Das Leben kann so leicht sein - Manfred Lütz - E-Book

Das Leben kann so leicht sein E-Book

Manfred Lütz

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Beschreibung

"Manfred Lütz ist ein Seelenkenner vor dem Herrn. Befreiend ist sein Blick auf die verrückte Welt, seine Diagnosen zum Gesundheitswahn sind humorvoll, originell und tiefgründig zugleich. Er hat mich sehr inspiriert! Mögen sich noch viele Menschen mit diesem Buch gesund lachen!" Dr. Eckart v. Hirschhausen Lebenslust statt Leidensfrust Wer heute glücklich und gesund sein will, nimmt einiges auf sich. Man isst kalorien- und cholesterinbewusst, quält sich im Fitness-Studio oder geht zum Psychotherapeuten. Glück und Gesundheit sind zur Ersatzreligion geworden, zum Heil, das es uneingeschränkt im Diesseits zu erreichen gilt. Manfred Lütz deckt die Vergeblichkeit dieses Strebens auf. Pointiert, humorvoll und bisweilen ketzerisch geht er ins Gericht mit Gesundheitsaposteln und Fitnesspäpsten, Talkshowtherapeuten und Hobbyanalytikern. Der vollkommenen Utopie stellt Lütz ein realistisches und umso befriedigenderes Motto gegenüber: Gesund ist, wer mit seinen Einschränkungen einigermaßen glücklich leben kann. Lütz lenkt den Blick auf die Wegbereiter für Lebenslust: Vertrauen und Liebe, Spiritualität und Sinnlichkeit, die Erfahrung von Schönheit und Muße. Das Buch zielt auf eine Haltung der gelassenen Zustimmung zur Welt, eine "Lebenskunst", die auch unter widrigen Umständen die Lust am Leben erhält. Der Autor: Manfred Lütz, Dr. med., Dipl.-Theol., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenarzt und Theologe, Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses in Köln. Dozententätigkeit an mehreren Akademien und Instituten. Bekannt durch viele Interviews in Zeitschriften, Magazinen und in Talkshows.

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Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Manfred Lütz

Das Leben kann so leicht sein Lustvollgenießen statt zwanghaftgesund

Fünfte Auflage, 2025

Reihe »Fachbücher für jede:n«

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Redaktion: Barbara Imgrund

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Fünfte Auflage, 2025

ISBN 978-8497-8537-6 (ePub)

© 2007, 2025 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

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Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorbemerkung

Eine Gebrauchsanweisung

Lustfeindlicher Gesundheitswahn: Auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot

Eine neue Religion

Gesund in den Himmel

Normal ist … leichter Schwachsinn

Wer früher stirbt, lebt länger ewig

Von der katholischen Prozessionstradition zur Chefarztvisite

Gesundheitspolitik und Wege zum unglücklichen Leben

Wie man sich am Zahnersatz festbeißt

Staatlich geförderte Korruption

Vorbeugend leben, um gesund zu sterben

Eine Religion frisst ihre Kinder

Der Fundamentalismus der Gesundheitsreligion: »Mein Mann stirbt übrigens nächsten Mittwoch …«

Die Galle von Zimmer 5 ist auf der Flucht

Halbgötter in der Sackgasse

Unvermeidlich glücklich werden

Lösungen an den Grenzen der Existenz

Die Lust zu altern und die Kunst zu sterben

Der Sturz der Götter und die Weisheit

Lebenslust und Psychofrust

Ungebremst in die Sackgasse

Bischofsringe und Exkommunikationen

Ein großer Auftritt

Das Ende einer Illusion

Lukrative Utopien

Sie lächeln so, was verdrängen Sie?

Warum wir Zuwanderung brauchen

Menschenopfer

Vorschriftsgemäß leben

Professionell verzweifeln

Gekonnt sterben

Über Risiken und Nebenwirkungen der Psychotherapie

Existenzielle Zuhälterei

Der psychische Apparat und die Gretchenfrage

Psychotherapie oder Seelsorge

Lust am Leben und die Quellen des Glücks

Das Geheimnis der Zeit

Nieder mit der Freizeit!

Loriot und der Lobpreis des Nichts

Feste feiern

Die Unwiederholbarkeit jedes Moments

Zwei alte Männer und die Ewigkeit

»Warum liebst du mich eigentlich?«

»Wenn das die himmlische Liebe ist, dann kenne ich sie auch!«

Die Sinnlichkeit der Ewigkeit

Wer hat Lust zu leben?

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Das Staunen, die Wahrheit und das Glück

Nachbemerkung

Über den Autor

Vorbemerkung

In diesem Buch wurde aus Gründen der Lesbarkeit stets die männliche Sprachform gewählt, wofür ich alle Leserinnen um Verständnis bitte. Der Paartherapeut Jürg Willi konstruierte den Satz: »Wenn man/frau mit seiner/ihrer Partner/in zusammenleben will, so wird er/sie zu ihr/ihm in ihre/seine oder sie/er in seine/ihre Wohnung ziehen«, um deutlich zu machen, dass eine befriedigende Lösung dieses Sprachproblems nicht möglich ist: »Ich ziehe die einfache Sprache der zwar korrekten, aber unübersichtlicheren vor.« Diese Auffassung teile ich.

Eine Gebrauchsanweisung

Als ich im Jahre 2002 mein Buch Lebenslust – wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult veröffentlichte, konnte ich nicht ahnen, welche Folgen das haben sollte. Nicht nur, dass das Buch ein Bestseller wurde – was entschieden gegen den Eindruck spricht, die Deutschen würden verblöden. Man lud mich landauf, landab ein, meine Thesen darzulegen, da meine Position zwar kaum Widerspruch findet, sich aber dennoch offensichtlich kaum jemand traut, sie öffentlich zu vertreten. Daraus entwickelte sich ein Vortrag, der zusätzliche Aspekte aufgriff. Auch in weiteren kürzeren Publikationen konnte ich das Thema vertiefen. Als mich Fritz Simon drängte, beim Carl-Auer Verlag in der Reihe LebensLust eine Einführung in dieselbe zu veröffentlichen, kam mir der Gedanke, diese weiterentwickelten Thesen, verbunden mit einer etwas ausführlicheren Darstellung der psychotherapeutischen Implikationen, vorzulegen.

So befasst sich der erste Teil mit der hemmungslos grassierenden Gesundheitsreligion, vor allem mit der alles beherrschenden Sorge um die körperliche Gesundheit, das heißt mit dem Kampf gegen den Tod und für das ewige Leben. Der zweite Teil behandelt die unbändige Sehnsucht nach ewiger Glückseligkeit – durch Psychotherapie, versteht sich. Und der dritte Teil schließlich zeigt einige vielleicht ungewöhnliche Wege zur Lebenslust auf.

Dem muss ich aber einige Warnhinweise vorausschicken, insbesondere für Westfalen. Ich bin Rheinländer und muss in letzter Zeit häufiger Vorträge in Westfalen halten. Das ist für uns Rheinländer immer der Ernstfall. Dort muss man nämlich sagen: »Hier beginnt ein Scherz« und »Hier ist er zu Ende«, damit der Überblick nicht verloren geht. Bei eher internationalem Publikum können Westfalen sich immer beim Nachbarn erkundigen, ob es ein Scherz war, das spart Zeit. Doch bei der Lektüre eines Buches fehlt jede entsprechende Hilfe. Ich denke hier vor allem an Ostwestfalen. Westfalen ist – wie gesagt – für uns Rheinländer schon ein Problem. Aber Ostwestfalen! Da weiß man ja überhaupt nicht, wo man hinfahren soll. Ein veritables Double-Bind. Da der Verlag sich außerstande sah, gesonderte Markierungen – Achtung, Humor! – einzufügen, weise ich bereits hier für alle Fälle darauf hin, dass Westfalen dieses Buch auf eigene Gefahr lesen. Sie sind gewarnt.

Im Übrigen muss auch humorlosen Fitnessstudiobesitzern, -besuchern und -bewunderern von der Lektüre dieses Buches dringend abgeraten werden. Sie werden andernfalls sehr traurig werden.

Lustfeindlicher Gesundheitswahn: Auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot

Vor einigen Jahren habe ich gemeinsam mit Josef Sudbrack ein Seminar gehalten. Josef Sudbrack ist ein bekannter Mystik- und Spiritualitätsexperte und kennt sich auch mit jenen esoterischen Plastikreligionen aus, bei denen ein Funke östlicher Weisheit mit einer Fülle von westlichem Schwachsinn verschweißt und markttauglich angeboten wird. Er sprach über Geistheiler, über Irisdiagnostik und Ähnliches – Sie wissen schon: Man blickt jemandem tief in die Augen, und dann gehen die Warzen weg, das Herz verdreht sich, die Lunge sackt ab, die Leber verschwindet. Das, wofür wir Ärzte früher einmal zuständig waren, machen selbst bei uns in der Eifel inzwischen Geistheiler und ähnliche Gestalten. Ich hatte bei diesem Seminar der Frage nachzugehen, ob nicht auch im scheinbar seriösen Bereich von Medizin und Psychotherapie, beim ganz normalen Hausarzt und beim Psychotherapeuten die Menschen inzwischen mehr suchen als Heilung (das wäre ja in Ordnung, dafür sind wir ja da) – ob sie also nicht auch bei uns inzwischen so etwas wie das Heil suchen.

Eine neue Religion

Je mehr ich dieser Frage nachging, umso spannender fand ich sie. Mir fiel auf, dass die Säkularisation inzwischen auch die Heilswünsche der Menschen erfasst hat. Während man bei uns im katholischen Rheinland noch vor 50 Jahren bei gesundheitlicher Not zunächst einmal bei einem der 14 Nothelfer oder beim heiligen Antonius, dem Fachheiligen für Allgemeinmedizin, ein Kerzchen anzündete, erwartet man heute auch hier das Heil von der Magnetresonanztomographie, einer Computertomographie oder einer Therapie, die möglichst in Amerika erfunden wurde. Oder – noch besser – von einer Therapie, die vor Jahrtausenden in China erfunden, mündlich tradiert, über den Himalaja nach Indien vermittelt, dort auf Pergamentpapier aufgezeichnet und in einer Höhle versteckt wurde, wo sie ein amerikanischer Jesuit fand und nach Harvard brachte, um sie dort auf ihre Wirksamkeit hin untersuchen zu lassen – und alles nur, damit sie anschließend in der Hohen Straße zu Köln feilgeboten werden kann.

Wenn Sie einmal einen Bestseller schreiben wollen: Ungefähr in diese Richtung müsste es gehen. Dietrich Grönemeyer hat das übrigens getan. Mensch bleiben hieß dieser Bestseller, das unsinnigste Buch, das ich je in meinem Leben gelesen habe. Dort legt Herr Grönemeyer unter anderem die unerhörte Auffassung dar, der Arzt solle doch tatsächlich mit seinem Patienten reden – ein geistiger Höhepunkt des Buches, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Man sollte dieses Buch nur in der Fastenzeit lesen.

Gesund in den Himmel

Und so ist auch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, vom ewigen Leben und von der ewigen Glückseligkeit, restlos säkularisiert. Die letzten Dinge erwartet man nicht mehr in irgendeinem Jenseits, sondern hier und jetzt. Apocalypse now! Für das ewige Leben quantitativ ist die Medizin zuständig. Bei Nichterfüllung – Klage! »Der Großvater ist mit 90 Jahren ins Krankenhaus eingeliefert worden und dort gestorben. Da muss doch etwas schiefgegangen sein!« Nun, es geht sogar manchmal etwas schief, aber manche Menschen sterben auch ganz einfach mit 90.

Die ewige Glückseligkeit qualitativ erwartet man natürlich von der Psychotherapie. Bei Nichterfüllung – ebenso Klage! An dieser Stelle klagt normalerweise der christliche Theologe: »Das liegt nur daran, dass die Leute nicht mehr in die Kirche gehen. Wenn sie das wieder tun und beten würden, würden sie nicht einen solchen Quatsch glauben!« Aber das scheint mir eine Fehldiagnose zu sein, denn die Gesundheitsreligion, von der ich hier spreche, hat nach meiner Beobachtung inzwischen konfessionsübergreifend auch die christlichen Kirchen erfasst. Bei uns im katholischen Rheinland gibt es inzwischen Heilfasten in der Fastenzeit, man stelle sich das vor! Und der Pfarrer ist auch noch stolz darauf, denn die Quote stimmt. Er sagt zu seinen Kollegen: »Man muss nur auf die Menschen von heute zugehen, und schon kommen sie.« Aber wenn man das genauer analysiert – was heißt das eigentlich? Früher fastete man, um zu verzichten und dadurch irgendwann in den Himmel zu kommen. Heute fastet man, um möglichst spät und möglichst gesund in den Himmel zu kommen, was natürlich ein völlig anderer Ansatz ist.

Ich hatte mein erstes Lebenslust-Buch zum Teil am Tegernsee geschrieben. Dort konnte ich fast täglich ein Zitat aus dem Lokalteil der örtlichen Zeitung für das Buch verwenden. Es wurde z. B. vom Diakonischen Werk Tegernseer Tal der Vortrag einer Heilpraktikerin angekündigt, und zwar unter dem Titel: »Eine Reise durch unser Verdauungssystem – mit farbigen Bildern. Seniorennachmittag bei Kaffee und Kuchen.« Das Katholische Bildungswerk Tegernseer Tal steuerte in derselben Woche den Vortrag eines Heilpraktikers mit dem folgenden, gut heidnischen Titel bei: »Unsere Ernährung – unser Schicksal!« Da lobe ich mir den alten Marxismus: Der Mensch ist, was er isst. Das ist wenigstens völlig klar. Die Gesundheitsreligion hat inzwischen also auch die christlichen Kirchen erfasst. Keine Geburtstagsfeier über 60, bei der nicht in mindestens einer Festrede der Satz vorkommt: »Und das höchste Gut ist doch die Gesundheit!« Allgemeiner Beifall, auch vom Herrn Pfarrer.

Doch leider ist eine solche Behauptung kompletter Unsinn. Niemals ist in der gesamten philosophischen Tradition des Abend- und des Morgenlandes irgendjemand auf die absurde Idee verfallen, in einem so zerbrechlichen Zustand wie der Gesundheit der Güter Höchstes zu sehen. Bei Immanuel Kant ist das höchste Gut die Einheit von Heiligkeit und Glückseligkeit oder Gott. Doch heute herrscht die Gesundheit majestätisch als höchstes Gut. Damit hängt auch zusammen, dass wir inzwischen eine Therapeuten- und Medizinerschwemme einerseits und einen Priester- und Pastorenmangel andererseits haben. Denn Berufe, die es mit dem Heil des Menschen zu tun haben, waren immer schon außerordentlich attraktiv. Das Heil erwartete man früher vom Priester, doch der ist heute nur noch für die Entsorgung am Schluss zuständig. Heute sucht man das Heil beim Arzt und beim Psychotherapeuten (bei Nichterfüllung Klage, versteht sich). Auch die zölibatäre Lebensform ist inzwischen offensichtlich in diesen Bereich übergegangen. Bei der Verabschiedung eines Chefarztkollegen, der sich für seine Patienten aufgeopfert hatte, hörte ich die maliziöse Bemerkung: »Eine Arztfrau ist eine Witwe, deren Mann noch nicht gestorben ist.« Und Odo Marquard, das Enfant terrible der Philosophie in Deutschland, stellte zu diesem Thema fest, es herrsche heute »die ideologische Naherwartung der heilen Diesseitswelt: der mentale Teddybär des modern verkindlichten Erwachsenen«.

Im Zusammenhang mit den Recherchen zu meinem Buch rief ich beim deutschen Fitnessstudio-Verband an. Man teilte mir mit, dass die Zahl der Fitnessstudiomitglieder in Deutschland von etwa 100.000 im Jahr 1980 auf 4,59 Millionen im Jahr 2000 hochgeschnellt sei, während mich die Deutsche Bischofskonferenz wissen ließ, dass im gleichen Jahr die Zahl der katholischen Sonntagsgottesdienstbesucher auf 4,42 Millionen zurückgegangen sei. Das heißt, dass das Jahr 2000 ein Wendejahr war. Die Gesundheitsreligion hat bei uns zumindest die katholische Variante des Christentums überholt, wobei es natürlich große Schnittmengen gibt: Pfarrer im Fitnessstudio und so weiter …

Normal ist … leichter Schwachsinn

Das Interessante ist nun, dass alle Welt von Gesundheit spricht, aber keiner genau weiß, was das eigentlich ist. Was Krankheiten sind, wissen wir einigermaßen – man vergleiche nur das internationale Klassifikationssystem der entsprechenden Störungen.

Was aber ist eigentlich Gesundheit? Der Rheinländer würde sagen: »Gesund ist einfach irgendwie normal.« Bekanntlich hat der Rheinländer einen sehr großzügigen Normalitätsbegriff. Doch so etwas ist in anderen Regionen nicht vermittelbar. So könnte man auf die Idee kommen, gesund sei der statistische Durchschnitt. Doch auch mit dem statistischen Durchschnitt ist das so eine Sache: Ein berühmter deutscher Psychiater hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen denkwürdigen Vortrag gehalten zu der Frage, was eigentlich normale Intelligenz sei. Und nach einem hochwissenschaftlichen Vortrag kam er zu dem berühmt gewordenen Ergebnis: Normal ist – leichter Schwachsinn. Statistisch stimmt das auch, wenn wir einmal davon ausgehen, dass es viele Minderbegabte gibt und dagegen nur vergleichsweise wenige Genies (wie die Leser dieses Buches): Dann nämlich ist in der Tat der statistische Durchschnitt leichter Schwachsinn. Dennoch ist auch diese Definition nicht wirklich befriedigend.

Rudolf Gross, ein bekannter deutscher Internist, ließ eine interessante Überlegung in die Diskussion einfließen. Die Praxis zeige, dass die Zahl der krankhaften Werte mit der Zahl der Untersuchungen zusammenhänge. Führt man bei jedem Menschen fünf Untersuchungen durch, so sind vielleicht noch mehr als 95 Prozent der Probanden gesund. Nach 20 Untersuchungen sind es noch 36 Prozent, und nach 100 Untersuchungen ist mutmaßlich jeder Mensch krank. Daraus folgt: Gesund ist eine Person, die nicht ausreichend untersucht wurde.

Schon Karl Kraus hatte übrigens festgestellt: »Die häufigste Krankheit ist die Diagnose.« Und Aldous Huxley sagte: »Die Medizin ist so weit fortgeschritten, dass niemand mehr gesund ist.« Wenden wir uns also an die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die für diese Fragen eigentlich zuständig ist und vor einigen Jahrzehnten definierte: »Gesundheit ist völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden.« Geht man davon aus, dass wir uns sozial wohl befinden, wenn wir eine Million Euro auf dem Konto haben, und andererseits hoffen, dass alle Millionäre psychische Probleme haben, ist nach dieser Definition niemand wirklich gesund. In meiner Not wandte ich mich daher an einen alten Hausarzt aus der Eifel. Wer, wenn nicht er, musste es wissen! Gesund, so antwortete mir der erfahrene Kollege, sei ein Mensch, der mit seinen Krankheiten einigermaßen glücklich leben könne.

Das ist es! Ich halte dieses Diktum ganz ernsthaft für den einzig realistischen Gesundheitsbegriff. Oder um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen: »Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.« Das ist auch sehr viel näher an der alten hippokratischen Tradition der Medizin. Für Hippokrates gab es nicht Krankheit oder Gesundheit, sondern nur den individuell leidenden, kranken Menschen. Schon nach Aristoteles hat jede Diagnose ausschließlich den Zweck der Therapie für leidende Menschen. Eine Diagnose ist kein Wert an sich. Das muss man manchmal gerade den Psychotherapeuten ein wenig in Erinnerung rufen, wenn sie Diagnosen auch auf Leute anwenden, die bei ihnen gar nicht den Krankenschein abgegeben haben – insbesondere auf Kollegen.

Hans-Georg Gadamer, der Nestor der deutschen Philosophie, wurde 102 Jahre alt, und wer das schafft, muss besonders gesund gewesen sein. Im hohen Alter hat Gadamer noch ein sehr lesenswertes Büchlein mit dem Titel Über die Verborgenheit der Gesundheit publiziert. Darin weist er darauf hin, dass für die Griechen Gesundheit ein Geheimnis war, ein Göttergeschenk, das durch Krankheiten gestört werden konnte. Diese Störungen zu beseitigen war die Aufgabe der Ärzte – auf dass sie dann wieder wirken könne, jene geheimnisvolle Kraft der Gesundheit, für die man den Göttern nur danken konnte.

Wer früher stirbt, lebt länger ewig

Aber das ist weit entfernt vom derzeitigen Gesundheitsbegriff. Gesundheit gilt heutzutage – wie alles in unserer Gesellschaft – als herstellbares Produkt. Man muss etwas tun für die Gesundheit! Von nichts kommt nichts! Und wer stirbt, ist selbst schuld! So rennen die Leute durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres – und sterben dann doch. Die Kombination zwischen einem unerreichbaren utopischen Gesundheitsbegriff und seiner gleichzeitigen religiösen Aufladung ist im Übrigen ökonomisch höchst attraktiv. Denn ein erreichbares Ziel kurbelt die Wirtschaft nicht dauerhaft an – erst ein unerreichbares, aber mit aller Inbrunst ersehntes Ziel verheißt unendlichen Gewinn. So wird die legitime Hoffnung auf Heilung von Krankheiten von einer ungestümen Heilssehnsucht auf absurdeste Abwege angetrieben.

In diesem Zusammenhang fiel mir auf, dass inzwischen wirklich alle Phänomene der Religion im Gesundheitswesen angekommen sind. So gibt es Ärzte als Halbgötter in Weiß. Nun mag es zwar einige Kollegen geben, die gern Halbgott sind, aber ohne anbetungsfreudiges Publikum macht das auf Dauer auch keinen Spaß. Dieses anbetungsfreudige Publikum liegt ihnen zwar massenhaft zu Füßen, allerdings ist es ein vergiftetes Angebot, denn bei Nichterfüllung der Erwartungen droht Klage, versteht sich. Deswegen sind auch nur die weniger begabten Kollegen gern Halbgott, und das meistens auch nicht sehr lange.

Außerdem gibt es medizinische Wallfahrtsorte: »Sie müssen unbedingt mal zu diesem neuen Doktor gehen!« Bei uns in Köln sagt man: »Diese Untersuchung kann man nur bei den Spezialisten in Hannover machen.« So setzt man sich ins Auto und fährt über die Autobahn nach Hannover – je weiter weg, desto höher die Heilserwartung. Und in Hannover behaupten die Gesundheitsgläubigen: »Diese Untersuchung kann man natürlich nur bei den Spezialisten in Köln machen.« Und so setzen sich die Gesundheitsgläubigen in Hannover ins Auto und fahren – wieder über die Autobahn – nach Köln, um dort die Untersuchung machen zu lassen. Insofern sind die Autobahnen die Wallfahrtsstraßen der Gesundheitsreligion. Sie erkennen übrigens die Gesundheitsgläubigen auf der Autobahn immer an der fahlen Gesichtsfarbe, weil sie wegen der Blutabnahme nüchtern kommen müssen und anschließend noch immer nüchtern und blutleer wieder zurückfahren. Vergleichen Sie das einmal mit einer Wallfahrt der Altreligionen, z. B. zum Kloster Andechs in Bayern. Die Pilger ziehen durch Gottes herrliche Natur und kommen zu einer prachtvollen, wunderbar ausgemalten Barockkirche. Sinneslust, wohin Sie nur blicken, Hochamt mit Weihrauch – auch etwas für die Nase –, schöne Musik und anschließend Schweinshaxn und Starkbier in der Klosterbrauerei. Das ist Lebenslust pur! Vergleichen Sie damit nun die asketischen Zumutungen der Gesundheitsreligion: Je schrecklicher etwas schmeckt, desto gesünder soll es angeblich sein.

Ich werde häufiger in Talkshows eingeladen, einmal zum Beispiel mit der damaligen Ernährungsministerin Renate Künast. Frau Künast hatte gerade ein Buch geschrieben mit dem Titel Die Dickmacher