Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? - Manfred Lütz - E-Book

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? E-Book

Manfred Lütz

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Beschreibung

Otto Kernberg ist einer der bekanntesten Psychotherapeuten der Welt. Erstmals zieht er hier die Bilanz seines Therapeutenlebens und erklärt allgemein verständlich und angereichert mit spannenden Patientengeschichten, was psychische Krankheiten sind und wie man sie behandelt. Dabei kommt er auch auf Grundsätzliches zu sprechen, auf Gott und das ewige Leben, aber auch auf die eigene Biografie: seine abenteuerliche Flucht vor den Nazis aus Wien und seine fabelhafte Karriere in den USA.

Im Gespräch mit Bestsellerautor Manfred Lütz, das in wenigen hundert Metern Entfernung vom Trump Tower in New York stattfindet, äußert sich der renommierteste Experte für narzisstische Persönlichkeitsstörungen unserer Zeit auch über ein besonders brisantes Fallbeispiel: Donald Trump.

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Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe. Geboren 1954 in Bonn, studierte er Medizin, Philosophie und katholische Theologie in Bonn und Rom. Von 1997 bis 2019 war er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. Er ist gern gesehener Gast von Talkshows und nimmt in Kolumnen und Artikeln immer wieder zu aktuellen Themen Stellung.

Otto Kernberg, geboren 1928 in Wien, ist ein international renommierter Psychiater und Psychotherapeut, der nach seiner Emigration, zuerst nach Chile, dann in die USA, lange an der Cornell University in New York wirkte. Er wurde mit zahlreiche Auszeichnungen geehrt und hat grundlegende Schriften zur Borderline-Persönlichkeit und zum pathologischen Narzissmus veröffentlicht.

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? in der Presse:

»Otto Kernberg gehört zu den berühmtesten Psychiatern der Welt. Bestseller-Autor Manfred Lütz hat ihn für ein Buch getroffen.« stern

Außerdem von Manfred Lütz lieferbar:

Neue Irre!

Wie Sie unvermeidlich glücklich werden

Solange wir leben. Leben nach Auschwitz (mit Jehuda Bacon)

Als der Wagen nicht kam (mit Paulus van Husen)

Manfred Lütz

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?

Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten

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Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieser Titel erschien erstmals 2020 im Herder Verlag, Freiburg im Breisgau.

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: © Josefine Lütz

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31255-8V001

www.penguin-verlag.de

Inhalt

Einleitung – Zwei Überraschungen und Nägel mit Köpfen

1. Was ist die Seele, Herr Kernberg? – »Otto, Du Arschloch!«. Erlebnisse eines alten männlichen Kängurus

2. Würden Sie Herrn Trump behandeln, Herr Kernberg? – Über Chancen und Grenzen der Psychotherapie

3. Was sind Irrwege der Psychotherapie, Herr Kernberg? – Das Drama des Missbrauchs durch Psychotherapeuten und Priester

4. Was ist ein guter Psychotherapeut, Herr Kernberg? – Der Unterschied zwischen Psychotherapie und Seelsorge

5. Eine jüdische Kindheit in Wien: »Heil Hitler!«, Begegnung mit Freud und Flucht im letzten Moment

6. Das letzte Schiff nach Chile: Eine paradiesische Stadt, »Hände hoch!« und eine rebellische Zeit

7. Lebendige Weltanschauungen: Früher Atheismus, die blinden Flecken der Neurobiologie und ein Disput über Gott

8. Der Holocaust und die Folgen: Die Psychologie des Bösen, betrunken in Wien und eine erlösende Begegnung in Frankfurt

9. Abenteuer: Zu viele Espressos in Rom, ein Paukenschlag in Santiago und eine Karriere in den USA

10. Die Kunst einer glücklichen Liebe und die Liebe zur Kunst: Ewigkeit, ewiges Leben und »Ich muss darüber nachdenken«.

Kurzer Lebenslauf

Einleitung – Zwei Überraschungen und Nägel mit Köpfen

»Das ist Kay!« Mit diesem Satz begrüßte mich Otto Kernberg am Köln-Bonner Flughafen, indem er mir strahlend seine Begleiterin vorstellte. Ich war ziemlich aufgeregt und hatte diesen Besuch akribisch vorbereitet. Denn Otto Kernberg war schon damals der wohl berühmteste Psychotherapeut der Welt, hatte unzählige Bücher publiziert, die in viele Sprachen übersetzt worden waren. Für seinen Vortrag in unserer psychiatrischen Klinik hatten sich mehrere hundert Interessenten angemeldet, der große Saal würde aus allen Nähten platzen. Und jetzt das! Ich wusste, dass vor zwei Jahren Paulina Kernberg, seine geliebte Frau, gestorben war und dass er darunter sehr gelitten hatte. Lange war er für Vorträge nicht erreichbar und ich war ganz glücklich, dass es gelungen war, ihn wieder von New York nach Europa zu locken. Doch da stand nun plötzlich Kay vor mir, fröhlich, herzlich und ebenso strahlend … – aber ich hatte nur ein Einzelzimmer vorbereiten lassen. »Ich muss gerade nochmal kurz telefonieren.« Gott sei Dank erreichte ich jemand Zuständigen im Alexianer-Krankenhaus: »Wir brauchen dringend und ganz schnell ein zweites Bett …«, flüsterte ich in mein Handy. Als wir zwanzig Minuten später im Krankenhaus eintrafen, war bereits alles gerichtet und mir fiel ein Stein vom Herzen. Das war meine erste Begegnung mit Otto Kernberg. Als ich beiden das später amüsiert erzählte, war es ihm ganz peinlich, weil er eigentlich ein unglaublich höflicher Mensch ist, er hatte mehrere Termine in Europa und Kay überall angekündigt, nur bei mir war ihm das offensichtlich durchgegangen.

Kay ist Irin, aber bereits lange in den Staaten. Schon vor über 40 Jahren hatte er sie kennengelernt. Damals war sie Krankenschwester in dem Hospital, in dem er tätig war, war ihm durch ihre aufgeweckte Art aufgefallen und er hatte sie motiviert, noch Psychologie zu studieren und Psychotherapeutin zu werden. Kay wurde eine enge Freundin von Otto und Paulina Kernberg und irgendwann nach dem Tod von Paulina entwickelte sich dann diese unglaublich herzliche und vitale Beziehung. Ganz offen und fast mit Tränen in den Augen schilderte mir der damals 79-jährige Otto Kernberg, wie glücklich er über diese Beziehung sei, vor allem, weil Paulina so eng mit Kay befreundet war und das ganz sicher auch in ihrem Sinne sei …

Dann kam die nächste Herausforderung. Otto Kernberg war einen Tag vor der Veranstaltung angereist und ich war eigentlich davon ausgegangen, dass er erstmal den Jetlag verkraften müsse, aber auf meine höfliche Frage, ob ich irgendetwas für ihn tun könne, wollte er sehr gerne ins Museum Ludwig in Köln, eines der bekanntesten Museen für moderne Kunst, das er noch nicht kannte – aber das auch ich peinlicherweise noch nie aufgesucht hatte. Was ich dann erlebte, war unglaublich, denn Otto Kernberg zeigte mir buchstäblich das ganze Museum, obwohl er noch nie da gewesen war. Mit heller Begeisterung betrat er jeden Raum, kannte sofort die Künstler, deren Werke dort zu sehen waren. Nie musste er nachschauen, wer das denn nun sei. Und er zeigte mir das nicht mit bildungsbürgerlichem Stolz auf sein Wissen, sondern eben mit echter herzlicher, geradezu ansteckender Begeisterung. Doch obwohl da ein Amerikaner einem Kölner Arzt ein Kölner Museum zeigte, ließ er in mir kein Gefühl der Peinlichkeit entstehen, denn was er sagte, war nie bloßes Wissen, sondern er sprach höchst lebendig über das, was an den Bildern wirklich berührend war. Seitdem habe ich einen anderen Zugang zur modernen Kunst. Lange dachte ich, dass er all diese – oft amerikanischen – Künstler tatsächlich persönlich kannte, doch erst später erfuhr ich, dass er zumeist nur ihre Kunst kannte, aber die eben ganz von Herzen.

Das restlos überfüllte Seminar und der öffentliche Vortrag, zu dem viele von weit her angereist waren, wurden dann ein voller Erfolg. Otto Kernberg ist nämlich zu allem Überfluss noch ein glänzender Redner, der die Zuhörer mit manchmal fast komödiantischen Einlagen unterhalten, aber dann auch durch klare und praktische Hinweise fesseln kann. Vor allem springt der Funke deswegen über, weil da ein begeisterter Therapeut steht, der engagiert und mit vollem Einsatz um seine schwer gestörten Patienten ringt. Nie macht er sich über Patienten lustig, aber es bereitet ihm bisweilen diebische Freude, streng gläubige Psychoanalytiker mit kleinen psychoanalytischen Ketzereien zu verschrecken oder gar mit dem für solche Leute geradezu unerhörten, amüsiert vorgebrachten Satz: »Hier irrte Freud.« All das in seinem so angenehmen Wiener Akzent.

Abends hatte ich ihn und Kay dann noch zusammen mit Fachkolleginnen und – kollegen zum Abendessen zu uns nach Hause eingeladen. Und da entpuppte er sich nach einem eigentlich doch anstrengenden 7-Stunden-Tag als ungemein aufgeweckter und unaufdringlich gescheiter Gesprächspartner, der zum Beispiel die politische Situation in Amerika kundig und klug analysierte, aber vor allem höchst interessiert – nicht bloß höflich, sondern wirklich interessiert – unsere Meinung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen wissen wollte. Erst spät am Abend verabschiedeten sich die Gäste und man blieb zurück mit dem Gefühl, einen wirklich erfüllten Abend mit einem unglaublich liebenswürdigen und klugen Menschen verbracht zu haben.

Ich habe Otto Kernberg dann etwa alle zwei Jahre nach Köln zum Alexianer-Therapieforum eingeladen und es war immer ein Höhepunkt des Jahres. Als er im Oktober 2019 wieder bei uns war, hatte er gerade seinen 91. Geburtstag hinter sich, aber war wie eh und je spritzig und von unermüdlicher Ausdauer. Inzwischen unterhielten wir uns sehr vertraut auch über Tiefergehendes und Grundsätzliches und da kam mir der Gedanke, ob er nicht ein Buch über sein Leben schreiben, die Bilanz seiner psychotherapeutischen Erfahrungen ziehen und auch zu all den spannenden Fragen Stellung nehmen wollte, über die wir jenseits der Veranstaltungen höchst interessante Gespräche führten. Trotz der vielen Bücher, die er geschrieben hatte, gab es merkwürdigerweise so gut wie nichts zu seinem Leben. Das schaffe er zeitlich nicht, war seine Antwort, er habe noch so viele Projekte … Ob er denn stattdessen zu einem Dialogbuch bereit sei? Da sagte er mir sofort zu und auch Kay war gleich begeistert von dem Projekt. Wir machten Nägel mit Köpfen und so flog ich schon am 30. Januar 2020 mit meiner Tochter Josefine, die für die Technik zuständig war, nach New York.

Fünf Stunden redeten wir am Freitag, dem 31. Januar nachmittags in seiner Praxis miteinander, dann am Samstag insgesamt acht Stunden lang in seiner Wohnung und am Sonntag nochmal neun Stunden bis abends spät, weil wir nachmittags noch Fotos machen mussten. Danach habe er noch, wie ich nachher von ihm erfuhr, bis 2 Uhr nachts den nächsten Tag vorbereitet. Denn Montag morgens war er wieder pünktlich bei der Arbeit, um per Skype Supervision mit einer chinesischen Therapeutengruppe zu machen, anschließend noch mit einer uruguayischen, einer chilenischen und einer kanadischen, nachmittags dann zwei Stunden Forschung und am Ende noch Patientengespräche, ein 12-Stunden-Tag ohne Mittagspause, und das an fünf Tagen die Woche. Unfassbar! Das sei für ihn nicht anstrengend, sagte er auf meine Frage, denn er liebe diese Arbeit, er interessiere sich vor allem so sehr für Menschen, man könne da so viel lernen. Und seine Augen strahlten, als er das sagte. Am 5. Februar morgens trafen wir uns nochmal für ein paar Fragen und Fotos in seinem Büro. Da ließ er sich sogar auf den Scherz ein, erstmals auf seiner eigenen Analytikercouch zu liegen. Der Abschied war wieder unglaublich herzlich und dann ging es für uns abends zurück nach Europa.

Ich werde diese Tage nie vergessen, denn was ich da erlebte, war geradezu atemberaubend. Das betraf schon allein das Pensum. An den Abenden luden Kay und Otto Kernberg uns noch zum Essen ein. Da diskutierten wir dann munter weiter, manchmal fast bis Mitternacht. Und morgens war er wieder fit und guter Dinge. Überhaupt war seine Liebenswürdigkeit berührend: Es gelang mir de facto nie, nach ihm durch eine Tür zu gehen, er ließ mich und meine Tochter immer vorgehen – bis ich schließlich jeden Widerstand aufgab.

Was mich aber wirklich überwältigte, war der Inhalt unseres Gesprächs. Ich wusste, dass es spannend werden würde, aber was ich dann erlebte, übertraf jede Erwartung. Otto Kernberg war rückhaltlos offen, offenbarte mit größter Selbstverständlichkeit höchst Persönliches, was öffentlich bisher niemandem bekannt war, und diese Offenheit ließ das Gespräch immer wieder existenzielle Tiefen erreichen. Ich hatte natürlich Fragen vorbereitet, die er auch beantwortete, aber dann geschah es mitunter plötzlich, dass sich ein existenzieller Dialog zwischen uns entspann, ich meine Fragen weglegte, sagte, was ich selber dazu dachte, berührt war von dem, was er sagte, und innehielt. Auch er gab keine fertigen Antworten, sondern reagierte spontan, argumentierte, wollte Argumente hören. Das betraf zum Beispiel die Fragen nach der Existenz Gottes und danach, ob es so etwas wie ein ewiges Leben gibt. Diese Passagen, in denen er mich mit unerwarteten Überzeugungen überraschte oder er plötzlich seine Meinung änderte, habe ich stehengelassen, damit der Leser das sozusagen live miterleben kann. So entstand eine unglaublich dichte Atmosphäre. Ich erwischte mich sogar dabei, seine Reaktionen zu deuten, und er ließ es zu, was zu einem immer tieferen Verstehen führte. Ich hoffe, dass das auch im Buch zu spüren ist. Bei den Fragen nach den Geheimnissen einer guten Partnerschaft, nach dem Glück, aber auch nach einer erfolgreichen Psychotherapie konnte er aus seiner reichen, über 65-jährigen Erfahrung als Psychotherapeut schöpfen. Was ist wirklich sinnvoll in der Psychotherapie und was ist Unsinn, das sind Fragen, die viele Menschen brennend interessieren, und kaum jemand kann diese Fragen kompetenter beantworten als Otto Kernberg.

Und dann hörte ich gebannt zu, als er erzählte, wie er als Neunjähriger beim triumphalen Einzug Hitlers in Wien noch arglos am Straßenrand gestanden und inmitten der rauschhaft begeisterten Menge »Heil Hitler« gerufen hatte, als der im offenen Wagen vorbeifuhr. Doch stockte mir der Atem, als er berichtete, wie er wenig später reglos dabeistehen musste, als Jugendliche seinen Vater als Juden attackierten, und wie er wieder wie angewurzelt dastand, als SA-Leute seine Mutter spontan zwangen, das Trottoir auf Knien zu putzen unter den hämischen Zurufen zufällig vorbeikommender Passanten. Im letzten Moment gelang dann die abenteuerliche Flucht über Italien nach Chile. Und als er erzählte, wie er es auch in Chile erleben musste, plötzlich aus heiterem Himmel als Arzt von einem einflussreichen Kollegen antisemitisch beleidigt zu werden, da bekam er ganz kurz feuchte Augen. Es erschütterte ihn so sehr, dass er jetzt auch in seiner neuen Heimat solcher Feindseligkeit begegnete, dass er sich Hals über Kopf entschloss, samt seiner Familie mit einem Stipendium in die USA zu gehen.

Wie er später zum berühmtesten noch lebenden Psychotherapeuten der Welt wurde mit unzähligen Veröffentlichungen, Vorträgen rund um den Globus und zahlreichen internationalen Ehrungen, das erzählte Otto Kernberg nicht von sich aus, das musste ich ihn fragen. Und dann kam er unvermittelt auf internationale Missbrauchsskandale der Psychoanalyse zu sprechen, die bisher der Öffentlichkeit nicht bekannt sind und in denen er als weltweite Autorität um Hilfe gebeten wurde. Schließlich ist da natürlich noch der ungeheure Reichtum an Psychotherapieerfahrung, sind da die spannend erzählten Patientengeschichten. Wer hat schon jemals über 65 Jahre lang Patienten behandelt, konnte in seiner Kindheit Freud begegnen und kennt die Entwicklung der Psychotherapie seitdem aus nächster Anschauung? Otto Kernberg ist in gewisser Weise ein »Entdecker« der Borderline-Störung, hat jedenfalls so viel über diese schwere psychische Störung publiziert, dass man sich dazu wissenschaftlich nicht äußern kann, ohne ihn zu zitieren. Und er ist weltweit wohl der größte Experte für narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Schließlich spricht er sich zwar gegen Ferndiagnosen aus, hat aber klare Meinungen zu Donald Trump und anderen Politikern, eingebettet in kluge politische Analysen. Am Ende habe ich noch erfahren, was ihn an Kunst so ergreift, und habe so besser verstanden, was ich damals im Museum Ludwig erlebt hatte.

Alle 22 Stunden unseres Gesprächs wurden aufgenommen und später abgetippt. Ich habe diese Texte so redigiert, dass das Buch für jeden Leser interessant ist und spannend bleibt. Deshalb wurden allzu fachliche Passagen weggelassen, die man ja in seinen zahlreichen Büchern nachlesen kann. Den redigierten Text habe ich dann Otto Kernberg zur Autorisierung geschickt mit dem Hinweis, dass er hemmungslos alles ändern kann, was er so nicht publizieren will. Aber er hat davon so gut wie keinen Gebrauch gemacht. Deswegen findet sich hier nun die faszinierende, aber auch unterhaltsame authentische Bilanz des 91-jährigen Lebens eines wirklich großen Menschen und ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser wie ich spüren können, welch reiche Lebenserfahrung und Lebensweisheit aus diesen Zeilen spricht.

Abschließend sei noch ein Hinweis gestattet: Da das deutsche Publikum von einem anständigen Buch immer ein gewisses Maß an Unverständlichkeit erwartet, könnte hier ein Problem auftreten. Denn ich habe Otto Kernberg immer wieder gebeten, für einen gebildeten Metzger verständlich zu reden, und das hat er dann tatsächlich getan. Wer so etwas niveaulos findet und sich nach Fremdwörtern und Zitaten sehnt, dem seien die zahlreichen Fachbücher empfohlen, die Otto Kernberg publiziert (veröffentlicht) hat. Allerdings entgeht ihm dann vielleicht doch das Wesentliche, denn das Wesentliche ist letztlich einfach und es ist meine feste Überzeugung, dass all das, was ein Metzger nicht versteht, nicht wichtig ist im Leben. Natürlich braucht man eine Fachsprache, um Fachdiskussionen zu führen, aber was an einer solchen Diskussion am Ende relevant ist, das muss man auch in normalem Deutsch sagen können. Tatsächlich ist es oft intellektuell viel herausfordernder, das Wesentliche einfach und verständlich zu sagen, als mit wohlbekannten Fremdwörtern um sich zu werfen. Und wenn Otto Kernberg tiefe Weisheiten einfach und allgemeinverständlich von sich gab, dann leuchteten seine Augen besonders hell auf, dann war er ganz bei sich und ganz bei den Menschen, denen er etwas sagen will. Dann war er bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser.

Bornheim, September 2020

Manfred Lütz

1. Was ist die Seele, Herr Kernberg? – »Otto, Du Arschloch!«. Erlebnisse eines alten männlichen Kängurus

Manfred Lütz: Professor Kernberg, Sie behandeln seelische Erkrankungen. Was ist die Seele für Sie?

Otto Kernberg: Für mich ist die Seele alles, was der Mensch erlebt, was er als etwas von ihm stammend erkennt, Gedanken, Wünsche, Fantasie, Erinnerungen, Gefühle, Pläne, moralische Einstellungen, Ideale …

Aber gibt es sie wirklich? Kann man sie fassen? Man hat sie ja mal im Zwerchfell lokalisiert oder im Gehirn …

Die Seele ruht auf biologischen Voraussetzungen, auf Gehirnstrukturen und Neurotransmittern, die in einem gegebenen Moment die Fähigkeit zeigen, zu fühlen. Also wir fühlen, und gleichzeitig entdecken wir im Laufe der Zeit, dass wir es sind, die da fühlen, dass dieses Gefühl nur uns gehört. Unser Gehirn hat aber die Fähigkeit, nicht nur innere Gefühle zu erkennen, sondern auch die äußere Realität, und zwar durch Sinnesorgane: Augen, Ohren, Nase, Mund, Haut. So bekommen wir einen Eindruck von der Welt, die uns umringt, und gleichzeitig erkennen wir, dass wir eine innere Welt haben, die auf Gefühlen basiert. Gefühle sind die grundlegenden Aspekte der Seele, auf die sich dann Beziehungen mit anderen Menschen aufbauen, realistische und fantastische, gute und böse. Und so erleben wir dann zwar uns selbst als von allen anderen unterschieden, zugleich aber erleben wir uns von vorneherein in Beziehung zu anderen wichtigen Personen unseres Lebens, sodass wir von einer inneren Welt umringt sind, die zu unserer Seele gehört.

Dann würden Sie sagen, es gibt gar nicht die vereinzelte Seele, sondern es gibt eine Seele eigentlich nur in Beziehung.

Genau, das meine ich. Ich gestehe Ihnen, ich interessiere mich sehr für die biologischen Grundlagen der Entwicklung der Seele und für mich ist faszinierend, dass das Gehirn so gestaltet ist, dass wir schon genetisch den Drang oder die Versuchung spüren, die Welt um uns herum kennenzulernen und zu unterscheiden, was wir sind und was die für uns wichtigen anderen sind. Das heißt also, schon biologisch sind wir auf eine soziale Welt ausgerichtet. Das ist eine der interessantesten Erkenntnisse der Hirnforschung. Es ist also eine kreative Entwicklung, die vom Biologischen zum Seelischen führt, und dieses Seelische entwickelt sich dann weiter in tiefere Beziehungen zu anderen, in Veränderungen unserer selbst als eine Konsequenz aus diesen tiefen Beziehungen, in die Entwicklung des Verstehens für diese anderen, damit diese Beziehungen gut, gerecht, schön und wahr sein können. Also ausgehend von biologischen Grundlagen entwickelt sich eine rein innerpsychische Realität, die sich in sich selbst weiterentwickelt und schließlich zu Wertsystemen, philosophischen und religiösen Einstellungen führt.

Warum braucht man Psychotherapie? Jahrtausendelang ging es auch ohne sie.

Ich weiß nicht, ob das stimmt. Psychotherapie als eine Behandlungsmethode, das natürlich ist eine moderne Entwicklung. Aber es gab aus meiner Sicht schon Psychotherapie von allem Anfang an. Es wurde nur nicht mit dem Namen Psychotherapie bezeichnet. Es begann mit magischen Einstellungen gegenüber Menschen, die irgendwie nicht normal erschienen, die Probleme hatten, die psychisch litten, die, wie wir heute sagen würden, depressiv waren, unrealistische Angst zeigten und bei denen reifere, mit Intuition begabte Menschen als verstehende und beratende Freunde halfen …

Dass ein Gespräch eines Freundes in einer Krise einem Menschen helfen kann, das hat es sicher immer schon gegeben, aber ich sehe immer einen Unterschied zwischen dem existenziellen Gespräch mit einem Freund und einem methodischen Gespräch, denn das ist für mich Psychotherapie. Genauer nachgefragt also: Freunde gibt es ja auch heute und es gibt menschliche Zuwendung. Warum aber braucht man aus Ihrer Sicht methodische Psychotherapie?

Weil unser Verstehen der psychologischen Entwicklung des Menschen uns dazu gebracht hat, zu erkennen, dass sehr oft beängstigendes, unrealistisches Erleben und Verhalten auf tiefen Gründen beruhen, die in den frühen Jahren des Lebens Probleme erzeugten. Und die Kenntnisse dieser tiefen Ebene der menschlichen Entwicklung erlauben es ausgebildeten Psychotherapeuten, Menschen zu helfen, ihre Probleme durch Einsicht in die im Allgemeinen unbewussten, unbekannten Ursachen ihres psychischen Leidens im Gespräch zu lösen.

Das ist der psychoanalytische Ansatz und Sie sind ja Psychoanalytiker. Aber Sie reden auch immer sehr wertschätzend über andere Psychotherapieverfahren, zum Beispiel über die Verhaltenstherapie, die Sie gut kennen. In diesem Sinne noch einmal ganz allgemein gefragt: Warum braucht man ganz generell Psychotherapie? Warum reichen nicht mitfühlende Gespräche mit lebenserfahrenen, weisen Menschen, mit liebenswürdigen Freunden?

Weil es in den frühen Entwicklungsjahren des Menschen durch gegensätzliche psychologische Bedürfnisse und Erfahrungen zu einer Verzerrung des Verhaltens des Menschen, der Einsicht von sich selbst und von anderen kommen kann, die als solche Verzerrungen nur erkannt werden können, wenn man weiß, wie diese problematischen Entwicklungen entstanden sind und sich entwickelt haben. Und das gilt nicht nur aus psychoanalytischer Sicht. Denn – wie Sie ganz richtig sagen – Psychotherapie kann, wenn man kleinere Schulen weglässt, grob eingeteilt werden in Verhaltenstherapie und psychodynamische bzw. psychoanalytische Psychotherapie. Verhaltenstherapie interessiert sich vor allem für abnormales Verhalten des Menschen, aber auch für abnormales Denken und abnormales Fühlen. Die Ursache dafür sieht auch sie insbesondere in frühen Erfahrungen und Beziehungen, in dem Punkt sind wir uns einig.

Können Sie mal kurz für einen Laien den Unterschied zwischen diesen beiden großen Therapierichtungen beschreiben?

Verhaltenstherapeuten setzen direkt bei den aktuellen abnormalen Auswirkungen dieser frühen Erfahrungen an. So genannte kognitive Verhaltenstherapeuten gehen dabei direkt auf das bewusste Verhalten, Denken und Fühlen ein. Sie versuchen, das intelligente Verstehen des Menschen zu benutzen, um den Patienten Methoden beizubringen, die ihnen helfen, exzessive Gefühle zu kontrollieren und zu unterbrechen, ihre Gedanken zu verändern, besser zu ordnen, und ihr Verhalten zu normalisieren. Im Gegensatz dazu sind psychoanalytische Psychotherapeuten an tieferen unbewussten Konflikten auf dem rein seelischen Gebiet des Erlebens des Menschen interessiert, die sich auf Verhalten, Denken und Fühlen auswirken. Sie versuchen, in die Tiefe dieser problematischen frühen Erfahrungen und Beziehungen zu gehen und auf diese Weise Lösungen zu finden, durch die indirekt die ganze Persönlichkeit des Menschen von diesen Verstrickungen und Beschränkungen befreit wird. Psychoanalytische Psychotherapeuten schauen also auf tiefe, unbewusste Gründe der jetzigen Probleme.

Wann braucht ein Patient denn aus Ihrer Sicht einen Verhaltenstherapeuten und wann einen Psychoanalytiker?

Praktisch bekämpfen sich diese zwei Orientierungen genauso wie alle Spezialisten in allen Wissenschaften. Je näher ihr Arbeitsfeld beieinanderliegt, desto mehr bekämpfen sie sich. Deshalb ist es manchmal für einen normalen Menschen schwer, sich zu entscheiden, was er tun soll. Auf eine einfache Formel gebracht: Wenn das Problem im Verhalten, Fühlen und Denken beschränkt ist auf gewisse konkrete abnormale Einstellungen oder Verhaltensweisen, dann sollte man es zunächst einmal mit kognitiver Verhaltenstherapie versuchen und das reicht dann auch sehr oft. Verhaltenstherapie ist sehr direkt und praktisch und kann in relativ kurzer Zeit Verhaltensprobleme lösen. Wenn ein Patient zum Beispiel Angst vor Spinnen, Flugangst oder Platzangst hat und er funktioniert ansonsten sehr gut, wäre mein erster Schritt eine kognitive Verhaltenstherapie. Wenn das beim ersten Verhaltenstherapeuten nicht klappt, würde ich es nochmal bei einem anderen versuchen. Und erst wenn das auch nicht funktioniert, würde ich an eine psychoanalytische Behandlung denken. Ich habe das klare Prinzip: Wenn man bei einem isolierten Symptom schnell helfen kann, dann schnell helfen! Ich bin sehr kritisch Psychoanalytikern gegenüber, die jeden Patienten sofort ausmessen, ob er auf ihre Couch passt, und wenn er passt, dann muss er eine Psychoanalyse bekommen. Nur wenn das Problem eines Menschen wirklich auf seiner ganzen Einstellung zu sich selbst und zur menschlichen Umwelt beruht, wenn es also ein schweres Versagen in den hauptsächlichen Gebieten des täglichen Lebens gibt, das heißt in Arbeit und Beruf, in Liebe und Sexualität, im sozialen Leben, in der Kreativität, wenn also diese Felder schwer belastet sind und Patienten sich da schwer gehemmt oder ganz chaotisch verhalten, ist im Allgemeinen eine psychoanalytische Psychotherapie besser.

Die Forschung ist sich ja einig, dass für den Erfolg einer Psychotherapie nicht bloß die verwendete Methode wichtig ist, sondern ganz unabhängig davon die Persönlichkeit des Therapeuten. Sie haben in ihrem langen Berufsleben extrem viele Psychotherapeuten kennengelernt, supervidieren noch heute Woche für Woche Psychotherapeuten auf der ganzen Welt. Was unterscheidet aus Ihrer Sicht gute von schlechten Psychotherapeuten?

Erstens muss ein guter Psychotherapeut gute, vertiefte technische Kenntnisse haben, und zwar nicht nur von seiner eigenen Schule. Er muss also etwas über Psychoanalyse wissen, aber ebenso über kognitive Verhaltenstherapie. Gute Therapeuten sollen aber auch immer auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft sein, sodass der Patient das Gefühl hat, es wird ihm wirklich das geboten, was für ihn wichtig und richtig ist. Und dann zeichnet sich ein guter Psychotherapeut natürlich durch Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Verantwortlichkeit aus, selbstverständliche Anforderungen für jeden Beruf. Außerdem sollten Psychotherapeuten Fingerspitzengefühl zeigen, das heißt echtes Einfühlungsvermögen und Interesse für das haben, was im anderen Menschen vorgeht. Andererseits muss ein guter Psychotherapeut auch negative Gefühle und schwierige Verhaltensweisen der Patienten ertragen, zum Beispiel Aggressionen, die auf ihn zielen, ohne dabei den Wunsch, zu helfen, zu verlieren. Er muss die Liebe zum Menschen behalten können, selbst wenn er es mit sehr schweren und manchmal nahezu Abscheu erregenden Entwicklungen von Patienten zu tun hat. Schließlich ist auch wichtig, nicht zwanghaft und rigide eine Therapie einfach durchzuziehen und den Patienten auf diese Weise, ohne genauer hinzuschauen, einer schematischen Therapie sozusagen zu unterwerfen, sondern eine gewisse Flexibilität zu zeigen und sich jeden Fall immer wieder anzusehen mit der Frage, ob es nicht doch ganz anders sein könnte …

… also bereit zu sein, eigene Hypothesen immer wieder zu verändern …

Ja, genau. Wichtig ist also: Wissen, Ehrlichkeit, authentische Wärme, Interesse für Menschen, Empathie und die Fähigkeit, sich anzupassen, und die eigenen Fehler zu erkennen und von ihnen zu lernen.

Jetzt haben Sie gesagt, was gute Psychotherapeuten auszeichnet. Sie haben auch schlechte Psychotherapeuten erlebt, nehme ich an …

Ja, selbstverständlich.

Können Sie einmal, ohne Namensnennung natürlich, so jemanden schildern und an diesem Beispiel beschreiben, was Sie schlecht fanden? Sie sprechen normalerweise nicht schlecht über Menschen, das weiß ich. Aber es ist ja manchmal lehrreich, an einem abschreckenden Beispiel zu lernen, was richtig ist …

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Während der chilenischen Regierung Salvador Allendes waren die Analytiker politisch scharf gespalten. Die einen, das waren die Sozialisten, die zur Regierung hielten, auf der anderen Seite standen die Christlich-Sozialen, die dagegen waren. Ein Ausbildungskandidat, der Psychoanalytiker werden wollte, war in Lehranalyse, er musste sich also wie üblich selber von einem Lehranalytiker psychoanalysieren lassen. Nun war der Kandidat aber christlich-sozial und der Lehranalytiker war Sozialist. Als der Kandidat nun seinem Lehranalytiker sagte: »Morgen komme ich nicht zu meiner Stunde, denn wir gehen auf eine Ärztedemonstration gegen die Regierung«, reagierte der Lehranalytiker mit der Bemerkung: »Sie unterwerfen sich jetzt dem kapitalistischen Über-Ich, das Sie zwingt, zu diesem Streik gegen die sozialistische Regierung zu gehen.« Darauf der Kandidat: »Ich komme hierher, um mich psychoanalysieren zu lassen, und nicht, um Politik zu machen.« Daraufhin wurde der Analytiker ganz böse, die politische Diskussion ging weiter und der Lehranalytiker sagte am Ende der Stunde: »Ich glaube, wir werden unsere Behandlung nicht fortsetzen können.« Das ist ein Beispiel für schädliche ideologische Voreingenommenheit und Rigidität. Wenn Psychotherapeuten wegen ihrer eigenen Persönlichkeitsprobleme ihre Patienten nicht gut behandeln, ist das wirklich schlimm, aber natürlich auch, wenn sie keine richtigen Kenntnisse haben und deswegen falsche Behandlungen vorschlagen. Das größte Problem aber ist immer mangelndes Einfühlungsvermögen in die Patienten.

Wir haben jetzt viel darüber gesprochen, was Gründe sein können für eine Behandlung, Sie haben auch schon angedeutet, was in den verschiedenen Therapieformen passiert. Aber jetzt nochmal ganz allgemein gefragt: Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?

Man kann durch Psychotherapie Probleme lösen, die von unbewussten Konflikten herstammen und die das Verhalten immer wieder massiv beeinflussen, sodass das Leben des Menschen, das Glück des Menschen, der Erfolg des Menschen, seine Lebenszufriedenheit schwer gefährdet sind. Diese Probleme können dazu führen, dass sich sogar vernünftige, intelligente, schwer arbeitende, verantwortungsvolle Menschen in manchen Beziehungen wie verrückt verhalten, sich selbst und anderen schwer schaden.

Und was ist aus Ihrer Sicht dann der Erfolg einer Psychotherapie?

Dass man die Gründe für dieses störende Verhalten durch die Technik des Psychoanalytikers, das Unbewusste bewusst zu machen, kennenlernt und sich dadurch die störenden psychischen Mechanismen, die einem normalen Verhalten im Wege stehen, mit der Zeit auflösen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich hatte eine Patientin, die von ihrer Mutter als Strafe immer schwer geschlagen wurde, sodass sie überall grüne und blaue Flecken aufwies und nicht zum Turnen gehen konnte. Sie hatte einen warmherzigen, aber passiven Vater, der die Mutter machen ließ, was sie wollte. Diese Patientin entwickelte nun eine schwere Persönlichkeitsstörung mit Wutanfällen, sexueller Promiskuität, Drogenabhängigkeit. Sie war ein hoch intelligentes Mädchen gewesen, das auf dem Gymnasium noch eine sehr gute Schülerin war, aber dann auf der Universität vollkommen versagte. Sie entwickelte schwere Depressionen, schweres suizidales Verhalten, lag nach Suizidversuchen mehrere Male tagelang im Koma. Diese Patientin also kam zu mir in Behandlung. Und in der psychoanalytischen Psychotherapie entwickelte sie bei mir ein Verhalten, das zuerst vollkommen chaotisch schien, aber sich dann entpuppte als ein Schwanken zwischen zwei Extremen: Einerseits behandelte sie mich so, als sei ich der beste Psychotherapeut der Welt, der sie verstehe und bei dem sie alle Probleme viel besser begreifen konnte. Also ich war da für sie ganz und gar perfekt. Andererseits gab es andere Momente, in denen sie mich als den kältesten, verständnislosesten, sadistischen, grausamen Psychotherapeuten sah, dem es Freude machte, sie zu triezen. Während der Stunden griff sie mich dann an, weil sie den Eindruck hatte, dass ich sie beleidigte, mich über sie lustig machte, was natürlich gar nicht stimmte. Wenn ich ein paar Minuten verspätet war und auch wenn ich einmal einen Termin verschieben musste, waren das für sie Verbrechen, die sie nicht tolerieren konnte. Entsprechend verhielt sie sich, versuchte, mir das Telefon an den Kopf zu werfen, schrie mich an. Am Abend wartete sie auf mich bei meinem Auto und brüllte so laut, dass es über den ganzen Spitalhof zu hören war: »Otto, du Arschloch!« Und das war noch das Freundlichste. Im Laufe der Behandlung wurde ihr langsam klar, dass diese extrem gegensätzlichen Beziehungen zu mir die Beziehungen mit ihrer Mutter darstellten: Einerseits sah sie in mir ihre schreckliche Mutter und sich selber als gequältes Kind und umgekehrt: Indem sie ihre rasende Mutter wurde, war nun ich das gequälte Kind. Dann wieder erlebte sie mich wie die ersehnte, perfekte Mutter und sich selber als das beschützte Kind. Oder sie war die beschützende Mutter und ich das kleine Kind. Ein Beispiel, wie sie mich als die perfekte Mutter sah: Sie sagte in einer Stunde, es wäre schön, wenn wir Kängurus wären: »Sie sind das Mutter-Känguru und ich sitze in Ihrem Beutel, schaue mich in der Welt um und bin vollkommen ruhig und sicher.« Darauf ich: »Ich verstehe das, das ist ein vollkommen normaler Wunsch. Jedes drei Monate alte Kind will so etwas mit gutem Recht.« Und sie: »Ich bin nicht drei Monate alt.« Ich: »Das ist Ihr Problem. Genau darüber müssen wir sprechen.«

Und was hat am Ende geholfen?