Das Leben meiner Augen - Werner Szczepanski - E-Book

Das Leben meiner Augen E-Book

Werner Szczepanski

4,5

Beschreibung

Jeder erlebt Geschichten, die ihm einen besonderen Wert darstellen und deshalb nicht vergessen werden dürfen. Irgendwann setzt man sich hin und tippt die möglicherweise lange in der Erinnerung liegenden Ereignisse ein und freut sich, sie nun mit ganz anderen Augen zu sehen. Ein Buch ist eben ein Buch. Einen Teil meiner Geschichten habe ich nun aufgeschrieben und jede einzelne soll ohne jede Besserwisserei, ohne Bevormundung anderer zu verstehen sein. Oft war es so, dass zum Zeitpunkt des Geschehens eine Auffassung entstanden war, an der lange nicht gerüttelt wurde. Was jedoch im Laufe der Zeit doch auch manchmal eintrat, ist das zu jedem Vorfall, sei er nun freudig oder schwierig, sich während des Aufschreibens oft neue, manchmal auch gegensätzliche Überzeugungen ergaben. Schon deshalb hat sich das Buch für mich gelohnt.

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Einen Dank an Marianna, die mir zu diesem Büchlein geraten hatte.

Inhalt

Anfang

Ein Stein

Werner ohne Zähne

Fire for my cigarette

Die B5

Die vielen Wohnungen

Demo für Dutschke

Hilferuf aus der Einsamkeit

Bedenkzeit

Seeigel vor Budvas Küste

Wie John Lennon: you left me

Grenzübergang Staaken

Hollands Käse

Akin und Incila

El condor pasa

Mariannas Daumen

Schwedens Kinder

Gagack und watabumm

Einstein, Triumph des Geistes

VW-Porsche

Piraten vor Guadeloupes Küste

Andrea

Mülltransport

Zigeuner auf dem Tegeler See

Meine Freundin Ibiza

Herr Est

Im Hubschrauber über New York

Knall über Florida

Das philharmonische Schwalbennest

Fritze und die Zweite

Blitz und Donner

Stille Nacht

Tag der offenen Tür

Alpensinfonie

Bei wenigen beliebt

Die grüne Japanerin

Über Sterzing nach Roncagli

Glienicker Brücke im Taumel der Zeit

Joachim vor der Tür

Maueröffnung am Brandenburger Tor

Notstrom im Gertrauden

EM bei Ramazan

Kadettenweg

Zigeuner in Genua

Aus Mariannas Tagebuch, Roncagli

Eintrag im Gästebuch

Lars auf dem Fahrrad ins Büro zurück

Damaskus

Ratten

Jürgen

Wespen

In Polen

Vater

Weihnachten in Neumünster

Der fünfundzwanzigste

Italien versinkt im Regen

Überraschung

Jahr Zweitausend, nix Hand-OP

Cantalupo

In London

Nach dem Italienischunterricht

Die Austern des KaDeWe

Maries Minuten

Casa mattone

Ein Morgen wie keiner

Das Rubato bei Karl-Friedrich

Peter und seine Hilfe

Barenboim in der Waldbühne

Ramadan

Nofretete

Victor, Jürgen, Carin, und die anderen

Freunde und Schließfach

O sole mio

Ärger wegen zweier Begräbnisse

Brigitte

Am Randes des Erträglichen

Chile

Da ist noch eine Kleinigkeit

Ghaith

Vielleicht sollte ich nicht

Gravitationswellen

Leben

Henning

Wolfgang

Lothar

Ende

1. Sommer 54

Anfang

Jeder Anfang ist das Ende einer vorausberechneten Zeit, plötzlich war Cico da. Cico wegen meines schwierigen Nachnamens, den kein Freund aussprechen konnte. Ich sehe das so: Mein Ende ist also ein anderer Anfang. Wäre es umgekehrt, würde ich in einer dieser Zeitschleife leben in der alles möglich ist. Das wäre auch nicht schlecht.

Mit Eisblumen an den Fenstern, muss es in der kaum geheizten Gartenlaube eines hinter kleinen Tannen versteckt liegenden Grundstücks sehr kalt gewesen sein, als sich mein zukünftiger Vater meiner zukünftigen Mutter näherte. Deshalb bin ich ein Silvester- und Septemberkind, das erklärt einiges. Vielleicht lag Schnee um das Versteck und in den Adern meines Vaters floss der Chianti, woher sonst mein Drang in den Süden? Allerdings verfüge ich über keine weiteren Einzelheiten aus der verwaisten Zeit, da ich mich nicht erinnern kann.

Ziemlich ereignislos vergingen die anschließenden ersten Jahre, deshalb einen Sprung in das vierundfünfziger. In ihm sah ich meine erste Fußballweltmeisterschaft im winzigen Fernseher eines riesigen Gasthofes, eingepfercht zwischen vielen Verrückten die schrien, als sei Krieg. In der Erinnerung sehe ich mich noch mit der Schultüte verloren in ihrer Mitte stehend. Sechs war ich gerade geworden und fühlte mich schon damals zu jung für mein Alter. Deutschland verlor dieses Spiel gegen Ungarn eindeutig acht zu drei und ich heulte, weil es mir weh tat. Aber Ahnung vom Fußball hatte ich nicht, sonst hätte ich vielleicht den Trick des alten Gauners Sepp Herberger durchschaut. Doch nahm mich die Atmosphäre des prall gefüllten Stadions und die Aussicht auf Ruhm gefangen. Mein Ehrgeiz erwachte, besser als einer dieser Fußballhelden, Fritz Walter oder Helmuth Rahn, wollte ich eines Tages sein und begann im Verein zu spielen. Holte mir gleich bei meinem ersten Spiel in eisiger Kälte durch den unfairen Tritt eines Gegners einen Hallux, den ich nicht weiter beachtete. Um jedoch beständig besser zu werden, war ich durch nichts aufzuhalten. Eine innere Stimme sagte mir: du musst trainieren, trainieren. Ich schonte mich nie, spielte an schulfreien Tagen oft bis zu acht Stunden ohne Pause, Sommers wie Winters. Besonders die harten Winter habe ich noch in Erinnerung. Ob Minus fünfzehn oder zwanzig Grad spielte keine Rolle, ich war wild, war draußen und damit frei. Manchmal gab es auch Gewitter mit mächtigen Blitzen und fürchterlichem Donner. Dann musste ich mich allerdings verstecken, denn meine Eltern meinten vor Naturkräften hätte man sich zu schützen. War die Gefahr vorbeigezogen spielten wir weiter, jedoch auf noch glatterem Boden, denn oft hatte es auch noch leicht auf das Eis geregnet. Dann waren wieder andere Tage. Ich erinnere mich an viele, an denen es nicht aufhörte aus dunklen Wolken zu schneien bis eine Höhe von einem Meter erreicht war.

Weil sie nur selten befahren wurde, war die Straße vor unserem Haus zu meinem Sportplatz geworden. Einzig der blaue VW-Bus einer Firma, für die meine Mutter in Heimarbeit tätig war, störte alle zwei Stunden. Der Fahrer muss meine Mutter sehr gemocht haben, denn holte er die Schuhe wieder ab, lächelte er mich jedes Mal freundlich an. Durch die Abgeschiedenheit meines Winkels in der Straße konnte ich zwei Stöcke als Torpfosten für jede Mannschaft in die Ritzen der Gullydeckel stecken. War Glätte auf der Straße, war es eher Eishockey, was wir spielten, und einer meiner Gegner, Sommersprossen, rothaarig und klüger als ich, Karlheinz, der wie eine Kuh Wasser trank, rannte jede Stunde einmal in die Wohnung, um exakt einen Liter aus einem ekeligen Aluminiummessbecher in sich hineinzuschütten. Mit hochroter Birne kam er jedes Mal wieder zurück und schwitzte sich während des Spiels fast die Seele aus dem Leib. Ich spielte auch gegen mich selbst, meist dann, wenn andere schon wegen der Dunkelheit in ihren warmen Betten lagen. Mich focht das nicht an. Erst wenn sich meine Eltern an mich erinnerten und nach mir riefen, ging ich zurück in unsere kleine Zweizimmerwohnung.

Für den Sommer aber erinnere ich mich in an gelbe Kornfelder in meiner kleinen Welt. An bunte Gärten, in denen die Schwester wie ein Kolkrabe Erdbeeren klaute und mit dieser Tat doch nur die Haarbüschen überdecken wollte, die sie anderen Mädchen herausgerissen hatte. Ich war nicht viel besser, schlug meine Gegner, wenn sie mich nicht freiwillig gewinnen lassen wollten. Doch sorgte ich bei größeren Raufereien dafür, dass meine Mannschaft gewann. Und irgendwie fühlte ich mich selbst anders als andere. Mir war die Wohnung meiner Eltern zu klein, Feuerwehrmann wollte ich nicht werden, Krieg spielen schon gar nicht. Konnte nicht ausstehen, zu tun was meine Eltern vorgaben. Mochte keine silbernen Sportwagen und keine Helden neben mir. Mädchen? Da war auch nichts, außer Hannelore F., blass und blond. Nur rechnen konnte sie wie ich.

Der Herbst jedoch war immer die besondere Jahreszeit. Barfüßig lief ich über Stoppelfelder, um den verdammten Drachen in die Luft zu bringen. Gelang es mir mit Unterstützung eines lauen Gegenwinds endlich, hatte ich Angst er würde in die Hochspannungsleitungen abdriften, die am Rande des Feldes über Land führten. Einmal passierte es und eine übermächtige Angst, an der nassen Leine hängend durch einen Stromschlag sterben zu müssen, ist mir bis heute in Form von kleinen, bei geschlossenen Augen aus der Mitte kommenden Lichtblitzen geblieben. Ich kann mich dabei so gut konzentrieren, dass sie wie auf mich zukommende Lichtpunkte scheinen.

Während meine Schwester in den Gärten stahl, spielte ich manchmal auch Wandtennis. Das geht so, dass man einen Ball gegen die Wand im ersten Stock wirft und sich, um ihn zu fangen, wie ein Torwart nach dem Abpraller auf den grünen Rasen hechtet. Heute wäre das nicht mehr möglich, schon nach dem ersten Wurf wären die Leute vor der Tür und würden sich über dies: wumm, wumm, beschweren.

Hatte mich der Fußball am Abend bis an das Ende unserer Straße getrieben und schien es dunkel geworden, war der Weg weit nach Haus. Wegen der Bedenken dafür gerügt zu werden, rannte ich flott auf dem Sandweg vor den Eingängen der anderen Häuser und sprang wegen des Lusterlebnisses wie ein Hürdenläufer über ihre Steinfliesen. Einmal bog ich zu früh ab und bemerkte es erst, als ich am Tisch saß und Grünkohl essen sollte. Da wachte ich auf und verließ unter dem Gelächter unserer Nachbarn ihr Haus, schwor mir, sie nie wieder anzusehen. Damals hatte ich Durchhalten gelernt. Und bis heute will ich niemals aufgeben, ist die Chance zu gewinnen auch noch so klein.

2. Sommer 1960

Ein Stein

Der Film und die Hitze hatte unsere Hirne weich gemacht. ‘Plopp!‘, machte es, Staub wirbelte auf. Direkt vor unseren Füßen blieb ein etwa faustgroßer Stein liegen. Eine Sekunde zuvor hatte ich aus verkniffenen Augenwinkeln den Oberkörper und Kopf eines Jungen aus dem Gebüsch auftauchen sehen. „Da ist der Kerl“, rief ich und zeigte in dessen Richtung. Jetzt sah ihn auch Wolfgang. Er ballte die Faust und und schrie wild: „Mann, du Idiot, der Stein hätte uns treffen können!“ Wortlos zuckte der fremde Kopf kurz nach links, dann nach unten und blieb anschließend verschwunden.

Während ich noch mit erschrockenem Gesicht überlegte, was zu tun sei, handelte Wolfgang. Er griff nach dem Stein und warf ihn, dabei ohne jede Absicht Schaden anrichten zu wollen, elegant in Richtung des Attentäters. Just, als sich der Stein auf den Weg machte, tauchte der Kopf wieder aus dem Gebüsch auf. Die Flugkurve zeigte direkt auf ihn und mit einem hässlichen Knall wurde die Schläfe getroffen. Der Junge sackte zusammen und verschwand wieder im Grün. Entsetzt sahen wir uns an. Was passiert sein könnte, ahnten wir sehr wohl, so jung waren wir auch nicht mehr. Vielleicht zwölf, dreizehn. Regungslos standen wir, keiner wusste was zu tun sei. Unvermutet öffnete sich dann das Gebüsch, der Getroffene bewegte sich heraus, er torkelte in unsere Richtung und fiel uns direkt vor die Füße. Ein letztes Aufbäumen mit widerlichem Zittern durchlief den jungen Körper. Mit dem Gesicht im weichen Kies lag er vor uns. Ich traute mich nicht an ihn heran. ‚Der ist tot‘, wusste ich. Wolfgang, ein Jahr älter und wohl auch mutiger, trat dichter heran. Sein schön beschuhter Fuß reckte sich vor, schlüpfte unter den Thorax und drehte den Jungen mit leichtem Anheben auf den Rücken. Ein unbekanntes Gesicht zeigte sich mir, an seiner Schläfer klaffte eine große Wunde, viel Blut lief heraus. ‚Du musst helfen!‘, durchzuckte mich. Nichts Besseres als unser Hausarzt fiel mir ein. Wie verrückt lief ich die zweihundert Meter bis zu seiner Praxis, stürmte vorbei an der erstaunten Helferin und durchschritt den Warteraum. „Halt!“, riefen die anderen, ich kümmerte mich nicht um sie. Erst als im Untersuchungsraum eine halb entkleidete Dame aufschrie und mich der Arzt anblöckte: Hinaus!, wachte ich auf. Ohne weitere Worte verwies er mich des Raumes, und nun stand ich mit leeren Händen da.

Verzweifelt ging ich zur Unfallstelle zurück. Wolfgang wartete zwischen vielen Polizisten mit Feuerwehr und versuchte sich irgendwie zu behaupten. Bedrängt wurde er immer wieder von der jammernden Mutter des Gefallenen. Mit der linken schüttelte sie ihn, in ihrer der rechten lag der blutige Stein. Ich nahm meinen Freund zur Seite. „Was machen wir?“, fragte ich ihn, „ich kenne hier niemanden, lass uns verschwinden!“ Er aber war erfahrener, ruhig stand er und überlegte noch eine Weile. „Das sind schon Probleme“, wand er ein, „aber du weißt, mein Vater ist Bürgermeister von Nortorf. Der boxt mich schon irgendwie heraus!“

3. September 1965

Werner ohne Zähne

September fünfundsechzig, ich spielte in der Landesliga und war meine ganz private Hoffnung anerkannter Stopper zu werden. Meist spielten wir Sonntagsvormittag, etwa jeden zweiten fuhren wir zu unseren Gegnern. So auch, als ein relativ unwichtiges Spiel bevorstand, und obwohl wir gemäßigt hätten spielen können, spitzt sich die Lage etwas zu, als einer meiner Freunde äußerst unfair gefoult wurde. Und wie es bei einem Derby so ist, man schaukelt sich auf, plötzlich ist echter Kampf gefragt.

Es muss so Mitte der ersten Halbzeit gewesen sein, als ein Eckball hereinflog. Wir wehrten ihn ab, leider zu kurz, der Gegner griff erneut an. Eine Flanke fliegt herein, der Ball springt einige Male auf den Boden. Ich sprinte ihm entgegen und pralle auf den ungehobelt spielenden Stürmer der gegnerischen Mannschaft. Den unausweichlichen Zusammenprall sah ich kommen, verlangsamte trotzdem nicht und biss die Zähne zusammen.

Dann fand ich mich auf dem Rasen wieder, ein Zahn lag neben mir, aus dem Mund blutete ich schrecklich. Bis zum Ende hielt ich durch, dann brauchte ich eine gewisse Zeit, um mich zu erholen.

Ein paar Wochen später benötigte ich einen Zahnarzt, weil ich kurz vor einer Ohnmacht stand. Ich war noch Lehrling und nahm mir trotzdem die Freiheit in der Mittagspause zu ihm zu gehen, niemand konnte ahnen wie mein Besuch ausgehen würde. Nur ein kurzes „Hmm“, hörte ich als er meinen Mund hineinsah und das ziemlich lädierte Gebiss betrachtete. Ich hätte eher kommen müssen, fügte er noch hinzu. „Jetzt wird es schwierig für Sie!“ Er sollte Recht behalten, am Ende meiner Leidensfähigkeit machte ich mich auf den Heimweg, die Arbeit hatte ich vergessen. Fußball spielte ich in den folgenden Wochen trotzdem.

Ein wichtiges Pokalspiel stand neunzehnhundertsiebenundsechzig vor der Tür. Ich hatte eine gute Freundin und wollte mal so richtig angeben. Ich fragte sie, Marianna willigte ein und zum ersten Mal hatte ich einen eigenen Zuschauer. Beim Stand von eins zu eins fliegt wieder einmal ein Eckball in unseren Strafraum, ihn wegzuköpfen springe ich hoch, da hechtet ein Gegner ebenfalls nach dem Ball. Mit großer Wucht trifft er mich mit seiner Stirn an meiner Schläfe. Mein Salto folgt und platt auf dem Boden liegend komme ich wieder zu mir. Kollegen tragen mich hinter das Tor, mir ist unglaublich schlecht. „Los“, sagt einer, „jetzt nicht schlapp machen, wir haben keinen Reservespieler mehr, reiß dich zusammen.“ Ich versuche es und laufe wieder auf das Spielfeld, gelange bis zum Mittelkreis, wo nicht unbedingt mein Bereich ist, versuche herauszufinden in welche Richtung wir spielen – und kann es nicht. Mir wird noch schlechter. ‚Besser‘, denke ich, ‚ist dich fallen zu lassen. Irgendetwas wird schon passieren.‘ Im Wagen unseres Trainers komme ich wieder zu mir, meine Hände und Füße krampfen sich zusammen und kommen dem Körper immer näher.

Unbeabsichtigt kralle ich mich irgendwo fest. „Warte“, sagt jemand, „wir sind gleich im Krankenhaus.“

Tatsächlich, bald liege ich in einem schönen weißen Bett. Beruhigt hatte es mich nicht, eine Woche lang übergab ich mich, bis nichts mehr kam.

Der Tag meiner Entlassung schien ein schöner. Ich war nach Haus gegangen, um meine Papiere für die Musterung zu holen. Dann stand ich unruhig vor der Kommission. „Sie sehen schlecht aus“, sagte wieder einer. Ich erzählte von der letzten Woche, und das Unerwartete wurde wahr. „Kommen Sie noch einmal im nächsten Jahr zu uns, kranke Leute können wir in diesen Zeiten nicht gebrauchen“, fügte er völlig uninteressiert hinzu. Einen schöneren Satz hatte ich vorher noch nicht gehört.

Natürlich saß ich nicht ein Jahr herum und wartete wie das Kaninchen vor der Schlange. Eine Ausbilderposition hatte ich mir in Südafrika ergattert! Leider kam ich dort nie an. Die vermittelnde Stelle hatte übersehen, dass ich noch lang nicht volljährig war. Auch musste ich das schon zugestellte Ticket für eine Überfahrt von Genua nach Kapstadt wieder zurückgeben.

Den Mut gab ich nicht auf. Mich wird die Kommission nicht ein zweites Mal sehen, beschloss ich. Um in der noch zur Verfügung stehenden Zeit einen sicheren Ausweg zu finden, denn töten wollte ich unter keinen Umständen lernen, wählte ich die zunächst einfachste Möglichkeit und ging wenig später nach Berlin.

4. Juli 1966/67

“Fire for my cigarette“

Rudston in Yorkshire war schon ein halbes Jahr entfernt und immer noch redeten wir im Verein von den Wochen, die wir in diesem winzigen Dorf verbrachten. Unser Trainer war dort nach dem Ende des Krieges in Gefangenschaft gewesen, hatte die Zeit genutzt, um eine der Schönen kennenzulernen, sie zu heiraten und anschließend mit nach Deutschland zu nehmen. ‚Wer will schon in diesem popeligen Minidorf leben?‘, wird er sich gesagt haben. Die verwandtschaftlichen Verbindungen blieben jedoch bestehen, jedes Jahr verbrachten sie dort ihren Urlaub. Irgendwann wird der Gedanke entstanden sein die Fußball-WM zu einem weiteren Besuch zu nutzen und zwar gleich mit dem ganzen Verein, Olympia Neumünster!

Wildes Geheul brach aus, als er diesen Vorschlag unterbreitete. Wir alle wären lieber heute als morgen dorthin gefahren, aber die WM fügte sich nicht unseren Wünschen und begann erst einige Monate später. Ich ging noch einen Schritt über das Geheul hinaus und dachte: Bevor ich alt werde, muss ich unbedingt dort hin.

Als fünfzig Leute am achten Juli sixty-six in seinem Rudston eintrafen, hatte sich das gesamte Dorf auf die Socken gemacht und uns als Vertreter einer berühmten Mannschaft sowie grandiosen Fußballnation mit spontanem Beifall begrüßt. Jeder Haushalt nahm mindestens einen Spieler auf, meine Gastgeber gleich zwei, da sie über genügend Platz auf ihrem Bauernhof verfügten. Helmut B. zog mit ein. Die anschließenden Wochen waren mit diversen Spielen der deutschen Mannschaft geplant sowie Fahrten in die Umgebung und viel Freizeit.

Am liebsten fuhren wir jedoch mit dem Bus in diese wunderschönen Perle Bridlington hinein, um am Meer zu sitzen, Stunden auf das blaue Wasser zu starren, den Mädchen nachzusehen und einfach die erste große Reise des Lebens zu genießen. An den Tagen, an denen wir zu den Fußballspielen fuhren, mussten wir ziemlich schnell wieder ins Dorf zurück. Einmal wurde der Bus verpasst und die gesamte Gruppe hatte die zehn Kilometer zu Fuß auf uns zu nehmen. Wir waren in Eile, fürchteten schon unseren Mannschaftsbus zu versäumen, da bog mein Bauer um die Ecke und deutete auf die Heckklappe seines kleinen Lieferwagens. Wir sprangen hinein und er fuhr uns die letzten Kilometer ins Dorf.

Als wir uns zu den restlichen Kollegen setzen wollten, forderte uns jedoch einer auf schnellstens ihren Bus zu verlassen, wir würden entsetzlich stinken. Erst jetzt fiel uns auf, im Wagen meines Bauern zwischen Stroh und den Resten einer Mahlzeit seiner Kühe gestanden zu haben. Dass der Geruch solange an uns haften würde, hätte sich aber keiner vorstellen können.

Beckenbauers Aufstieg zur Berühmtheit erlebten wir im Anschluss beim 5:0 gegen die Schweiz in Sheffield. Seine Tore und der unglaubliche Linksschuss von Lothar Emmerich in der achtunddreißigsten Spielminute gegen Spanien von der linken Seitenlinie her, wird kein Zuschauer vergessen. Unsere daraus entstandene gute Laune hielt sich während der weiteren Busfahrten nach Birmingham, noch zweimal Sheffield, dann bis nach dem Halbfinale in Liverpool, das 2:1 für Deutschland gegen Russland ausging. Das Endspiel verfolgten wir leider auf der Fähre nach Ostende, dem Trainer war es nicht möglich gewesen Eintrittskarten zu besorgen.

Aber bitte noch einmal zu den abendlichen Gängen von Bridlington nach Rudston zurück. Denn, blieben wir bis spät abends, wurde es so richtig schön. Wir verpassten absichtlich den letzten Bus, saßen bis zum Dunkelwerden am Strand, dieser göttlichen Erfindung, tranken, rauchten, redeten auch oft mit den Engländerinnen, denn Exoten waren wir, junge Männer von drüben, vom Kontinent!

Einmal, ich erinnere mich noch genau, lernten wir zwei Mädchen aus Wrexham, Wales, kennen, weil das Lied der ‘Troggs: Wild thing‘ nicht nur von uns auf einer Musikbox gewählt wurde, sondern auch von ihnen.

Wieder einmal war es dunkel und wir hatten etwa die halbe Strecke nach Rudston zurückgelegt, als uns wilde Geräusche eines Autos erreichten, das irgendwo auf einer Wiese zu stehen schien. Dann entdeckten wir neben der Straße einen zerrissenen Stacheldraht durch den der Wagen gefahren sein musste, und fanden ihn festgefahren im Schlamm, mitten auf freiem Feld, eingekeilt zwischen schlafenden Kühen. Der Fahrer war stark angetrunken und versuchte sich zu befreien. Es gelang ihm nicht, als er uns bemerkte bat er: „Please, help me.“ Also packten wir an und schoben seinen kleinen, feinen, englischen Sportwagen zurück an die Straße.

Ein Jahr später.

Nach unserer Rückkehr sprachen Peter und ich im Kreise unserer Freunde oft über England, das erweckte in ihnen den Wunsch ebenfalls dorthin zu wollen. Irgendwann hatten sie uns überzeugt und, um die Reise zu ermöglichen, kauften wir fünf den Kombi eines Gesellen, reparierten ihn auch hier und da.

Endlich waren die letzten Absprachen getroffen, Koffer und Zelte gut verstaut, die Karten im Handschuhfach. Geld klimperte in den Taschen und vollgetankt war der Wagen auch. Du meine Güte, dachten wir, da deuten sich wunderbare Wochen an, los geht’s. Über Hamburg und Rotterdam fuhren wir auf eine Fähre. Dann erwartete uns Dieters Schwester in Slough, nahe London. Am späten Nachmittag trafen wir ein, aßen eine Kleinigkeit und Punkt zwanzig Uhr waren wir in der einzigen Disco des Ortes. Peter, der noch nie geraucht hatte, wandte sich gleich an das erste Mädchen: „Please, can I have fire for my cigarette?“, sagte er, und wir alle lachten.

Nach dieser einen Sekunde waren nicht mehr nur Mädchen zu sehen. Wie einem geheimen Zeichen folgend stürmten ihre Freunde, die wir vorher gar nicht gesehen hatten, aus allen Ecken. Dann ging’s los. Horst bekam den ersten Schlag, plötzlich hingen alle an mir. Unter dem Gewicht der Angreifer ging ich zu Boden, steckte noch viele Schläge und Tritte ein, deren Folgen man später gut bewundern konnte.

Wir saßen schon im Auto, da stürmte noch einmal der Freund des ersten Mädchens aus der Disco. „Fahr los“, feuerten wir Jürgen an, der als einziger den Führerschein besaß. Aber Jürgen muss mit seinen Gedanken irgendwo anders gewesen sein, er hörte nicht. Der miese, rotzige kleine Engländer klopfte wie wild gegen die Seitenscheibe, Jürgen drehte sie herunter, wir vier stöhnten auf, und Jürgen bekam weitere Schläge an den Kopf. Was macht Jürgen? Der macht doch die Tür auf und kriegt weitere Treffer an die Birne.

„Schlag die Tür zu!“, riefen wir.

„Geht nicht!“ schrie jetzt Jürgen, „der hat noch seine Hand dazwischen.“

Und wir: „Na und, du Pfeife, fahr endlich los!“ Was ihn letztlich aus seinen Träumen riss, weiß er wahrscheinlich bis heute nicht, aber er tat‘s dann.

Bevor wir jedoch bei Dieters Schwester eintrafen, leckten vier schwer getroffene Jungen ihre Wunden, ich kühlte zusätzlich ein blaues Auge. Nur Peter, der für den gesamten Ärger irgendwie verantwortlich war, pfiff still vor sich hin. „Wie siehst du denn aus, so rein und ohne Beulen?“, staunten wir, „wo bist du gewesen?“

„Ich habe mich gleich in die Toilette verzogen, als der Kerl direkt auf mich zukam. Denkt ihr denn ich lasse mich wegen Nichts verprügeln?“ Nun gut, dachten wir, jeder hat seinen eigenen, ganz privaten Stil.

Vor Angst in weitere Schlägereien verwickelt zu werden, blieb Dieter in Slough. Wir restlichen vier fuhren über Wrexham/Wales, wo wir einige Tage blieben, und ich wegen meines ‘Black Eye‘ stark bewundert wurde, nach Rudston zu meinem Bauern, richteten unsere Zelte auf und fuhren jeden Abend nach Bridlington. Einmal, ich werde das nie vergessen, besuchten wir trotz der klammen Kassen ein Konzert von ‘The Who‘. Wahnsinn war das, alle tobten schon vorher im Saal herum. Der Pete Townsend, schon bei seinen ersten Griffen an die Gitarre fielen die ersten in Ohnmacht, Pete, der mit der riesigen Nase, hatte gleich die Whiskyflasche am Hals, aber er hielt bis zum Schluss durch, zum jungen, kraftvollen ‘My Generation‘, wie auch zwei Jahre später in Woodstock, ‘Happy Jack‘ folgte. Dann, und jeder hatte es erwartet, sprang er hoch, holte dabei weit aus und zertrümmerte mit vielen Schlägen seine teure Gitarre auf dem Boden. Das Publikum war nicht mehr zu halten, aber wir verließen fluchtartig den Saal, eine weitere Prügelei wollte sich keiner gönnen.

Wieder ging es weiter, wir holten Dieter von seiner langweiligen Schwester, besuchten in London noch die Carnaby Street und zelteten abends am Ufer jenes berühmten Flusses, der Themse. „Das ist unser letzter Abend in England, wer weiß ob wir jemals zurückkommen, wollen wir nicht ein bisschen in Fluss schwimmen?“, fragte ich.

Drei stöhnten laut auf: „Um Gottes Willen, du hast wohl noch nicht genug einsteckt“, meinten sie, „doch nicht in dieser Brühe!“ Peter und ich kümmerten sich nicht um die Warnungen, wir schwimmen auch in dunkler Nacht und überall, herrlich war es.

Bereits nach fünf Stunden stimmte etwas nicht mit meinem Magen, aber ich kümmerte mich nicht um ihn. Als wir am nächsten Morgen starteten, musste Peter, der immer wieder rief: „Verdammt, Hagebutte für die Nutte!“, weiß der Teufel woher er den Spruch hatte, schon hinten im Wagen auf den Koffern liegen, ihm ging es schlecht. Ich hielt noch irgendwie bis zur Fähre durch. In Calais angekommen, Paris beabsichtigten wir noch anzusteuern, wollten wir zwei sterben. Mein Gott, war uns schlecht und in Frankreich war es so entsetzlich heiß!

Beim Aufbau der Zelte konnten wir nicht helfen. Wie heiß es wirklich war spürten wir, als Peter und ich am frühen Nachmittag aufwachten. Im Zelt kochte die Luft, riesig dicke Köpfe hatten wir, und die Freunde waren nicht da. Paris war ihnen wichtiger als unser Leben.

Nachts reichten uns Nachbarn Cola, Bananen und Kohletabletten, dadurch ging es uns ein wenig besser, doch der nächste Vormittag war grausam. Trotz des schlechten Zustandes waren wir mit der Metro in die Nähe des Eiffelturmes gefahren. Dann schleppten wir uns von der Toilette einer Bar zur nächsten, bis wir ermattet auf dem Rasen des Marsfeldes lagen. Die drei anderen kümmerten sich wieder nicht um uns, sie fuhren einfach den Turm hinauf.

Peter liegt links, ich rechts, zwischen uns steht ein bayrischer Tourist. „Seppl, bring mir ein Eis mit“, ruft er seinem Kollegen zu. Ich verstand die Welt nicht mehr.

Mit mehr als drei Kilo Untergewicht traf ich wieder in Neumünster ein, doch die Stadt hatte sich nicht verändert!

Jahre später, natürlich hatte ich die Schlägerei nicht vergessen, fragte ich einen englischen Offizier, was wir denn falsch gemacht hätten. Er stellte die Frage nach dem Anfang, ich sagte, „Please, can I have fire for my cigarette?“

Er stöhnte auf und versicherte mir, dass es nicht anderes bedeuten würde, als einem Mädchen einen schmutzigen Antrag zu machen. „Mensch“, sagte er, „light for my cigarette, heißt das. Ihr Anfänger!!!“

5. Januar 1968

Die B5

Mein Streben nach Unabhängigkeit brauchte ein greifbares Ziel, ich wollte die Welt ergründen! War noch so jung, wollte das popelige Neumünster mit seinen miefigen Verwandten hinter mir lassen, die Bundeswehr vergessen und ging erst mal nach Berlin. Schon auf der Heerstraße, die vor mir lag wie das ausgerollte Innere einer herrlich aufregenden Endlosschleife, begann ich zu leben. Wusste sofort: hier fühlst du dich wohl und schön wäre, wenn die Zeit stehen bliebe! Theodor Heuss Platz, die Oper, Siegessäule folgten, Ernst-Reuter-Platz. Dass ich ohne Begleitung in meiner Isabella saß, störte mich nicht. Im Gegenteil, das Erwachen einer neuen Lebenssituation verträgt man doch am besten allein mit sich selbst.

Grundlage meiner Entscheidung war das bereits erwähnte Glück aufgrund einer schweren Gehirnerschütterung noch nicht zur Bundeswehr zu müssen. Später wurde ich zum Wehrdienstverweigerer und anschließend, als mich das lange Verfahren unruhig machte, zum Wahlberliner.

Natürlich blieb der Kontakt zu Freunden, hätte es da nur nicht immer das Problem mit den Fahrten auf der alten B5 gegeben. Sie, Straße der Sehnsucht für viele, spannte sich zwischen Lauenburg und Berlin-Spandau. Mal fuhr ich auf ihr zu schnell, manchmal dachte ich durch Karstädt würde ich nie hindurch fahren können, mal hatten die Vopos an der Grenze nichts zu tun und ließen es den Reisenden spüren.

Es war kalt an diesem Sonntagabend, der Anfang des Februars glänzte mit dickem Schnee und Temperaturen um fünfzehn Grad minus. Das Wochenende war für mich vorüber, am nächsten Tag wartete die Arbeit. Die B404, Verbindungsstraße zwischen Kiel und Lauenburg, existierte noch in ihrem alten Zustand. Plötzlich war ich verwundert über die schwammige Fahrt meiner Isabella, als gegen zwanzig Uhr Kloster Nütschau passiert wurde. Ich stieg aus, sah den Grund und ärgerte mich über den Plattfuß, hinten links.

Natürlich, auch der Reservereifen war butterweich. Sofort dachte ich an mein schmales Budget. Ich stellte mich also mit dem kompletten Rad und gekleidet in dünnster Jacke aus Affenhaut, an die Straße und hatte Glück. Ein mitleidiger Fahrer brachte mich zur nächsten Tankstelle.

Mit fünfzig Mark weniger, aber auf alter Felge mit intaktem neuen Reifen, so eine gute Seele hatten früher die Tankwarte, brachte mich der nächste nette Fahrer zu meinem Auto zurück. Mit saukalten Händen und ohne jegliches Licht wechselte ich das Rad. Als ich wieder hinter dem Steuer saß, waren die Finger so klamm, dass sie bei jeder Bewegung knarrten.

Dies war ein erster, und mit Abstand der ruhigste Teil der folgenden dreihundert Kilometer. Etwa eine Stunde später, im Zentrum von Ludwigslust, schon einige Male war ich durch dieses Highlight ostdeutscher Stadtkultur gefahren, übersah ich wegen aufgekommener Müdigkeit und fehlender Straßenbeleuchtung das Abbiegen nach Berlin. Dies muss zuvor auch anderen passiert sein, denn kaum bemerkte ich den Fehler, drängte mich auch schon ein Wartburg an die Seite und versperrte jeglichen Fluchtweg. Inzwischen hatte mich die holperige Straße gänzlich wachgerüttelt und nach dem erzwungenen Halt harrte ich als einsamer Westdeutscher der Dinge.

„Aussteigen!“ wurde ich von einem Vopo angeherrscht. „Sie sind von den Transitwegen abgekommen.“ „Kann sein“, antwortete ich, „und wenn schon, es sind doch nur zwanzig Meter. Daran wird Ihr Staat nicht eingehen. Außerdem sieht man hier ja nichts.“ Ich wusste gleich, es war falsch. Aber auf die Knie zu sinken und um Gnade zu bitten, lag mir auch heute nicht. Zudem, wie schon gesagt, war es kalt.

„Geben Sie mir doch bitte Ihren Gürtel, auch die Schnürsenkel. Schon mancher ist auf unserem Boden gestolpert. Ach, lassen Sie, dazu haben wir noch später Gelegenheit“, sagte in hervorragendem Hochdeutsch der erste Vopo und freundlich war er dazu. Das ist in der DDR nicht selbstverständlich. Leider folgte dann: „Sofort einsteigen! Folgen Sie uns im geringen Abstand“, war seine vorhersehbare Vorgabe, nicht aber der weitere Verlauf des Abends. Wie angegeben folgte ich, und nach zweihundert Metern verließen wir die Hauptstraße. Sofort beschlich mich ein ungutes Gefühl, wer weiß warum? Wir fuhren dann einige hundert Meter weiter bis hinter ein schlossähnliches Gebäude, umkreisten es zweimal, bis wir vor dem antiken Hauptquartier der Volkspolizei, einem heruntergekommenen Holzschuppen, hielten. Unsanft wurde ich anschließend von den vier kräftigen Kerlen aus den Wagen gezerrt und in die Bruchbude geführt.

„Stopp! Jetzt Gürtel und Schnürsenkel her, Sie bekommen alles zurück, wenn Sie uns einmal verlassen sollten“, brüllte mir nach wenigen Metern ihr Häuptling ins Ohr. ‚Oha‘, dachte ich, ‚hier bist du richtig.‘ Plötzlich bremste meine Eskorte und ich schlug, weil noch benommen vom Ton des Häuptlings, vor Schreck gegen den Vordermann. „Auch das noch“, war zu hören, „wohl nicht bei der Armee gewesen, was?“ „Nee“, gab ich stolz zurück.

Nun rupfte mir ein Grün-Grauer meinen schicken Gürtel vom Leib, die Schnürsenkel musste ich allein herauszuziehen. Es war kein schönes Gefühl zu knien, auf die Schuhe zu starren – und die freundlichen Vopos über mir zu wissen. Weiter gingen wir bis zum Ende des Flures, das eine Tür mit der der Aufschrift ‘Lehrerkolleg‘ zierte. Jemand öffnete sie, ich wurde hineingestoßen. Die Tür schloss sich sofort, ein Schlüssel drehte sich knirschend. „Schöner Mist“, meckerte ich mit mir und sah mich um. Ich hätte es mir sparen können, denn außer einer Pritsche ohne jede Auflage und einer nackten Glühlampe gab es in diesem Hochsicherheitstrakt nichts. Selbst für einen Heizkörper hatte es nicht gereicht!

Fünf Stunden fror ich vor mich hin. Lief, von der Kälte getrieben, ohne Unterbrechung auf und ab und machte mir echte Sorgen. Ich fürchtete nicht gerade lange Tage in diesem Gefängnis oder gar Sibirien, aber niemand hätte gewusst, wo meine Spur verloren gegangen wäre. Anrufen? Nein, an Handys war noch nicht zu denken. Außerdem war es schon fast eins, erkannte ich nach meinem Blick auf die noch vorhandene Armbanduhr. Ein Schreck durchfuhr mich, ich würde nicht rechtzeitig in meiner neuen Firma erscheinen können!

Noch graute es nicht, da drehte sich ein Schlüssel im Schloss der Lehrerkollegtür, meine bekannte Eskorte trat ein. „Ach ist das hier schön kalt“, sagte einer. Ohne weitere Worte bildeten sie das bekannte römische Viereck, aber es kann auch die relativ unbekannte Formation ‚Schildkröte‘ gewesen sein. Zur Vermeidung weiteren Ärgers schlüpfte ich ohne Aufforderung in ihre Mitte. Falsch war es, denn jemand zog mich zurück und sagte freundlich: „Bitte, erst wenn wir es sagen!“ Dann gab er mir einen Schubs, der Zug setzte sich ohne weiteres Nachspiel in Bewegung. „Was wohl aus ihm wird?“, sagte der mit der falschen Temperatureinschätzung. Ich mochte ihn schon vorher nicht.

Ordentliches Gehen bereitete mir Mühe, die Schnürsenkel fehlten. Zusätzlich stakste ich wegen der steifgefrorenen Beine. „Können Sie nicht ordentlich laufen? Sie sind doch noch jung. Bei uns würden Sie schnell anständige Bewegungen lernen.“ „Das glaube ich Ihnen gerne“, wollte ich sagen, doch mein eingefrorener Denkapparat verfügte Gott sei Dank über eine letzte Sicherung.

Dann stand ich vor einem Richter, dem eine Verurteilung jugendlicher Intensivtäter außerordentlichen Spaß bereitete. Und so las er das Blatt mit dem linksdiagonalen roten Querstrich und dem großen ’W‘ gleich zweimal vor. Ich hatte nicht bemerkt wie viel ich von ihren Gesetzen der Straße auf zwanzig Metern übertreten hatte. Als ich kurz einwandte, dass mein Verlassen des Transitweges von mir selbst bemerkt worden war und nur wenigen Sekunden gedauert haben kann, war er zunächst sprachlos. Dann bellte er den Klassenfeind an: „Wollen Sie den Staatsorganen der Deutschen Demokratischen Republik unterstellten“, zu meinem Leidwesen sächselte er unüberhörbar, „falsch recherchiert zu haben?“ „Wo denken Sie hin?“, warf ich recht kleinlaut ein, „aber ich dachte nicht …“ „Ruhe“, donnerte er. Gleich darauf erhielt ich im Namen seines Volkes ein hartes Urteil. Mit Tränen in den Augen bemerkte ich, dass mir noch zehn Mark blieben, und es war erst Beginn des Monats. Verdammt! „Was nuscheln Sie da?“, fragte der Richter. Ich meinte still noch einmal: Verdammt! sagen zu müssen. „Mensch“, sagte ich dann aber laut, „es ist schon sechs. Pünktlich bin ich sicher nicht im Büro.“ Dies sei nun mein Problem, schmunzelte er. „Wenn Sie wirklich noch einmal Transit durch unser schönes Land fahren wollen, denken Sie an mich. Und viele Kollegen habe ich auch noch!“ Höhnisch lachend verließ er den Saal. Wirklich, es war so!

Danach bemühte ich mich wenigstens ein bisschen der verlorenen Zeit aufzuholen und brummte über die frisch vom Schnee geräumten, doch sauglatten Straßen. Die Sonne stand niedrig über dem Horizont, der Himmel zeigte ein noch tiefes Blau und auch die Werktätigen des anderen Staates saßen, wie ich, in ihren Autos, um sich den Tag mit ein wenig Arbeit zu verschönern. So richtig hatte ich in meiner nun guten Laune den Bahnübergang nicht wahrgenommen, als eine vermummte Gestalt aus tief verschneitem Graben heraussprang.

Ich ahnte, hier wirst du halten müssen. Richtig, mit ausgestreckten Händen, grünem Rock und einer länglichen Waffe an seiner Seite, bedeutete er mir zu stoppen. Nach verteufelt langem Bremsweg, denn ich wollte eigentlich nicht so recht, auch wegen der glatten Straße, stand der Wagen endlich.

„Ja, wissen Sie denn nicht, dass ab heute früh Bahnübergänge nur mit einer Geschwindigkeit von dreißig km/h überquert werden dürfen? Mensch, Sie waren doch viel zu schnell!“

„Ja, doch“, log ich, „ich informiere mich jedes Mal bevor ich durch Ihren Staat fahren muss. Aber letzte Nacht ist viel passiert.“ Und ich erzählte von seinen Kollegen und meinem leeren Portemonnaie. „Jetzt habe ich Angst meine Arbeit zu verlieren“, schluchzte ich fast zum Schluss, „mein Chef ist streng.“ „Na, wie viel haben Sie denn noch?“, fragte er in seiner gutmütigen Art und ich war sicher auf einen mitfühlenden Menschen getroffen zu sein. Vor seinen Augen begann ich in meinen Taschen zu wühlen und zählte das restliche Geld. „Zehn Mark habe ich noch, können Sie mir nicht das Wenige lassen?“, fragte ich kleinlaut. Sein Gesicht verfinsterte sich, die gute Laune war dahin. „Das kann ich nicht“, begann er und rüttelte leicht an der Kalaschnikow, „sonst bekomme ich Ärger mit denen hinter uns. Aber, geben Sie mir fünf und ich lasse Sie gehen.“ Es ist so, dachte ich, nicht alle Menschen sind schlecht.

In Staaken angekommen, ließ sich der zweite Gang meiner braven Isabella nicht mehr auskuppeln. Solang ich fuhr, war das kein Problem. Erst wenn ich an Ampeln in Schöneberg, Kreuzberg oder wegen der Verkehrslage, halten musste, begann ein Hupkonzert hinter mir, denn jedes Mal musste ich den Motor abwürgen. Gut, dass mir einfiel, dann die Zündung auszuschalten, wieder zu starten und zu hoffen, den Motor mit Hilfe des eingelegten Ganges und des Anlassers anspringen lassen zu können. So hoppelte ich bis in die Franz-Künstler-Straße und sprang todmüde in ein Bett, nachdem ich meinen Chef um einen freien Tag gebeten hatte. Bis zum Monatsende lebte ich ausschließlich von Tütensuppen Marke ‚Knorr‘. Nachts, wenn mich Hunger und übertriebene Müdigkeit nicht einschlafen ließen, gaukelten mir bunte Werbeaufdrucke rucksacktragende Brathühner auf karierten Zebrastreifen vor.

6. Mai 1968 bis heute

Die vielen Wohnungen, fünfzehn sind es bis heute.

Schnell verging die Zeit, schon war ich drei Monate in Berlin. Meine Nachmittage begannen mit dem studieren von Wohnungsanzeigen in allen Zeitungen. Anschließend fuhr ich zu den angegebenen Adressen und hoffte auf Milde bei den Wohnungsbesitzern. Oft war ich der hundertste Interessent, da war von Milde nicht mehr viel zu spüren und die Abende endeten frustrierend.

An einem Vormittag landete Marianna in Tempelhof. „In welche Wohnung fahren wir denn, wo übernachte ich?“, fragte sie. Eine tröstende Antwort hatte ich nicht, und so endete ihr erster Tag in Berlin im teuren Stuttgarter Hof. Dass sie dort nicht bleiben konnte war uns klar, also wechselte sie am nächsten Tag in ein Hotel am Ku'damm, das wegen der starken Fluktuation der Freier in den Nachtstunden, recht preiswert war. Dafür konnte sie am nächsten Tag viel erzählen. Wir suchten weiter und eine der vielen Besichtigungen muss hier unbedingt angesprochen werden. In der Potsdamer Straße, der Sportpalast war gleich um die Ecke, betraten wir mit vielen Interessenten das Treppenhaus, um in den vierten Stock zu gelangen. Die Tür der Wohnung im ersten Stock war, vielleicht rein zufällig, weit geöffnet und keiner der vorbeiströmenden Interessenten konnte glauben was er dort sah: eine lebende Kuh stand in der Diele, eine Kuh!!

Zwei Tage später trat der Leiter des Arbeitnehmerwohnheimes 'Franz-Künstler-Straße' auf mich zu und übergab mir eine Telefonnummer. „Ein Mann hat auf Ihre dringende Anfrage wegen einer Wohnung reagiert. Rufen Sie ihn gleich an, vielleicht haben Sie Glück“, sagte er.

Nachmittags fanden sich ein Freund der Wohnungsbesitzerin, Marianna und ich in der Herzbergstraße 11 ein. Ich sage es ehrlich, die Wohnung hätte im schlimmsten Zustand sein können, wir hätten sie gemietet. Aber sie war in Ordnung und machte, auch weil die Räume möbliert waren, eine guten Eindruck. Vor Freude, die Zustimmung zum Mieten der Wohnung sofort erhalten zu haben, fiel mir Marianna um den Hals. Ich blieb im Arbeitnehmerwohnheim.

Weiterhin fuhren wir jede Sonnabendnacht zum Kiosk Joachimstaler/ Ku’damm und kauften die Morgenpost, schließlich fehlte mir auch noch eine Wohnung. Schon im Auto unterstrich Marianna die interessanten Objekte. Früh am Sonntag begann die Jagd. Einmal hatten wir Glück, jemand bot eine Wohnung an, merkwürdigerweise mit Mariannas Adresse, denn zufällig wohnte der Vermieter im gleichen Haus. Ich läutete gegen sieben Uhr, war der erste Interessent und damit der neue Mieter.

Der Sommer verlief ohne große Ereignisse. Dann, etwa im November, besuchten uns meine Schwester und Volker, ihr Mann. Zuvor hatten wir Souvenirs vom Steinhuder Meer, eine Aalreuse und ein riesiges Wagenrad an die Wand genagelt. Ich heizte gut ein, schließlich herrschte draußen eine Temperatur von minus zwanzig Grad und der Schnee lag bis hoch zu den Fenstern im EG, schlief oben bei Marianna und wollte am frühen Morgen die beiden wecken. Schließe also auf, glühende Hitze schlägt mir entgegen. Ich hatte ein wenig übertrieben und vielleicht sieben, acht Briketts zu viel aufgelegt. Ermattet durch die Hitze, saßen Helga und Volker entkräftet auf ihren Betten und der große graue Kachelofen hatte einen mächtigen Riss bekommen. Doch nicht nur dies hatte sie überrascht, auch das in der Nacht von der Wand gefallene Wagenrad hatte ihre Nachtruhe gestört.

Monate später hörte Marianna in ihrer Firma von einer Kollegin, dass sie unbedingt aus ihrer Wohnung ausziehen wolle. Die Zeit des Wartens auf die von der Gesellschaft nachzuweisende Wohnung nach Abriss des Mietshauses, zog sich schon zu viele Jahre hin. Sie war des Harrens müde. Gerne nahm ich das Angebot an ihre Wohnung zu übernehmen. Denn Zeit zu warten hatte ich, und wenn mir tatsächlich eines Tage wegen des Abrisses meines Mietshauses eine Wohnung nachgewiesen werden sollte, umso besser! Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern und einer kleinen Küche, das WC war auf dem Treppenpodest, die Miete betrug wunderbare fünfunddreißig Mark. Über eine mir bis dahin unbekannte Besonderheit verfügte sie jedoch. Um in meine Wohnung zu gelangen musste ich durch den Wohnungsflur der davor liegenden Wohnung gehen! Die Hauptmieterin hatte einfach den hinteren Teil abgetrennt und untervermietet. Sie selbst wohnte im unerreichbar fern scheinenden Amerika.

Der nächste Winter kam, meine und Mariannas Eltern besuchten uns zu Silvester. Tage vorher fror die Abwasserleitung in Mariannas Treppenaufgang ein, das WC auf dem Treppenpodest war nicht mehr zu benutzen. Um ihren Besuch abzusagen, riefen wir bei ihren Eltern an, doch sie glaubten mit den Schwierigkeiten fertig zu werden. Die Zwei trafen ein, am ersten Tag gingen wir essen, ausländisch, jugoslawisch! Mein Gericht brannte höllisch im Hals, um mich zu retten spießte ich mit der Gabel ein paar Bohnen auf. Milde sind sie, dachte ich. Kaum waren sie im Mund, riss es mich vom Stuhl, Peperoni können grausam scharf sein. Ich griff nach meinem Bier, löschte das innerliche Feuer und setzte mich. Noch weitere fünf Male musste ich dies wiederholen, denn in den Pausen zwischen den Bieren erholte sich auf wundersame Weise das Brennen im Hals.

Doch Silvester war das reine Vergnügen. Zum ersten Mal im Leben waren wir Gastgeber und mit einfachsten Mitteln hatten wir Salate sowie ein kleines Essen vorbereitet.

Die Freude über meine neue Wohnung währte nicht lang, Tage weiter brannte plötzlich das gegenüberliegende Haus. Geweckt worden war ich durch laute Geräusche, durch die Hitze schienen Schieferplatten vom Dach abgesprengt und gegen unsere Scheiben geflogen. Ich konnte gerade noch mein Auto vor der heranrückenden Feuerwehr in Sicherheit bringen.

Tatsächlich wurden mir wenig später von der Verwaltung richtig ordentliche Wohnungen angeboten. Wir entschieden uns für die Boelkestraße. Von dort ging es weiter über die Wohnungen in der Drake-, der Schillerstraße, dem Kadettenweg, der Boothstraße. Auch nach unserem Umzug nach Italien, insgesamt drei Häuser hatten wir dort unser eigen genannt, trat kein Stillstand ein. Zurück in Deutschland kauften wir ein Haus in Kleinmachnow und als uns die zukünftigen Flugrouten zu bedrohen schienen, verließen wir das schöne Fachwerkhaus. Gleichzeitig wollten wir den ewigen Ärger mit den Mietern in unserem Haus in Thyrow nicht länger ertragen. Um ihn nicht bis an unser Lebensende haben zu müssen, kündigten wir ihnen, machten Eigenbedarf geltend und bezogen nach einigen Monaten das von mir modernisierte Haus.

7. 11.04.1968

Demo für Dutschke

Ich will hier nichts von politischem Kampf erzählen, keine Brücken zu Ideen bauen, die den Einzelnen verachten, oft sogar vernichten oder Mörder zu Helden stilisieren. Die Tage jedoch, an die ich jetzt denke, werden mir nie aus den Gedächtnis gehen. Ich meine, Gründonnerstag war es. Gerade haben wir im Radio die Nachricht vom Attentat auf Rudi Dutschke gehört. Wie sich später herausstellt, soll ein gewisser Bachmann, schon mit einer Pistole versteckt unter seiner Jacke, am gleichen Tag nach Berlin eingereist sein. Bachmann, nach eigenen Angaben Kommunistenhasser und von bürgerlicher Presse aufgehetzt, hatte nichts weiter im Sinn als zu töten, ein Schuss in Dutschkes Kopf beweist es. Wir verharrten in stillem Entsetzen. In was für eine Stadt hatten wir uns da begeben? Am Abend hörte man von ersten Unruhen, nun war es einfach dem verhassten Gegner die Schuld für eine Tat wie diese, in die Schuhe zu schieben. So weit, so gut. Was dann folgte war nicht in unserem Sinn. Gewalt überall, und wen es traf war völlig gleichgültig. Am Sonnabend fuhren wir erst zum Zoo, sahen wie wenige Polizisten von einer riesigen Meute von Demonstranten in die Jebenstraße getrieben wurden. Noch schlimmer war es am Schöneberger Rathaus. Ich spürte zum ersten Mal wie bedrohlich es ist mitten in Gewalt zu stehen, sie zu riechen, sie als dunkle Wolke in der Luft hängen zu sehen, und wie alle Regeln einer ohnehin schon schwachen Menschlichkeit außer Kraft gesetzt wurden. Steine flogen, Verletzte lagen am Boden. Gleichgültig ob man wollte oder nicht, ein vernichtender Strudel zog alles in sich hinein. Da sind Leute, die finden das gut. Ich hasse Gewalt grundsätzlich, deshalb blieb uns nur die Flucht. Im Radio hörten wir von weiteren Unruhen, besonders von denen in der Nacht, dann, wenn beim wilden Kampf die Gefahr erkannt zu werden gering ist.

8. Juni 1968

Hilferuf aus der Einsamkeit Neuköllner Nächte

Die Fenster zu einem der schäbigen Innenhöfe unserer Herzbergstraße sind wegen Wärme des Sommers leicht geöffnet. Vorhänge in unterschiedlichem Rot schwächen den Blick zu den gegenüberliegenden Nachbarn. Marianna schläft, ich liege seit Minuten wach. Zu viele Ereignisse der letzten Wochen wühlen in mir. Ich kann nicht schlafen, denke an das Zuhause in meiner alten Stadt, meine dünnen zwanzig Jahre, an den Kampf der ersten Monate in Berlin, das Glück nicht allein zu sein, sich trotz widriger Umstände sicher zu fühlen.

Mariannas Altbauwohnung mit kerniger Außentoilette liegt über einer Durchfahrt, die den Fußboden im Winter eiskalt werden lässt, jetzt wäre es schön. Meine Wohnung, die ich aus der Morgenpost ausgegraben hatte, ein Altwarenhändler, so ein echtes Berliner Original, der dort inserierte, wollte sie mir unbedingt vermieten, befindet sich im Erdgeschoss. Bis zu ihren Fensterbänken lag im vergangenen Winter der Schnee. Jetzt, im Sommer, schlafe ich manchmal auch in Mariannas Wohnung, wegen der Nähe zu ihr, und so. Wieder dringen laute Geräusche aus dem Hof durch die offenen Fenster. 'Schreite ein', denke ich, 'sonst kannst du den Rest der Nacht vergessen.' Mit einem Ruck ziehe ich den Vorhang zurück, Marianna schläft noch immer.

„Ihr stört“, rufe ich den heimkehrenden Leuten zu, „ich kann bei dem Lärm nicht einschlafen! Sauft doch am Tag!“ Während des Rufens bin ich echt sauer geworden.

Der Lärm hört nicht auf, einer tippt sogar gegen die Stirn, ich sehe das genau. „Verpiss dich, du Pfeife“, ruft er mit türkischem Einschlag zurück, „wo sind wir denn hier, doch nicht im Osten! Wenn du Ruhe willst, dann wirf doch einen Taler herunter, die Kneipe um die Ecke ist noch nicht geschlossen. Hier bei uns wird gelebt, geh zurück, du Null!“ Ich überlege einen Moment, sehe in den von morgendlicher Dämmerung leicht erhellten Innenhof, stelle fest: die da unten sind zu viert. 'Lass sie doch', denke ich weiter, 'träumen kannst du auch morgen Nacht.' Marianna hört nichts, sie schläft.

'Oh', denke ich, 'das Telefon klingelt.' 'Eine Ablenkung, endlich. Wer wird das sein? Ungewöhnlich ist die Zeit schon, es ist zwei Uhr, vielleicht noch später.'