Das leere Grab - Arya Andersson - E-Book

Das leere Grab E-Book

Arya Andersson

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Beschreibung

Ein leeres Grab, dessen tote Besitzerin laut Forschungen am Leben sein könnte, ein geheimnisvolles Rätsel, welches ein verhängnis­volles Wettrennen auslöst, ein zwielichtiger Journalist, ein charmanter Brasilianer, ein treuloser Ehemann und sie mittendrin! Verschnupft von den Ungerechtigkeiten des Lebens, fristet die ehemalige Archäologin Franziska Sommer ihren kümmerlichen Alltag als gelangweilte büchersortierende Bibliothekarin, bis eines Tages der renommierte Altertumsforscher Professor Bachmann zusammen mit ihrer gewagten und etwas abenteuerlichen Diplomarbeit in ihren Alltagstrott stolpert. Bewaffnet mit unumstößlichen Fakten, sowie halsbrecherischen Spekulationen bekniet er sie, seine bahnbrechende Ausgrabungsstätte in der Sinaiwüste zu begutachten. Mehr widerwillig, denn begeistert folgt sie ihm an den Fuß des Dschabal Katrina und bemerkt schnell, dass das archäologisch wertvollgeglaubte Grab nicht das ist, was es zu sein scheint. Gefangen in einem Netz aus Todesangst und Forscherdrang kämpft sie um ihr Überleben, während ihr Herz sie in eine lebensgefährliche Falle aus Faszination, Begehren und alter Liebe lockt denn Vertrauen kann tödlich sein. Ein nervenzerreißender Thriller für laue Sommernächte und lange Winterabende ein Netz aus Täuschung, Intrigen, ominösen Rätseln, verwirrender Liebe und Mord.

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Arya Andersson

Das leere Grab

Impressum

© Telescope Verlag 2021

www.telescope-verlag.de

Lektorat: Vanessa-Marie Starker

Cover Illustration: by Givaga | Fotolia 93707449

Danke an DICH, da Du mein aller erster Fan warst.

Danke an DICH, da Du so viel Herzblut gegeben hast.

Danke an DICH, dass Du immer an mich geglaubt hast.

Danke an ALLE, die daumendrückend mitgefiebert haben.

Kapitel 1

Ich hätte sie hinauswerfen sollen – und meinen Bräutigam gleich dazu!

Jan war Mutter nie vorgestellt worden, dennoch kannten die beiden sich – aus dem Bett!

Während ich hilflos gegen den Schockzustand ankämpfte, stierten die zwei sich voll kalter Wut an. Das bildhübsche Gesicht meiner Mutter war vor grenzenloser Wut verzerrt und ihre dunkle sinnliche Stimme vibrierte unter ihrer mühsam aufrechterhaltenen Selbstbeherrschung.

„Wenn ich gewusst hätte, dass meine Tochter dich heiraten würde, dann hätte ich sie gewarnt.“

Jans Erwiderung kam prompt und bissig. „Kaum zu glauben, dass ausgerechnet du die Mutter der Liebe meines Lebens bist.“

„Das nennt man Ironie des Schicksals.“

Seine Brauen zogen sich gefährlich zusammen. „Ich würde es eher als eine böse Laune der Natur bezeichnen.“

In diesem Moment begriff ich endgültig. Schlagartig fühlte ich mich wie ein junger zarter Baum, welcher hilflos einem tosenden Orkan ausgesetzt war. Mit schwarzen tanzenden Punkten vor den Augen torkelte ich zum Büfett. Wie in Trance griff ich nach einem Sektglas und leerte es in einem Zug. Da es nicht sonderlich schmeckte, stürzte ich gleich ein Weiteres hinunter. Unversehens schob sich Jan zwischen mich und den Sekt.

„Franziska ...“

„Du warst ihr Geliebter!“ Eine eisige Klinge schien sich tief in meine Magengrube zu bohren und sich mit quälender Langsamkeit mehrmals herumzudrehen. Frostige Kälte kroch mir in die Finger, die Arme hinauf und schnürte mir die Luft ab. Röchelnd versuchte ich Sauerstoff in die Lungen zu saugen und schließlich schrie ich meinen Schmerz ungeachtet der Hochzeitsgäste hinaus. Die Ausgelassenheit der Gäste war schlagartig beendet. Die Gästeschar teilte sich in zwei Gruppen. Die einen schoben sich hastig, mit langgereckten Köpfen, nach vorne, um von dem sich anbahnenden Skandal nur ja nichts zu verpassen. Während die anderen ihre Wangen wie Bernhardiner nach unten sacken ließen, in der Hoffnung, nicht in die Schusslinie der Streitenden zu geraten. Mein Mann nahm mir den Sekt ab, noch ehe ich einen weiteren Schluck trinken konnte. Ich spürte wie die eisige Kälte in meinem Bauch langsam warm – nein heiß wurde. Etwas veränderte sich in mir. Ich ließ Jan keine Sekunde aus den Augen, während ich nach einem weiteren Glas griff.

Dieses Mal gebot mir meine Mutter Einhalt, indem sie mir das Getränk aus der Hand angelte. Mit einem reuigen Hundeblick begegnete sie den unkontrollierten Blitzen, welche aus meinen halbgeschlossenen Augenlidern schossen.

„Hätte ich gewusst, dass du ihn heiraten würdest, dann hätte ich es dir vorher gesagt.“ Ihre Stimme klang reumütig, was ich ihr keine Sekunde lang abkaufte.

Ich lachte bitter auf. „Da hat man die Schnauze von der Mutter voll, zieht ins Ausland, um ihr zu entkommen, heiratet einen Mann, um ein neues Leben zu beginnen, und stellt dann fest, dass es vor der mütterlichen Allmacht kein Entrinnen gibt.“

Meine Hand verirrte sich wie von selbst zu den Gläsern. Prompt wurde ich von Jan enteignet. Wie von der Tarantel gestochen, krallte ich mir ein Weiteres und schüttete das schäumende Getränk in das perfekt gemeißelte Gesicht meines Bräutigams, den ich vor noch nicht ganz zwei Stunden zum Mann genommen hatte.

„Wage es nicht, mir etwas zu verbieten!“ Zischend schleuderte ich das Glas auf den Rasen. Da es die unendliche Frechheit besaß, nicht zu zerbrechen, schmetterte ich den Fuß darauf. Das zermalmende Geräusch spornte meinen Zorn weiter an. „Wann hast du es ihr das letzte Mal besorgt?“

„Wir haben nicht miteinander geschlafen.“

„Lüg mich nicht an! Meine Mutter hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeden potenziellen Geliebten von mir vorher zu prüfen!“

Jan zuckte unter meiner Stimmgewalt zusammen. „Franziska, könntest du bitte etwas leiser reden?“

Mein Blick irrte umher. Die Hochzeitsgäste machten sich nicht einmal die Mühe betreten wegzusehen. Ein hinterhältiges Kichern kroch in mir hoch.

„Es sind doch alles deine Freunde, Jan. Vor seinen liebsten Mitmenschen hat man keine Geheimnisse, nicht wahr?“

Mit einem harten Griff packte er meinen Oberarm und zog mich an seine Seite. „Können wir das nicht heute Abend besprechen?“ Seine Augen schweiften verzweifelt über die anwesenden Köpfe hinweg. Mit ungeahnten Kräften entriss ich ihm meinen Arm. „Nein, können wir nicht! Ich möchte es jetzt wissen! Wann hast du das letzte Mal mit meiner Mutter gevögelt?“

„Also nein, deine Ausdrucksweise. Was ist nur in dich gefahren, Täubchen?“

Steif wie eine Marionette drehte ich mich mit Siebenschläfgergeschwindgkeit zu meiner Mutter herum.

„Hast du vielleicht irgendetwas zu verheimlichen, Mama?“ Mein beißender Ton peitschte auf Mutter hernieder. Ihr tapfer aufrecht erhaltenes Lächeln verrutschte leicht.

„Franziska! Das ist wirklich nicht nötig.“ Die ermahnende Stimme meines Mannes ließ den Zorn in mir in ungeahnte Höhen schnellen.

„Allzeit ihr loyaler Geliebter.“

„Franziska.“

„Wann, Jan? WANN!“ Mit angehaltenem Atem stierte ich ihn an.

Er schwankte, konnte sich jedoch nicht zu einer Antwort durchringen. Es war Mutter, die sich meiner erbarmte. „Wir lernten uns vor zwei Monaten kennen.“

Leiser hätte sie kaum noch sprechen können, aber für mich kamen ihre Worte einem legendären Urdonner gleich. Ein schwindelerregender Sog, der beinahe einer Ohnmacht gleichkam, näherte sich meinem Verstand. Ich musste mich mit beiden Händen am Büfett abstützen, um nicht zu fallen. Tränen rannen mir über die Wangen, ohne dass ich es bemerkt hatte. „Und du hast mir gesagt, es wäre eine Geschäftsreise.“ Ich erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. Sie klang schwach, resigniert, ja, schon beinahe leer.

Jan rieb sich müde über das Gesicht. „Ich brauchte etwas Zeit, Franziska. Ich musste herausfinden, was ich wollte. Doch dann wurde mir bewusst, dass ich mit dir mein Leben verbringen möchte.“

Ich brauchte alle Kraft der Welt, um mich zu diesem treulosen Mann umzudrehen. „Hätte die Erkenntnis dich nicht treffen können, bevor du mit meiner Mutter ins Bett gestiegen bist?“

„Ich wusste nicht, dass sie deine Mutter ist.“

Also doch! Er hatte die Anschuldigung nicht von sich gewiesen. Sie hatten miteinander geschlafen. Die Arme schienen Tonnen zu wiegen, als ich nach meinem Kopf griff. Er saß bedenklich wackelig auf den Schultern. „Und wenn sie Miss World persönlich gewesen wäre, du hättest dich vor deinem Abenteuer entscheiden müssen.“

„Damals wusste ich doch noch gar nicht, dass wir heiraten würden. Erst danach ahnte ich, wie sehr ich mir ein gemeinsames Leben mit dir wünsche. Daher habe ich dir einen Heiratsantrag gemacht.“

„Nachdem du dich von den Qualitäten meiner Mutter überzeugt hast?“ Meine Stimme schoss eine Oktave nach oben. Mir war schlecht und ich hatte das Gefühl, high zu sein. Eine Katastrophe war über mich hereingebrochen, doch irgendwie fühlte sich das Ganze lächerlich an. Wären nicht die betroffenen Gesichter um uns herum gewesen, dann hätte ich wohl laut gelacht. So aber wurde ich von dem Wunsch beseelt, eine dramatische Vorstellung zu liefern. „Wenn ich noch einmal alles zusammenfassen dürfte: Du beteuerst mir deine endlose Liebe, reist nach Ulm zu einem Ärztekongress, lernst dort meine Mutter kennen, steigst mit ihr ins Bett, verlängerst deinen Aufenthalt um ein paar Tage, damit du mit dir ins Reine kommen kannst, und machst mir dann einen Heiratsantrag?“ Plötzlich zuckte ein ganz anderer Gedanke durch meinen Kopf. „Hast du deinen Aufenthalt wegen ihr verlängert?“ Mit der Frage stellte ich mich auf die Zehenspitzen und bohrte meinen Blick in seine aufgerissenen Augen.

Er fuhr sich mit seinen Händen über sein Gesicht und wirkte dadurch unendlich müde. „Franziska! Ich wusste nicht, dass sie deine Mutter ist.“

Seine Antwort ließ mich meine Frage schlagartig vergessen. „Aber sie ist es!“ Schrill hallte die Stimme in meinen Ohren wider. Unvermittelt verlor sich der Hang zur Dramatik. Diese Umstände waren derart fatal, dass es keinerlei Theatralik mehr bedurfte. Der Gedanke, dass meine Mutter mit Jan geschlafen hatte - dass sie ihn besser kannte als ich - dass dieser Heiratsantrag nur eine lapidare Konsequenz dieser Affäre gewesen war, war mörderisch. Ich zwang mich ruhiger zu atmen und schraubte meine Stimme auf eine halbwegs normale Tonlage zurück. Das alles war so grotesk, dass mir nur noch staubtrockener Sarkasmus blieb. „Wenn ich vor der Hochzeit mit dir ins Bett gestiegen wäre, hättest du dann meiner Mutter den Antrag gemacht?“

Jans Stimme umwölkte sich augenblicklich. „Dein beißender Spott ist nicht angebracht!“

Wütend gab ich ihm eine Ohrfeige. „Beantworte meine Frage!“

Sein Blick sprühte vor Kälte und seine Miene wirkte ungnädig hart. „Hier geht es nicht um Sex, sondern um uns. Ich liebe dich!“

„Soll das heißen, dass du ohne mich nicht leben kannst, aber falls du Lust auf Sex bekommen solltest, ins Bett meiner Mutter steigen wirst?“

„Herr Gott, Franziska! Sie war nur irgendeine Frau an der Bar.“

„Warum hast du mich betrogen?“

Die Härte verschwand aus seinen Zügen. Er hob seine Hände etwas, ließ sie jedoch gleich wieder fallen. Er setzte ein paar Mal zum Reden an und schüttelte jedes Mal, wenn nichts über seine Lippen kam, leicht den Kopf. Es war, als würde ihn die Frage überfordern. Mit einem leisen Seufzer schloss er seine Augen. „Ich wollte dich schon früher bitten meine Frau zu werden, aber ich hatte Angst mich zu binden. Als ich Brigitte traf, war dies ein letzter Versuch, frei zu bleiben. Hinterher wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte und dass ich ohne dich nicht leben kann. Als du den Antrag angenommen hattest, war es, als würde für mich ein neues Leben beginnen. Franziska, ich liebe dich, das musst du mir glauben.“ Mit dem letzten Satz öffnete er seine Augen. Eine einzelne Träne rann über seine Wange.

Sofort verspürte ich den Drang, meine Hand nach ihm auszustrecken, um sie fortzuwischen. Doch mitten in der Bewegung riss ich sie zurück. Ich fühlte mich entsetzlich leer. „Ich habe geglaubt, du wärst der Mann meines Lebens, ich habe darauf vertraut, dass ich dir die Welt anvertrauen könnte. Aber ich habe mich wohl geirrt.“

„Franziska ...“

„Nimm deine Finger weg!“ Hysterisch schlug ich nach seiner Hand. Tränen rannen über mein Gesicht und tropften auf das sündhaft teure Brautkleid, welches mir heute Morgen so viel bedeutet hatte, jetzt aber nur noch ein Fetzen Stoff war.

Meine Mutter legte mir die Hand besänftigend auf den Arm. „Franziska, Liebes. Nun beruhige dich doch wieder. Ich glaube nicht, dass dieser Ort geeignet ist, dieses Thema weiter zu erörtern. Wir sollten zu Hause darüber reden.“

Ich konnte die Mordlust, welche mir in den Augen geschrieben stand, spüren. „Darf ich überhaupt an der Erörterung teilnehmen oder muss ich vor der Schlafzimmertüre warten?“

„Nun wirst du aber gemein.“

„Gemein? Alles, was mir je etwas bedeutet hat, hast du zerstört. Du machst nicht einmal davor halt, mir die Hochzeit zu verderben.“ Bitter lachte ich auf. „Ja, natürlich – warum hättest du auch vorher mit der Sprache rausrücken sollen? Gott! Wie ich dich hasse! Ich bedaure aus tiefstem Herzen, dass mein Selbstmordversuch vor 15 Jahren nicht gelungen ist!“

Schlagartig setzte drückendes Schweigen ein. Geschockt starrte die Hochzeitsgesellschaft zu uns herüber. Stocksteif hielt ich in der Raserei inne und stierte atemlos auf meine Mutter, die kalkweiß geworden war. Mit einer gewaltigen Ohrfeige befreite sie sich aus ihrer Lähmung. Getroffen taumelte ich einen Schritt zurück. Meine Wange brannte wie Feuer.

„Sag das niemals wieder, hörst du? Nie wieder!“ Sie bebte am ganzen Körper und die Hand, welche mich geschlagen hatte, ballte sich zur Faust.

„Selbstmordversuch?“ Jans Stimme klang dünn, beinahe wie ein Wispern, als diese zu mir durchdrang. Niemand hatte bisher davon gewusst. Nicht einmal Jan. Nur meine Mutter, die letztlich der Grund dafür gewesen war. Ich riss eine Flasche Sekt vom Büffet und wandte mich um. Ich musste fort – sofort! „Franziska! Bitte nicht! Ich liebe dich!“ Für einen winzigen Moment verharrte ich in meiner Bewegung, dann schüttelte ich den Kopf und torkelte weiter. „Wo willst du hin?“

„Fort!“ Ohne weiter auf die verräterische Mutter oder den abtrünnigen Bräutigam zu achten, schwankte ich Richtung Schwager. Die Gäste senkten ihren Blick und gaben mir den Weg frei. Nicht aus Betroffenheit oder Fürsorge, sondern um ihre Skandalgier in ihren Augen zu verbergen. Mein Schwager schüttelte flehentlich seinen Kopf, als ich ihm die Schlüssel für das Brautauto entwand, doch er unternahm nichts, um sie mir zu verwehren. Niemand hielt mich auf, als ich wortlos meine eigene Hochzeit verließ. Wie in Trance ging ich über den grünen Rasen Richtung Parkplatz. Die Welt um mich herum war in einem seltsamen grauen Schleier versunken. Ich stieg ins Brautauto, verriegelte die Türen und drehte das Radio auf volle Lautstärke. Ich horchte kurz in mich hinein, doch ich fühlte nichts. Selbst mein Gehirn schien mal ausnahmsweise im Schlafmodus zu sein. Im Takt der polternden Musik trank ich die ganze Sektflasche leer, bis sich die ersten hoffnungslosen Schluchzer den Weg über meine Lippen bahnten. Warum hatte ich Mutter zur Hochzeit eingeladen? Warum nur hatte ich mich ihrer erbarmt und wieder Kontakt zu ihr aufgenommen? Auch wenn ich mich gegen den Gedanken wehrte, so wusste ich dennoch, dass ich übersprudelnd vor Glück, der eigenen Mutter endlich verzeihen wollte, um mit ihr – meiner einzig lebenden Verwandten – diesen Segen zu teilen. Wie dumm, wie blöd, war ich doch gewesen, ihr im Anfall der Sentimentalität zu schreiben. Ich wollte ihr vergeben und hatte dabei ignoriert, wer und wie sie war. Verzeihe, aber vergesse niemals! Wie hatte ich mir selbst nur so untreu werden können?

Unter Tränen ließ ich den Motor an. Der Traum von wärmender Geborgenheit hatte nur zwei Stunden angedauert. Wieder einmal musste ich einsehen, dass mir das Glück nicht vergönnt war. Ich blinzelte in den Himmel hinein. Irgendwie hoffte ich, dass das Wetter sich solidarisch zeigen und mit mir zusammen über diese Ungerechtigkeit weinen würde. Doch die Sonne strahlte voller Wärme hernieder – so wie jede Braut es sich für ihren Hochzeitstag wünschte. Ein kalter Stich jagte mir ins Herz.

Bitterlich weinend drückte ich das Gaspedal durch. Die entsetzten Schreie meines Schwagers drangen nicht zu mir durch und ich sah auch nicht Jans Gestalt, welche sich in hoffnungsloser Reue vor den Wagen stürzte. Blind durch den nie endenden Stich des Verrates, schoss ich auf die Straße hinaus. Ich sah nicht das Auto und hörte auch nicht das langgezogene schrille Hupen. Das Einzige, was zu mir durchdrang, war das entsetzlich laute Geräusch zweier aufeinanderprallender Autos. Als wäre ich nur eine Zuschauerin, eine Unbeteiligte des Geschehens, wunderte ich mich über die Finsternis, die in der Gestalt einer unüberwindbaren Mauer auf mich zuschoss und mein Bewusstsein in ihre unentrinnbaren Tiefen hinab zerrte.

Kapitel 2

2 Jahre später

„Wo ist hier der Kopierraum?“

„Die Treppe rauf, links den Gang entlang, bis zur ersten Türe auf der rechten Seite. Dort stehen drei Kopiergeräte. Vergiss aber nicht, dir vorher eine Kopierkarte zu lösen. Der Automat steht vor dem Kopierraum.“

Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da wandte mir der Student auch schon den Rücken zu. Etwa fünf Sekunden blickte ich ihm nach, um sicher zu sein, dass er meiner Wegbeschreibung fürs Erste richtig folgte. Als er die Stufen hoch schlurfte, widmete ich mich wieder dem Stapel Bücher auf der Theke vor mir.

Lustlos sortierte ich die Wälzer nach ihren Themen. Ingenieurinformatik, Medizin, internationale Literatur und Germanistik, alles Fachgebiete, die in meiner Abteilung für Kunstpädagoik nichts zu suchen hatten. Manche Studenten hatten die lästige Angewohnheit alle Bücher herauszureißen, sich irgendwo niederzulassen, um sie schließlich dort zu vergessen. Meine Aufgabe bestand darin, diese Bücher ausfindig zu machen, zu überprüfen und anschließend wieder richtig einzusortieren. Das heißt, wenn mir die Studenten dafür genügend Zeit ließen.

Heute schien eine besondere Art der Trägheit über den Besuchern der Universitätsbibliothek in Augsburg zu liegen. Sie alle litten wohl an derselben Krankheit: Beschränktheit! Niemand mutete sich heute an, die gewünschten Bücher selbstständig herauszusuchen. Den ganzen Morgen über wuchtete ich Wälzer aus den Regalen heraus, statt sie einzusortieren. Bekümmert blickte ich auf meine Uhr und sehnte die Mittagspause herbei. Der große Zeiger musste nur noch eine halbe Umdrehung hinter sich bringen, um mich zu erlösen. Doch so wie die Studenten, schien auch der Zeiger an Trägheit zu leiden.

„Entschuldigung? Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich ein Verzeichnis für historische Quellen in Bezug auf ...?“

Seufzend schnitt ich der jungen Studentin das Wort ab, ohne dabei aufzublicken: „Probiere es in der Abteilung für historische Wissenschaften.“

„Da habe ich schon gesucht, aber ich konnte es nicht finden und die Frau hinter der Infotheke ist nicht da.“

„Dann wird sie wohl in der Mittagspause sein.“

„Könnten Sie mir nicht helfen?“

Innerlich rollte ich mit meinen Augen. Warum konnte sie nicht einfach kurz warten oder selbst suchen? „Du kannst alles von mir haben, nur nichts Historisches.“

„Wie wäre es mit praktisch ausübender Sexualkunde?“

Ein hochgewachsener Student schob sich an der jungen Frau vorbei, knallte ein Buch auf meinen bedenklich schwankenden Bücherstapel und stützte sich angeberisch auf der Infotheke ab. Seine graublauen Augen funkelten mich übermütig an.

„Würde ich gerne, Kleiner, aber wenn ich dich in Sexualkunde einweisen würde, würde man mich wegen Kindesmissbrauch anzeigen. Also schieb deinen Arsch zum Ausleihschalter und lass dieses Buch an der Ausgabe registrieren. Wenn du es nicht haben möchtest, dann räume es gefälligst wieder auf!“

Die junge Studentin vor mir riss entsetzt ihre mandelförmigen Augen auf, während ihr männlicher Studiengenosse weiterhin anzüglich grinste.

„Ich hatte noch nie eine Bibliothekarin.“

„Was studierst du? Betriebswirtschaftslehre?“

„Woran siehst du das?“ Anzüglich grinsend lehnte er sich etwas weiter nach vorne.

„Liegt vielleicht daran, dass mich bisher nur BWL-Studenten angemacht haben.“

Der Studierende lachte laut heraus, schnappte sich sein Buch und winkte mir zum Abschied zu. Seine Mitstudentin floh.

Es gab hier drei Gruppen von Besuchern. Einmal die Studenten, die ihre Sätze mit wo ist oder sag mal begannen und ohne weitere Floskeln wieder verschwanden. Sie fragten nicht, sondern setzten lediglich voraus. Die Wenigsten von ihnen ließen sich zu einem Gespräch, geschweige denn einem Gruß, herab. Woran dies auch immer liegen mochte, das tägliche Bücherstöbern trug mit Sicherheit zu ihren ungehobelten Manieren bei. Die zweite Gruppe bestand aus den Menschen, die ihre Sätze mit Entschuldigung? Oder mit könnten Sie mir bitte sagen ... begannen. Gepaart mit den Höflichkeitsfloskeln vielen Dank oder super, danke konnte man zu 99,9 Prozent davon ausgehen, dass dies wissbegierige Bürger waren.

Ob Laie oder Student, egal ob aus Faszination oder Langeweile angetrieben, sie alle hatten eines gemeinsam: Sie waren hier, um alles zu erfahren. Ausgenommen meiner Person.

Ich war hier, um zu vergessen. Im Zentrum des geballten Wissens versuchte ich, die Geister meiner Vergangenheit zu vertreiben und betrieb auf höchster Ebene Blasphemie, indem ich genau das Gegenteil dessen tat, wozu diese Bibliothek geschaffen worden war: Mein Wissen vernichten!

„Frau Sommer?“

Diese Stimme gehörte mit höchster Wahrscheinlichkeit weder zu einem Studenten noch zu einem wissbegierigem Bürger. Dafür klang sie zu bestimmend, beinahe autoritär und dennoch schwang so etwas wie unglaubliche Ruhe darin mit. Eigentlich hätte mich diese Stimme von meiner derzeit miesepetrigen Stimmung abholen sollen, doch irgendwie sträubte sich alles in mir dagegen.

„Frau Keller, wenn es nicht allzu viele Umstände macht.“ Genervt blickte ich auf meine Uhr, ehe ich mich um die Nervensäge kümmerte. Nach wenigen Überlegungen entschied ich, dass dieser Mann nicht einmal zu der letzten Kategorie, den Dozenten zählte, sondern zu der aller letzten – den Störenfrieden. „Woher kennen Sie meinen Nachnamen?“

„Gestatten? Professor Bachmann!“

Überrascht blickte ich auf. Strahlend blaue Augen, umgeben von kleinen Lachfältchen zwinkerten mir aufmunternd entgegen. Ein schelmisches Lächeln legte sich auf sein wettergegerbtes Gesicht, als er meine verblüffte Musterung über sich ergehen ließ. Er war gut, aber äußerst praktisch gekleidet. Sein grauer Dreitagebart, sowie seine weißen vollen Haare, ließen sich nur schwer mit seinem beinahe jugendlichem Kleidungsstil vereinbaren.

„Professor Bachmann? Der Professor Bachmann? Entschuldigen Sie meine Ungehobeltheit. Freut mich Sie kennenzulernen. Ich habe viel von Ihnen gehört.“

„Das bezweifle ich, ich unterrichte schon seit langem nicht mehr.“

„Das ist mir bekannt. Nach der Verurteilung Ihres Sponsors Professor Dr. Mayer vor zwei Jahren, haben Sie sich aus der Archäologie vollständig zurückgezogen. Soweit ich weiß, haben Sie vor etwa 15 Jahren geschworen, nie wieder einen Hörsaal zu betreten.“

„Vor 17, um genau zu sein. Sie sind gut informiert.“

„Als ich mein Studium begann, waren Sie bereits eine Legende. Sie haben in der Geschichte, Geschichte geschrieben. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin wegen Ihrer Diplomarbeit hier. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich Sie gerne zum Mittagessen ausführen.“

Verlegen schielte ich auf den gigantischen Stapel Bücher. Ich würde eine Stunde brauchen, um diese einzusortieren – das bedeutete: Meine ganze Mittagspause würde drauf gehen. „Ich möchte heute Abend keine Überstunden schieben, daher kann ich Sie nicht begleiten. Es tut mir leid, Professor Bachmann. Es war schön Sie kennengelernt zu haben.“

Der ehemalige Dozent runzelte nachdenklich seine Stirn. Sein Blick musterte die Bibliothek beinahe feindselig. „Wollen Sie den Rest Ihres Lebens mit Büchereinsammeln verbringen? Oder versuchen Sie, wenigstens ein bisschen Sinn in Ihr Leben zu bringen?“

„Ich glaube nicht ...“

„Sie waren eine ausgezeichnete Studentin, Sie haben mit den besten Noten Ihr Studium absolviert. Sie galten als ein vielversprechender Nachwuchs. Mir kam zu Ohren, dass Sie an Feldforschung interessiert seien.“

„Das war bevor ich ...“ Ich stockte. Ich schuldete diesem Mann keine Rechtfertigung. „Dieser Job ist okay. Es bringt mir Geld ein, ohne dass ich mich abschinden muss. Vorerst genügt es.“, schloss ich lahm.

„In ein paar Jahren werden Sie für die Feldforschung zu alt sein, außer Sie gehören einem erfolgreichem Archäologenteam an. Ich biete Ihnen eine Chance.“

„Ich hatte in meinem Leben einige Chancen, Professor Bachmann, so viele, dass es für zwei Leben reicht.“ Mit einer forschen Bewegung blickte ich auf meine Uhr. Mittagspause! „Wenn Sie mich entschuldigen würden? Ich muss weiterarbeiten.“ Genervt packte ich so viele Bücher, wie ich nur tragen konnte, und verschwand mit ihnen hinter den Regalen.

Professor Bachmann folgte mir. „Anhand Ihrer Lebensgeschichte stellt sich mir die Frage, was Ihnen wohl als Chance vorgelegt worden ist? Ihre Kindheit? Ihre flatterhaften Freunde oder Ihre Eheschließung? Wohl kaum!“

„Sind Sie unter die Psychiater gegangen, Professor?“

„Ich bin Archäologe. Ich finde Dinge, setze sie zusammen und interpretiere sie. So habe ich es mit Ihrem Lebenslauf getan. Ich habe gegraben, Fetzen gefunden und sie zusammengefügt. Was bleibt, ist eine brillante, aber leider etwas gestörte Archäologin. Nichts, was man nicht restaurieren könnte.“

Professor hin oder her, Legende oder nicht, dieser Mann machte mich wütend. „Sie haben kein Recht in meinem Leben herumzustöbern. Sie sind Archäologe, ihre Dienste gelten ausschließlich den Toten und nicht den Lebenden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“ Zornig sortierte ich, ohne es zu bemerken, ein Buch falsch ein. Professor Bachmann nahm es wieder heraus und folgte mir in die nächste Reihe. Wortlos sah er mir zu, wie ich gegen die Wälzer ankämpfte, um ein weiteres Buch einzusortieren. Innerlich fluchend, warf ich die Lektüren mit fehlendem Respekt zu Boden, um mich meinem Zweikampf mit dem Wälzer intensiver widmen zu können. Schließlich gelang es mir, das dicke Buch zwischen zwei seiner Kollegen zu schieben. Mit einem triumphierendem Schnauben kniete ich mich nieder und sammelte die lieblos behandelten Werke wieder auf.

Plötzlich legte sich eine Hand auf meinen Arm. Erschrocken blickte ich in Professor Bachmanns Antlitz. Ich hatte ihn im tiefen Groll völlig vergessen. „Wollen Sie alles wonach Sie gestrebt haben vergraben?“ Sein wettergegerbtes Gesicht drückte große Besorgnis aus. Er wirkte völlig zeitlos und sein vollkommen weißes Haar bestärkte diesen Eindruck. Schlagartig fragte ich mich, wie alt er wohl sein mochte. Ein zaghaftes Lächeln schlich sich auf seine Züge und seine Augen verrieten mir, dass er meinen Gedanken erraten hatte. „Ich bin mitten in der Midlifecrisis, zähle 55 Jahre und ich bin ein gebrochener Mann, der seine ganze Hoffnung in eine neue Lebensaufgabe gesetzt hat. Sie sind Bestandteil meiner Zuversicht. Geben Sie mir eine Chance, leihen Sie einem alten, verstaubten Archäologen Ihr Ohr.“

Unwillkürlich musste ich lachen. Professor Bachmann war der Inbegriff des Lebens. „Sie erwähnten meine Diplomarbeit.“, ging ich schließlich auf ihn ein.

„Darf ich Sie nun in die Mensa ausführen, oder lassen Sie mir keine andere Wahl, als Sie zu entführen?“

„Sie können sehr charmant sein. In meiner Studienzeit galten Sie allerdings als verstockt und ehrgeizig.“

„Ist das ein Ja?“

„Wenn Sie darauf bestehen.“, seufzte ich.

Der Professor nahm mir die Bücher aus der Hand, legte sie auf den Boden und zog mich hoch. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in die Kantine. Während dieser Zeit sprachen wir kein einziges Wort. Ab und an schielte ich verstohlen zu dem Professor. Er schien zufrieden zu sein. Denn er spazierte aufrecht, mit einem leisen Lächeln neben mir her und wirkte gelassen. Kaum in der Mensa angekommen, drückte er mich auf einen Stuhl und verschwand anmutig zwischen den hungrigen Studenten, nur um kurz darauf mit zwei Portionen Spaghetti Bolognese und Café Macchiato zurückzukehren.

„Möchten Sie noch ein kühlendes Getränk?“

„Später vielleicht, danke.“

Mit einem exquisitem Lächeln fiel der Professor über seine Spaghetti her, welche eher an lieblos eingelegte Schlangen erinnerten. Während ich ihm schon beinahe angewidert zu sah, widmete er sich ausschließlich der Befriedigung seines Hungers.

„Sie haben einen ausgeprägten Appetit, Professor.“

Mit vollem Mund zwinkerte er mir über den Spaghettiberg hinweg zu. „Wenn Sie zwei Monate in Ägypten gewesen wären, dann würden Sie sich sogar über eine Packung anständiger Chips freuen.“

„Ich dachte, die arabische Küche hätte so einiges Kulinarisches zu bieten.“

Dieses Mal schluckte er erst herunter, bevor er mir antwortete. „Die Ägypter hantieren mit scharfen Gewürzen, wie die Amerikaner mit Zucker.“

„So schlimm?“ Ich hob eine Augenbraue, während er eine abfällige Handbewegung machte.

„Schlimmer!“

Verblüfft bemerkte ich, dass ich ausgesprochen guter Dinge war. Übermütig grinste ich den Akademiker an.

Dieser lächelte schalkhaft zurück. „Ich habe eine Frage, die sich schon unzählige Professoren zuvor gestellt haben. Warum haben Sie massenhaft archäologische Befunde in den Sand gesetzt?“

Ich musste keine Wahrsagerin sein, um zu wissen, dass er auf meine Diplomarbeit anspielte. Verlegen begann ich mit den Fingern zu spielen. „Das ist etwas kompliziert.“

„Erklären Sie es mir.“

„Die Beweggründe mögen etwas zwiespältig erscheinen.“ Um meine Finger zu beschäftigen, griff ich nach der Gabel, nicht um zu essen, sondern um damit in den Nudeln herumzustochern. Ich versuchte, mich ganz dem verschlungenem Knoten auf meinem Teller zu widmen, aber der unnachgiebige Ernst in Bachmanns Stimme, ließ es nicht zu.

„Überzeugen Sie mich.“

Ich unternahm einen letzten Versuch den Wirrwarr auf meinem Teller noch mehr ins Chaos zu stürzen, ließ aber dann seufzend die Gabel sinken. „Also gut. Auf Ihre Verantwortung!“

Räuspernd schob ich mich gerade, senkte jedoch meinen Blick auf die Finger, die es nun den Spaghettinudeln gleichtaten und sich ineinanderschlangen. „Als ich das Thema für meine archäologische Diplomarbeit wählte, war ich gerade mal im ersten Semester. Während meine Studienkollegen nach sensationellen Aufdeckungen gierten, um Doktorarbeiten schreiben zu können, habe ich alles zusammengetragen, was ich ausschließlich für die Diplomarbeit benötigen würde. Kurz vor Ende des Studiums hatte ich so viel Material gesammelt, dass es für fünf Arbeiten gereicht hätte, aber ich blieb meinem Grundsatz treu. Ich wollte einen perfekten Abschluss hinlegen.“ Meine Stimme klang seltsam, irgendwie von ganz unten herausgequetscht. Behutsam schielte ich zum Professor hoch. Seine blauen Augen wirkten ernst und fragend. Ich atmete tief ein und erzählte weiter. Doch dieses Mal schaute ich nicht weg. „Eine Mitstudentin entschied sich für dieselbe Thematik, fand aber kaum Material – außer dem meinem. Drei Tage vor dem Abgabetermin bekam ich heraus, dass sie meine Arbeit kopiert und an zwei weitere Studentinnen weitergeleitet hatte. Zunächst war ich furchtbar zornig. Mein ursprüngliches Thema wollte ich nicht mehr abliefern. Doch ich konnte mir keinen Aufschub leisten. Da mir die Zeit davonlief, habe ich nicht, wie üblich, die Fakten aufgelistet oder kommentiert, sondern in Frage gestellt und neu interpretiert.“

Plötzlich spürte ich seine warme Hand auf der meinigen. Erst jetzt bemerkte ich, wie furchtbar kalt diese waren. Dadurch aus dem Konzept gebracht registrierte ich auch, dass der alte Zorn wieder Besitz von mir ergriffen hatte. Fort waren mein Grinsen, meine Stärke und meine Überheblichkeit.

„Innerhalb von drei Tagen?“

Ich konnte meinen Blick einfach nicht von seiner warmen feingliedrigen Hand nehmen. Wie hypnotisiert starrte ich darauf, während ich antwortete. „Und zwei Nächten. Die Dozenten waren völlig entsetzt über meine Arbeit, aber der Magister gab zu, dass er diese Thesen weder widerlegen noch bestätigen konnte. Und da die Jury ebenfalls so dachte, erhielt ich eine faire Note. Im Endeffekt ist meine Diplomarbeit Schund…“ – ich zuckte mit den Schultern. – „… aber bisher hat sie niemand in Frage gestellt oder die Thesen hundertprozentig widerlegt.“

Bachmann nahm seine Hand fort und begann wieder zu essen. Er rollte einige Spaghetti zusammen und schielte mich über seine Gabel hinweg an. „Es gibt Schriften, die Ihre Ansichten unterstützen.“

„Es gibt unzählige Thesen, die meiner gleichkommen, aber letztlich halten die Autoren es doch für unwahrscheinlich. Archäologen scheuen vor Vermutungen zurück. Sie wollen Beweise, Fakten oder Funde. Ohne diese Dinge zeichnen sie keine Bilder von der Vergangenheit. Ich weiß nicht, warum sie vor unbestätigten Schlussfolgerungen zurückschrecken.“

„Eine Thematik für sich. Ich muss gestehen, dass ich mir die Gründe für Ihre Diplomarbeit etwas anders vorgestellt habe.“

Beinahe schwach zuckte ich mit meinen Schultern. „Tja, ich muss Sie enttäuschen. Ich bin nun mal sehr kindisch veranlagt.“ Sein leises Lachen löste Verwirrung in mir aus. Irritiert schielte ich in seine Richtung.

„Geboren aus Trotz und Ehrgeiz, aber deswegen nicht minder brillant. Und da Sie selbst nicht wissen, ob Sie nun richtig oder falsch liegen, biete ich Ihnen die einmalige Chance, sich vor Ort von Ihrer These zu überzeugen.“ Mit dem Kaffeebecher auf halber Höhe und mit überrumpelt geöffnetem Mund, bot ich bestimmt ein seltsames Bild. Professor Bachmann lachte erneut auf seine sehr angenehme Art. „Sie haben nicht an Ihre These geglaubt, nicht wahr?“

„Sie haben eine Grabanlage gefunden?“ Nur mit Mühe konnte ich verhindern zu stottern. Mit einem Schlag war ich aufgeregt.

„Dschabal Katrina“

Meine Hand, welche den Kaffeebecher hielt, knallte herunter. Eine Milchschaumflutwelle ergoss sich auf den Tisch und bahnte sich in Form eines kleinen Wasserfalls einen Weg auf meine helle Jeans. Hektisch riss ich die Serviette vom Tisch und begann das Unglück auf der Hose zu bearbeiten, während ich nachdenklich die Stirn gerunzelt hielt. „Dschabal Katrina? Aber das ist unmöglich!“

„Wieso? Haben Sie nicht selbst diesen Ort und ein paar weitere äußerst unwahrscheinliche Oasen genannt?“

„Dschabal Katrina ist keine Oase, sondern der höchste Gipfel Ägyptens. Dort herrscht ausschließlich Wüste. Außerdem ergibt das keinen Sinn. Warum sollte ein Pharao seine heimliche Grabanlage auf der falschen Seite des Nils bauen und wieso ausgerechnet auf der Sinai Halbinsel?“

„Sie selbst wagten die Vermutung, dass dieser Pharao geahnt haben muss, nach seinem Tod von dem Thronfolger gelöscht zu werden, indem dieser seine Tempel und Grabanlagen überfallen und seine Namen ausmeißeln lassen würde. Des Weiteren stellten Sie klar, dass der Pharao eine zweite geheime Anlage abseits aller Gräber erbauen ließ, um sein Leben im Jenseits zu garantieren. Sie nannten revolutionäre Orte, unter anderem Dschabal Katrina auf Sinai.“

„Ich erwähnte diesen Ort nicht aus Überzeugung, sondern aus Trotz heraus. Ich hatte bereits alles in Frage gestellt, da wollte ich gründliche Arbeit leisten, indem ich einfach alles auf den Kopf stellte. Der Mosesberg ist unsinnig.“

Eine kurze Pause entstand. Während ich dem Professor mit aufmüpfig vorgeschobener Unterlippe meinen Trotz entgegenschleuderte, zogen sich seine Augen herausfordernd zusammen.

„Pharao Maatkare, so lautete die Inschrift meiner Ausgrabungsstätte. Nennen Sie mir auf Anhieb einen Pharao, der diesen Thronnamen trug.“

Der Thronname Pharao Maatkare war einem herrschenden Pharao vorbehalten, dem einzigen Pharao, der je weiblich gewesen war. Meine Antwort erfolgte prompt ohne, dass ich mich großartig anstrengen musste: „Hatschepsut.“

„Gerechtigkeit und Lebenskraft, ein Re! So nannte sie sich selbst und so lauten ihre Inschriften.“

Ich schüttelte leicht den Kopf und begann wieder den Kaffeefleck auf meiner Hose zu bearbeiten. „Es könnte aber auch einen weiteren Pharao Maatkare gegeben haben.“

Professor Bachmann lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust. Beinahe triumphierend verkündete er sein letztes Ass im Ärmel. „Was würden Sie sagen, wenn wir eine Inschrift gefunden hätten, die besagt: Ich bin der rechtmäßige Pharao, gezeugt von Amun. Von ihm bestimmt die Doppelkrone des Unteren und Oberen Reiches zu tragen. Ich, Pharao Maatkare.“

Der Kaffeefleck auf meiner Hose war vergessen. Ungläubig sah ich zu, wie der Professor sich vorbeugte, um die Schaumlache vor mir mit seiner Serviette aufzuwischen. „Warum wenden Sie sich nicht an das Archäologenteam, welches Hatschepsuts Tempel und Grabanlage im Tal der Könige rekonstruiert hat?“

Der Professor winkte knapp ab. Sein Gesicht nahm einen leicht verärgerten Zug an. „Ginge ich zu ihnen, dann würde man mich übergehen. Ich habe die Grabanlage gefunden. Diese Archäologen würden mir mein Lebenswerk zerstören.“ Seufzend schüttelte er seinen Kopf. „Außerdem behaupte ich auch gar nicht, dass dies die Anlage von Hatschepsut ist – noch nicht. Um es endgültig zu beweisen brauche ich jemanden, der diesen Pharao intensiv studiert hat. Sie haben sich Hatschepsut gewidmet und darüber hinaus wurden Sie bislang durch keinen einzigen Fund beeinflusst. Sie sind in der Lage nüchtern an die Sache heranzugehen. Zwar haben Sie kaum Erfahrung in der Feldforschung, aber das macht nichts. Ich grabe, Sie forschen.“

Verdattert blickte ich ihn an. Ich kam nicht umhin seine Gesichtszüge nach Lügen zu durchforsten. Es klang alles so absurd. Ich hatte voller Trotz Thesen aufgestellt, wovon ich dachte, dass sie völliger Nonsens seien. Und nun kam dieser renommierte Mann daher und behauptete, dass er genau das gefunden hatte, was ich mir zusammengereimt hatte.

War das ein Witz? Eine Reality Show? Irgendein Gag von den Studenten, die ich des Öfteren angeraunzt hatte? Unsicher fuhr ich mir mit meinen Fingern über die Augen und bemerkte nebenbei, dass sie nun nach Kaffee rochen. „Wie sind Sie auf mich aufmerksam geworden?“

„Über das Internet.“

„Wie bitte?“

„Als ich in Ägypten den Eingang fand, war ich mir nicht sicher, ob dies eine ausgeschlachtete Ruine sei. Daher suchte ich im Internet alles zusammen was über Dschabal Katrina zu finden war. Unter anderem wurden Sie erwähnt. Allerdings nicht im rühmendem Rampenlicht, sondern in der Kritik eines deutschen Journalisten, der Sie mit Ihrer Theorie als lächerlich und inkompetent hinstellte.“ Meine Kinnlade klappte herunter. Professor Bachmann lächelte beruhigend. „Geben Sie nicht allzu viel darauf. Dieser Journalist belächelt die Archäologie im Allgemeinen. In Ihnen sah er lediglich den Beweis für seine Geringschätzung.“

„Na, super! Nicht genug, dass ich mir eh schon wie eine Idiotin vorkomme, jetzt hält mich die ganze Welt für bescheuert.“

„Eines muss ich noch wissen, Frau Keller. Sie hatten vor zwei Jahren einen schweren Unfall. Inwieweit haben Sie sich davon erholt?“

Ich konnte spüren, wie ein rabenschwarzer Nebel aufzog. Verzweifelt klammerte ich mich an das Licht. Genauso gut hätte ich mich an rieselndem Sand festhalten können. „Woher wissen Sie davon?“

„Ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen. Sie gab mir Ihre Adresse, vorher erzählte sie jedoch von dem Unfall. Sie meinte, harte Arbeit würde Sie töten.“

Seufzend stützte ich die Ellbogen auf die Tischplatte und grub meinen Kopf resigniert in die Hände. „Es war ein Autounfall. Ich verbrachte ein halbes Jahr im Krankenhaus. Nicht weil ich zusammengeflickt werden musste, sondern weil ich mich kaum noch bewegen konnte. Da eine Operation zu risikoreich war, entschieden sich die Ärzte dagegen. Stattdessen wurde ich in eine Rehabilitationsanstalt geschickt. Dort lernte ich, meinen Körper wieder zu kontrollieren. Die Mediziner vermuten, dass die Nerven irgendwo in einem Engpass eingeklemmt sind. Bei großer Aufregung schwillt die schmale Stelle an und eine bestimmte Nervenbahn wird abgedrückt. Wenn das passiert, bin ich vorübergehend in meinen Bewegungen eingeschränkt. Alles kribbelt wie verrückt und treibt mich fast in den Wahnsinn. Erst wenn ich es geschafft habe, den Stresspegel deutlich zu senken, schwillt der Engpass wieder ab. Danach ist der ganze Spuk vorbei, als wäre nie etwas gewesen. Was bleibt, ist ein minimales Kribbeln, welches kaum spürbar ist.“ Ich ließ meine Arme sinken und nahm den Kaffeebecher vor mir in die Hände, als könne dieser mir Trost spenden. „Motorische Ausfallerscheinungen nennen sie es.“

„Wie oft hatten Sie einen derartigen Anfall?“

„Zweimal im letzten halben Jahr.“

„Wie lange dauern diese Störungen an?“

„Unterschiedlich. Von einem Tag bis zwei Stunden war bisher alles dabei.“

„Hatten Sie währenddessen irgendwelche Atmungsstörungen? Verdauungsprobleme?“

„Nein, es betrifft nur Arme und Beine.“

Professor Bachmann lehnte sich nach vorn, packte meine Handgelenke und zwang mich so, den hängenden Kopf zu heben. Seine Augen wirkten derart mitleidig, dass ich auf Anhieb ein ungutes Gefühl hatte. „Was hat diese Anfälle ausgelöst?“

„Ich war zu Ihnen sehr offen, Professor. Bisher habe ich mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit meinem Mann.“

Professor Bachmann ließ mich los und lehnte sich wieder zurück. „Was uns gleich zur nächsten Frage bringt. Haben Sie sich von ihm scheiden lassen?“

„Mutter hat Ihnen wohl alles erzählt!“, giftete ich, ließ den Kaffeebecher los und verschränkte meine Arme vor der Brust.

„Ja, hat sie und falls es Sie beruhigt, ich habe nicht mit ihr geschlafen, obwohl sie eine sehr schöne Frau ist.“

Seufzend griff ich wieder nach meinem kalt gewordenen Kaffeebecher und drehte ihn in den Händen. Dabei stierte ich auf die unansehnliche Brühe, welche sich bedenklich dem Ende zugeneigt hatte. „Jan möchte sich nicht scheiden lassen. Ich habe ihm versprochen, noch einmal über alles nachzudenken. Wahrscheinlich bin ich einfach nur zu feige es auf einen Streit ankommen zu lassen.“, gab ich zerknirscht zu.

„Aber Sie sind ungebunden!“

„Ich frage ihn nicht um Erlaubnis, wenn Sie das meinen.“

Mit einem Schlag wirkte der Professor sehr zufrieden. Er lehnte sich wieder lächelnd zurück, dabei hakte er seine Finger auf der Tischkante ein und lächelte aufmunternd. Alles in allem schmunzelte der Professor sehr gerne, was wohl seine vielen Lachfältchen in seinem Gesicht erklärte. „Dann bleibt nur noch zu klären, wann Sie Zeit hätten, um mit mir nach Ägypten zu reisen.“

Schmerzlich grinsend schüttelte ich meinen Kopf. „Ich kann Sie nicht begleiten. Die motorischen Ausfallerscheinungen können mich jederzeit überfallen. Ich glaube nicht, dass aufregende Funde mir guttun würden.“

„Gehe ich richtig in der Annahme, dass die erste Ausfallerscheinung ausgelöst wurde, als Sie sich Gedanken über eine eventuelle Scheidung machten?“ Erschrocken schloss ich meine Augen, eine Geste, um den Professor abzuschrecken. Jedoch sprach er unbeeindruckt weiter: „Das zweite Mal, passierte es, als Ihr Mann bei Ihnen auftauchte, nachdem Sie ihm schriftlich mitgeteilt hatten, dass Sie die Scheidung einreichen würden. War es so?“ Den Tränen nahe richtete ich mich in meinem Stuhl auf und versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. „Frau Keller, ich glaube nicht, dass Ihr Körper Sie bei einer freudigen Aufregung verraten würde. Und ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand oder irgendetwas Sie zu einer bewegungsunfähigen Puppe macht. Kommen Sie mit mir nach Ägypten und verwirklichen Sie Ihre Träume.“

Ich zwang mich ruhiger zu atmen. Tausende von Emotionen schlugen wie eine Flutwelle über mir zusammen, so dass ich kaum in der Lage war, diese zu interpretieren. Nur ein Gefühl konnte ich hundertprozentig filtrieren: Angst! „Es tut mir leid, Professor. Ich glaube nicht, dass ich die Richtige für diesen Job bin.“ Ich versuchte, meine Stimme nicht zittern zu lassen. Die Angst kroch wie eisige Klauen an mir hoch. Ich bekam weniger Luft und irgendwie bemerkte ich auch, dass die Welt um mich herum grauer wurde. Die Farben verblassten und hinterließen eine wüstenhafte Düsternis in mir. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich konnte es nicht.

Der Professor nahm seine Finger von der Tischkante. So wie seine Stimme, so senkte sich auch sein Blick. „Schade, denn genau das hat mir Justin prophezeit. Er diktierte mir sogar Wort für Wort Ihre Ausrede.“

„Wer ist Justin?“ Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte bei dieser Frage geschnieft.

„Justin Schreiber, der deutsche Journalist, der Ihre Thesen im Internet veröffentlicht hat.“

Blinzelnd vertrieb ich die Düsternis in mir, um das eben Gesagte zu hinterfragen. „Was hat er mit Ihrer Ausgrabung zu tun?“

Bachmanns Miene verzog sich leicht. Sein Tonfall ließ sich durchaus in der Kategorie angewidert einteilen. „Ein penetranter Kerl, unausstehlich und verbissen wie eine Zecke. Irgendwie hat er Wind von meinem Projekt bekommen. Er tauchte aus dem Nichts auf und lässt sich nicht mehr abwimmeln. Andererseits ist er eine große Hilfe, auch wenn ich das nicht gerne zugebe. Er hat archäologische Grundkenntnisse und unterstützt uns bei den Ausgrabungen.“

„Zweifellos, um die ersten Sensationsfotos schießen zu können.“

„Mit Sicherheit, aber er ist ein verdammt guter Fotograf. Als uns eine Serie von Aufnahmen abhandenkam, hat er uns seine zur Verfügung gestellt. Es waren erstklassige Bilder, teilweise besser als unsere eigenen. Mittlerweile fotografiert ausschließlich er.“

„Sie scheinen ihn dennoch nicht zu mögen.“

Professor Bachmann zwinkerte mir schelmisch zu. „Habe ich das etwa gesagt?“ Seine Miene wurde wieder ernst. „Fakt ist, dass er uns mit den Fotografien sehr unterstützt.“

„Sind sonst noch irgendwelche Journalisten vor Ort?“

„Ein Italiener. Im Gegensatz zu Justin ein Waschlappen. Mich wundert nur, dass die Amerikaner oder die Polen noch nicht Wind von der Sache bekommen haben. Normalerweise sind sie die Ersten, die auf einer Ausgrabungsstätte anrücken.“

„Was Sie natürlich sehr bedauern.“

Der Professor lachte laut heraus. „Frau Keller ...“

„Habe ich es mir doch gedacht!“

Eine wütende Stimme ließ mich wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl hochschnellen. Mein Chef! Sein Gesicht wie immer tadelnd und missbilligend gefurcht, die Augen wie stets kalt und ungnädig auf mich gerichtet. Ich hasste seinen grauen Anzug, ich verabscheute seine herabschauende Haltung und noch viel mehr verachtete ich seine dünnen widerlichen Lippen, die verächtlich zusammengepresst waren. Doch am meisten widerte mich sein betont langsames Sprechen an. „Herr Miller ...“

Ohne es zu wollen, zog ich meinen Kopf ein, als seine kalte Stimme über mich drüberfuhr.

„Das ist nun schon das fünfte Mal in diesem Monat, dass ich Sie dabei erwische, wie Sie Ihre Mittagspause überziehen. Es waren bereits sieben Studenten bei mir, die sich massiv über Sie beschwert haben. Sie werden jetzt augenblicklich zu Ihrer Arbeit zurückkehren. Hüten Sie sich, heute pünktlich Feierabend zu machen. Wenn wieder Ordnung in Ihrer Abteilung herrscht, werden Sie mich in meinem Büro aufsuchen. Bitte scheuen Sie keine späte Stunde, ich werde extra für Sie Überstunden machen.“ Drohend hob er den Zeigefinger.

Panisch schloss ich die Augen, als ich es doch tatsächlich schaffte, meinem Vorgesetzten zu widersprechen. „Ich habe die Mittagspause noch nie überzogen.“

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Werden Sie nicht frech, ansonsten könnte ich mir überlegen Sie hinauszuwerfen.“

Wenn mich etwas mutig werden ließ, dann der Gedanke von Ungerechtigkeit oder übler Nachrede. Zitternd ballte ich die Hände, drückte meinen Rücken durch und starrte ihm direkt in die Augen. Betont langsam erklärte ich: „In der Regel arbeite ich während der Mittagspause.“

„Erzählen Sie keinen Unsinn.“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „Ich habe Sie höchstpersönlich fünfmal erwischt.“

Vergessen war meine Angst, vergessen meine Unterwürfigkeit und vergessen war meine Abscheu vor diesem Menschen. Meine Stimme überschlug sich beinahe vor Zorn. „Wenn Sie eine Minute abgewartet hätten und nicht jedes Mal zum Direktor gerannt wären, um mich anzuschwärzen, dann hätten Sie zweifellos festgestellt, dass ich mir nur schnell ein Sandwich oder einen Kaffee geholt habe.“

„Junges Fräulein, ich ...“

„Ich bin 29!“, fiel ich ihm ins Wort. „Und wenn ich Hunger habe, dann hole ich mir mein Essen, wann immer es mir passt, vor allem, wenn ich keine Mittagspause gemacht habe und auch dann, wenn ein paar verwöhnte Studenten mich bei Ihnen anschwärzen.“

„Das war’s!“ Wütend presste Herr Miller seine Worte zwischen den Lippen hervor. „Ihr Betragen ist absolut inakzeptabel. Wenn Sie heute Abend in mein Büro kommen, dann erhalten Sie von mir die fristlose Kündigung.“

Meine Kinnlade sackte herunter. Seine glühenden Augen streiften den Professor, ehe er uns den Rücken kehrte und von dannen rauschte.

„Tja! Sieht ganz so aus, als wären Sie jetzt arbeitslos.“, riss mich die Stimme Bachmanns aus meinen Gedanken.

„Was?“ Der Professor machte eine flüchtige Handbewegung in die Richtung, in welche mein Vorgesetzter davon gerauscht war. Wie chloroformiert sank ich auf den Stuhl und versuchte, mich zu fassen. „Dieser Mistkerl! Seit ich hier bin, habe ich nur viermal Mittagspause gemacht. Mehr als siebzig Arbeitsstunden, die ich ihm geschenkt habe. Scheiße!“ Wütend trat ich mit meinem Fuß gegen ein Tischbein. Sofort klirrte das Besteck auf den Tellern protestierend auf.

„Frau Keller, hiermit wiederhole ich mein Angebot: Begleiten Sie mich nach Ägypten und bringen Sie Licht ins Dunkle.“

Ich seufzte geschlagen. „Sie glauben nicht, dass es Hatschepsuts Grab ist, dennoch nehmen Sie es an. Warum? Was macht Sie so sicher, Professor?“

„Sie wissen, dass Thutmosis III. Hatschepsuts Gemahl war?“

Ich atmete tief durch und bemühte mich, meine Gedanken auf das Sachliche zu konzentrieren. Überlegend zog ich die Stirn in Falten. „Sie hatte zunächst die Regentschaft inne, da er noch nicht regierungsfähig war. Anschließend hat sie ihn geheiratet und ihm die Krone geraubt, indem sie sich selbst die Doppelkrone aufgesetzt hat.“

Der Professor nickte bestätigend. „Durch diesen Raub, hat sie ihm nicht nur den Pharaonentitel gestohlen, sondern auch das Mann sein. Dies wird durch die Manneskraft, also den Hoden, symbolisiert. Thutmosis III. erlangte nach Hatschepsuts Tod seinen Titel Mann zurück, indem er den Thron bestieg“, erklärte Bachmann.

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Als man die Mumie von Thutmosis III. fand, fehlten seine Hoden. Weder in der Mumie selbst noch in einer der Kanopen entdeckte man sie. Irgendwie müssen sie verloren gegangen sein.“

„Was hat das mit Ihrer Ausgrabungsstätte zu tun?“ Ich lehnte mich nach vorn. Langsam weckte der Professor meine Neugier.

„Im Sanktuarium der Grabanlage fanden wir fünf Kanopen. Was sehr bemerkenswert ist, da regulär nur vier für die Organaufbewahrung vorgesehen sind. Auf vier dieser Gefäße ist das Zeichen von Pharao Maatkare eingemeißelt. Eine enthält die Leber, die Zweite die Lunge, die Dritte den Magen, die Vierte den Darm, sowie sonstige organische Kleinigkeiten. Die fünfte Kanope fasst Hoden und nun raten Sie mal, welches Zeichen auf dieser Kanope eingemeißelt ist.“

„Thutmosis III.?“

„Prinzregent!“, antwortete der Professor. Hilflos starrte ich ihn an. Ein triumphierendes Lächeln zierte sein Gesicht. „Fassen wir die Tatsachen zusammen: Thutmosis herrschte zu Pharao Hatschepsuts Lebzeiten, welche den Thronnamen Maatkare innehatte, als Prinzregent. Seine Mumie wurde ohne Hoden geborgen. Ich entdeckte eine Grabanlage, welche einem gewissen Pharao Maatkare geweiht worden ist. In diesem Grab fanden wir eine Kanope, auf welcher das Zeichen Prinzregent eingemeißelt worden ist. Eine Kanope, in welcher sich die Hoden eines Prinzregenten befinden. In Anbetracht dieser Fakten spekuliere ich, dass diese Grabanlage durchaus von Hatschepsut erbaut worden sein könnte. Irgendein treuer fanatischer Anhänger der Pharaonin muss nach Thutmosis Tod, dessen Kanope mit den Hoden in aller Stille entwendet und in die Grabanlage gebracht haben. Vielleicht ein heimlicher Geliebter, der den Tod seiner Angebeteten rächen wollte. Klingt doch romantisch.“

„Was ist mit dem Sarkophag? Die Kanopen stehen meist davor.“

„Das ist das Problem. Wir haben keinen gefunden.“

„Keine Mumie?“

Der Professor schüttelte den Kopf. „Kein Sarkophag – keine Mumie! Fast wie in Hatschepsuts offizieller Grabanlage. Dort fand man zwar keine Leiche, aber einen Sarkophag.“

„Das ist bemerkenswert.“

„Das, meine Liebe, ist mysteriös. Setzt man alle Fakten zusammen und interpretiert sie, dann spricht nur eines für den Tod der Pharaonin: die Tatsache, dass Thutmosis sie abgelöst hat. Betreibt man Haarspalterei, dann würde ich sagen, dass es keinerlei Beweise für Hatschepsuts Tod gibt. Nichts spricht dagegen, dass sie lebt.“

„Diese skandalöse Äußerung könnte von mir stammen. Wollen Sie mir vielleicht damit sagen, dass Sie glauben, dass die Pharaonin noch lebt?“

„Nein! Genaugenommen stammt die Haarspalterei von Justin. Er neigt zum Sarkasmus. Er warf mir diese Behauptung mit der Absicht, uns Archäologen lächerlich zu machen, an den Kopf. Aber in einem hat er recht. In Anbetracht der Jahrtausende muss man davon ausgehen, dass Hatschepsut tot ist und solange deren Mumie, die den endgültigen Beweis ihres Todes darstellt, nicht gefunden wird, stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich existiert hat.“

„Sie hat existiert, dafür gibt es genug Hinterlassenschaften.“

„Kaum ein Vermächtnis trägt Ihren Namen, da Thutmosis nach seiner Thronbesteigung all ihre Namen löschen oder übermeißeln ließ.“

„Hatschepsut wird in unzähligen Kartuschen erwähnt und als Kind beschrieben.“

„Das ist richtig, aber ohne Leiche fehlt der endgültige Beweis.“

„Thutmosis könnte ihre Mumifizierung verhindert haben. Vielleicht ist ihr Körper irgendwo vermodert oder er hat ihren Leichnam den Krokodilen vorgeworfen.“

„Möglich, aber unwahrscheinlich.“

„Warum?“

„Erst nach der Bestattung, wenn der Pharao ins Totenreich übergetreten ist, kann ein Neuer den Thron besteigen.“

„Gut, wir haben eine Kanope mit Hoden und eine Grabanlage, welche Maatkare geweiht wurde.“

„Wir?“, fragte Bachmann und hob eine Augenbraue.

Ich zuckte zur Antwort mit den Schultern. „Ich bin arbeitslos, geben Sie mir einen Job.“

Professor Bachmann schlug begeistert in seine Hände. Er schien sich zu freuen. Ich verkniff mir ein Lächeln. Er sollte nicht dem Glauben verfallen, dass ich auf dieses absurde Abenteuer Lust hatte. „Wann kann es losgehen? Morgen?“

„Heute! Glauben Sie ernsthaft, ich würde heute noch in die Bibliothek zurückgehen, um aufzuräumen? Mein aufgeblasener Chef hat mir fristlos gekündigt, soll er doch das Chaos persönlich beseitigen!“

Der Professor lachte enthusiastisch auf. „So gefallen Sie mir! Justin wird sich die Zähne an Ihnen ausbeißen.“

Sofort verdüsterte sich meine Stimmung. „Auf ihn bin ich schon mal gespannt. Er hat was gut bei mir!“

„Das muss gefeiert werden. Ich lade Sie auf ein Abendessen ein und anschließend brechen wir auf!“

Plötzlich durchströmte mich eitler Sonnenschein. Zum ersten Mal seit meiner Hochzeit fühlte ich, wie Wärme sich in mir ausbreitete und mein Körper sich entspannte.

Gemeinsam mit Professor Bachmann stieß ich auf unsere gemeinschaftliche Zusammenarbeit an. Insgeheim befürchtete ich jedoch, dass die reibungslose Teamarbeit, wie sie mir von meinem neuen Chef garantiert wurde, nicht ganz so unkompliziert ablaufen würde. Ich spürte ein leises Brodeln unter meiner Haut. Dieser deutsche Journalist hatte mich als lächerlich hingestellt. Etwas, das ich nicht einfach ignorieren konnte. Denn vor einem halben Jahr hatte ich mir einen eisernen Grundsatz zugelegt: Niemand würde sich je wieder auf meine Kosten amüsieren!

Kapitel 3

Das Flugzeug landete sanft wie eine schwebende Daunenfeder auf dem flimmernden Asphalt, so dass kaum ein Ruckeln zu spüren war. Ein erleichtertes Lächeln glitt über meine Züge. Das Fliegen war für mich schon immer ein riskantes Unterfangen. Bei einer Seereise blieb dem Untergehendem wenigstens die Option des Schwimmens, bei einem Flugzeugabsturz aus 1000 Meter Höhe nur der Tod.

Als unsere Maschine zum Stillstand gekommen war, ging ein erleichtertes Raunen durch das Flugzeug. Einige Passagiere begannen sogar zu klatschen. Beruhigt schloss ich daraus, dass nicht nur ich an dem glimpflichen Ausgang der menschlichen Herausforderung an Mutter Natur gezweifelt hatte. Befreit fiel ich in den siegesreichen Applaus ein. Der Kapitän bedankte sich und wünschte allen einen angenehmen Aufenthalt. Dies war das Zeichen! Die Fluggäste sprangen von ihren Sitzen auf und stöberten nach ihrem Handgepäck. Aus irgendeinem Grund hatte es plötzlich jeder sehr eilig die Flugmaschine zu verlassen.

Als ich mich der allgemeinen Flucht anschließen wollte, legte mir Professor Bachmann seine Hand beruhigend auf den Arm. „Lassen Sie den anderen den Vortritt. Wir haben es nicht eilig.“

Mit einem seltsamen Gefühl kaute ich auf meinen Lippen herum, während ich einem vorbeihuschenden Reisegast nachblickte, dem die Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Mit rotierendem Magen setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Professor Bachmann lachte leise. „Die meisten haben Angst vor dem Fliegen. Kaum einer gibt es zu, doch der Applaus nach der Landung spricht Bände. Eigentlich müssten sie nach dem Start, sobald die richtige Flughöhe erreicht wurde ebenfalls applaudieren. Denn es besteht eine geringe, aber nicht unerhebliche Gefahr während des Abhebens.“

Verwirrt riss ich den Blick von dem davoneilendem Gästestrom fort. „Wie meinen Sie das?“

„Beim Start sind die Tanks angefüllt mit Kerosin.“

„Sie meinen ...“

„Wir haben eine ungefähre 13%ige Wahrscheinlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft zu fliegen.“ Während der Professor amüsiert über meinen geschockten Gesichtsausdruck lachte, wurde mir schlecht. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann wäre ich wohl nicht geflogen. Plötzlich sah ich mich einer ganz anderen Problematik gegenüber: Wie sollte ich wieder nach Hause kommen? Denn fliegen kam nicht mehr in Frage. „So, nun können wir raus, ohne Gefahr zu laufen, zertrampelt zu werden.“

Mit leicht zittrigen Knien stand ich auf. Professor Bachmann nahm mir mein Handgepäck ab und bugsierte mich zum Ausstieg.

Flirrende Hitze schlug mir wie eine Feuerwand entgegen. Benommen schob ich meine Hand vors Gesicht, als könnte ich mit dieser Geste die Wahnsinnshitze abwehren. Schweiß rann an mir herunter, kaum, dass ich die sengende Glut eingeatmet hatte. „Ich wusste, dass es heiß sein würde, aber gleich so heiß?“

„Warten Sie ab, bis wir in der Wüste sind. Das hier ist Kairo, hier herrscht zwar schon das Wüstenklima, aber so richtig kochend heiß ist es erst im unendlichen Sand.“

Kopfschüttelnd stieg ich die Treppe hinab. Als ich meinen Fuß auf den Asphalt setzte, fiel die Gluthitze mit endgültiger Macht über mich herein. Augenblicklich hatte ich das Gefühl, dass die Sonnenstrahlen Tonnen Wogen, die mich in Richtung Boden drückten. Während ich zu gehen versuchte, hielt ich nach Schatten Ausschau. Alles in mir schrie, der Sonne schnellstmöglich zu entkommen. „Das halte ich nicht aus! In zwei Tagen bin ich tot.“

Professor Bachmann lachte hell auf. „Als ich das erste Mal diesen Flughafen betrat, habe ich genau dasselbe gedacht. Mittlerweile friere ich mir in Deutschland den Allerwertesten ab.“

Ich fühlte mich wie ein Stückchen Schokolade, welches unter den grausamen Sonnenstrahlen zerfloss. Bleierne Müdigkeit zerrte an mir.

„Wir werden in Kairo Station machen, damit Sie sich an die Hitze gewöhnen können. In zwei Tagen fahren wir Richtung Naama Bay.“

Ausgelaugt hob ich meinen Kopf, um nach dem Flughafengebäude zu spähen. Wie eine Oase lag es flirrend vor mir. Wie zum Teufel sollte ich nach Naama Bay kommen, wenn ich schon vermutlich auf dem Weg in das Gebäude den schrecklichen Vertrocknungstod sterben würde? Professor Bachmann schlug ein rasches Tempo an. Meinen Überlebenskampf schien er gar nicht zu bemerken. „In Naama Bay stoßen wir auf Aleandro, anschließend geht es über das Katharinen Kloster nach El-Milga zu unserem Hauptlager. Von dort aus ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Ausgrabungsstätte. Wir haben hier ebenfalls ein Lager errichtet, wenn auch ein erheblich kleineres. Daher müssen die Hilfsarbeiter des Abends ins Hauptlager zurück, was an für sich recht praktisch ist, denn so können sie uns jeden Morgen mit frischen Lebensmitteln und Wasser aus El-Milga versorgen.“

Keuchend blieb ich stehen. Der Eingang lag direkt vor mir und versprach Kühle und Linderung. Ich spürte, wie meine Lungen verzweifelt nach Luft pumpten. Das Hauptgebäude konnte noch so sehr mit schattigem Schutz locken, ich fand einfach keine Kraft mehr, mich zum Weitergehen aufzuraffen. Dafür war die Wucht der Hitze zu übermächtig und die Sonne zu ungnädig. Ich sah mich schon am Rande des Schattens entkräftet zusammensacken, um tragisch zu verenden. „Wer ist Aleandro?“

„Der Sohn meines Partners und Sponsors.“

„Klingt, als wäre er Italiener.“

„Brasilianer. Sein Vater hat eine riesige Firma aufgebaut. Die Tochtergesellschaft hat ihren Sitz in Deutschland.“

Meine Lungen pumpten gequält nach Luft. „Ich muss raus aus dieser Hitze. Ich fühle mich jetzt schon wie eine Mumie.“

Der Professor packte meinen Arm. Innerlich protestierend ließ ich mich weiter zerren. Als wir in das Hauptgebäude des Flughafens eintauchten, empfing uns berauschender Lärm. Fremde Stimmen, exotische Dialekte und Schreie drangen tief in mein Bewusstsein ein und versetzten mich in die Welt aus tausend und einer Nacht. Staunend musterte ich die fremdländischen Gesichter. Professor Bachmann packte meinen Ellbogen, um mich zwischen das Gemenge hindurchzuschieben. Plötzlich hörten wir eine Stimme, welche laut nach ihm schrie.

„Aber das ist ja Aleandro.“ Über die Züge des Professors huschte Verblüffung, doch schon bald wurden sie von Besorgnis beherrscht. Wir steuerten auf einen Kiosk zu, an welchem weniger Gedränge herrschte.

Ein Mann kam freudestrahlend auf uns zu. Sein Lächeln war so herzlich, dass ich nicht umhinkam es zu erwidern. Blitzweiße Zähne funkelten mit seinen tiefbraunen Augen um die Wette. „Guten Flug gehabt?“

„Was machen Sie denn hier? Wir wollten uns erst in zwei Tagen in Naama Bay treffen.“ Ich konnte nicht so recht einordnen, ob der Professor besorgt oder eher verärgert klang.

„Nicht erfreut mich zu sehen? Das hätte ich mir denken können. Hand aufs Herz, Chef, wir haben die Zeit ohne Sie sehr genossen.“

Bachmann lachte leise und schlug Aleandro kameradschaftlich auf die Schulter, eine Geste, welche die gegenseitige Sympathie zum Ausdruck brachte.

„Justin hat ausgerechnet, dass Sie heute in Kairo ankommen würden und da uns Verbandsmaterial sowie die Gegengifte ausgegangen sind, dachte ich mir, dass dies ein hervorragender Zeitpunkt wäre nach Kairo zu fahren, um unsere Phiolen aufzufüllen.“

Erschrocken starrte ich den Professor an. Sein Gesicht verlor alle Heiterkeit, zurück blieb der Ausdruck der erdrückenden Verantwortung. „Was ist passiert?“

„Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Ich bringe euch erst einmal von hier fort. Wir genehmigen uns ein wunderbares Essen, währenddessen erzähle ich alles. Ach, übrigens, hallo, ich bin Aleandro!“ Sein jungenhaftes Gesicht wandte sich mir zu.

Lächelnd ergriff ich seine braungebrannte Hand. „Ich bin Franziska.“ Der Händedruck entpuppte sich als überraschend fest.

„Verheiratet?“

Ich musste lachen. Eine Freundin hatte einmal Urlaub in Brasilien gemacht. Sie hatte mir erzählt, dass jede zweite Frage der Brasilianer dem Familienstand galt. Ich hatte es ihr nicht geglaubt. „Sind Sie es?“, hakte er erneut nach.

„Du kannst gerne das Sie weglassen.“

„Okay. Möchtest du etwas essen?“

Eigentlich hatte ich keinen Hunger. Mein Bedürfnis nach Schlaf war stärker als jedes andere sterbliche Verlangen.

Der Professor nahm mir die Entscheidung ab. „Schlaf wäre ihr wohl lieber, aber mit vollem Bauch schläft es sich besser. Vertrauen Sie einem ausgedörrtem Wüstenkundigen.“, sagte er und zwinkerte mir grinsend zu.

Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln. Der Professor gehörte zu jenen Menschen, die jedem ein Schmunzeln entlocken konnten, egal ob die Situation ernst oder ausgelassen war.

„Hiermit bist du überstimmt! Habt ihr noch irgendwelche Koffer?“

Schlagartig sackte ich in mir zusammen. Mein Gepäck. Ich hatte es vollkommen vergessen und das Schlimmste war, dass es noch vom Förderband geholt werden musste.

„Einen Rucksack.“ Seufzend sah ich mich um, in der Hoffnung ein Schild zu entdecken, welches mir verriet, wo es lang ging.

„Wartet hier, ich hole ihn.“ Aleandro verschwand geschmeidig in der Menge, ehe ich ihm hinterherrufen konnte. Er wusste doch überhaupt nicht, wie mein Rucksack aussah. Hilflos starrte ich auf jene Stelle, wo der Brasilianer von dem Menschengedränge verschluckt worden war. „Er ist nett.“

„Ein guter Mann, leider etwas leichtfüßig gegenüber dem schönen Geschlecht.“

Eine schnatternde Frau, welche mehrere Kinder anführte, bahnte sich einen Weg genau in unsere Richtung. Sie drehte sich immer wieder um und brüllte ihrer Folgschar scharfe Worte zu. Die Anstrengung, den hallenden Lärm des Flughafens zu übertönen, machte sie blind für die Umgebung. Sie wäre wohl in mich hineingerannt, wäre ich nicht auf die Seite gesprungen. Was zur Folge hatte, dass ich in den Armen des Professors landete. Die fremdländische Frau sah mich im Vorbeigehen böse an. Es war ihr anzusehen, dass sie mit mir den Kampf aufnehmen würde, sollte ich es wagen, mich über ihre Eisbrechermethode zu beschweren.

Aufgelöst sah ich ihr und den Kindern nach. Erst als sie zwischen der Menschenmenge verschwunden waren, wagte ich es, den Schutz des Professors wieder zu verlassen. „Wie alt ist Aleandro eigentlich? Ehrlich gesagt, habe ich angenommen, dass Ihr Partner etwas älter wäre.“

„Sein Vater ist unser Sponsor. Vor etwa einem Monat kam er so zum Spaß nach Ägypten, um die Ausgrabungsstätte zu besuchen. Er war derart fasziniert von der Arbeit, dass er unumwunden nach einer Schaufel verlangte. Ich versuchte ihn abzuwimmeln, indem ich ihm begreiflich zu machen versuchte, dass wir mit erheblich kleinerem Werkzeug hantieren würden. Er wollte einfach nicht hören, daher übertrug ich ihm mühsame, kaum lohnende, körperliche Arbeiten. Allerdings entpuppte er sich keineswegs als das klassische Millionärssöhnchen, im Gegenteil. Nach einer Woche buddelte er nur noch mit bloßen Händen, aus Angst er könnte irgendetwas kaputt machen. Er kam mit den Entbehrungen, welche sich durch die Ausgrabungsstätte ergaben, dermaßen gut zurecht, dass ich ihm das Angebot unterbreitete, den Ausgrabungen bis zum Schluss beizuwohnen. Er ist ganz versessen auf diese Arbeit. Selbst als er von einem Skorpion gestochen wurde, weigerte er sich abzureisen. Sein ganzer Kommentar darauf lautete, dass es in Brasilien weit hässlichere und giftigere Geschöpfe als Skorpione gäbe.“

„Klingt nach einem Abenteurer.“

„Warten Sie erst einmal ab, bis Sie Justin kennengelernt haben.“

„Ich kann es kaum erwarten.“ Sarkasmus ließ mich meine Unterlippe nach vorne schieben, so dass ich einen schmollenden Eindruck erweckte.

„Was kannst du nicht erwarten?“ Aleandro tauchte breit grinsend wieder auf, an seiner Schulter hing tatsächlich mein Gepäckstück.

Verblüfft riss ich die Augen auf. „Woher wusstest du...?“

„Bescheidene Geheimnisse machen geheimnisvoll.“ Augenzwinkernd unterbrach er mich mitten im Satz, dabei lächelte er so charmant, dass mein Herz einen kleinen Hüpfer vollführte.