gesehen hatte: Im letzten Krieg brachte das Ausland Bilder von abgehackten Kinderhänden. Und nun dies! Die Wahrheit ist schlimmer, grausamer, viehischer als alle Phantasie.
In der Wochenschau im Kino, zu der Franzl seine Mutter 1941 nach Aschaffenburg begleitete, sahen sie auf großer Leinwand den Einsatz des neuen Vormarsches. Ergriffen äußerte sich Else auf dem Weg zum Bahnhof: „Die Bilder waren so atemberaubend, gleichzeitig grauenvoll, aufregend, beinahe unfassbar und doch so überzeugend glaubhaft.“ Worauf Dickel erstaunt feststellte: „Warum haben unsere Soldaten denn noch keine Kriegsgefangenen?“ Immer noch tief bewegt von den Eindrücken gingen sie schweigend nebeneinander her bis Mutch die Stille unterbrach: „Franzl, meinst du nicht auch, die Leistungen unserer Soldaten grenzen ans Wunderhafte und doch sind bei allem die Opfer nicht allzu groß, man muss es gesehen haben!“ Für Franzkarl war dieser Satz seiner Mutter wie ein Weckruf. Bereits einige Wochen später befand er sich in der Kampffliegerschule Greifswald. Er hatte sich noch im Herbst 1941 freiwillig gemeldet. Was macht die kleine Schmütze (Inge) und Burschi, unser Wölflein (Wolfgang)? Jetzt können sie bald nicht mehr im Freien spielen. Na, unser Haus ist ja groß genug. Heil Hitler, Dein Franzkarl, schrieb er beschwingt an seine liebe Mutch, während er sich auf seinen ersten Flug mit der Messerschmitt freute.
Richard bangte um das Leben seines ältesten Sohnes Franz, seiner beiden Schwiegersöhne und seines Enkels Franzkarl wie um das Leben seines jüngsten Sohnes Helmut, der als junger Familienvater einberufen wurde. In Skizzen auf Feldpostkarten, die er sogar noch während des Fronteinsatzes vor Moskau an seine Mutter schickte, war sein Talent zu erkennen. Auch Mathilde schuf Radierungen und dichtete. Helmut, der in Darmstadt-Eberstadt zur Welt gekommen war, zog später nach Suderburg bei Lüneburg, wo er die Fachschule (später in die dortige Hochschule integriert) besuchte und Kulturbautechniker wurde. Anschließend gründete er mit einem Kollegen eine Firma in diesem Fachgebiet. Gegen 1933 begann er in leitender Funktion für die deutsche Arbeitsfront das Sumpfgebiet Viehbruch (bei Lindwedel, Nähe Hannover)[1], zu entwässern. Dort lernte er seine Frau Lucie kennen, mit der er sich ein Haus in Bentzen bei Walsrode kaufte. Sie schenkten ihm drei Enkel: am 23.03.38 kam Jürgen zur Welt, am 05.08.39 Tilo und am 25.05.41 Hermann.
[1]Die Straße, in der Richards Urenkel Jens Graas-Pfeifer mit seiner Familie wohnt, heißt bis heute so.
Else begann nun wieder, wie fünfundzwanzig Jahre zuvor während des Ersten Weltkrieges, diesmal mit ihren Töchtern Lilo und Mie, ihren Männern Päckchen mit Lebensmitteln an die Front zu schicken. Die Familie zu Hause kam kaum vom Radio weg, bei jeder neuen Meldung wurde es laut aufgedreht, dass es durch das ganze Haus hallte. Die Zeitungen wurden verschlungen, die Siegesmeldungen verbreiteten eine euphorisches Stimmung und waren so wuchtig und gewaltig, dass keine Zweifel an einem baldigen Sieg aufkommen konnten.
Die Demütigung durch den verlorenen Ersten Weltkrieg gipfelte in Hitlers Versprechen, die er in einstudierten Parolen und Gesten verkündete. Die „Inszenierung von Massenerleben“ traf auf die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, dem Entkommen einer inneren Leere. Die Gesinnung in der Bevölkerung allerdings spaltete sich.
Wie deutsche Konzerne massiv vom Krieg und von Konzentrationslagern profitierten, zeigt das abschreckende Beispiel in einem Artikel des Handelsblattes: Der Konzern, der Hitler den Weltkrieg ermöglichte. Das dunkelste Kapitel der IG-Farben (u. a. Bayer) war wesentlich geprägt durch die Giftgas-Produktion und dem Bau der riesigen Buna-Fabrik mit dem eigenen KZ Auschwitz-Monowitz. Hier ließen Zehntausende KZ-Häftlinge ihr Leben. Was im benachbarten Vernichtungslager Birkenau passierte, dürfte den Verantwortlichen der IG-Farben mit Sicherheit bekannt gewesen sein, zumal das für die Vergasung verwendete Zyklon B von einer Tochterfirma der IG-Farben produziert wurde. Der Konzern lieferte einen entscheidenden Beitrag zum Ausbau des Konzentrationslagers in eine industrialisierte Mordmaschinerie, in der etwa 1 ½ Millionen Menschen umgebracht wurden. […] Es ist die Geschichte von Firmenlenkern, die für den Profit die Ermordung von Zehntausenden Menschen duldeten - ja sogar anordneten. Sie wurden als Kriegsverbrecher (wegen Versklavung und Massenmord) verurteilt. Als sie aber wegen „guter Führung“ schon nach zwei Jahren das Gefängnis verließen, stand die Limousine schon bereit. Sie alle bekamen wieder gute Jobs und trafen sich im Februar 1959 zu einem glanzvollen Wiedersehensbankett […]. H. Bütefisch, SS-Obersturmbannführer (im Freundeskreis H. Himmlers), als Wehrwirtschaftsführer für Auschwitz zuständig und von Hitler mit dem Ritterkreuz dekoriert, bekam in der BRD später das Bundesverdienstkreuz verliehen. Auch der IG-Farben-Manager O. Ambros, Ritterkreuzträger, Schulfreund von H. Himmler und Hauptverantwortlicher für Auschwitz-Monowitz, machte ebenfalls wieder Karriere u. a. beim Contergan-Hersteller. Heute würden sie vom Kriegsverbrechertribunal Den Haag zu lebenslänglich verurteilt.
Das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mussten jedoch Mary und ihre Eltern nicht mehr erleben.
Unser Führer gibt dem Volke doppelte Kräfte, Vertrauen und Stärke. Unsere Soldaten leisten wieder Übermenschliches. Richard ist seit Führers Geburtstag nun wie Franzkarl auch Obergefreiter, schrieb im Mai 1942 Else voller Stolz im Feldpostbrief an ihren Mann. Ihr Bruder Franz befand sich immer noch als Lazarett-Arzt an der Ostfront.
Richard war tief erschüttert vom Tod seines jüngsten Sohnes Helmut, der im Winter 1942, südwestlich von Moskau fiel. Es war nur ein geringer Trost, dass seine Mutter Mathilde, die fünf Monate vor ihm starb, den Tod ihres einzigen Kindes nicht mehr erleben musste. Sie litt an einem Gehirntumor und überlebte die Operation im Henriettenstift in Hannover nicht. Richard trauerte nun um beide wundervolle Frauen, die ihm so rückhaltlos ihre Liebe schenkten und auch in schweren Zeiten immer für ihn da waren.
Von den Russen wurden Flugblätter abgeworfen, die einige Mutige an sich nahmen, obwohl es unter Androhung der Todesstrafe streng verboten war: Lesen und weitergeben! Ein neues Hitlerabenteuer gescheitert! Deutsche Soldaten! Hitlers Plan einer blitzartigen Zerschmetterung der Roten Armee ist gescheitert. Nicht allein, dass die deutschen Truppen nicht vorwärts kommen, die Gegenschläge der Roten Armee bringen ihnen gewaltige Verluste bei. Um das Scheitern seiner Pläne vor den Augen der Armee wettzumachen, hat Hitler Luftangriffe auf Moskau und Leningrad angeordnet. […] Wie ist dieses neue Abenteuer ausgegangen? Bisher wurde auf Leningrad keine einzige Bombe abgeworfen. […] Die deutsche Luftwaffe hat über Moskau bereits 150 Flugzeuge und ihre besten Flieger eingebüßt. Das sind die Resultate! Mit einem Fiasko endet jedes neue Abenteuer Hitlers! […] mit der Vernichtung Hitlers und seiner Bande, wird auch dieser ganze sinnlose und hoffnungslose Krieg gegen Sowjetrussland enden! Deutsche Soldaten! Denkt an Euch und Eure Familien! Denkt an das Schicksal Deutschlands, das einem Verbrecher und Abenteurer wie Hitler in die Hände gefallen ist! Macht Schluss mit dem Krieg! Geht über auf die Seite der Roten Armee!
Darunter war eingerahmt zu lesen: Dieses Flugblatt gilt als Passierschein zum Übergang auf die Seite der Roten Armee. Wer allerdings mit einem solchen Passierschein desertierte und dabei von seinen eigenen Leuten erwischt wurde, kam nicht lebend davon. Wie es einem deutschen Soldaten erging, wenn ihm der Übergang zur Roten Armee gelang, bleibt Spekulation.
Um Richard, der nach 50-jährigem Einsatz als Arzt im Spessart seine Tätigkeit aufgeben musste, weil er selber das Nachlassen seiner Kräfte spürte, war es immer stiller geworden. Die Zahl der Freunde, die ihn regelmäßig besuchten, wurde kleiner. Einer der wenigen, der immer noch gerne zu einem Gedankenaustausch bei einem Schoppen Wein vorbeikam, war Valentin Pfeifer. Der über die Landesgrenze bekannte Lehrer und Autor der „Spessartsagen“ sammelte alte Sagen der Region, schrieb sie nieder in seinem Buch und erhält sie damit für die Nachwelt. Valentin machte sich zunehmend Sorgen um seinen alten Kameraden. Doch Richard winkte lachend ab: „So schnell, alter Freund, wirst du nicht an meinem Grab stehen müssen. Es ist noch nie ein Wehsarg unter achtzig gestorben!“
Dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches im Frühjahr 1945, von dem Richard sich als überzeugter Patriot so viel für sein geliebtes Vaterland versprochen hatte, folgte der völlige Rückzug des altgewordenen Doktors aus seiner bereits altersgemäß eingeschränkten Praxistätigkeit.
In ihm – wie in den meisten seiner Generation – lebte die Heimatliebe im Geist der alten Burschenschaften (im Liedtext von Hoffmann von Fallersleben 1839 geschildert) weiter:
Treue Liebe bis zum Grabe
schwör ich dir mit Herz und Hand;
was ich bin und was ich habe,
dank ich dir mein Vaterland!
Nicht in Worten, nur in Liedern
ist mein Herz zum Dank bereit,
mit der Tat will ich’s erwidern
dir in Not, in Kampf und Streit. […]
Die Härten des Krieges, von denen die Bevölkerung zwar auf dem Land in ihrem Alltag weitgehend verschont geblieben war, trafen auch seine Familie grausam. Sein hoffnungsvoller Enkel Franzkarl, der Spaßvogel der Familie, der wie er immer zu einem Scherz aufgelegt war, und den er so gerne um sich hatte, war als Kampfpilot 1944 mit seinem Jagdflugzeug über Le Havre abgeschossen worden. Er selbst hatte die Nachricht entgegengenommen. Bevor er das Bündel, das dem Schreiben an die Eltern, der Sohn sei im Kampf für das Vaterland gefallen, öffnete, nahm er es an sich, um am Abend, wenn Ruhe im Haus eingekehrt war, sich zuerst Lilo anzuvertrauen. Mit zitternden Händen, kein Wort kam über seine Lippen, übergab er ihr die Unterlagen.
Lilo ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken und las:
An die Mutter
Der Tag ist geschwunden,
das Licht weicht der Nacht.
Vor dem Zelt wird ein Feuer entfacht.
Ich schau in die Flamme
und denke an dich.
All‘ was es gibt,
das bist du für mich.
Da taucht mir im Schimmer
dein Bild aus der Glut,
ganz wie du bist, so lieb und so gut.
Es ist so wie früher,
du redest zu mir.
Ich höre dir zu
und bin ganz bei dir.
Die Flamme wird kleiner,
sie ist fast verglimmt.
Ich merke, dass sie dein Bild von mir nimmt.
Nun trennen uns Länder.
Was macht es denn schon,
sind wir doch eins,
du und dein Sohn.
Er hatte das Gedicht auf dem Luftwaffenstützpunkt in Catania auf Sizilien verfasst und nun lag es bei dem Abschiedsbrief, den er, wie alle Soldaten, vor dem Einsatz schreiben musste für den Fall seines Todes. Wie sehr hatte Lilo - in Vorahnung des „Todeskommandos“ - ihren Bruder beschworen, sich nicht für die Luftwaffe, sondern für die Infanterie zu melden. Franzkarl war so jung, so euphorisch und fühlte sich nutzlos, nach dem Abitur nur zu Hause herumzusitzen, während sein jüngerer Bruder, sein Vater, sein Onkel und seine beiden Schwager ihm ein Vorbild waren, weil sie als „Helden im Einsatz für das Vaterland“ ihr Leben riskierten. Alle gutgemeinten Worte der Schwester hatten Franzl von seinem Vorhaben nicht mehr abbringen können. Sein jugendlicher Optimismus hatte alle aufkommenden Zweifel hinweggefegt.