Das Leben Jesu - Ernest Renan - E-Book

Das Leben Jesu E-Book

Ernest Renan

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Beschreibung

Das umfangreiche und dabei kurzweilige und lehrreiche Werk zu Leben und Wirken Jesu Christi. In vollständiger Überarbeitung, mit ausführlichem interaktiven Inhaltsverzeichnis, 140 kommentierenden Fußnoten und einem Vorwort des Übersetzers. Erleben Sie in mehreren Kapiteln das Leben des einflussreichsten Menschen auf Erden, des Sohn Gottes, von seiner Geburt, seinen ersten Reden, seinen Wundern bis zu seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung. Alle Passagen sind mit ausführlichen Quellenangaben zum Nachlesen im Neuen Testament versehen. Überzeugen Sie sich, lesen Sie ein Probekapitel. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 465

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Ernest Renan

Das Leben Jesu

Vollständige Ausgabe

Ernest Renan

Das Leben Jesu

Vollständige Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 6. Auflage, ISBN 978-3-954180-97-4

www.null-papier.de/jesu

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Er­nest Ren­an

Ein­lei­tung

Ers­tes Ka­pi­tel – Die Stel­lung Jesu in der Welt­ge­schich­te.

Zwei­tes Ka­pi­tel – Kind­heit und Ju­gend Jesu. Sei­ne ers­ten Ein­drücke.

Drit­tes Ka­pi­tel – Er­zie­hung Jesu.

Vier­tes Ka­pi­tel – Die Ge­dan­ken­ord­nung, in­ner­halb der sich Je­sus ent­wi­ckelt.

Fünf­tes Ka­pi­tel – Die ers­ten Apho­ris­men Jesu. – Sei­ne Ide­en von ei­nem Gott­va­ter und von ei­ner rei­nen Re­li­gi­on. – Sei­ne ers­ten Jün­ger.

Sechs­tes Ka­pi­tel – Jo­han­nes der Täu­fer. – Jesu Rei­se zu Jo­han­nes und sein Auf­ent­halt in der Wüs­te von Ju­däa. – Er nimmt von Jo­han­nes die Tau­fe an.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Ent­wick­lung der Ge­dan­ken Jesu über das Reich Got­tes

Ach­tes Ka­pi­tel – Je­sus zu Ka­per­na­um.

Neun­tes Ka­pi­tel – Die Jün­ger Jesu

Zehn­tes Ka­pi­tel – Pre­dig­ten am See.

Elf­tes Ka­pi­tel – Das Reich Got­tes als Herr­schaft der Ar­men hin­ge­stellt.

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Bot­schaft des ge­fan­ge­nen Jo­han­nes an Jesu. Jo­han­nes Tod. Be­zie­hun­gen sei­ner Schu­le zu der des Jesu.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Die ers­ten Ver­su­che in Je­ru­sa­lem.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Jesu Be­zie­hun­gen zu den Hei­den und zu den Sa­ma­ri­tern.

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Be­ginn der Le­gen­de Jesu. – Die Vor­stel­lung, die er selbst von sei­ner über­na­tür­li­chen Rol­le hat.

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Wun­der.

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Die de­fi­ni­ti­ve Form der Ge­dan­ken Jesu über das Got­tes­reich.

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Die In­sti­tu­tio­nen Jesu.

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel – Wach­sen­der Fort­schritt der Be­geis­te­rung und der Exal­ta­ti­on.

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Op­po­si­ti­on ge­gen Jesu.

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Die letz­te Rei­se Jesu nach Je­ru­sa­lem.

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – An­schlä­ge der Fein­de Jesu.

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Letz­te Wo­che Jesu.

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Ver­haf­tung und Pro­zess Jesu.

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Der Tod Jesu.

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Je­sus im Gra­be.

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Schick­sal der Fein­de Jesu.

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – We­sent­li­cher Cha­rak­ter des Wer­kes Jesu.

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Ernest Renan

Er­nest Ren­an wur­de am 27. Fe­bru­ar 1823 in Tré­guier, De­par­te­ment Côte du Nord, Frank­reich, ge­bo­ren. Mit der Ab­sicht dem Pries­ter­stand sich zu wei­hen, trat er 1844 in das Se­mi­nar zu Pa­ris, doch ver­ließ er es bald um sich nun­mehr dem Stu­di­um der ori­en­ta­li­schen Spra­chen zu wid­men. Im Jah­re 1856 wur­de er Mit­glied der Aka­de­mie. Vier Jah­re spä­ter über­nahm er die Lei­tung der wis­sen­schaft­li­chen Ex­pe­di­ti­on zur Durch­for­schung des al­ten Phö­ni­zi­ens. Von hier aus hat­te er – wie er in der Ein­lei­tung sei­nes Wer­kes auch er­wähn­te – Ge­le­gen­heit, die Stät­ten ken­nen zu ler­nen, wo Je­sus ge­bo­ren wur­de und her­an­reif­te; und im Mor­gen­land ent­warf er auch sein Werk: »Vie de Jésu«, das be­stimmt war, den ers­ten Band zu sei­ner um­fang­rei­chen »Ge­schich­te der An­fän­ge des Chris­ten­tums« zu bil­den. Heim­ge­kehrt, wur­de er (1862) Pro­fes­sor für die he­bräi­sche Spra­che an dem Pa­ri­ser Colé­ge de Fran­ce und vollen­de­te da­bei das er­wähn­te Buch. Die­ses er­schi­en ein Jahr spä­ter und er­reg­te ein ge­wal­ti­ges Auf­se­hen, aber da­bei auch den Hass der Kle­ri­ka­len. Die­sen zu­lie­be wur­de er im Juli 1863 sei­nes Am­tes ent­ho­ben. Die ihm von der Re­gie­rung an Stel­le des­sen an­ge­bo­te­ne Biblio­the­kar­stel­le lehn­te er ab. Erst 1871, nach dem Sturz des fran­zö­si­schen Kai­ser­reichs, nahm er sei­ne Vor­le­sun­gen wie­der auf.

Es war dem Ver­fas­ser ge­gönnt sein Werk ganz zu vollen­den und es folg­ten dem »Le­ben Jesu«: »Die Apos­tel«, »Der hei­li­ge Pau­lus«, »Der An­ti­christ«, »Die Evan­ge­lis­ten und die Zwei­te christ­li­che Ge­ne­ra­ti­on«, »Die christ­li­che Kir­che« und als Schluss »Mark Au­rel und das Ende der an­ti­ken Welt«. Ja es war ihm so­gar ge­gönnt, ein nicht min­der be­deut­sa­mes Werk in sei­ner »Ge­schich­te des Vol­kes Is­rael« zu schaf­fen. Über­dies schrieb er noch zahl­rei­che wis­sen­schaft­li­che Wer­ke und auch ei­ni­ge phi­lo­so­phi­sche Dra­men.

Da­vid Haek

Einleitung

Eine Ge­schich­te der »An­fän­ge des Chris­ten­tums« müss­te die gan­ze dunkle, so­zu­sa­gen un­ter­ir­di­sche Pe­ri­ode um­fas­sen, die sich von den ers­ten Re­gun­gen die­ser Re­li­gi­on bis auf den Zeit­punkt er­streckt, wo ihre Exis­tenz eine öf­fent­li­che, be­kann­te, je­der­mann kla­re Tat­sa­che wur­de. Eine der­ar­ti­ge Ge­schich­te wür­de aus vier Tei­len be­ste­hen. Der ers­te, den ich hier­mit ver­öf­fent­li­che, er­ör­tert die Tat­sa­che, die dem neu­en Kul­tus als Aus­gangs­punkt ge­dient hat: er be­schäf­tigt sich nur mit der heh­ren Per­son des Stif­ters. Der zwei­te Teil wür­de sich mit den Apos­teln und ih­ren un­mit­tel­ba­ren Schü­lern be­schäf­ti­gen, oder bes­ser ge­sagt, mit den Um­wäl­zun­gen, die der re­li­gi­öse Ge­dan­ke in den ers­ten zwei Ge­ne­ra­tio­nen aus­ge­setzt war. Ich wür­de ihn etwa mit dem Jah­re 100 ab­schlie­ßen, mit dem Zeit­punkt, wo die letz­ten Ge­nos­sen Jesu ge­stor­ben wa­ren und wo sämt­li­che Schrif­ten des Neu­en Te­sta­ments so ziem­lich ihre jet­zi­ge Ge­stalt schon er­hal­ten hat­ten. Der drit­te Teil wür­de das Chris­ten­tum un­ter den An­to­ni­ern dar­stel­len, zei­gen, wie es sich lang­sam ent­wi­ckel­te und einen bei­na­he ste­ten Kampf ge­gen Rom führ­te, das da­mals den Gip­fel ad­mi­nis­tra­ti­ver Voll­kom­men­heit er­reicht hat­te, von Phi­lo­so­phen re­giert wur­de und das in der neu­en Sek­te eine ge­hei­me, theo­kra­ti­sche Ver­bin­dung sah, wel­che die be­ste­hen­de Ord­nung hart­nä­ckig ver­leug­ne, sie be­stän­dig un­ter­gra­be. Die­ser Teil wür­de die Zeit des gan­zen 2. Jahr­hun­derts um­fas­sen. Der vier­te Teil end­lich wür­de den be­deu­ten­den Fort­schritt schil­dern, wel­chen das Chris­ten­tum mit dem Be­ginn der sy­ri­schen Kaiser­herr­schaft ge­macht hat. Es wür­de sich da zei­gen, wie der Wis­sens­bau der An­to­ni­den zu­sam­men­stürz­te, der Ver­fall an­ti­ker Zi­vi­li­sa­ti­on un­ab­wend­lich ein­trat; wie das Chris­ten­tum durch die­sen Ver­fall ge­wann, Sy­ri­en, das gan­ze Abend­land er­ober­te und Je­sus in Ge­sell­schaft der Göt­ter und gött­lich ver­ehr­ter Wei­sen Asi­ens in Be­sitz ei­ner Ge­sell­schaft ge­lang­te, der die Phi­lo­so­phie und der rein bür­ger­li­che Staat nicht mehr ge­nü­gen konn­te. Zu die­ser Zeit ver­än­der­ten sich auch ge­wal­tig die re­li­gi­ösen An­schau­un­gen der an den Ufern des Mit­tel­mee­res an­säs­si­gen Völ­ker. Der ori­en­ta­li­sche Kul­tus kam über­all zur Macht; das Chris­ten­tum wur­de zu ei­ner großen Kir­che, ver­gaß völ­lig die Träu­me­rei­en vom tau­send­jäh­ri­gen Reich, zer­riss die letz­ten Fä­den, die es noch an das Ju­den­tum knüpf­ten und ging völ­lig in die Welt des Grie­chen­tums und Rö­mer­tums über. Die Kämp­fe und die Ge­lehr­ten­ar­beit des 3. Jahr­hun­derts, die be­reits deut­lich her­vor­tre­ten, wür­den in die­sem Tei­le nur im All­ge­mei­nen ge­schil­dert wer­den. Noch kür­zer wür­de ich dar­stel­len die Ver­fol­gun­gen zum Be­ginn des 4. Jahr­hun­derts, die letz­ten Ver­su­che Roms zu den al­ten Grund­sät­zen zu­rück­zu­keh­ren, wo­nach der re­li­gi­ösen Ver­bin­dung je­der Zu­las­sung im Rei­che ver­wehrt wor­den wäre. End­lich wür­de ich den po­li­ti­schen Um­schwung nur an­deu­ten, der ein­trat, als un­ter Kon­stan­tin die Rol­len wech­sel­ten und aus frei­em in­ne­ren An­trieb ein dem Staa­te un­ter­wor­fe­nen Kul­tus ent­ste­hen ließ, wel­cher jetzt sei­ner­seits als Ver­fol­ger auf­trat.

Ob ich lan­ge ge­nug le­ben und Kraft ge­nug be­sit­zen wer­de die­sen großen Plan aus­zu­füh­ren, weiß ich nicht. Ich wer­de be­frie­digt sein, wenn es mir, nach­dem ich »Das Le­ben Jesu« vollen­det ha­ben wer­de, ge­gönnt wäre zu sa­gen, wie ich die Ge­schich­te der Apos­tel auf­fas­se, den Zu­stand christ­li­chen Be­wusst­seins in den nächs­ten Wo­chen nach Jesu Tod, die Bil­dung des Le­gen­den­krei­ses von der Au­fer­ste­hung, die ers­ten Hand­lun­gen der Kir­che von Je­ru­sa­lem, das Le­ben Pau­li, die Kri­sis zur­zeit Ne­ros, das Er­schei­nen der Apo­ka­lyp­se, die Zer­stö­rung Je­ru­sa­lems, die Grün­dung der jü­di­schen Chris­ten­ge­mein­de zu Ba­ta­nea, die Her­stel­lung der Evan­ge­li­en, der Ur­sprung der großen von Jo­han­nes aus­ge­gan­ge­nen Schu­len Klein­asi­ens. Es ist eine sel­te­ne Er­schei­nung in der Ge­schich­te, dass wir bes­ser wis­sen was in der christ­li­chen Welt vom Jah­re 50–75 ge­sche­hen ist, als das vom Jah­re 100 bis 150.

Der Plan, den ich im vor­lie­gen­den Wer­ke an­wen­de­te, ließ es nicht zu, dass ich über strit­ti­ge Text­stel­len lan­ge kri­ti­sche Ab­hand­lun­gen gebe. Die bei­ge­füg­ten An­mer­kun­gen je­doch er­mög­li­chen dem Le­ser alle hier fol­gen­den Be­haup­tun­gen nach den Quel­len zu prü­fen. Ich habe mich hier­bei ge­nau auf Zi­ta­te aus ers­ter Hand be­schränkt, dass heißt die Ori­gi­nal­stel­len an­ge­führt, auf die sich jede Be­haup­tung oder Ver­mu­tung stützt.1 Wohl weiß ich es, dass für Leu­te, die mit sol­chem Stu­di­um we­ni­ger ver­traut sind, eine ganz an­de­re Ent­wi­cke­lung nö­tig ist; al­lein ich bin nicht ge­wöhnt noch ein­mal zu ma­chen, was be­reits ge­macht, gut ge­macht ist. Wer da auf die Sa­che nä­her ein­ge­hen will, dem emp­feh­le ich vor al­lem: Strauß, »Le­ben Jesu«.

Wer die­ses treff­li­che Werk vor­nimmt, der wird so man­che Auf­klä­rung von Stel­len dar­in fin­den, die ich nur ober­fläch­lich be­rüh­ren konn­te. Be­son­ders die Text­kri­tik der Evan­ge­li­en ist von Strauß in ei­ner Wei­se voll­bracht wor­den, die nur we­nig zu wün­schen üb­rig ließ.

Was die Zeug­nis­se aus dem Al­ter­tum be­trifft, so habe ich, mei­ner Mei­nung nach, kei­ne ein­zi­ge Quel­le au­ßer acht ge­las­sen. Es sind uns fünf große Schrif­ten­samm­lun­gen über­lie­fert wor­den – von der Fül­le ein­zel­ner zer­streu­ter Da­ten ab­ge­se­hen – die sich mit Je­sus und sei­ner Zeit be­schäf­ti­gen. Es sind dies: 1) die Evan­ge­li­en und über­haupt die Schrif­ten des Neu­en Te­sta­men­tes, 2) die so­ge­nann­ten Apo­kry­phen des Al­ten Te­sta­men­tes, 3) die Wer­ke Phi­los, 4) die Wer­ke Jo­se­phus, 5) der Tal­mud.

Von un­schätz­ba­rem Wer­te sind die Schrif­ten Phi­los, denn sie zei­gen uns, wel­che An­schau­un­gen zur­zeit Jesu im Geis­te je­ner le­ben­dig wa­ren, die sich mit den großen re­li­gi­ösen Fra­gen be­schäf­tig­ten. Zwar leb­te Phi­lo in ei­ner an­de­ren Pro­vinz als Je­sus, aber so wie die­ser war auch er frei von al­len Klein­lich­kei­ten, die da­mals in Je­ru­sa­lem herrsch­ten. Er kann als äl­te­rer Ge­nos­se Jesu gel­ten. Zwei­und­sech­zig Jah­re zähl­te er, als der Pro­phet von Na­za­reth auf der Höhe sei­nes Wir­kens stand, und er über­leb­te ihn etwa um zehn Jah­re. Scha­de doch, dass ihn der Zu­fall nicht nach Ga­li­läa führ­te! Wie vie­les wür­den wir dann von ihm er­fah­ren ha­ben!

We­ni­ger Auf­rich­tig­keit zeigt in sei­nem Sti­le Jo­se­phus, der haupt­säch­lich für die Hei­den schrieb. Sei­ne kur­z­en Be­mer­kun­gen über Je­sus, Jo­han­nes den Täu­fer, Ju­das den Ga­lo­ni­ter sind tro­cken und matt. Man merk­te, dass er Er­eig­nis­se, die gänz­lich den Stem­pel jü­di­schen Cha­rak­ters und Geis­tes tra­gen, in ei­ner Wei­se dar­zu­stel­len such­te, die dem Ver­ständ­nis der Grie­chen und Rö­mer nahe la­gen. Die Stel­le über Je­sus (Ant. XVIII, III, 3) hal­te ich für au­then­tisch. Sie ent­spricht den An­schau­un­gen Jo­se­phus, so und nicht an­ders konn­te er von Je­sus spre­chen. Al­lein es lässt sich er­ken­nen, dass die­se Stel­le von ei­ner christ­li­chen Hand ver­bes­sert wur­de; es wur­den ei­ni­ge Wor­te zu­ge­fügt, ohne die sie bei­na­he Got­tes­läs­te­rung ge­we­sen wäre, viel­leicht wur­den auch ei­ni­ge Aus­drücke ge­än­dert oder ganz be­sei­tigt. Man muss in Be­tracht zie­hen, dass Jo­se­phus zur lit­te­ra­ri­schen Be­deu­tung durch die Chris­ten kam, die sei­ne Wer­ke als wich­ti­ge Ur­kun­den für ihre hei­li­ge Ge­schich­te gel­ten lie­ßen. Wahr­schein­lich wur­de von die­sen Schrif­ten im 2. Jahr­hun­dert eine nach christ­li­chen An­schau­un­gen ver­bes­ser­te Aus­ga­be ver­an­stal­tet. Be­son­ders die hel­len Schlag­lich­ter, die Jo­se­phus auf sei­ne Zeit wirft, sind es, die sei­nen Schrif­ten eine be­son­de­re Wich­tig­keit für un­se­ren Ge­gen­stand ver­lei­hen. Sie sind es, die He­ro­des, He­ro­di­as, An­ti­pas, Phil­ip­pus, Han­na, Kai­phas, Pila­tus fast sicht­bar und greif­bar uns vor­stel­len.

Die Apo­kry­phen des Al­ten Te­sta­ments, be­son­ders der he­bräi­sche Teil der sy­bil­li­ni­schen Ver­se, das Buch He­noch, auch das Buch Da­niel, das gleich­falls wirk­lich apo­kryph ist, sind von be­son­de­rer Be­deu­tung für die Ge­schich­te der Ent­wi­cke­lung der mes­sia­ni­schen Leh­re und für das Ver­ständ­nis, wie Je­sus das Reich Got­tes auf­ge­fasst hat. Be­son­ders das in der Um­ge­bung Jesu viel­ge­le­se­ne Buch He­noch gibt uns Auf­klä­rung über den Aus­druck »Men­schen­sohn« und den hier­mit ver­bun­de­nen An­schau­un­gen. Das Al­ter die­ser Wer­ke ist heu­te nicht mehr zwei­fel­haft, dank den Ar­bei­ten von Alex­and­re, Ewald, Dill­mann, Reuß. Sie stim­men völ­lig über­ein, dass die wich­tigs­ten die­ser Schrif­ten im zwei­ten und ers­ten Jahr­hun­dert vor Chris­tum ent­stan­den sind. Die Ent­ste­hungs­zeit des »Buch Da­niel« lässt sich noch be­stimm­ter an­ge­ben. Der Cha­rak­ter der bei­den Spra­chen, in de­nen es ver­fasst ist, der Ge­brauch grie­chi­scher Wör­ter, die deut­li­che, ge­naue An­ga­be von Ge­scheh­nis­sen, die bis in die Zeit des An­tio­chus Epi­pha­nes rei­chen, die falsche Dar­stel­lung des al­ten Ba­by­lons, fer­ner der gan­ze Ton des Wer­kes, der mit nichts an die Schrif­ten aus der Zeit der Ge­fan­gen­schaft er­in­nert, viel­mehr durch eine Fül­le von Ana­lo­gi­en der Glau­bens­rich­tung, eher den Bräu­chen und der An­schau­ungs­wei­se der Se­leu­ci­den­zeit ent­spricht, die apo­ka­lyp­ti­sche Art der Vi­sio­nen, die Stel­le die die­ses Werk im he­bräi­schen Ka­non au­ßer­halb der Rei­he der Pro­phe­ten ein­nimmt, end­lich das Feh­len des Na­mens Da­niels in der Lo­b­re­de des Pre­di­gers Sa­lo­mo­nis, 49. Ka­pi­tel, wo sei­ne Stel­lung ge­wis­ser­ma­ßen an­ge­deu­tet war und noch viel an­de­re wie­der­holt dar­ge­leg­te Be­wei­se, las­sen kei­nen Zwei­fel zu, dass das Buch Da­niel die Frucht je­ner großen Auf­re­gung war, die bei den Ju­den durch die von An­tio­chus aus­ge­hen­de Ver­fol­gung ent­stand. Es ge­hört nicht zu der al­ten Pro­phe­ten­lit­te­ra­tur, es ge­hört viel­mehr an die Spit­ze der apo­ka­lyp­ti­schen, als ers­tes ei­ner Art, zu der die spä­te­ren Dich­tun­gen: das Buch He­noch, die Of­fen­ba­rung Jo­han­nes, die Him­mel­fahrt Je­sai­as, das vier­te Buch Esra, zu zäh­len sind.

Für die Ge­schich­te der An­fän­ge des Chris­ten­tums ist bis­her der Tal­mud nicht ge­nug be­ach­tet wor­den. Ich bin der An­sicht Gei­gers, dass das rech­te Ver­ständ­nis der Ver­hält­nis­se un­ter de­nen Je­sus auf­trat in die­ser selt­sa­men Kom­pi­la­ti­on ge­sucht wer­den muss, wo so vie­le wert­vol­le Mit­tei­lun­gen mit be­deu­tungs­lo­ser Scho­las­tik ver­mischt sind. Die christ­li­che und die jü­di­sche Theo­lo­gie sind ei­gent­lich in zwei par­al­le­len Bah­nen ge­wan­delt, es kann da­her die Ge­schich­te der einen ohne die der an­de­ren nicht recht ver­stan­den wer­den. Über­dies gibt der Tal­mud zu sehr vie­len ma­te­ri­el­len Ein­zel­hei­ten die Er­klä­rung. Schon die um­fas­sen­den la­tei­ni­schen Samm­lun­gen von Light­food, Schoett­gen, Bux­dorf, Otho bo­ten nach die­ser Rich­tung hin eine Fül­le be­leh­ren­der Mit­tei­lun­gen. Ich habe es mir zur Pf­licht ge­macht, alle von mir ge­ge­be­nen Zi­ta­te nach dem Ori­gi­nal zu prü­fen. Die Mit­hil­fe ei­nes ge­lehr­ten, in der Tal­mud­lit­te­ra­tur sehr er­fah­re­nen Ju­dens, des Herrn Neu­bau­er, ge­stat­te­te mir hier­bei noch wei­ter zu ge­hen und den dun­kels­ten Punk­ten mei­ner Un­ter­su­chung ei­ni­ge neue Auf­klä­run­gen zu ge­ben. Eine ge­naue Un­ter­schei­dung der ein­zel­nen Zeit­ab­schnit­te ist hier sehr wich­tig, da die Ab­fas­sung des Tal­muds die Zeit vom Jah­re 200 bis etwa 500 um­fasst. Wir ha­ben die Sa­che so­weit auf­zu­klä­ren ge­sucht, als dies bei dem jet­zi­gen Stand die­ser Stu­di­en mög­lich ist. Bei je­nen, die ge­wohnt sind, ei­nem Schrift­stück nur hin­sicht­lich der Zeit in der es ver­fasst wur­de einen Wert zu­zu­spre­chen, wer­den so neue Da­ten wohl ei­ni­ge Be­den­ken er­re­gen, doch sind die­se hier kei­nes­wegs am Plat­ze. Von der has­monei­schen Zeit bis zum zwei­ten Jahr­hun­dert er­folg­te bei den Ju­den die Über­lie­fe­rung zu­meist nur münd­lich; doch darf man der­glei­chen nicht mit dem Maß­sta­be ei­ner Zeit, in der viel ge­schrie­ben wird, mes­sen. Die Ve­den, die al­ten ara­bi­schen Dich­tun­gen sind durch Jahr­hun­der­te münd­lich fort­ge­pflanzt wor­den und den­noch er­schei­nen sie in ab­ge­run­de­ter, zar­ter Form. Im Tal­mud je­doch hat die Form gar kei­nen Wert. Ich be­mer­ke dazu, dass schon vor der Misch­na Ju­das des Hei­li­gen, die alle an­de­ren in den Hin­ter­grund dräng­te, Ver­su­che der Her­stel­lung statt­fan­den, de­ren An­fän­ge viel­leicht wei­ter zu­rück­wei­chen als man ge­wöhn­lich an­nimmt. Der Stil des Tal­muds ist der von No­ti­zen. Die­je­ni­gen, die ihn zu­sam­men­stell­ten, ha­ben ver­mut­lich nichts mehr ge­tan, als die große Men­ge Schrif­ten, die sich in ver­schie­de­nen Schu­len durch Ge­ne­ra­tio­nen an­ge­häuft hat­ten, un­ter be­stimm­ten Ti­teln zu ord­nen.

Noch habe ich von den Schrif­ten zu spre­chen, die bei ei­ner Dar­stel­lung des Le­ben Jesu den ers­ten Rang ein­neh­men, weil sie als Le­bens­be­schrei­bung des Grün­ders des Chris­ten­tums er­schei­nen. Eine voll­stän­di­ge Er­ör­te­rung über die Ab­fas­sung der Evan­ge­li­en böte an und für sich schon ein Werk. Dank der tüch­ti­gen Ar­bei­ten, die seit drei­ßig Jah­ren auf die­sem Ge­bie­te ge­leis­tet wur­den, ist ein Pro­blem, das frü­her für un­lös­lich schi­en, in ei­ner Wei­se ge­löst wor­den, die den Be­dürf­nis­sen der Ge­schich­te völ­lig zu ge­nü­gen ver­mag, ob­gleich sie noch man­chen Zwei­fel zu­lässt. In mei­nem nächs­ten Wer­ke wer­de ich Ge­le­gen­heit ha­ben, auf die­sen Ge­gen­stand zu­rück­zu­kom­men, denn die Her­stel­lung der Evan­ge­li­en ist eine der wich­tigs­ten Er­eig­nis­se, das in der zwei­ten Hälf­te des ers­ten Jahr­hun­derts für die Zu­kunft des Chris­ten­tums ge­sche­hen ist. Hier sei nur ein ein­zi­ger Um­stand be­rührt, der für mei­ne Dar­stel­lung un­be­dingt nö­tig ist. Was sich auf die Schil­de­rung der apo­sto­li­schen Zeit be­zieht, las­se ich un­be­rührt; ich wer­de nur un­ter­su­chen in­wie­fern die Da­ten der Evan­ge­li­en in ei­ner ra­tio­nell dar­ge­stell­ten Ge­schich­te ver­wen­det wer­den kön­nen.

Zwei­fel­los ist es, dass die Evan­ge­li­en teil­wei­se Le­gen­de sind, denn sie sind voll der Wun­der und des Über­na­tür­li­chen. Aber es gibt Le­gen­den und Le­gen­den. Kei­ner be­zwei­felt die Rich­tig­keit der Haupt­zü­ge in der Schil­de­rung des Le­bens des hei­li­gen Franz von As­si­si, trotz­dem wir da­bei auf eine Men­ge des Über­na­tür­li­chen sto­ßen. An­der­seits wie­der wird nie­mand die Dar­stel­lung des Le­bens Apol­lo­ni­us von Tya­na für wahr gel­ten las­sen, weil sie lan­ge Zeit nach dem Hel­den ver­fasst wur­de und sich nur als Ro­man dar­bie­tet. Wann, von wem und un­ter wel­chen Um­stän­den sind die Evan­ge­li­en ver­fasst wor­den? Das ist die Haupt­fra­ge von der die Mei­nung über die Glaub­wür­dig­keit ab­hängt.

Be­kannt­lich trägt je­des Evan­ge­li­um den Na­men ei­ner Per­son, die in der Apos­tel­ge­schich­te oder in der Evan­ge­li­en­ge­schich­te be­kannt ist. Die­se vier Per­so­nen wer­den ei­gent­lich nicht als die Ver­fas­ser be­zeich­net. Die Be­zeich­nun­gen »nach Mat­thä­us«, »nach Mar­kus«, »nach Lu­kas«, »nach Jo­han­nes« be­sa­gen kei­nes­wegs, wie frü­her ge­glaubt wur­de, dass die­se Mit­tei­lun­gen vom An­fang bis zum Ende von den Be­nann­ten nie­der­ge­schrie­ben wur­den. Sie deu­ten nur an, dass es die Über­lie­fe­run­gen sind, die von je­dem die­ser Apos­tel ab­stam­men und auf de­ren Au­to­ri­tät sich stüt­zen. Klar ist, dass wenn die­se Be­zeich­nun­gen ge­nau sind, die Evan­ge­li­en vom ho­hen Wer­te sind, mag ein Teil da­von auch Le­gen­de sein. Denn sie füh­ren uns zu dem hal­b­en Jahr­hun­dert zu­rück, das dem Le­ben Jesu folg­te, in zwei Fäl­len so­gar zu den Au­gen­zeu­gen sei­nes Wir­kens.

Was vor al­lem Lu­kas be­trifft, so ist kein Zwei­fel mög­lich. Das Evan­ge­li­um Lu­kas ist eine re­gel­rech­te, aus äl­te­ren Schrif­ten auf­ge­bau­te Ar­beit (Luk. I, 1–4). Es ist das Werk ei­nes Man­nes, der wählt, sich­tet, ver­bin­det. Sein Ver­fas­ser und der der Apos­tel­ge­schich­te ist si­cher­lich ein und die­sel­be Per­son (Apos­telg. I, 1) Der Ver­fas­ser die­ses Wer­kes ist ein Ge­nos­se Pau­li, was auf Lu­kas völ­lig passt. Die­ser Fol­ge­rung, ich weiß es wohl, kann so man­cher Ein­wand ent­ge­gen­ge­setzt wer­den, je­doch scheint ei­nes zwei­fel­los: dass der Ver­fas­ser des drit­ten Evan­ge­li­ums und der Apos­tel­ge­schich­te ein Mann aus der drit­ten Apos­tel­ge­ne­ra­ti­on war. Und die­ser Um­stand ge­nügt für un­sern Zweck. Die Zeit die­ses Evan­ge­li­ums lässt sich über­dies ziem­lich ge­nau be­stim­men durch Schlüs­se aus dem Wer­ke selbst. Ka­pi­tel XXI, das von dem an­de­ren Teil des Bu­ches nicht ge­trennt wer­den kann, ist si­cher­lich kur­ze Zeit nach der Be­la­ge­rung von Je­ru­sa­lem ge­schrie­ben wor­den (Vers 9, 20, 24, 28, 32, XXII 36). Hier ist also fes­ter Bo­den. Es ist ein Werk, das ganz von ei­ner Hand her­rührt und eine voll­stän­di­ge Ein­heit aus­weist.

Die Evan­ge­li­en des Mat­thä­us und des Mar­kus wei­sen nicht die­sel­be per­sön­li­che Prä­gung auf. Sie sind so­zu­sa­gen un­per­sön­li­che Ar­bei­ten, wo die Ver­fas­ser ganz ver­schwin­den. Der Name an der Spit­ze sol­cher Wer­ke will nicht viel be­deu­ten. Aber nicht nur bei Lu­kas, auch bei den Evan­ge­li­en des Mat­thä­us und des Mar­kus lässt sich der Zeit­punkt be­stim­men. Es ist näm­lich zwei­fel­los, dass das drit­te Evan­ge­li­um spä­ter als die bei­den ers­ten ver­fasst wur­den und die Zei­chen ei­ner viel bes­se­ren Re­dak­ti­on auf­wei­sen. Auch ha­ben wir da ein wich­ti­ges Zeug­nis aus der ers­ten Hälf­te des zwei­ten Jahr­hun­derts. Es rührt von Pa­pi­as her, dem Bi­schof von Hiera­po­lis, ei­nem wür­di­gen Man­ne, der sein le­be­lang be­müht war, al­les zu sam­meln, was er über die Per­son Jesu er­fah­ren konn­te. Nach­dem er be­merkt hat, dass er be­treffs die­ser Sa­che die münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen der Bü­cher vor­zie­he, er­wähn­te er zwei Schrif­ten, die sich mit den Wor­ten und Ta­ten Chris­ti be­schäf­ti­gen: 1) eine Schrift von Mar­kus, Dol­met­scher des Apos­tel Pe­tri, die kurz ge­schrie­ben ist, un­voll­stän­dig und nicht chro­no­lo­gisch ge­ord­net und Re­den und Er­zäh­lun­gen ent­hält (λεχθέντα ἤ πρακθέντα), die nach den Mit­tei­lun­gen aus den Erin­ne­run­gen des Apos­tels Pe­tri ver­zeich­net wur­den; 2) eine he­brä­isch ge­schrie­be­ne Samm­lung von Sprü­chen (λόγια) von Mat­thä­us, die je­der, wie er es ver­moch­te, über­setzt hat. Die­se bei­den Be­schrei­bun­gen ent­spre­chen ziem­lich ge­nau den zwei Bü­chern, die jetzt als Mat­thäu­sevan­ge­li­um und als Mar­ku­sevan­ge­li­um gel­ten. Ers­te­res kenn­zeich­net sich durch sei­ne lan­gen Re­den, das zwei­te ist an­ek­do­ten­ar­tig, in den Ein­zel­hei­ten ge­nau­er als das ers­te, kurz bis zur Tro­cken­heit, arm an Re­den und schlecht re­di­giert. Frei­lich lässt sich nicht be­haup­ten, dass die­se zwei Bü­cher in ih­rer heu­ti­gen Ge­stalt ge­nau die­sel­ben sind, die Pa­pi­as vor­la­gen. Denn das Werk Mat­thä­us be­stand nach Pa­pi­as nur aus Re­den in he­bräi­scher Spra­che, von wel­chen meh­re­re un­ter­schied­li­che Über­set­zun­gen im Ver­kehr wa­ren, fer­ner wa­ren ihm die Schrif­ten des Mar­kus und des Mat­thä­us zwei grund­ver­schie­de­ne Wer­ke, ohne ir­gend­wel­chen Zu­sam­men­hang und, wie es scheint, je­des auch in ei­ner an­de­ren Spra­che ver­fasst. Die uns vor­lie­gen­den Tex­te die­ser zwei Evan­ge­li­en ent­hal­ten je­doch Par­al­lel­stel­len, die so lang und so gleich­lau­tend sind, dass man an­neh­men muss, ent­we­der hat­te der letz­te Re­dak­teur des ers­te­ren Wer­kes das zwei­te be­nutzt, oder um­ge­kehrt, der letz­te Re­dak­teur des zwei­ten Wer­kes das ers­te, oder schließ­lich, bei­de ha­ben das­sel­be Ori­gi­nal be­nutzt. Wahr­schein­lich ist, dass wir we­der bei dem einen noch bei dem an­de­ren die ur­sprüng­li­che Fas­sung be­sit­zen, dass un­se­re bei­den Evan­ge­li­en Be­ar­bei­tun­gen sind, wo­bei die Lücken des einen Tex­tes durch den Text des an­de­ren Wer­kes er­gänzt wur­den. Je­der woll­te ein voll­stän­di­ges Werk ha­ben. Wer in sei­nem Bu­che nur die Re­den hat­te, woll­te auch die Er­zäh­lun­gen be­sit­zen und um­ge­kehrt. Der­art hat das Mat­thäu­sevan­ge­li­um all­mäh­lich al­les An­ek­do­ten­haf­te des Mar­ku­sevan­ge­li­ums auf­ge­nom­men; und so ge­sch­ah es auch, dass die­ses wie­der vie­les ent­hält, was von den Lo­gia des Mat­thä­us ab­stammt. Über­dies be­nutz­te je­der auch reich­lich die Evan­ge­li­en­tra­di­ti­on, die in sei­ner Um­ge­bung sich fort­pflanz­te. Die­se Tra­di­ti­on wur­de in den Evan­ge­li­en nicht völ­lig auf­ge­nom­men; die Apos­tel­ge­schich­te und die Kir­chen­vä­ter zi­tie­ren man­ches Wort Jesu, das au­then­tisch zu sein scheint, je­doch in kei­nem der uns über­lie­fer­ten Evan­ge­li­en zu fin­den ist.

Für un­se­ren Ge­gen­stand ist es nicht nö­tig die­se ge­naue Zer­glie­de­rung fort­zu­set­zen, zu ver­su­chen fest­zu­stel­len, wel­ches die ur­sprüng­li­chen Lo­gia des Mat­thä­us und wel­ches die ur­sprüng­li­chen Er­zäh­lun­gen des Mar­kus sind. Si­cher­lich stel­len die Lo­gia die lan­gen Re­den Jesu dar, die einen be­trächt­li­chen Teil des ers­ten Evan­ge­li­ums bil­den. Vom üb­ri­gen ge­son­dert stel­len sie in der Tat auch ziem­lich ein selbst­stän­di­ges Gan­zes dar. Was aber die Er­zäh­lun­gen des ers­ten und zwei­ten Evan­ge­li­ums be­trifft, so dürf­ten bei­de ein und die­sel­be Schrift be­nutzt ha­ben, de­ren Text bald hier, bald dort zu fin­den ist und wo­von das zwei­te Evan­ge­li­um in sei­ner heu­ti­gen Ge­stalt eine nur we­nig ver­än­der­te Dar­stel­lung gibt. Mit an­de­ren Wor­ten ge­sagt: Bei den Syn­op­ti­kern2 grün­det sich das Dar­stel­lungs­sys­tem des Le­bens Jesu auf zwei Ur­schrif­ten und zwar: 1) auf die vom Apos­tel Mat­thä­us ge­sam­mel­ten Re­den Jesu, 2) auf die Samm­lung An­ek­do­ten und per­sön­li­cher Nach­rich­ten, die Mar­kus nach den Erin­ne­run­gen Pe­tri ver­zeich­net. Es lässt sich sa­gen, dass wir die­se zwei Schrif­ten noch in dem ers­ten und zwei­ten Evan­ge­li­um be­sit­zen, wo sie sich mit Mit­tei­lun­gen aus an­de­ren Quel­len ver­mischt vor­fin­den. Nicht ohne Grund wer­den sie da­her »Evan­ge­li­um nach Mat­thä­us« und »Evan­ge­li­um nach Mar­kus« be­nannt.

Al­len­falls gilt zwei­fel­los, dass schon in frü­her Zeit die Re­den Jesu in ara­mäi­scher Spra­che nie­der­ge­schrie­ben wur­den, und auch sei­ne merk­wür­di­gen Ta­ten ver­zeich­net wur­den. Ab­ge­run­de­te, dog­ma­tisch fest­ge­stell­te Tex­te wa­ren es frei­lich nicht. Au­ßer den uns über­lie­fer­ten Evan­ge­li­en gab es noch vie­le an­de­re, die an­geb­lich die Über­lie­fe­rung der Au­gen­zeu­gen ver­mel­de­ten. Die­sen Schrif­ten wur­de je­doch nur ein ge­rin­ger Wert zu­ge­mes­sen und Leu­te, die sie auf­be­wahr­ten, wie z. B. Pa­pi­as, er­klär­ten, dass sie den münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen den Vor­zug gä­ben. Vom Wahn des na­hen Welt­un­ter­gangs be­fan­gen, war man we­nig dar­auf be­dacht Bü­cher für die Zu­kunft zu schrei­ben. Als Haupt­sa­che galt im Her­zen ein le­ben­di­ges Bild des­sen zu er­hal­ten, den man bald im Him­mel wie­der­zu­se­hen hoff­te. Da­her die ge­rin­ge Au­to­ri­tät der Evan­ge­li­en­tex­te wäh­rend der ers­ten an­dert­halb Jahr­hun­der­te. Man scheu­te sich nicht im Ge­rings­ten Zu­sät­ze zu ma­chen, Text­kom­bi­na­tio­nen vor­zu­neh­men, sie ge­gen­sei­tig zu er­gän­zen. Der Arme, der nur ein Buch be­saß, woll­te, dass es al­les ent­hal­te, was sein Herz be­rühr­te. Man borg­te sich ge­gen­sei­tig die­se Büch­lein und je­der ver­zeich­ne­te auf dem Rand sei­nes Exem­plars Wor­te, Gleich­nis­se, die er an­der­wärts fand und die ihn rühr­ten. So ist aus ei­ner dun­keln, ganz volks­tüm­li­chen Be­ar­bei­tung das Schöns­te der Welt ent­stan­den. Kei­nes der Tex­te hat­te einen ab­so­lu­ten Wert. Jus­ti­nus, der sich oft auf die »Denk­wür­dig­kei­ten der Apos­tel« – wie er es nennt – be­ruft, be­zog sich da­bei auf Evan­ge­li­en, die von den uns­ri­gen ziem­lich ver­schie­den wa­ren; eine wört­li­che An­füh­rung un­ter­ließ er. Die Zi­ta­te aus den Evan­ge­li­en in den pseu­do-cle­men­ti­ni­schen Schrif­ten abio­ni­ti­scher Her­kunft zei­gen den glei­chen Cha­rak­ter. Der Geist war al­les, der Buch­sta­be nichts. Erst in der zwei­ten Hälf­te des zwei­ten Jahr­hun­derts, als die Tra­di­ti­on ver­blass­te, er­hiel­ten die mit den Na­men der Apos­teln ver­se­he­nen Schrif­ten ent­schie­de­ne Au­to­ri­tät und Ge­set­zes­kraft.

Wer wür­de nicht den Wert von Schrif­ten er­ken­nen, die sol­cher­ma­ßen aus der weh­mü­ti­gen Erin­ne­rung, aus den schlich­ten Er­zäh­lun­gen der bei­den ers­ten christ­li­chen Ge­ne­ra­tio­nen ent­stan­den sind, Ge­ne­ra­tio­nen, die noch ganz den star­ken Ein­druck fühl­ten, den der heh­re Stif­ter auf sie ge­macht hat? Fü­gen wir noch dazu, dass die er­wähn­ten Evan­ge­li­en aus je­nem Teil der christ­li­chen Ge­mein­de her­vor­ge­gan­gen sein moch­te, der Jesu am nächs­ten ver­wandt war. Die letz­te Be­ar­bei­tung – we­nigs­tens was den Text be­trifft, der den Na­men Mat­thä­us trägt – dürf­te in ei­nem der Län­der nord­öst­lich von Pa­läs­ti­na ent­stan­den sein, in Go­lo­ni­tis, Hau­ran, Ba­ta­nea, wo­hin zur­zeit des Rö­mer­krie­ges vie­le Chris­ten flüch­te­ten, wo noch im zwei­ten Jahr­hun­dert Ver­wand­te Jesu leb­ten, wo die ur­sprüng­li­che ga­li­läi­sche Rich­tung sich län­ger als an­der­wärts er­hielt.

Wir ha­ben bis­her nur von den drei so­ge­nann­ten syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en ge­spro­chen. Wir ha­ben da­her noch das vier­te in Be­tracht zu zie­hen, das den Na­men Jo­han­nes führt. Hier ist der Zwei­fel viel be­grün­de­ter, die Lö­sung viel schwie­ri­ger. Pa­pi­as, ein An­hän­ger der Schu­le des Jo­han­nes, der, wenn er nicht, wie Iri­näus be­haup­tet, Jo­han­nes Schü­ler war, we­nigs­tens doch mit des­sen Schü­lern ver­kehrt hat­te – so mit Aris­ti­on und mit dem, der Jo­han­nes Pres­by­ter ge­nannt wird – Pa­pi­as also, der die münd­li­chen Äu­ße­run­gen der er­wähn­ten zwei Schü­ler eif­rigst ge­sam­melt hat­te, er­wähnt kein Wort von ei­ner Le­bens­be­schrei­bung Jesu, die Jo­han­nes ver­fasst hät­te. Wäre in sei­nem Wer­ke eine der­ar­ti­ge Äu­ße­rung vor­han­den ge­we­sen, so wäre sie auch si­cher­lich von Eu­se­bi­us er­wähnt wor­den, der al­les auf­ge­nom­men hat, was für die Lit­te­ra­tur­ge­schich­te der Apo­stel­zeit von Wich­tig­keit ist. Nicht min­der be­lang­reich sind die in­ne­ren Schwie­rig­kei­ten, die sich beim Le­sen des vier­ten Evan­ge­li­ums dar­bie­ten. Wie kommt es, dass ne­ben ge­nau­en Mit­tei­lun­gen, die den Au­gen­zeu­gen be­kun­den, Re­den ste­hen, die völ­lig ver­schie­den sind von je­nen, die Mat­thä­us an­führt? Wie kommt es, dass ne­ben ei­nem all­ge­mei­nen Plan zu ei­ner Le­bens­be­schrei­bung Jesu, ein Plan, der bes­ser und ge­nau­er zu sein dünkt, als der der Syn­op­ti­ker, jene son­der­ba­ren Stel­len ste­hen, die des Ver­fas­sers ei­gen­tüm­li­ches dog­ma­ti­sches In­ter­es­se er­ken­nen las­sen, die Ge­dan­ken be­kun­den, wel­che Jesu ganz fremd sind, An­deu­tun­gen ge­ben, wel­che miss­trau­isch ma­chen ge­gen den gu­ten Glau­ben des Ver­fas­sers? Wie kommt es end­lich, dass ne­ben den reins­ten, ge­rech­tes­ten, dem Evan­ge­li­um völ­lig ent­spre­chen­den An­sich­ten, jene Fle­cken zu fin­den sind, die man ger­ne als Ein­schie­bun­gen ei­nes hit­zi­gen Schrei­bers be­trach­tet? Ist das Jo­han­nes, des Ze­be­dä­us Sohn, des Ja­ko­bus Bru­der – wel­cher im vier­ten Evan­ge­li­um auch nicht ein­mal er­wähnt wird – der in grie­chi­scher Spra­che die­se me­ta­phy­si­schen Auf­sät­ze schrei­ben moch­te, für die we­der die Syn­op­ti­ker noch der Tal­mud ein Glei­ches bie­ten? Dies al­les ist be­denk­lich, so­dass ich nicht die Mei­nung wa­gen möch­te, das vier­te Evan­ge­li­um sei durch­aus von der Hand ei­nes ehe­ma­li­gen ga­li­läi­schen Fi­schers ge­schrie­ben wor­den. Doch dass die­ses Evan­ge­li­um im We­sent­li­chen ge­gen Ende des ers­ten Jahr­hun­derts aus der großen Schu­le in Klein­asi­en, die sich auf Jo­han­nes Leh­re stütz­te, her­vor­ge­gan­gen ist; dass es eine Dar­stel­lung des Le­bens Jesu gibt, die große Be­ach­tung ver­dient, stel­len­wei­se so­gar den Vor­rang – das ist so­wohl durch ver­schie­de­ne Zeug­nis­se, wie auch durch Prü­fung der Schrift selbst in ei­ner Art er­wie­sen wor­den, die nichts zu wün­schen üb­rig lässt.

Vor al­lem be­zwei­felt kei­ner, dass um das Jahr 150 das vier­te Evan­ge­li­um be­reits vor­han­den war und Jo­han­nes zu­ge­spro­chen wur­de. In den Schrif­ten des hei­li­gen Jus­ti­nus, Athe­na­go­ras, Ta­ti­an, Theo­phi­lus von An­tio­chi­en, Ire­nä­us be­kun­den man­che Stel­len aufs Deut­lichs­te, dass die­ses Evan­ge­li­um schon da­mals in al­len Streit­fra­gen eine Rol­le spiel­te und dem Dog­men­bau als Eck­stein diente. Ire­nä­us spricht sehr be­stimmt. Und er ging ja aus der Schu­le Jo­han­nes her­vor und zwi­schen ihm und dem Apos­tel war nur Po­ly­karp. Nicht we­ni­ger be­stim­mend ist der Um­stand, dass die­ses Evan­ge­li­um im Gno­sti­cis­mus, be­son­ders im Sys­tem Va­len­tins, im Mon­ta­nis­mus und im Streit der Quar­to­dezi­ma­ner eine Haup­trol­le spiel­te. Die Schu­le Jo­han­nes ist die, de­ren Ver­lauf am bes­ten wäh­rend des zwei­ten Jahr­hun­derts sich be­merk­bar mach­te. Die­se Schu­le lässt sich je­doch nicht er­klä­ren, wenn man nicht das vier­te Evan­ge­li­um ihr vor­an­stellt. Be­merkt sei hier­bei, dass die ers­te der Jo­han­nes zu­ge­schrie­be­nen Epis­teln si­cher­lich den­sel­ben Ver­fas­ser hat wie das vier­te Evan­ge­li­um. Und die­se Epis­teln wer­den eben von Po­ly­karp, Pa­pi­as, Ire­nä­us dem Jo­han­nes zu­ge­spro­chen.

Be­son­ders aber ver­mag das Le­sen die­ser Schrift selbst einen Ein­druck aus­zuü­ben. Der Ver­fas­ser spricht stets als Au­gen­zeu­ge, er will für den Apos­tel Jo­han­nes gel­ten. Rührt also die­se Schrift nicht von dem Apos­tel her, so muss man einen Be­trug an­neh­men, den der Ver­fas­ser aus­üb­te. Mag auch die An­sicht je­ner Tage über das lit­te­ra­risch Zu­läs­si­ge sehr ver­schie­den von un­se­rer heu­ti­gen ge­we­sen sein, so gibt es doch in der apo­sto­li­schen Welt kein Bei­spiel von ei­ner Fäl­schung die­ser Art. Fer­ner will der Ver­fas­ser nicht nur für den Apos­tel Jo­han­nes gel­ten, son­dern man ver­mag auch deut­lich zu er­se­hen, dass er im In­ter­es­se die­ses Apos­tels die Fe­der führt.

Auf je­der Sei­te ver­rät sich sein Stre­ben des­sen Au­to­ri­tät zu be­fes­ti­gen, zu be­wei­sen, dass er der Lieb­ling Jesu war und auch an al­len be­son­de­ren Vor­fäl­len teil­ge­nom­men habe. Die im gan­zen und großen ge­nom­me­nen brü­der­li­chen Be­zie­hun­gen des Ver­fas­sers zu Pe­trus (ob auch eine ge­wis­se Ei­fer­süch­te­lei vor­han­den war), sein Hass ge­gen Ju­das, ein Hass, der viel­leicht frü­her vor­han­den war als des­sen Ver­rat, schei­nen an man­chen Stel­len durch­zu­schim­mern. Man möch­te an­neh­men, dass Jo­han­nes in sei­nem Al­ter, als er die ver­schie­de­nen im Ver­kehr sich be­find­li­chen evan­ge­li­schen Er­zäh­lun­gen las, man­cher­lei Un­rich­tig­kei­ten hier be­merk­te und auch emp­find­lich ge­wor­den war, dass ihm in den Dar­stel­lun­gen des Le­bens Jesu kei­ne ge­büh­ren­de, be­deu­ten­de­re Stel­le ein­ge­räumt wur­de. So dürf­te er denn vie­les ver­zeich­net ha­ben, das er bes­ser als die an­de­ren kann­te, in der Ab­sicht dar­zu­le­gen, dass er oft, wo man nur Pe­trus er­wähn­te, mit die­sem und auch vor die­sem eine Rol­le spiel­te (1. Joh. XVIII, 15 und Matth. XXVI, 58 – Joh. XX, 2-6 und Mark. XVI, 7, auch Joh. XIII, 24, 25). Schon zu Leb­zei­ten Jesu äu­ßer­ten sich der­ar­ti­ge klei­ne Ei­fer­süch­te­lei­en zwi­schen den Söh­nen des Ze­be­dä­us und den an­de­ren Jün­gern. Nach sei­nes Bru­ders Ja­ko­bus Tod war Jo­han­nes der ein­zi­ge Erbe ver­trau­ter Erin­ne­run­gen, in de­ren Be­sitz die­se bei­den Apos­teln nach der Aus­sa­ge al­ler wa­ren. Da­her sein ste­ter Hin­weis auf den Um­stand, dass er der letz­te noch le­ben­de Au­gen­zeu­ge sei, sei­ne Vor­lie­be be­son­ders zu er­wäh­nen, was er al­lein nur wis­sen konn­te. Da­her auch die vie­len klei­nen Ein­zel­hei­ten, die wie An­mer­kun­gen ei­nes Er­klä­rers sich dar­stel­len, so: »Es war sechs Uhr«, »es war Nacht«, »die­ser Mann hieß Mal­chus«, »sie hat­ten ein Feu­er an­ge­zün­det, denn es war kalt«, »die­ser Rock war ohne Naht«. Da­her schließ­lich die nach­läs­si­ge Re­dak­ti­on, die un­re­gel­mä­ßi­ge Dar­stel­lung, dies Frag­men­ta­ri­sche der ers­ten Ka­pi­tel – lau­ter Un­be­greif­lich­kei­ten, wenn man an­neh­men will, die­ses Evan­ge­li­um sei nur eine theo­lo­gi­sche The­sis ohne his­to­ri­schen Wert, die je­doch sehr ver­ständ­lich sind, wenn man in ih­nen, mit der Über­lie­fe­rung über­ein­stim­mend, die Erin­ne­run­gen ei­nes Grei­ses liest, die bald von ei­ner wun­der­ba­ren Fri­sche sind, bald wie­der selt­sa­me Ver­än­de­run­gen auf­wei­sen. Ein Haupt­un­ter­schied muss je­doch im Evan­ge­li­um Jo­han­nes ge­macht wer­den. Denn ei­ner­seits weist es einen Plan zur Dar­stel­lung des Le­bens Jesu auf, der von dem der Syn­op­ti­ker be­deu­tend ab­weicht; an­der­seits wie­der lässt er Jesu Re­den füh­ren, die im Ton, Stil und Geist grund­ver­schie­den von den von den Syn­op­ti­kern mit­ge­teil­ten Lo­gia sind. Hier ist der Un­ter­schied so groß, dass man zu wäh­len ge­nö­tigt ist. Sprach Je­sus, wie Mat­thä­us be­rich­te­te, so konn­te er nicht spre­chen, wie Jo­han­nes mit­teil­te. Doch zwi­schen die­sen bei­den Au­to­ri­tä­ten hat noch kein Kri­ti­ker ge­schwankt, wird auch nie ei­ner schwan­ken. Im Ge­gen­satz zu den schlich­ten, un­be­fan­ge­nen, sach­li­chen Wor­ten der Syn­op­ti­ker, gibt das Evan­ge­li­um Jo­han­nes stets die Vor­ein­ge­nom­men­heit des Apo­lo­gis­ten, die Hin­ter­ge­dan­ken des Sek­tie­rers zu er­ken­nen, die Ab­sicht ei­ner The­se und be­wei­sen, Geg­ner zu be­keh­ren. (S. Joh. IX und X. Be­son­ders ist der ei­gen­tüm­li­che Ein­druck zu be­ach­ten, den Stel­len wie XIX, 35, XX, 31, XXI, 20–23, 24, 25 ma­chen, wenn man an das Feh­len je­der Re­fle­xi­on denkt, das die Syn­op­ti­ker kenn­zeich­net.) Jesu hat sein gött­li­ches Werk nicht durch prun­ken­de, schwer­fäl­li­ge, schlecht ver­fass­te und im mo­ra­li­schen Sin­ne we­nig sa­gen­de Phra­sen ge­grün­det. Auch wenn Pa­pi­as uns nicht be­rich­tet hät­te, dass Mat­thä­us die Auss­prü­che Jesu in der Ur­spra­che ver­zeich­ne­te, so wür­den doch das Na­tür­li­che, die ewi­ge Wahr­heit, der un­ver­gleich­li­che Zau­ber der syn­op­ti­schen Re­den, ihre durch­drin­gen­de he­bräi­sche Fär­bung, ihre Gleich­ar­tig­keit mit den Auss­prü­chen jü­di­scher Ge­lehr­ter je­ner Zeit, ihre voll­kom­me­ne Har­mo­nie mit der Be­schaf­fen­heit Ga­li­lä­as – kurz, alle die­se Kenn­zei­chen wür­den, ver­gli­chen mit der dun­keln Gno­sis, der ge­schraub­ten Me­ta­phy­sik der Wor­te Jo­han­nes, deut­lich ge­nug spre­chen. Da­mit soll nicht ge­sagt sein, dass die Re­den des Jo­han­ni­sevan­ge­li­um nicht auch be­wun­derns­wer­te Licht­strah­len auf­wei­sen, Züge, wie sie wirk­lich Jesu zu ei­gen wa­ren. Al­lein ihr mys­ti­scher Ton ent­spricht nicht der Ei­gen­art der Be­red­sam­keit Jesu, wie die­se nach der Dar­stel­lung der Syn­op­ti­ker er­scheint. Sie sind von ei­nem neu­en Geist er­füllt. Die Gno­sis hat­te schon be­gon­nen, die ga­li­läi­sche Ära des Rei­ches Got­tes war da­hin, die Hoff­nung auf eine nahe Wie­der­kehr Chris­ti schwand nach und nach, man be­trat das Ge­biet tro­ckener Me­ta­phy­sik, das Dun­kel ab­strak­ten Dog­mas. Das ist nicht der Geist Jesu. Und wenn der Sohn des Ze­be­dä­us wirk­lich die­se Blät­ter ver­fasst hät­te, so hät­te er da­bei si­cher­lich des Sees Ge­ne­za­reth ver­ges­sen und der köst­li­chen Ge­sprä­che, die er an des­sen Ufern ver­nom­men.

Was fer­ner be­weist, dass die Re­den im vier­ten Evan­ge­li­um nicht his­to­ri­sche Ur­schrif­ten sind, son­dern Auf­sät­ze, die ge­wis­se, vom Ver­fas­ser hoch­ge­hal­te­ne Leh­ren mit der Au­to­ri­tät Jesu de­cken soll­ten, ist ihre voll­stän­di­ge Über­ein­stim­mung mit den da­ma­li­gen geis­ti­gen Ver­hält­nis­sen Klein­asi­ens. Die­ses war zu je­ner Zeit der Schau­platz ei­ner ei­gen­ar­ti­gen Be­we­gung syn­kre­ti­scher Phi­lo­so­phie. Alle Kei­me des Gno­sti­cis­mus wa­ren schon vor­han­den. Jo­han­nes moch­te an die­ser frem­den Quel­le ge­trun­ken ha­ben. Es mag sein, dass nach den Er­eig­nis­sen des Jah­res 68 (Zeit der Apo­ka­lyp­se) und des Jah­res 70 (Zer­stö­rung Je­ru­sa­lems) der grei­se Apos­tel, mit dem Feu­er­geis­te zu­rück­ge­kehrt war vom Glau­ben an die bal­di­ge Er­schei­nung des Men­schen­soh­nes in den Wol­ken, und den An­sich­ten sich zu­ge­wen­det hat­te, die er rings­um ver­brei­tet sah und wo­von sich man­che mit ge­wis­sen Leh­ren des Chris­ten­tums sich recht gut ver­eint hat­ten. Die­se neu­en An­sich­ten Jesu zu­schrei­bend, folg­te er nur ei­nem sehr na­tür­li­chen Gan­ge. Un­se­re Erin­ne­rung ver­än­dert sich mit al­lem üb­ri­gen; die Vor­stel­lung von ei­ner Per­son, die wir ge­kannt ha­ben, formt sich um mit uns selbst. Je­sus wur­de von Jo­han­nes als die Ver­kör­pe­rung der Wahr­heit be­trach­tet, er moch­te ihm da­her Wor­te zu­schrei­ben, die er selbst im Lau­fe der Zeit als Wahr­heit er­kannt hat­te.

Wenn es nö­tig ist al­les an­zu­füh­ren, so sei noch be­merkt, dass wahr­schein­lich Jo­han­nes selbst an die­sen Än­de­run­gen we­nig An­teil hat­te, dass sie viel­mehr in sei­ner Um­ge­bung er­folg­ten. Oft könn­te man glau­ben, Jo­han­nes Jün­ger hat­ten sei­ne wert­vol­len An­mer­kun­gen in ei­nem vom ur­sprüng­li­chen evan­ge­li­schen Geist recht un­ter­schied­li­chem Sin­ne ver­wen­det. Tat­säch­lich sind auch man­che Stel­len des vier­ten Evan­ge­li­ums erst nach­träg­lich bei­ge­fügt wor­den. So z. B. das gan­ze 21. Ka­pi­tel – die Ver­se XX, 30, 31 bil­de­ten si­cher­lich den al­ten Schluss – wo der Ver­fas­ser die Ab­sicht zu ha­ben schi­en, dem Apos­tel Pe­trus nach sei­nem Tode eine Hul­di­gung dar­zu­brin­gen und den Ein­wen­dun­gen zu ent­geg­nen, die der Tod des Jo­han­nes her­vor­brin­gen wür­de, oder viel­leicht schon her­vor­ge­bracht hat­te. (Vers 21–23.) An­de­re Stel­len wie­der (VI, 2,22; VII, 22) deu­ten auf Aus­las­sun­gen oder Ver­bes­se­run­gen hin.

Es ist un­mög­lich nach so lan­ger Zeit alle die­se Pro­ble­me zu lö­sen; si­cher­lich wür­den uns vie­le Über­ra­schun­gen zu teil, wäre es uns ge­gönnt in die Ge­heim­nis­se der mys­te­ri­ösen Schu­le von Ephe­sus ein­zu­drin­gen, die mehr als ein­mal auf dun­keln Pfa­den ge­wan­delt zu sein scheint. Doch ein Haupt­ver­such wäre fol­gen­des: Wer da un­ter­neh­men woll­te das Le­ben Jesu zu schil­dern, und hier­bei ohne eine ge­fes­te­te An­sicht über den Wert der Evan­ge­li­en zu ha­ben, nur von sei­nem Ge­füh­le sich lei­ten lie­ße, der wür­de in so man­chen Fäl­len die Er­zäh­lung Jo­han­nes der der Syn­op­ti­ker vor­zie­hen. Be­son­ders die letz­ten Mo­na­te des Le­bens Jesu lernt man nur aus dem Jo­han­nes­evan­ge­li­um ken­nen. So man­che Ge­scheh­nis­se in der Lei­dens­zeit, die bei den Syn­op­ti­kern un­ver­ständ­lich sind – z. B. die Voraus­sa­gung des Ver­ra­tes Ju­das – wer­den erst durch die Dar­stel­lung des vier­ten Evan­ge­li­ums wahr­schein­lich und mög­lich. Da­ge­gen möch­te ich be­haup­ten, dass schwer­lich ei­ner das Le­ben Jesu ver­nünf­tig dar­stel­len könn­te, wenn er nur die Re­den in Be­tracht zieht, die Jo­han­nes Jesu in den Mund legt. Die­se Art stets nur von sich zu pre­di­gen und nur sich zu zei­gen, die­ses be­stän­di­ge Ar­gu­men­tie­ren, die­se ge­küns­tel­te Ins­ze­nie­rung, die­se lan­gen Er­ör­te­run­gen nach je­der Wun­der­tat, die­se höl­zer­nen und un­ge­schick­ten Re­den, de­ren Ton zu­wei­len auch falsch und un­gleich­ar­tig klingt (II, 25; III, 32, 33; und die lan­gen Er­ör­te­run­gen III, V, VIII, XIII u. s. w.) wür­den vor ei­nem ge­schmack­vol­len Men­schen ne­ben den herr­li­chen Sprü­chen der Syn­op­ti­ker nicht zur Gel­tung kom­men kön­nen. Das sind zwei­fel­los Er­dich­tun­gen, die uns das Wort Jesu der­art wie­der­gibt, wie die Dia­lo­ge des Pla­to die Ge­sprä­che des So­kra­tes. Sie glei­chen so­zu­sa­gen die frei­en Va­ria­tio­nen ei­nes Mu­si­kers über ein ge­ge­be­nes The­ma. Die­ses ist wohl ur­sprüng­lich, doch in der Aus­füh­rung hat die Fan­ta­sie des dar­stel­len­den Künst­lers frei­en Spiel­raum. Man merkt das Ge­küns­tel­te, das Ge­zier­te, die Rhe­to­rik die­ser Schrift (s. XVII).

Noch sei be­merkt, dass die ge­wöhn­li­che Re­de­wei­se Jesu hier nicht zu fin­den ist. Der Aus­druck »Reich Got­tes«, der dem Meis­ter so ge­läu­fig war, kommt hier nur ein ein­zi­ges Mal (III, 3, 5) vor. Hin­ge­gen weist der Stil der Re­den, die das vier­te Evan­ge­li­um Jesu zu­mu­tet, eine auf­fal­len­de Ähn­lich­keit auf mit den Epis­teln Jo­han­nes. Man er­kennt, der Ver­fas­ser habe bei der Nie­der­schrift sei­ner Re­den nicht sei­ner Erin­ne­rung ge­folgt, son­dern dem recht ein­tö­ni­gen ei­ge­nen Ge­dan­ken­gang. Eine neue mys­ti­sche Spra­che kommt hier zur Gel­tung, eine Spra­che, die den Syn­op­ti­kern ganz un­be­kannt war (»Welt«, »Wahr­heit«, »Le­ben«, »Licht«, »Fins­ter­nis« u.s.w.). Hät­te Je­sus wirk­lich je in die­ser Wei­se ge­spro­chen, die so­zu­sa­gen nichts jü­di­sches, nichts tal­mu­di­sches an sich hat­te, so wür­den doch nicht alle sei­ne Zu­hö­rer da­von ge­schwie­gen ha­ben.

Üb­ri­gens bie­tet die Lit­te­ra­tur­ge­schich­te ein Bei­spiel, das der er­wähn­ten his­to­ri­schen Er­schei­nung sehr ähn­lich ist und auch zu des­sen Er­klä­rung die­nen kann. So­kra­tes, der gleich Je­sus nicht selbst schrieb, ist uns durch zwei sei­ner Schü­ler, Xe­no­phon und Pla­to be­kannt. Die kla­re, sach­li­che Dar­stel­lungs­wei­se des ers­te­ren er­in­nert an die Syn­op­ti­ker, wäh­rend der an­de­re durch sei­ne kräf­ti­ge In­di­vi­dua­li­tät dem Ver­fas­ser des vier­ten Evan­ge­li­ums äh­nelt. Was er­klärt uns nun bes­ser die Leh­re So­kra­tes: Die »Dia­lo­ge« des Pla­to, oder die »Ge­sprä­che« des Xe­no­phon? Hier ist kein Zwei­fel mög­lich und je­der gab noch den »Ge­sprä­chen« den Vor­zug. Lehrt uns aber Pla­to nichts über So­kra­tes? Wäre es gut ge­tan, wenn man eine Le­bens­schil­de­rung des So­kra­tes schrei­ben wür­de, ohne da­bei die Dia­lo­ge zu be­ach­ten? Wer könn­te das be­haup­ten! Der Ver­gleich ist üb­ri­gens nicht ganz aus­rei­chend, denn der Un­ter­schied spricht für den Ver­fas­ser des vier­ten Evan­ge­li­ums. Gera­de er ist der bes­se­re Bio­graf. Es ist wie wenn Pla­to, ob­gleich er dem Meis­ter er­dich­te­te Wor­te in den Mund legt, Wich­ti­ges von des­sen Le­ben wüss­te, was Xe­no­phon un­be­kannt blieb.

Die Fra­ge, wer das vier­te Evan­ge­li­um nie­der­ge­schrie­ben habe, blei­be hier un­er­ör­tert; und wenn ich mich auch der An­sicht zu­nei­ge, dass we­nigs­tens die Re­den nicht vom Soh­ne des Ze­be­dä­us her­rüh­ren, so sei doch zu­ge­ge­ben, dass hier ein »Evan­ge­li­um nach Jo­han­nes« vor­liegt, in dem­sel­ben Sin­ne wie das ers­te und zwei­te Evan­ge­li­um als »nach Mat­thä­us« und »nach Mar­kus« gel­ten. Die ge­schicht­li­chen Grund­li­ni­en des vier­ten Evan­ge­li­ums ist die Le­bens­kun­de Jesu, wie sie in der Schu­le Jo­han­nes be­kannt war. Es ist die Er­zäh­lung, die Ari­ston und Jo­han­nes Pres­by­ter dem Pa­pi­as ga­ben, ohne zu be­mer­ken, dass sie nie­der­ge­schrie­ben sei, oder viel­mehr ohne dem eine be­mer­kens­wer­te Be­deu­tung bei­zu­mes­sen. Auch glau­be ich, dass die­se Schu­le die Le­ben­sum­stän­de des Stif­ters bes­ser kann­te als jene aus de­ren Erin­ne­rung die syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en her­vor­zu­brin­gen. Sie hat­te über den je­wei­li­gen Auf­ent­halt Jesu zu Je­ru­sa­lem Da­ten, die die letz­te­ren nicht be­sa­ßen. Die Jün­ger die­ser Schu­le sa­hen in Mar­kus nur einen mit­tel­mä­ßi­gen Bio­gra­fen und hat­ten ein Sys­tem ge­schaf­fen, um sei­ne Lücken aus­zu­fül­len. Man­che Stel­len bei Lu­kas, die ge­wis­ser­ma­ßen ein Wi­der­hall der Tra­di­tio­nen des Jo­han­nes sind, be­kun­den auch, dass die­se Über­lie­fe­run­gen den üb­ri­gen An­hän­gern des Chris­ten­tums nicht völ­lig un­be­kannt wa­ren.

Die­se Er­klä­run­gen dürf­ten, mei­ner An­sicht nach, ge­nü­gen, die Mo­ti­ve zu er­ken­nen, die mich ver­an­lass­ten die­sem oder je­nem der vier Füh­rer den Vor­zug ein­zuräu­men. Im gan­zen und großen hal­te ich die vier ka­no­ni­schen Evan­ge­li­en für au­then­tisch. Alle stam­men, mei­ner Mei­nung nach, aus dem ers­ten Jahr­hun­dert und sind größ­ten­teils von den Ver­fas­sern, de­nen sie zu­ge­spro­chen wer­den. Doch ist ihr ge­schicht­li­cher Wert ver­schie­den. In Be­zug auf die Re­den ver­dient wohl Mat­thä­us un­be­schränk­tes Ver­trau­en. Hier sind die Lo­gia der le­ben­di­gen, kla­ren Erin­ne­rung an die Leh­re Jesu ent­nom­men. Ein mil­der und zu­gleich schreck­li­cher Glanz, eine gött­li­che Kraft er­hellt so­zu­sa­gen die­se Wor­te, hebt sie aus der Ver­bin­dung her­vor und gibt sie dem Kri­ti­ker leicht zu er­ken­nen. Wer da mit Hil­fe der Evan­ge­li­en­ge­schich­te eine rech­te und rich­ti­ge Ar­beit her­stel­len will, der hat in die­ser Be­zie­hung einen vor­züg­li­chen Prüf­stein. Die wah­ren Wor­te Jesu of­fen­ba­ren sich gleich­sam von selbst. So­bald man sie in die­sem Ge­wirr von Tra­di­tio­nen un­glei­cher Authen­ti­zi­tät be­rührt, fühlt man sie vi­brie­ren; sie äu­ßern sich frei­wil­lig und neh­men von selbst ihre Stel­le in der Er­zäh­lung ein, wo sie dann ihre große Be­deu­tung gel­tend zu ma­chen wis­sen.

We­ni­ger Au­to­ri­tät be­sitzt der er­zäh­len­de Teil des ers­ten Evan­ge­li­ums, der sich um den ur­sprüng­li­chen Kern an­ge­sam­melt hat. Es er­schei­nen da in un­deut­li­chen Um­ris­sen so man­che Le­gen­den, die in der Fröm­mig­keit der zwei­ten christ­li­chen Ge­ne­ra­ti­on ih­ren Ur­sprung fan­den (s. I u. II; auch XXVII 3, 19, 60, im Ver­gleich mit Mar­kus). Das Mar­ku­sevan­ge­li­um zeigt sich viel kla­rer, be­stimm­ter und ist we­ni­ger mit nach­träg­lich ein­ge­scho­be­nen Fa­beln er­füllt. Es ist das äl­tes­te, ur­sprüng­li­che der drei syn­op­ti­schen Wer­ke und hat am we­nigs­ten spä­te­re Ele­men­te in sich auf­ge­nom­men. Die sach­li­chen Ein­zel­hei­ten zei­gen bei Mar­kus eine Klar­heit, die man bei den an­de­ren Evan­ge­lis­ten ver­geb­lich su­chen wür­de. Er liebt es man­che Wor­te Jesu in syro-chal­däi­scher Spra­che an­zu­füh­ren (V 41; VII 34; XV 34). Er be­kun­det eine bis aufs kleins­te sich er­stre­cken­de Beo­b­ach­tung, wie sie si­cher­lich nur von ei­nem Au­gen­zeu­gen kom­men mö­gen. Nichts spricht da­ge­gen, dass, wie Pa­pi­as meint, die­ser Au­gen­zeu­ge, der Jesu au­gen­schein­lich ge­folgt ist, der ihn ge­liebt hat und in nächs­ter Nähe ein le­ben­di­ges Bild von ihm ge­wann, der Apos­tel Pe­trus ge­we­sen sei.

Merk­lich ge­rin­ger ist der his­to­ri­sche Wert des Lu­ka­sevan­ge­li­ums. Es ist ein Do­ku­ment aus zwei­ter Hand, des­sen Dar­stel­lung rei­fer ist. Die Wor­te Jesu sind hier be­dach­ter, ge­fes­te­ter. Ei­ni­ge Auss­prü­che sind über­trie­ben und ge­fälscht (XIV 26; X). Da der Ver­fas­ser au­ßer­halb Pa­läs­tinas sein Werk schuf und si­cher­lich auch nach der Be­la­ge­rung Je­ru­sa­lems, so sind sei­ne Orts­an­ga­ben min­der ge­nau als bei den an­de­ren Syn­op­ti­kern. Er hat­te eine falsche Vor­stel­lung von dem Tem­pel, den er für ein Bet­haus hielt, wo­hin man ging, um sei­ne An­dacht zu ver­rich­ten. Er ver­än­dert Ein­zel­hei­ten, um eine Über­ein­stim­mung der ver­schie­de­nen Er­zäh­lun­gen zu ver­su­chen (IV 16). Er mil­dert Stel­len, die vom Stand­punkt ei­ner über­spann­ten An­nah­me der Gott­heit Jesu stö­rend ge­wor­den (III 23. Er über­geht Matth. XXIV 36). Er über­treibt das Wun­der­ba­re (IV 14; XXII 43, 44). Er irrt sich in der Zeit; er kennt nicht he­brä­isch, zi­tiert nicht Jesu in die­ser Spra­che und gibt von al­len Or­ten nur die grie­chi­schen Na­men. Man er­kennt den Kom­pi­la­tor, den Mann, der die Zeu­gen nicht un­mit­tel­bar ge­se­hen hat, son­dern nach Tex­ten ar­bei­tet, wo­bei er sich große Frei­hei­ten er­laubt hat, um eine Über­ein­stim­mung her­vor­zu­ru­fen. Wahr­schein­lich hat­te Lu­kas die bio­gra­fi­schen Mit­tei­lun­gen des Mar­kus und die Lo­gia des Mat­thä­us vor sich, al­lein er hielt sich nicht ge­nau dar­an. Hier ver­ei­nig­te er zwei An­ek­do­ten oder zwei Pa­ra­beln zu ei­ner (XIX 12–27), dort wie­der schuf er aus ei­ner zwei. (So mach­te er aus dem Gast­mahl von Betha­ni­en zwei Er­zäh­lun­gen VII 36 bis 48 u. X 38–42.) Die Ur­kun­den deu­tet er nach sei­ner be­son­de­ren Wei­se; er zeigt nicht die ab­so­lu­te Gleich­mü­tig­keit des Mat­thä­us und des Mar­kus. Sein Ge­schmack, sei­ne Ei­gen­ar­ten las­sen sich recht ge­nau fest­stel­len: Er war streng re­li­gi­ös, hielt dar­an fest, dass Je­sus alle jü­di­schen Bräu­che be­ob­ach­tet habe, war De­mo­krat und eif­ri­ger Ebio­nit, d. h. ein Feind des Be­sitz­tums und über­zeugt, dass die Ver­gel­tung der Ar­men kom­men wer­de; er hat­te eine Vor­lie­be für jene Er­zäh­lun­gen, wo sich die Be­keh­rung des Sün­ders, die Er­hö­hung des Nied­ri­gen äu­ßert, ja ver­än­dert so­gar die alte Über­lie­fe­rung, um sie der­art zu for­men. Auf den ers­ten Sei­ten sei­nes Wer­kes gibt er weit­schwei­fig und un­ter An­füh­rung der Lob­ge­sän­ge und der üb­li­chen Bräu­che, die ein Haupt­merk­mal apo­kry­phi­scher Evan­ge­li­en bil­den, Le­gen­den über die Kind­heit Jesu. Fer­ner äu­ßert er in der Er­zäh­lung der letz­ten Le­bens­zeit Jesu ei­ni­ge zart­sin­ni­ge Um­stän­de und ge­wis­se wun­der­voll schö­ne Wor­te Jesu, die in den au­then­ti­schen Er­zäh­lun­gen nicht zu fin­den sind und de­ren le­gen­dären Cha­rak­ter man er­kennt. Wahr­schein­lich ent­nahm er sie ei­ner neue­ren Samm­lung, de­ren Zweck haupt­säch­lich war, from­me Ge­füh­le zu er­we­cken.

Eine der­ar­ti­ge Ur­kun­de er­for­dert na­tür­lich große Vor­sicht. Es wäre für die Kri­tik eben­so un­rich­tig, sie un­be­ach­tet zu las­sen, wie ohne wei­te­res zu ver­wen­den. Lu­kas hat Schrif­ten vor sich ge­habt, die wir heu­te nicht mehr be­sit­zen. Er ist min­der ein Evan­ge­list, als ein Bio­graf Jesu, ein »Har­mo­nist«, ein Ver­bes­se­rer gleich Mar­cio und Ta­ti­an. Aber er ist ein Bio­graf des ers­ten Jahr­hun­derts, ein gott­be­gna­de­ter Künst­ler, der uns, un­ab­hän­gig von dem was er den äl­tes­ten Quel­len ent­nahm, den Cha­rak­ter des Stif­ters mit so treff­li­chen Zü­gen, mit sol­cher Be­geis­te­rung und Klar­heit schil­der­te, wie wir es bei den an­de­ren Syn­op­ti­kern nicht fin­den. Sein Evan­ge­li­um bie­tet in der Lek­tü­re den meis­ten Reiz, denn zu der un­ver­gleich­li­chen Schön­heit des ge­mein­sa­men Grun­des, kommt noch die treff­li­che Dar­stel­lung, die die Wir­kung des Bil­des ei­gen­ar­tig er­hö­hen, ohne da­bei der Wahr­heit ernst­lich nahe zu tre­ten.

Es lie­ßen sich also für die syn­op­ti­sche Re­dak­ti­on drei Zu­stän­de an­neh­men: 1) der ur­sprüng­li­che γόγια des Mat­thä­us, λεχδένταήπραχδέντα des Mar­kus, die ers­ten Schrif­ten, die nicht mehr vor­han­den sind; 2) der Zu­stand ein­fa­cher Ver­schmel­zung, wo die Ur­schrif­ten ohne be­son­de­re Mühe und ohne be­son­de­re Ab­sicht er­ken­nen zu las­sen, ver­bun­den wur­den (die Evan­ge­li­en Mat­thä­us und Mar­kus in ih­rer jet­zi­gen Ge­stalt); 3) der Zu­stand ab­sicht­li­cher und be­dach­ter Ver­bin­dung und Re­dak­ti­on, bei dem sich das Stre­ben be­merk­bar macht, die ver­schie­de­nen Per­so­nen zu ver­ei­nen (Evan­ge­li­um Lu­kas). Das Jo­han­nes­evan­ge­li­um ge­hört, wie be­reits be­merkt wur­de, zu ei­ner an­de­ren Art und bil­det ein be­son­de­res Werk.

Wie zu er­se­hen ist, ma­che ich von den apo­kry­phi­schen Evan­ge­li­en kei­nen Ge­brauch. Die­se Schrif­ten dür­fen kei­nes­wegs den ka­no­ni­schen Evan­ge­li­en gleich­ge­stellt wer­den. Sie sind fla­che, kind­li­che Ar­bei­ten, die die ka­no­ni­schen zur Grund­la­ge ha­ben, je­doch die­sen nichts neu­es zu­fü­gen. Ich war je­doch be­dacht, die uns durch die Kir­chen­vä­ter er­hal­te­nen Bruch­stücke al­ter Evan­ge­li­en, die frü­her den ka­no­ni­schen gleich­wer­tig gal­ten, spä­ter je­doch ver­lo­ren ge­gan­gen sind, zu sam­meln; so das Evan­ge­li­um nach den He­brä­ern, das Evan­ge­li­um nach den Ägyp­tern und die nach Jus­tin, Mar­cio und Ta­ti­an be­nann­ten Evan­ge­li­en. Die bei­den ers­ten sind dar­um be­son­ders wich­tig, weil sie, in ara­mäi­scher Mund­art, gleich den Lo­gia des Mat­thä­us, eine Abart die­ses Evan­ge­li­ums ge­we­sen sein moch­te; weil es fer­ner das Evan­ge­li­um der Ebio­ni­en war, der klei­nen Chris­ten­ge­mein­de zu Ba­ta­nea, die das Sy­risch-chal­däi­sche bei­be­hiel­ten und wo sich auch die Fa­mi­lie Jesu fort­ge­pflanzt ha­ben dürf­te. Es kann je­doch nicht ge­leug­net wer­den, dass die­ses Evan­ge­li­um in sei­nem uns über­lie­fer­ten Zu­stan­de einen viel ge­rin­ge­ren Wert als das von Mat­thä­us für die Kri­tik der Re­dak­ti­on des Evan­ge­li­ums hat.

Man dürf­te mich jetzt wohl ver­ste­hen, wel­chen his­to­ri­schen Wert ich den Evan­ge­li­en zu­spre­che. Sie sind nicht Le­bens­be­schrei­bun­gen nach der Art des Sue­ton, nicht er­dich­te­te Le­gen­den nach der Art des Phi­lo­stra­tus – sie sind le­gen­den­haf­te Le­bens­be­schrei­bun­gen. Ich möch­te sie mit den Hei­li­gen­le­gen­den von Plo­tin, Proclus, Isi­do­rus und an­de­ren der­ar­ti­gen Schrif­ten ver­glei­chen, wo his­to­ri­sche Wahr­heit und die Ab­sicht, Tu­gend­mus­ter dar­zu­stel­len, ver­schie­den ver­wo­ben sind. Die Un­ge­nau­ig­keit, ein cha­rak­te­ris­ti­sches Zei­chen al­ler Volks­schrif­ten, macht sich da­bei be­son­ders merk­bar. Neh­men wir an, dass etwa in der Mit­te un­se­res Jahr­hun­derts drei oder vier alte Sol­da­ten des Kai­ser­reichs, je­der für sich, aus ih­rer Erin­ne­rung eine Le­bens­schil­de­rung Na­po­le­ons ge­schrie­ben hät­ten. Si­cher­lich hät­ten ihre Dar­stel­lun­gen vie­le Irr­tü­mer, be­deu­ten­de Wi­der­sprü­che auf­zu­wei­sen. Der eine hät­te viel­leicht Wa­gram vor Ma­ren­go an­ge­setzt, der an­de­re hät­te etwa ganz ru­hig be­merkt, Na­po­le­on habe die Re­gie­rung Ro­be­spi­er­res aus den Tui­le­ri­en ge­jagt; der drit­te könn­te wich­ti­ge Ex­pe­di­tio­nen fort­ge­las­sen ha­ben. Aber ei­nes wür­de si­cher­lich doch in be­deu­ten­der Wei­se aus die­sen schlich­ten Dar­stel­lun­gen sich er­ge­ben: der Cha­rak­ter des Hel­den, der Ein­druck, den er auf sei­ne Um­ge­bung aus­üb­te. Und in die­sem Sin­ne hät­ten der­ar­ti­ge volks­tüm­li­che Dar­stel­lun­gen einen hö­he­ren Wert als eine pom­pö­se amt­li­che Schil­de­rung. Das­sel­be lässt sich auch von den Evan­ge­li­en be­haup­ten. Ein­zig nur be­dacht, die Vor­zü­ge des Meis­ters zu schil­dern, sei­ne Wun­der­ta­ten, sei­ne Leh­re deut­lich dar­zu­stel­len, be­kun­de­ten die Evan­ge­lis­ten eine Gleich­gül­tig­keit ge­gen al­les was nicht der Geist Jesu selbst war. Wi­der­sprü­che von Zeit, Ort und Per­so­nen gal­ten für un­be­deu­tend. Denn so be­geis­ternd auch das Wort Jesu wirk­te – so moch­te man doch nicht die­se Wir­kung auch bei den Tex­t­ord­nern an­neh­men. Die­se gal­ten nur als Schrei­ber, die nur ei­nes nicht au­ßer acht las­sen durf­ten: nichts von dem was sie wuss­ten fort­zu­las­sen.

Si­cher­lich muss­te sich mit sol­chen Erin­ne­run­gen man­che vor­ge­fass­te Mei­nung ver­men­gen. Ei­ni­ges wie­der, be­son­ders bei Lu­kas, scheint er­fun­den wor­den zu sein um ge­wis­se Züge Jesu deut­li­cher her­vor­tre­ten zu las­sen. Denn sei­ne Phy­sio­gno­mie wur­de mit je­dem Tage ver­än­dert. Je­sus wäre eine in der Ge­schich­te ein­zig da­ste­hen­de Er­schei­nung, wenn er bei der von ihm ge­spiel­ten Rol­le nicht rasch um­ge­stal­tet wor­den wäre. Die Alex­an­der­sa­ge be­gann noch be­vor das Ge­schlecht sei­ner Waf­fen­ge­nos­sen da­hin­ge­gan­gen war. Die Le­gen­de von Franz von As­si­si be­gann be­reits zu des­sen Leb­zei­ten. In den ers­ten 20–30 Jah­ren nach Jesu Tod trat von selbst rasch eine Um­wand­lung ein, die sei­ne Bio­gra­fie völ­lig zur idea­len Le­gen­de ge­stal­te­te. Der Tod mach­te den voll­kom­mens­ten der Men­schen ganz voll­kom­men, feh­ler­los für die, die ihn ge­liebt hat­ten. Auch woll­te man mit der Schil­de­rung des Meis­ters die­sen uns dar­stel­len. Vie­le An­ek­do­ten wur­den er­fun­den um zu be­wei­sen, dass in ihm die mes­sia­ni­sche Pro­phe­zei­ung sich er­füllt habe. Doch die­ses Ver­fah­ren, des­sen Be­deu­tung nicht ge­leug­net wer­den kann, er­klärt noch nicht al­les. Kein jü­di­sches Werk je­ner Zeit be­zeich­net ge­nau die Pro­phe­zei­un­gen, die durch die An­kunft des Mes­si­as in Er­fül­lung ge­hen soll­ten. Man­che der von den Evan­ge­lis­ten be­merk­ten mes­sia­ni­schen An­spie­lun­gen sind so fein, so ver­bor­gen, dass man nicht an­neh­men kann, dies al­les habe ei­ner all­ge­mein an­er­kann­ten An­nah­me ent­spro­chen. Bald auch fol­ger­te man: der Mes­si­as soll dies oder das voll­brin­gen, folg­lich muss Je­sus, der der Mes­si­as ist, dies oder das voll­bracht ha­ben; bald wie­der: dies oder das ist Jesu ge­sche­hen, folg­lich muss, da Je­sus der Mes­si­as ist, die­sem dies oder das ge­sche­hen. Die ganz schlich­ten Er­klä­run­gen sind stets un­rich­tig, gilt es den Zu­sam­men­hang die­ser tie­fen Schöp­fun­gen des Volks­ge­füh­les zu ana­ly­sie­ren, die mit ih­rer Fül­le und Man­nig­fal­tig­keit alle Sys­te­me auf­he­ben.

Es braucht kaum noch be­merkt zu wer­den, dass man sich nur auf die all­ge­mei­nen Um­ris­se be­schrän­ken müss­te, woll­te man bei sol­chen Schrift­stücken nur das un­be­streit­ba­re Wah­re ge­ben. Fast bei al­len al­ten His­to­ri­en, selbst bei je­nen, die viel we­ni­ger le­gen­den­haft sind als die­se, ge­ben Ein­zel­hei­ten zu man­chem Zwei­fel An­lass. Zwei Er­zäh­lun­gen über ein und die­sel­be Tat­sa­che stim­men sel­ten völ­lig über­ein. Ist da­her nicht ein Grund zu Zwei­feln ge­ge­ben, wenn nur eine ein­zi­ge vor­han­den ist? Man kann sa­gen, dass von den von den His­to­ri­kern ver­zeich­ne­ten An­ek­do­ten, Re­den und be­rühm­ten Wor­ten streng ge­nom­men nicht ein ein­zi­ges ganz au­then­tisch ist. Wa­ren Ste­no­gra­fen da, um die flüch­ti­gen Wor­te zu fas­sen? War stets ein An­na­len­schrei­ber da, um Mie­ne, Gang, Ge­fühls­aus­druck der han­deln­den Per­son zu ver­zeich­nen? Man ver­su­che doch über die Art und Wei­se, wie die­ses oder je­nes Er­eig­nis un­se­rer Zeit ge­sche­hen ist, Ge­nau­ig­keit zu er­lan­gen und es wird ver­geb­lich sein. Zwei Er­zäh­lun­gen ein und der­sel­ben Tat­sa­che von zwei Au­gen­zeu­gen dar­ge­stellt, wer­den er­heb­lich von­ein­an­der ab­wei­chen. Soll man aber des­halb die gan­ze Dar­stel­lung ver­wer­fen und nur die nack­te Tat­sa­che als gül­tig hin­neh­men? Da­mit wäre die Ge­schich­te ver­nich­tet. Ich bin über­zeugt, dass, man­che kur­ze, ge­wis­ser­ma­ßen aus­wen­dig ge­lern­te Auss­prü­che aus­ge­nom­men, kei­ne ein­zi­ge der von Mat­thä­us wie­der­ge­ge­be­nen Re­den ge­nau sind, denn wir ha­ben hier kei­ne ste­no­gra­fi­schen Pro­to­kol­le vor uns. Ich will je­doch zu­ge­ben, dass die be­wun­derns­wer­te Er­zäh­lung des Lei­dens eine Fül­le Wahr­schein­lich­keit ent­hält. In­des, wür­de man die Le­bens­ge­schich­te Jesu dar­stel­len, wenn man die­se Pre­dig­ten, die uns die Phy­sio­gno­mie sei­ner Rede so leb­haft bie­ten, au­ßer acht lie­ße und sich dar­auf be­schrän­ken woll­te, mit Jo­se­phus und Ta­ci­tus zu sa­gen, er sei auf Pila­tus’ Be­fehl zu­fol­ge Drän­gens der Pries­ter ge­tö­tet wor­den? Das wäre eine Un­ge­nau­ig­keit, är­ger als jene die ent­stän­de, wenn man die über­lie­fer­ten Ein­zel­hei­ten als voll­gül­tig hin­näh­me. Die­se sind nicht buch­stäb­lich wahr, aber sie sind wahr im hö­he­ren Sin­ne, sie sind wah­rer als die nack­te Wahr­heit, weil sie die aus­drucks­vol­le, deut­li­che, zur Höhe ei­nes Ge­dan­kens er­ho­be­ne Wahr­heit sind. Jene, die da fin­den mö­gen, ich hät­te die­sen zu­meist le­gen­den­haf­ten Er­zäh­lun­gen zu viel Be­deu­tung zu­ge­mes­sen, er­su­che ich, die­se mei­ne Be­mer­kung in Be­tracht zu zie­hen. Was blie­be uns von der Le­bens­schil­de­rung Alex­an­ders noch üb­rig, wenn man sich da­bei nur auf das be­schrän­ken woll­te, was un­an­fecht­bar si­cher­ge­stellt ist? Selbst die teil­wei­se ir­ri­ge Tra­di­ti­on ent­hält Wahr­heit, die die Ge­schich­te nicht un­be­ach­tet las­sen darf.

Was wie­der jene be­trifft, die da mei­nen, Auf­ga­be der Ge­schicht­schrei­bung sei es, die über­lie­fer­ten Ur­kun­den ohne Deu­tung wie­der­zu­ge­ben, so er­su­che ich sie, zu be­den­ken, dass sol­ches hier­bei nicht mög­lich ist. Die vier haupt­säch­lichs­ten Ur­kun­den sind in deut­li­chem Wi­der­spruch mit­ein­an­der. Sie wer­den zu­wei­len von Jo­se­phus be­rich­tigt. Hier gilt es zu wäh­len. Mit der Be­haup­tung, dass ein Er­eig­nis nicht gleich­zei­tig in zwei­er­lei Ar­ten ge­sche­hen kön­ne, und dass es nicht in ei­ner un­mög­li­chen Wei­se ge­sche­hen kön­ne, wird der Ge­schich­te noch kei­ne Phi­lo­so­phie a prio­ri vor­ge­schrie­ben. Aus dem Um­stan­de, dass ver­schie­de­ne Ver­sio­nen ei­nes Er­eig­nis­ses vor­han­den sind, dass sie von der Leicht­gläu­big­keit mit fa­bel­haf­ten nä­he­ren Um­stän­den ver­mischt wur­den, darf der His­to­ri­ker noch nicht an­neh­men, dass das Er­eig­nis selbst Fa­bel sei. Er muss aber in sol­chen Fäl­len sehr vor­sich­tig sein, die Tex­te prü­fen und in­duk­tiv vor­ge­hen. Be­son­ders eine Art von Er­zäh­lun­gen macht die An­wen­dung die­ses Prin­zips nö­tig, die Er­zäh­lung von über­na­tür­li­chen Din­gen näm­lich. Die­se Er­zäh­lun­gen er­klä­ren oder als Le­gen­den hin­stel­len ist kei­ne Ver­stüm­me­lung von Tat­sa­chen im Na­men der Theo­rie, es ist viel­mehr ein Aus­ge­hen von der Beo­b­ach­tung der Tat­sa­chen. Von al­len Wun­dern, de­ren die alte Ge­schich­te voll ist, hat sich kein ein­zi­ges un­ter wis­sen­schaft­li­chen Be­din­gun­gen er­eig­net. Die un­wi­der­leg­te Beo­b­ach­tung lehrt uns, dass Wun­der nur dort und dann sich er­eig­net ha­ben, wo an sie ge­glaubt wur­de. Vor Män­nern, die fä­hig ge­we­sen wä­ren, die wun­der­haf­te Art ei­nes Er­eig­nis­ses fest­zu­stel­len, hat sich noch kein Wun­der er­eig­net. We­der die große Men­ge noch die so­ge­nann­ten »Welt­leu­te« sind da­für kom­pe­tent, denn es be­darf be­deu­ten­der Vor­sichts­maß­re­geln und eine lan­ge Übung in wis­sen­schaft­li­cher Un­ter­su­chung. Ge­schieht es doch in un­se­ren Ta­gen oft ge­nug, dass sich die Welt­leu­te durch plum­pes Gau­kel­spiel oder kin­di­sche Täu­schung ver­füh­ren las­sen. Wun­de­rer­eig­nis­se, die von gan­zen Ort­schaf­ten be­zeugt wur­den, sind, dank ei­ner stren­gen Un­ter­su­chung, Ge­gen­stand ge­richt­li­cher An­kla­ge ge­wor­den. Und wenn nun er­wie­sen wird, dass kein Wun­der der Ge­gen­wart eine kri­ti­sche Un­ter­su­chung aus­hält – ist es nicht auch wahr­schein­lich, dass die vor dem Vol­ke dar­ge­stell­ten Wun­der der Ver­gan­gen­heit eben­so als trü­ge­risch sich er­wei­sen wür­den, wenn es uns mög­lich wäre, sie nä­her zu prü­fen?

Also nicht im Na­men die­ser oder je­ner Wis­sen­schaft, son­dern im Na­men der ewi­gen Er­fah­rung ver­ban­nen wir die Wun­der aus der Ge­schich­te. Wir sa­gen nicht: »Wun­der sind un­mög­lich,« son­dern: »bis jetzt ist kein Wun­der kon­sta­tiert wor­den.« An­ge­nom­men, es er­schie­ne heut­zu­tag ein Wun­der­tä­ter, mit Ga­ran­ti­en, die ernst ge­nug wä­ren, um eine nä­he­re Prü­fung zu ver­an­las­sen, und er wür­de sa­gen, er kön­ne Tote er­we­cken – was wür­de man da tun? Man wür­de eine Kom­mis­si­on ein­set­zen, be­ste­hend aus Phy­sio­lo­gen, Phy­si­kern, Che­mi­kern und His­to­ri­kern. Die­se Kom­mis­si­on wür­de den Leich­nam aus­wüh­len, fest­stel­len ob der Tod wirk­lich ein­ge­tre­ten sei, wür­de den Ort an­ge­ben, wo das Ex­pe­ri­ment statt­fin­den soll­te, wür­de alle nö­ti­gen Vor­sichts­maß­re­geln tref­fen, um je­den Zwei­fel zu be­sei­ti­gen. Eine Be­le­bung un­ter sol­chen Um­stän­den hät­te eine Wahr­schein­lich­keit für sich, die der Ge­wiss­heit gleich­käme. Und da ein Ex­pe­ri­ment wie­der­holt wer­den kön­nen muss, da man noch ein­mal muss ma­chen kön­nen, was ein­mal schon ge­macht wur­de, zu­mal bei ei­nem Wun­der von leicht oder schwer Her­vor­zu­brin­gen nicht die Rede sein kann, so wür­de der Wun­der­tä­ter auf­ge­for­dert wer­den, sei­ne Ta­ten un­ter an­de­ren Um­stän­den, an ei­nem an­de­ren Ort und ei­nem an­de­ren Leich­nam zu wie­der­ho­len. Ge­län­ge auch dies, so wäre zwei­er­lei be­wie­sen: ers­tens, dass über­na­tür­li­che Din­ge in der Welt sich er­eig­nen, zwei­tens, dass ge­wis­sen Per­so­nen die Macht ge­ge­ben ist, die­se über­na­tür­li­chen Din­ge her­vor­zu­ru­fen. Nun weiß aber je­der­mann, dass bis­her un­ter sol­chen Um­stän­den noch nie ein Wun­der ge­sche­hen ist, dass die Wun­der­tä­ter bis­her ihr Ex­pe­ri­men­tier­ob­jekt, Ort und Pub­li­kum, selbst ge­wählt ha­ben, dass fer­ner zu­meist das Volk selbst es ist, das in sei­nem un­über­wind­li­chen Be­dürf­nis, in großen Ta­ten und großen Män­nern et­was Über­na­tür­li­ches zu set­zen, nach­träg­lich die Wun­der­mär­chen sich schafft.

Hier möge also bis auf wei­te­res der Grund­satz his­to­ri­scher Kri­tik gel­ten: dass eine Er­zäh­lung von Über­na­tür­li­chem als sol­ches nicht an­er­kannt wer­de, da sie stets auf Leicht­gläu­big­keit oder Be­trug sich grün­det, dass es Pf­licht des His­to­ri­kers ist, nach­zu­for­schen, was an Wahr­heit und was an Irr­tum da­bei zu fin­den sei.