Das letzte Geschenk des Vaters - Gert Rothberg - E-Book

Das letzte Geschenk des Vaters E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Der kleine Henrik von Schoenecker sprang als Erster aus dem Schulbus. Er nahm immer zwei Stufen der Freitreppe auf einmal und riss das Portal des Kinderheims Sophienlust auf. Dann warf er seinen Schulranzen auf den Fußboden der Halle, um beide Hände frei zu haben. Er brauchte sie, um einen Trichter vor dem Mund zu formen und so einen Verstärker für die Neuigkeit zu besitzen, die er hinausposaunen wollte. Zunächst schrie Henrik: »Mutti! Schwester Regine! Tante Ma!« Türen wurden aufgerissen. Aus dem ersten Stock kam Denise von Schoenecker heruntergelaufen. Sie sah erschrocken aus und rief: »Was ist denn los, Henrik?« Jetzt kamen auch die anderen Kinder aus dem Schulbus in die Halle gestürmt. Henrik lief seiner Mutter entgegen. »In meiner Klasse haben wir eine Neue, Mutti. Ein ganz tolles Mädchen.« Denise von Schoenecker lachte befreit auf und fuhr ihrem Sohn durch das strubbelige Haar. »Ihr solltet es doch alle gleich wissen.« Henriks Augen leuchteten. »Mutti, sie heißt Anita Kersting und wohnt mit ihrer Mutter in der ›Alten Mühle‹. Stell dir vor, in dieser Bruchbude. Dabei ist Anita ein so schönes Mädchen.«

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Seitenzahl: 154

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 139 –Das letzte Geschenk des Vaters

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

Der kleine Henrik von Schoenecker sprang als Erster aus dem Schulbus. Er nahm immer zwei Stufen der Freitreppe auf einmal und riss das Portal des Kinderheims Sophienlust auf. Dann warf er seinen Schulranzen auf den Fußboden der Halle, um beide Hände frei zu haben. Er brauchte sie, um einen Trichter vor dem Mund zu formen und so einen Verstärker für die Neuigkeit zu besitzen, die er hinausposaunen wollte.

Zunächst schrie Henrik: »Mutti! Schwester Regine! Tante Ma!«

Türen wurden aufgerissen. Aus dem ersten Stock kam Denise von Schoenecker heruntergelaufen. Sie sah erschrocken aus und rief: »Was ist denn los, Henrik?«

Jetzt kamen auch die anderen Kinder aus dem Schulbus in die Halle gestürmt.

Henrik lief seiner Mutter entgegen. »In meiner Klasse haben wir eine Neue, Mutti. Ein ganz tolles Mädchen.«

Denise von Schoenecker lachte befreit auf und fuhr ihrem Sohn durch das strubbelige Haar.

»Ihr solltet es doch alle gleich wissen.« Henriks Augen leuchteten. »Mutti, sie heißt Anita Kersting und wohnt mit ihrer Mutter in der ›Alten Mühle‹. Stell dir vor, in dieser Bruchbude. Dabei ist Anita ein so schönes Mädchen.« Henrik störte es nicht, dass die Kinder hinter ihm kicherten und einander anstießen. »Ja, ein ganz schönes Mädchen ist sie«, fuhr er fort. »Sie hat langes blondes Haar und trägt ein rotes Band darin.«

»Quatsch«, sagte ein Mädchen, »das war doch ein zusammengerolltes Tuch und kein Band.«

»Das ist doch egal.« Henrik geriet immer mehr in Eifer. »Mutti, Anita ist erst sechs, aber sie ist schon eine Reiterin. Stell’ dir vor, sie kam in Reithosen, einem weißen Rollkragenpulli und roten Schuhen in die Schule. Das sah prima aus. Aber du würdest mich ja nicht in Reithosen in die Schule gehen lassen.«

»Und auch nicht mit roten Schuhen und mit einem roten Tuch in den Haaren«, warf Fabian Schöller ein. So still er sonst war, jetzt musste er Henrik ein wenig anstacheln.

»Du bist ja nur neidisch, Fabian, weil Anita nicht in deiner Klasse ist. Ich habe sie gefragt, wieso sie in der ›Alten Mühle‹ wohnt. Da hat sie gesagt, das sei jetzt ihr Zuhause. Ihre Mutter hat die ›Alte Mühle‹ gepachtet.«

»Die Windmühle hinter dem Rosshof?«, fragte ein Mädchen. »Aber die sieht doch ganz schief aus.«

»Das macht doch nichts. Anita und ihre Mutter wollen ja kein Mehl mahlen«, erwiderte Henrik. »Sie wohnen nur im Turm. Es gehört ein Stück Land zur ›Alten Mühle‹. Dort wollen Anita und ihre Mutter Blumen und Gemüse anbauen.«

»Mutti, wirst du Frau Kersting dann etwas abkaufen? Magda braucht doch immer so viel Möhren und Kraut in der Küche.« Seine Stimme wurde etwas leiser. »Ich habe Anita schon versprochen, dass wir ihr Gemüse und Blumen abnehmen. Das müssen wir jetzt auch halten, sonst denkt sie, ich bin ein Angeber.«

»Diesen Vorwurf werden wir nicht auf dir sitzen lassen, Henrik«, meinte Schwester Regine lachend. »Aber sei nächstens nicht so voreilig mit deinen Zusicherungen. Eines Tages verpflichtest du deine Mutter noch dazu, Dinge abzunehmen, die wir in Sophienlust gar nicht brauchen können.«

»Wir brauchen alles, Schwester Regine. Mutti muss doch immer so viel einkaufen.« Henrik lauschte ins Freie hinaus. Dann rannte er zur Tür. »Der Schulbus mit den Großen ist gekommen. Ich muss ihnen gleich von unserer Neuen erzählen. Vor allem, dass sie im Reitdress in die Schule gekommen ist.«

*

Am nächsten Tag war es für Henrik nicht mehr so einfach, in der Pause mit Anita Kersting zu sprechen. Sie war schon von anderen Kindern belagert. Die meisten fragten sie, ob ihr der Weg von der »Alten Mühle«, bis zur Volksschule in Wildmoos nicht zu weit sei.

Anita schüttelte den Kopf. Ihre blauen Augen strahlten. »Ich brauche ja jetzt nicht mehr zu Fuß zu gehen. Heute kommt mein König Drosselbart an. Mutti holt ihn ab.«

Den meisten Kindern blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Henrik aber fragte verwundert: »König Drosselbart? Der aus dem Märchen? Das kann doch nicht stimmen, Anita.«

»Das stimmt auch nicht. König Drosselbart ist mein Pferd.« Anita sagte es sehr stolz.

»Ein richtiges Pferd oder ein Pony? Ein Pony habe ich nämlich auch, in Sophienlust können alle Kinder auf Ponys reiten.« Henrik drängte sich näher an Anita heran.

»Mein König Drosselbart ist ein richtiges Pferd, Henrik.«

»Jetzt gibst du aber an, Anita.« Henrik war etwas enttäuscht über seine neue Freundin. »Du bist doch ein Jahr jünger als ich. Da haben Kinder noch Ponys.«

»Aber ich habe schon ein richtiges Pferd. Mein Vati hat es mir geschenkt. Er ist ein ganz guter Reiter. Da wollte er eben, dass ich gleich ein großes Pferd bekomme, damit ich mit ihm ausreiten kann. Du wirst meinen König Drosselbart ja heute sehen. Meine Mutti holt mich mit ihm ab.«

Die Glocke läutete, die Kinder mussten in ihr Klassenzimmer zurückkehren. Auf dem Weg durch den Flur fragte Henrik: »Ist dein Vati auch in der ›Alten Mühle‹, Anita?«

Das Mädchen senkte den Kopf und hatte es plötzlich sehr eilig, vor Henrik ins Klassenzimmer zu kommen. Kaum verständlich sagte es: »Nein, mein Vati ist nicht bei uns in der ›Alten Mühle‹. Dort bin ich mit meiner Mutti allein.«

Henrik sah Anita betroffen nach. Sie hatte das eben sehr traurig gesagt. Als er an ihr vorbeiging, weil er in der Bank hinter ihr saß, sah er sie noch einmal verstohlen an. Ja, sie hatte jetzt sehr traurige Augen. Henrik ärgerte sich, dass er daran schuld war. Er hätte sie nicht nach ihrem Vater fragen sollen. Aber sie hatte ihn ja zuerst erwähnt.

Henrik merkte schon lange vor Unterrichtsschluss, dass Anita immer unaufmerksamer wurde. Ihre Blicke hingen meistens an dem Fenster, durch das man auf den Platz vor der Schule sehen konnte. Als es läutete, sprang sie als Erste auf. Jetzt lachte sie auch wieder. Henrik atmete erlöst auf. Erst als er seinen Schulranzen eingepackt hatte, merkte er, worüber sich Anita so freute. Auf dem Schulhof standen eine Frau und ein Pferd.

Die anderen Kinder hatten die beiden auch bereits gesehen und stürmten zusammen mit Anita ins Freie. Noch ungestümer als sonst schon. Henrik hatte keine Chance, sich an ihnen vorbeizudrängen. Aber als er im Freien war, hatte er mehr Mut als sie. Er folgte Anita.

Das Mädchen wurde jetzt von seiner Mutter begrüßt. Henrik fand, dass diese ebenfalls sehr schön war. Sie hatte genauso blondes Haar wie Anita, trug es aber zu einer Krone aufgesteckt. Sie war mittelgroß und schlank. Sie trug keinen Reitdress, sondern ein dunkelblaues Jackenkleid mit einer weißen Bluse.

Henrik musterte das Pferd. Insgeheim bat er Anita ab, dass er sie für eine Angeberin gehalten hatte. Ihr König Drosselbart war wirklich ein richtiges Pferd. Und ein sehr schönes und gepflegtes dazu. Es hatte eine braune Brust und ein braunes Hinterteil, weiße Beine und einen weißen Hals. Auch der Kopf war braunweiß gezeichnet.

»König Drosselbart ist gewiss ein Brandenburger«, sagte Henrik in der Überzeugung, Anita mit einem solchen Wissen imponieren zu können.

Anita schüttelte den Kopf. »Nein, König Drosselbart ist ein Haflinger.«

Henrik bekam einen roten Kopf. Zu dumm, dass er sich blamiert hatte. Wenn ihm eine solche Blamage vor Mädchen passierte, ärgerte ihn das immer besonders. Erst recht in diesem Fall vor Anita.

Das kleine Mädchen sah jedoch nicht so aus, als fühle es sich Henrik überlegen. Es sagte: »Mutti, das ist Henrik von Schoenecker. Er ist mit mir in einer Klasse. Und er hat auch gestern zuerst mit mir gesprochen. Er ist sehr nett. Seine Mutter hat ein Kinderheim. Es heißt Sophienlust.«

Helga Kersting reichte Henrik die Hand. Der Junge verbeugte sich wie ein Kavalier alter Schule, doch sein Kopf rötete sich dabei noch mehr.

Hinter Henrik kicherten wieder ein paar Mädchen. Aber das konnte den Jungen jetzt nicht ärgern. Sie waren sicher nur neidisch, dass Anita und ihre Mutter ihn so bevorzugten. Jetzt sagte Anita gar noch: »Mutti, Henrik hat mir versprochen, dass seine Mutter uns Blumen und Gemüse abkaufen wird.«

Helga Kersting lachte: »Ihr seid ja sehr geschäftstüchtig. Aber leider müssen wir erst anbauen, Anita. Es wird also noch ein Weilchen dauern, bis wir das Kinderheim Sophienlust beliefern können. Aber wie ist es, Anita, wollen wir uns nicht auf den Heimweg machen? Ich glaube, König Drosselbart ist sehr ungeduldig geworden. Er möchte, dass du endlich aufsitzt.«

Anita tätschelte den Hals ihres Pferdes. Dabei sagte sie: »Mutti, Vati hat an alles gedacht. König Drosselbart ist sogar gesattelt.«

Das Gesicht der jungen Frau wurde sehr ernst. »Ja, daran hat dein Vater gedacht.«

Anita stieg in den Steigbügel und schwang sich auf den Rücken ihres Pferdes. »Ich reite im Schritt, Mutti, damit es nicht zu schnell für dich wird. Schade, dass du nicht auch ein Pferd hast.« Sie sah zu Henrik hinunter. »Auf Wiedersehen, Henrik! Bis morgen!« Dann winkte sie den anderen Kindern zu, die ihr bewundernd nachsahen. Es war bisher noch nicht passiert, dass eine Mitschülerin von ihrem Pferd abgeholt worden war.

Die Kinder bestürmten Henrik nun. »Wird Anita jetzt immer zur Schule geritten kommen?«

»Ganz sicher«, antwortete Henrik sehr überzeugt.

»Aber das Pferd kann doch nicht immer stundenlang auf dem Schulhof warten.«

»Ich weiß auch nicht, wie sie das machen will.« Henrik lief zu dem wartenden Schulbus. Der Chauffeur winkte schon recht ungeduldig.

Die Kinder von Sophienlust wollten jetzt jedes Wort wiederholt bekommen, das Henrik mit Anita und deren Mutter gesprochen hatte. Henrik erzählte gern und freute sich schon darauf, nach Sophienlust zurückzukommen, um auch dort seinen Bericht loszuwerden.

Im Kinderheim angekommen, lief Henrik gleich zu den kleinen, noch nicht schulpflichtigen Kindern und rief: »Stellt euch vor, heute habe ich ein Pferd kennengelernt, das König Drosselbart heißt.«

Die kleine Heidi drängte sich an ihn. »Ist das wahr, Henrik?«

»Ich lüge doch nicht.«

»Sieht das Pferd wirklich wie König Drosselbart aus, Henrik?«

»So kann ein Pferd doch gar nicht aussehen, Heidi. Aber man kann ihm einen so schönen Namen geben.«

»Dann wird mein Pferd einmal Schneewittchen heißen«, meinte Heidi verträumt. »Den Namen finde ich noch viel schöner als König Drosselbart.«

»Wer weiß, ob du überhaupt einmal ein Pferd haben wirst«, sagte ein anderes Mädchen nachdenklich.

»O ja, ich werde eins haben. Ich heirate einen ganz reichen Mann. Der kauft mir bestimmt ein schönes Pferd.« Heidi sah Henrik dabei an und zwirbelte an ihren Rattenschwänzchen. Das war immer ein Zeichen dafür, dass sie scharf nachdachte. Jetzt fragte sie: »Würdest du mir auch ein Pferd kaufen, Henrik?«

»Wenn ich dich heirate?«, fragte der Junge.

»Ja.«

»Dummes Zeug, wer sagt denn, dass ich dich heiraten will, Heidi?«

»Henrik ist doch jetzt in Anita verliebt«, rief Pünktchen lachend. »Weil sie eine so tolle Reiterin ist.«

Heidi sah Henrik mit großen enttäuschten Augen an. »Bist du wirklich in Anita verliebt? Willst du sie einmal heiraten? Aber sie ist doch gar nicht von Sophienlust.«

»Wieso redest du immerzu vom Heiraten, Heidi?«, fragte Henrik. »So ein Blödsinn.«

Die kleine Heidi zuckte die Schultern. »Na ja, du willst mich nicht heiraten. Aber das macht nichts. Dann heirate ich eben einen anderen Mann, der mir ein Pferd schenkt. Aber Schneewittchen wird es bestimmt heißen. Es muss so weiß sein wie Ilonas Sissy. Und jetzt gehen wir zum Rosshof. Janosch erzählt uns heute wieder eine Geschichte. Das hat er versprochen. Und Ilona hat Kuchen gebacken. Mit den Heidelbeeren, die wir gesammelt haben.«

*

Der alte Janosch trug zu dieser Zeit vor dem Rosshof schon Holz zusammen. Er ließ es sich nicht nehmen, seine Geschichten am offenen Feuer zu erzählen. Diese Romantik liebten er und die Kinder von Sophienlust. Wenn es nicht zu warm war, dann zog er auch seinen weiten bunt bestickten Mantel an und setzte den breitrandigen schwarzen Hut auf. Das erst gab ihm das Aussehen eines echten Csikos aus der Puszta.

Ilona stand auf der Schwelle des Rosshofes und sah Janosch gedankenverloren zu. Noch immer hatte sie sich nicht ganz von ihrer Reise nach Ungarn erholt. Zu viel hatte sie erleben müssen. Vor allem schmerzte sie der Tod ihres Jugendgeliebten Imre noch immer. Sie konnte nicht begreifen, dass sie Imre nie mehr wiedersehen sollte.

Ilonas Blicke gingen jetzt zur Pferdekoppel. Dort tummelten sich der Hengst Sandor und die Lipizzanerstute Sissy. Die beiden benahmen sich wie zwei übermütige Fohlen. Aber jetzt blieben sie beide, am Gatter stehen und streckten die Köpfe weit vor.

Ilona ging zu Janosch. Von seinem Platz aus konnte sie besser sehen, was die beiden Pferde auf der Koppel gar so sehr interessierte. Ilonas Augen begannen zu leuchten. Sie stieß Janosch an. »Sieh doch nur, ein Haflinger mit einem kleinen Mädchen. Sind die beiden schön anzusehen! Wohin gehören sie nur?«

»Das Mädchen habe ich gestern schon gesehen. Es scheint in Wildmoos zur Schule zu gehen. Es hatte einen Schulranzen.«

»Die Frau neben dem Pferd ist wahrscheinlich die Mutter. Aber die beiden sehen gar nicht aus, als würden sie in einen der Bauernhöfe gehören.«

»Wohin aber sonst?«, fragte Janosch. »Der Weg an der Koppel vorbei führt höchstens noch zu der alten Windmühle. Die aber ist unbewohnt und baufällig.«

»Aber romantisch ist die Windmühle. Mir würde es dort gefallen, Janosch.«

Der Alte lachte. »Dir gefällt es überall, wo es einsam ist und wo du träumen kannst, Ilona.«

Das Mädchen sah ihn entrüstet an. »Träume ich vielleicht den ganzen Tag? Ich packe hier ganz schön zu. Und in der Küche kannst du auch nicht über mich klagen. Mein Gulasch ist zwar nicht so scharf wie deines, aber dafür verbrennt man sich auch nicht den Hals. Und mein Heidelbeerkuchen ist so gut geraten, als hätte ihn der Bäcker gebacken.«

»Ja, ja, du bist ein ganz tüchtiges Mädchen, Ilona. Für deine achtzehn Jahre stehst du fest auf den Beinen.«

»Achtzehn! Bald werde ich neunzehn, Janosch.«

»Und damit heiratsreif.« Janosch zwinkerte Ilona zu. »Ich wette, dass dein Vater bald wieder einmal auftaucht und dir einen Bewerber anpreist, der dir all das bieten kann, was du mit dem Gut ›Puszta Tanya‹ verloren hast.«

Ilona lachte. »Vater hat wohl allmählich eingesehen, dass er mit solchen Wünschen bei mir auf Granit beißt. Ich brauche keinen reichen Mann, nur einen, der mich liebt und den ich von ganzem Herzen liebe. So wäre es bei Imre gewesen.«

Janosch sah noch einmal zu dem Haflinger mit dem kleinen Mädchen und der daneben gehenden Frau. Er wollte Ilona jetzt ablenken, weil er es nicht ertrug, wenn sie an Imre dachte und ein trauriges Gesicht machte. »Ich glaube, die gehen doch zur ›Alten Mühle‹«, sagte er. »Siehst du, jetzt verschwinden sie auf dem Steig zwischen den Birken. Ich muss auskundschaften, wer das ist. Und das Pferd muss ich aus der Nähe sehen. Es scheint ein prächtiger Haflinger zu sein.«

*

Während sich der alte Janosch noch über diese Pferderasse ausließ, erreichte Helga Kersting mit ihrem Töchterchen und König Drosselbart die »Alte Mühle«, die wirklich recht mitgenommen aussah. Die Tür hing windschief in den Angeln, an der Galerie war das Geländer schadhaft, und von den vier Windmühlenflügeln war einer nur noch zum Teil vorhanden. Trotzdem sah man dem Turm an, dass er bewohnt war. Hinter den kleinen Fenstern mit den blank geputzten Scheiben hingen bunte Gardinen.

Anita saß ab und sah sich erstaunt um. »Mutti, du hast ja schon umgestochen. Wann hast du das gemacht? Du musstest doch König Drosselbart vom Bahnhof abholen.«

Helga Kersting lächelte. »Aber zuvor hatte ich eine gute Stunde Zeit. Nach dem Essen grabe ich weiter um. Wir müssen so bald wie möglich mehrere Beete fertig haben. Du siehst ja, wie gut hier alles wächst, weil der Boden so fett ist. Der alte Pächter muss ganz schön geerntet haben. Aber er hatte den Garten wohl nur für sich selbst angelegt. Morgen will ich Spinat aussäen. Er wächst am schnellsten.«

»Aber damit werden wir nicht viel verdienen.« Anita hielt noch immer die Zügel ihres Pferdes fest. Sie sah ihre Mutter bange an. »Haben wir noch Geld, Mutti, damit wir nicht hungern müssen?«

Helga Kersting legte die Arme um ihre Tochter. »Dummchen, wäre ich mit dir hierhergegangen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass wir uns bei einiger Sparsamkeit eine geraume Zeit über Wasser halten können? Ich habe doch noch das kleine Erbteil von meinen Eltern.«

Helga Kersting sprach betont leicht, um Anita zu beruhigen. »Komm, ich bring König Drosselbart in den Stall. So wollen wir den Schuppen nennen, den wir so gut haben herrichten lassen.«

»Ja, er ist König Drosselbarts Stall. Jedes Pferd muss einen Stall haben, Mutti.« Anita führte ihr Pferd zu einem winterfesten Schuppen hinter dem Turm. »Ich komme dich dann gleich füttern, König Drosselbart. Du wirst es gut bei uns haben.« Wieder tätschelte sie den Haflinger.

Helga Kersting hörte, was Anita sagte und ging schnell in die Windmühle. Anita sollte ihr sorgenvolles Gesicht nicht sehen, sonst würde sie Angst bekommen, dass sie ihr Pferd nicht behalten dürfe.

Die zweiunddreißigjährige Frau seufzte schwer. Eigentlich konnte sie sich den Luxus, ein Pferd mit durchzufüttern, nicht leisten. Aber Anita hatte den Wunsch geäußert, König Drosselbart in die Windmühle mitzunehmen. Es war ihr einziger Wunsch gewesen. Noch vor Kurzem war ihr jeder Wunsch erfüllt worden. Damals hatten sie in einem herrlichen Landhaus am Stadtrand von Mannheim gelebt. Mit Anitas Vater, dem Oberarzt Dr. Bertram Kersting.

Helga Kersting stand mitten in der kleinen, dürftig eingerichteten Wohnstube. »Acht Jahre lang«, sagte sie leise. »So schnell ist die Zeit vergangen, in der ich mit Bertram glücklich war. Wie konnte es passieren, dass wir uns jetzt getrennt haben? Wieso bedeutet ihm auf einmal eine andere Frau mehr als ich? Wir hatten doch aus Liebe geheiratet und waren glücklich über unsere Anita. Vielleicht hätte ich das Feld nicht räumen dürfen?«

»Mutti«, erklang Anitas Stimme von der Tür her, »sprichst du mit jemandem?«

Helga Kersting erschrak. »Nein, Anita. Ich weiß selbst nicht, warum ich auf einmal laut gedacht habe.«

Anita kam auf sie zu und sah sie forschend an. »Nur alte Leute reden mit sich selbst, Mutti. Du bist aber noch nicht alt.« Sie streckte die Arme aus und legte sie um den Hals der Mutter. »Du bist noch jung und sehr schön. Viel schöner als Frau Darnell.«

»Warum sprichst du von ihr, Anita?«, fragte Helga gepeinigt.

»Weil sie schuld daran ist, dass wir nicht mehr bei Vati sein können. Das weiß ich doch, Mutti. Ich habe ja gehört, wie ihr ihretwegen immer gestritten habt. Und dann hast du gesagt, dass wir aus unserem schönen Haus fortgehen wollen, du und ich.«

»Wärest du lieber bei deinem Vater geblieben?«, fragte Helga erschrocken. »War es nicht richtig von mir, dich mitzunehmen?«