Das Lichtenstein – Modehaus der Illusionen - Marlene Averbeck - E-Book

Das Lichtenstein – Modehaus der Illusionen E-Book

Marlene Averbeck

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein letztes Aufleuchten am Modehimmel über Berlin Berlin, 1935. Das Lichtenstein gleicht einem summenden Bienenkorb. Konfektionär Hannes entwirft weiterhin Kollektionen, die nicht den politischen Anforderungen nach einer »zurückgenommenen« Mode folgen, seine Frau Hedi hat eine Werbeabteilung aufgebaut, Thea leitet die Schneiderkontrolle, und Ella ist ein gefeierter Kino-Star. Vier Jahre später: Berlins Ära als Modemetropole ist systematisch zerstört, und auch das Lichtenstein ist »arisiert«, die Inhaberfamilie in alle Winde verstreut. Hedi und Hannes, als Judenbüttel ins Visier der Nazis geraten, packen die Koffer für ihre Abreise nach London, wo sie von Theas Familie und anderen Weggefährten erwartet werden. Gemeinsam mit Ellas weitreichenden Kontakten versuchen sie, Jacob zu retten, der in ein Zwangsarbeiterlager für Textilien verschleppt wurde ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 447

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marlene Averbeck

Das Lichtenstein

Modehaus der Illusionen

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Figurenübersicht

Hedi Hallberg, geb. Markwardt, arbeitet im Kaufhaus Lichtenstein im Bereich der Pressearbeit. Sie ist mit Konfektionär Hannes Hallberg verheiratet, die beiden haben eine Tochter namens Lou.

 

Hilde Markwardt ist vor Jahren zur Witwe geworden. Sie steht ihrer Tochter Hedi oft zur Seite. Früher engagierte sie sich für Frauenrechte, mit dem Erstarken der Nazis zieht sie sich zunehmend zurück.

 

Hannes Hallberg ist Konfektionär im Lichtenstein. Trotz einer Kriegsverletzung steht er wieder fest im Leben. Seine Mode orientiert sich an der Pariser Haute Couture.

 

Ella Feinstein, geb. Winkler, ist Schauspielerin und das Aushängeschild des Lichtensteins. Sie war mit dem Galeristen Gustav Feinstein verheiratet, sein tragischer Tod überschattet ihr Leben. Beruflich hat sie ihren Mädchennamen beibehalten.

 

Friedrich Lichtenstein hat das Kaufhaus aufgebaut. Er sieht sich als erzkonservativer Preuße. Es fällt ihm aus gesundheitlichen Gründen immer schwerer, sich mit geschäftlichen Belangen zu befassen.

 

Marianne Lichtenstein hat ihren Mann in jungen Jahren geheiratet. Um mit ihr den Bund fürs Leben schließen zu können, ist er konvertiert, vom Juden- zum Christentum.

 

Jacob Lichtenstein leitet zusammen mit seinem Bruder Ludwig das Warenhaus Lichtenstein. Für ihn zählt, was Kundinnen und Kunden wünschen …

 

Ludwig Lichtenstein verfolgt stets eigene Interessen, ob im Lichtenstein oder bei seinen vielfältigen politischen Kontakten. Seine Frau Noelle und er sind begeisterte Nationalsozialisten.

 

Thea Meuser, geb. Stübner, steht der Schneiderkontrolle im Lichtenstein vor, sie hat im Haus vor Jahren als Näherin begonnen. Sie ist mit Georg Meuser verheiratet.

 

Sohn Carl Meuser ist musisch begabt und Theas ganzer Stolz.

 

Georg Meuser ist Zwischenmeister im Lichtenstein und beschäftigt zahlreiche Näherinnen in Heimarbeit.

 

Agnes Stübner ist Theas Mutter, Lenchen und Gerd sind Theas inzwischen erwachsene Geschwister.

 

Helene Löwy, geb. Schrader, hat vor Jahren Jacobs Herz erobert. Helenes Vater hat darauf bestanden, dass seine Tochter einen Mann jüdischen Glaubens heiratet. Ihre Tochter Ruth liebt sie, die Ehe mit Oscar Löwy ist jedoch stark unterkühlt.

 

Martha Schrader, Gattin des Bankiers Dr. Schrader und Mutter von Helene, ist eine lebenstüchtige Frau, die im Lichtenstein zu arbeiten beginnt.

 

Albert Karmaker ist ein Schauspielkollege von Ella Winkler, inzwischen lebt er in Wien und ist dort am Burgtheater erfolgreich.

 

Käthe ist Haushälterin bei den Lichtensteins.

 

Sonstiges Personal im Lichtenstein:

 

Lore Müller, auch Müllersche genannt, ist seit Jahrzehnten die Vorzimmerdame der Herren Lichtenstein.

 

Grete, ihren Nachnamen kennt kaum einer, ist die Portiersfrau, die Portiersche, wie die Berliner sagen.

 

Karl Kiesewetter ist Lagerist im Lichtenstein, wie lange schon, weiß eigentlich niemand mehr.

 

Josefine Wagner ist die Erste Verkäuferin in der Damenbekleidung.

 

Heiner Hoffmann ist Leiter der statistischen Abteilung.

 

Cilly Meinicke gehört zu den Näherinnen des Hauses, sie ist Mitglied der nationalsozialistischen Betriebszelle des Lichtensteins.

 

Trude Friedhoff ist Verkäuferin in der Weißwarenabteilung.

 

Alice Friedhoff, Trudes Tochter, ist Verkäuferin und begeisterte Anhängerin der Nationalsozialisten.

 

Margarete Kaiser ist in der Versandabteilung tätig.

 

Hausmeister Kühn ist Jude und Sozialist, er werkelt seit Jahrzehnten immer im Hintergrund des Kaufhauses.

 

Sonstige:

 

Fritjof Gustavson ist Regisseur und politisch »auf Linie«.

 

Helmut Dillinger ist Mitinhaber der Versicherung Dillinger. Jacob Lichtenstein und er kennen sich aus Schulzeiten.

 

Frau Geheimrat Kunze ist Kundin im Lichtenstein.

 

Hans Hülsner ist ein jüdischer Ladeninhaber. Er ist aus Berlin nach Manchester emigriert.

 

 

Im Anhang finden sich

ein Nachwort

ein Glossar

ein Verzeichnis realer Persönlichkeiten und Institutionen

Prolog

Seit er wieder in Berlin ist, glaubt Jacob, auf sich selbst herabsehen zu können, manchmal meint er auch, neben sich herzulaufen. Und das, was er beobachtet, ist mitleiderregend.

So wie der gestrige Abend: der Sohn, der aus Manchester zurückkehrt, aus den Armen seines Liebchens. Der das Haus der Eltern durch ein unerklärliches Wunder unzerstört vorfindet, nicht einmal der Bruder ist verhaftet worden. Aber der Vater, ausgerechnet ihn, den alten Mann, hat es getroffen. Was hätte er, der älteste Sohn, darum gegeben, am Tag zuvor im Lichtenstein gewesen zu sein und den Schlag abzufangen, der den Vater getroffen hat.

Nicht weniger mitleiderregend sieht er aus, als er sich dabei zusieht, wie er die mit Brettern vernagelte Front des Lichtensteins entdeckt. Holzlatte neben Holzlatte, senkrecht verschraubt. Jacob beobachtet die herabfallenden Schultern, den sich verlangsamenden Schritt. Und auch wenn er neben sich steht, durchlebt er den Schmerz des brechenden Herzens seines Vaters. Er sieht das offene Hauptportal, durch das Mitarbeiter und tatsächlich erste Handwerker eilen. Es scheint ihm, als würde sein Körper immer stärker in den Notfallmodus übergehen. Wie lächerlich er wirkt, so von der Seite betrachtet: der gebeugte Mann mit dem schütteren Haar. Jeder Schritt, vielmehr jede Bewegung kommt ihm vor wie die eines Automaten.

Er geht an der Portierschen vorbei. Sie hat einen Besen in der Hand und fegt den Bürgersteig neben einem schwarzen Haufen verkohlter Kleidung und vom Feuer deformierter Gegenstände. Vermutlich traut sie sich nicht, ihn zu entfernen. Vermutlich muss dieser Scheiterhaufen bleiben, als ein Mahnmal, überlegt Jacob, während er ihn passiert. Tatsächlich richtet sich die Portiersche auf, als sie ihren Chef erblickt. Sie greift den Besen fester und wirkt fast wie ein Soldat, während sie ihn grüßt.

Jacob eilt sich selbst hinterher, diesem gramgebeugten Zausel, durch das Portal, hinein ins Dämmerlicht, welches das Grauen dankenswerterweise nur Stück um Stück freigibt.

Alle Blicke richten sich auf ihn, den ältesten Sohn der Lichtensteins, der nun erschienen ist – wozu, weiß niemand. Was soll er noch machen, was soll er noch retten? Der Vater liegt verletzt zu Hause, möchte er ihnen zurufen. Das Lichtenstein aber, es ist verloren. Die Gegenwart ist nur noch ein hauchdünner Moment vor einer Zukunft, die ohne ihn stattfinden wird. Jacob spürt den Schmerz jedes Einzelnen als seinen, er nimmt das Mitleid in sich auf und kann dem nichts mehr entgegensetzen.

Während er durch den Gang geht, versucht er zu begreifen, was hier geschehen ist, und einem Film gleich, sieht er die Bilder, hört die Geräusche, riecht die Angst der einen und die Geilheit der anderen, die sich an ihrer Macht besaufen.

Nahezu somnambul wandelt er durch die Abteilungen, hinauf in den Bureautrakt, bis er in der Tür zum Vorzimmer steht.

Die Müllersche.

Diese Frau hier zu sehen, ihren Mut zu erleben, berührt ihn. Er bemerkt die Kaminsims-Uhr, die notdürftig zusammengeflickt aussieht und der ein Zeiger fehlt.

Die Müllersche erhebt sich, geht auf ihn zu, zögert und legt letztlich doch ihre Hand auf seinen Arm.

Im Nachhinein, das weiß Jacob, wird er sich an diesen Moment als denjenigen erinnern, der den Abstand zu sich selbst beendete.

Berlin, im Februar 1933

Thea

Die Frauenwelt würde ihm zu Füßen liegen.

Er war klug, talentiert und obendrein schön, ihr Sohn.

Thea schluckte. Inzwischen war Carl größer als sie, der erste Flaum bildete sich auf seiner Oberlippe, und der Kehlkopf sprang deutlich sichtbar, wenn er, wie jetzt, nervös war. Ein zurückhaltender und noch klapperdürrer Junge von vierzehn Jahren.

»Bei der Wahl im Jahr 1930 wurde die NSDAP aus dem Stand die zweitstärkste Kraft in unserem Land. Aber erst, als es 1932 mehr als sechs Millionen Arbeitslose gab, haben die Menschen verstanden, dass wir einen Führer brauchen.« Kurz setzte Carl ab, holte Luft und strich sich eine seiner blonden Locken aus dem Gesicht.

Die Ähnlichkeit mit Ludwig Lichtenstein wurde immer deutlicher, selbst die Handbewegungen hatten die gleiche Leichtigkeit und Eleganz.

Doch es galt, beim Thema zu bleiben! Der Junge wollte sicher nicht hören, dass die NSDAP im letzten Jahr binnen weniger Monate, von der Juli-Wahl zur November-Wahl, reichlich Stimmen verloren hatte. Und so nickte sie Carl zu, um ihn zu ermuntern.

Er grinste schelmisch und beugte sich ein Stück vor: »Ich habe einen späten Termin für meinen Vortrag erhalten – was für ein Glück! Denn nun werde ich es sein, der morgen verkünden kann: Schon vor seiner Krönung zum Reichskanzler hat Adolf Hitler …«

»Moment«, fiel Thea ihm ins Wort, »er ist nicht gekrönt worden, er ist ernannt worden. Von Hindenburg …«

»Ja, ja, ich weiß«, ungeduldig hob Carl die Hand, als wollte er ihren Einwand beiseitewischen, »… aber schon vor seiner Ernennung hat er begonnen, sich verschiedenster Themen anzunehmen, vor allem will er Arbeitsplätze schaffen. Mein Vater, Georg Meuser, ist Zwischenmeister, er ist für das Warenhaus Lichtenstein tätig. Dort wird für das deutsche Volk qualitativ hochwertige Kleidung gefertigt, die Zurückgenommenheit und disziplinierte Sportlichkeit in den Vordergrund stellt. Auch dieses Thema hat der Führer angeschoben.«

Erneut zog sich Theas Herz zusammen. Es stimmte nicht, was der Junge sagte. Die Mode des Lichtensteins blieb feminin, von den großen französischen Modeschöpferinnen und Modeschöpfern beeinflusst. Der Konfektionär des Hauses beugte sich nicht dem Wind, der schon seit Längerem durch die deutsche Modewelt fegte und, einem Herbststurm gleich, alles Farbige, Zarte und Blütenhafte mit sich riss, um kargbraune dunkle Tristesse zu hinterlassen. Sie war stolz darauf, mit Hannes Hallberg zusammenzuarbeiten. Aber es war besser, ihren Sohn im Glauben zu lassen, das Lichtenstein würde den neuen politischen Richtlinien folgen. Er war sensibel. Es war nicht gut, wenn er in Konflikt mit seinen Lehrern oder Mitschülern geriet, schon gar nicht wegen solcher Gesinnungsthemen.

»In dem Warenhaus, in dem mein Vater arbeitet …«

»… in dem deine Eltern arbeiten«, ergänzte Thea beiläufig.

Carls Gesicht verzog sich.

Thea stutzte. Bildete sie sich das ein, oder wirkte er mit einem Schlag verlegen? »Ja, es ist doch so: Ich arbeite da auch«, schob sie nach.

»Das würde ich lieber weglassen.«

»Oh!« Sacht schüttelte Thea den Kopf und fragte leise: »Warum das?« Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte sie, es wäre ein Vortrag, der sich ausschließlich mit den Vätern und ihren Berufen befassen sollte.

»Naja, es wäre besser, wenn du mehr Kinder bekommen oder dich zumindest nur um Vater und mich kümmern würdest. Also, das sagen die in der Schule: Frauen sollen sich um die Familie kümmern.«

So schnell ging das: Sie war in den letzten anderthalb Jahren zur Mutter geworden, die verschwiegen wurde. Das Mitleid mit ihrem Sohn, dass sie nicht mehr ins Bild passte, brannte heiß und schob sich durch ihren Leib. Sie, die fleißige, verlässliche, gewissenhafte, akkurate Langweilerin, die Frau, die sich darum bemühte, alles im Gleichgewicht zu halten – auch wenn es nicht immer gelang –, war trotzdem nicht gut genug für das neue Frauenbild, das nun gewünscht war.

Carl wischte erneut hastig mit den Händen durch die Luft, als wollte er eventuelle Widerworte abwehren. »Aber hör weiter zu, ich habe ein schönes Ende für den Vortrag vorbereitet. Also: Es ist sehr familiär in dem Warenhaus, in dem mein Vater arbeitet.«

Nun schloss Thea für einen Moment die Augen. Das Mitleid wandelte sich in ein Unbehagen, das sie kaum zu verbergen vermochte.

Was kam jetzt?

»Die beiden Inhaber kümmern sich sehr um mich und fördern mich. Der eine von beiden kennt Adolf Hitler aus seiner Zeit in München. Er heißt Ludwig Lichtenstein, und er hat mich für die Hitlerjugend begeistert.«

Nichts blieb ihr erspart.

Rein gar nichts.

Dieses Kind verhandelte, ohne es zu ahnen, öffentlich das Drama seiner Familie.

In der Schule. Vor Lehrern und Mitschülern.

Es gab Momente, in denen hasste sie sich.

Dies war so einer. Ein Teil von ihr wollte Carl die Augen öffnen. Dem Sohn erklären, dass der leibliche Vater ihn verleugnete. Nur so konnte sie das Lügen beenden. Der andere Teil in ihr wollte ihm den Schmerz ersparen und ihn in schützendes Schweigen hüllen – ihn in dem Glauben lassen, Georg wäre sein Vater.

Was er in ihren Augen auch war.

Mit Leib und Seele.

Sie wusste, ihr Leben war ein Kartenhaus.

Kurz über lang würde es zusammenstürzen.

»Wir unternehmen bei der HJ viel …«, riss Carls Stimme sie aus ihren dahinjagenden Gedanken.

Thea öffnete die Augen und fixierte ihren Sohn.

Sie vergötterte ihn.

Ein Gefühl, das ihr Kraft gab, den bisherigen Weg weiter zu verfolgen, denn es musste sein. Sie musste weiterlügen, bis sich die Balken bogen. Nur so konnte sie ihm seine kleine und heile Welt erhalten.

»Später möchte ich Konfektionär werden und meine Arbeit sinnvoll fürs Vaterland einbringen.« Carl deutete eine Verbeugung an. »Das ist mein Vortrag, den ich morgen halten soll. Was meinst du, Mama, reicht das?«

»Ja, du machst das wunderbar, ich denke, es reicht. Allerdings. Mir zumindest reicht es vollkommen …«

Hedi

Thea verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. »Der gnädige Herr erwartet dein Erscheinen«, sagte sie.

»Ich muss den Beitrag fertigschreiben, er soll nachher noch an die Redaktion raus.«

»So viel ich weiß, geht es genau um diesen Artikel. Hannes möchte noch einige Aktualisierungen vornehmen.«

Hedi schlug verärgert auf die Tasten der Schreibmaschine, umgehend verhakten sich zwei Typenhebel. »Mist, verdammter«, fluchte sie. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Es gab wieder Änderungen am Kleid?«

»Sagen wir es so: Hannes macht gerade die letzte Abnahme, also die allerletzte, vielleicht sind wir auch schon bei der allerallerletzten, ich habe den Überblick verloren.«

»Er hat mir heute Morgen hoch und heilig versprochen, es würde keine …« Hedi brach ab und verzog das Gesicht.

»Ja, nun – was soll ich sagen? Er ist der Meinung, die Stoffe fallen anders als erwartet, sie glänzen stärker und umspielen die Figur mehr. Er möchte dich noch einmal draufschauen lassen.«

Seufzend blickte Hedi auf die Schreibmaschine vor sich. Der Gedanke, den sie soeben angefangen hatte, war längst verloren. Jetzt sprach nichts mehr dagegen, ins Atelier zu eilen und einen Blick auf das Kleid zu werfen. Sie griff sich eine Kladde, klemmte mehrere Blätter Papier unter den Bügel und einen Bleistift hinters Ohr. »Das Problem ist der Redakteur«, fuhr sie fort, als sie durchs Treppenhaus eilten. »Er hat mich gebeten, schnell noch ein paar Zeilen zu den neuesten Entwicklungen zu verfassen. Daraus macht er einen kleinen Beitrag zur Frühjahrsmode. Das tue ich gern, aber eigentlich habe ich dafür gerade kaum Zeit …«

»Er nimmt deinen Text und macht daraus seinen?«

»Ja, das ist recht üblich. Es ist eine praktische Lösung, denn so ist der von mir viel gepriesene neueste Chic genau das, was in unserer Reklame gezeigt wird.«

»Du Fuchs, wie raffiniert! Ist in den Tageszeitungen momentan überhaupt Platz für solche Themen? Sie überschlagen sich ja alle mit dem neuen Reichskanzler …«

»Ich finde, es geht wieder. Und seien wir ehrlich, die Reichskanzler wechseln ja schneller als wir die Wäsche. Der ist auch bald wieder Geschichte.«

»Dein Wort in Gottes Ohren. Ich muss noch einmal in die Schmuckabteilung«, sagte Thea über ihre Schulter hinweg und eilte los. »Hannes braucht zwei Ketten.«

Hedi rollte die Augen. »Er muss aber auch immer alles bis ins kleinste Detail ausschmücken – kann er sich das nicht vorstellen?«

»Das ist dein Gatte, nicht meiner. Sag’s ihm, nicht mir.«

Das Lichtenstein war voll für einen Vormittag mitten in der Woche. Doch der Abverkauf von Stoffen auf den Ausstelltischen zog Kundinnen ins Haus. Hedi und Thea schoben sich durch das Gedränge und erreichten die Schmuckabteilung.

»Um welches Kleid geht es? Für welches braucht Hannes die Kette?«, fragte Hedi.

»Das Jean-Patou-Kleid.«

»Sag das nie in seiner Gegenwart!«

»Mache ich immer. Es ist viel moderner und zeitloser als die Patou-Robe. Allenfalls inspiriert, aber niemals kopiert. Dein Mann kennt meinen Blick auf seine Arbeit.

»Du traust dich ja was, das wage nicht mal ich«, lachte Hedi auf. »Also gut, kommen wir zur Sache: Wir schauen also nach einer Kette für das schwarze Samtseidenkleid, das mit silbernen Fäden durchwirkt ist. Das ist schwierig, weil das Kleid an sich viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, da geht Schmuck schnell unter.«

»Was Dezentes? Vielleicht ein kleiner Stein, der mit zarter Kette um den Hals liegt?«

Hedi musterte Thea und fühlte einen Moment der Zärtlichkeit. Eine mitdenkende und kluge Frau, so warmherzig und geradlinig, so unprätentiös. Der Stoff, aus dem beste Freundinnen gemacht waren.

»Und hast du dir schon einen Namen für das neue Modell einfallen lassen?«, fragte Thea, während sie den Blick über das glänzende Gold und Silber mit den elegant zurechtgeschliffenen Edel- und Halbedelsteinen schweifen ließ. »So richtig passt keine der Ketten.«

Hedi hob eine in die Höhe. »Die könnte gehen. Und ja, das Kleid soll schlicht Amalia heißen.«

»Sehr brav.« Missbilligend schüttelte Thea den Kopf.

»Ludwig Lichtenstein hat mich explizit darum gebeten, auf ›erfreuliche Namen‹ zu achten. Das hat er wortwörtlich gesagt. Schön deutsch soll es klingen, bloß nicht französisch.«

»Vergiss es«, Thea winkte ab. »Hannes orientiert sich weiterhin an Paris, davon lenkt auch kein deutscher Name ab. Ein Schnitt ist ein Schnitt und damit eine Ansage. Schlicht, praktisch oder gar zweckdienlich ist an seinen Kleidern gar nichts …«

»Pst, nicht so laut!«

Thea tippte sich an die Stirn. »Warum? Auch wenn in der Berliner Mode – ach, was sage ich, in der gesamten deutschen Bekleidungsindustrie – alles langweiliger wird, gibt es immer noch viele Kundinnen, die nicht so ticken. Dein Mann fährt zweimal im Jahr nach Paris, um die großen Modenschauen zu besuchen und sich anregen zu lassen. Das weiß in der Branche jeder.«

Hedi überlegte, wie sie die Freundin bremsen konnte. Wenn sie erst einmal begann, sich zu ereifern, war ihr schwer beizukommen.

»Für ihn wird die Raffinesse französischer Mode«, sagte sie deshalb streng, »der Pariser Flair der Leitstern bleiben. Dieses deutsche Frauenbild, das neuerdings wieder unter dem Motto steht ›Heim und Herd sind Goldes wert‹, ist nun mal nicht sein Ding. Egal, wie laut die Vorgestrigen grölen.«

»Wenn er hören könnte, welche Loblieder du hier auf ihn singst, würde er dich vermutlich zu seiner Lieblingsangestellten des Monats küren.«

Sie mussten lachen.

Hedi war erleichtert, dass Theas Anspannung sich umgehend verflüchtigte. »Du hast recht, in seinen Augen sind Frauen klug und die lebenspraktischere Hälfte der Menschheit. Und wenn sie die Welt zum Besseren verändern, dann können sie auch schön gekleidet sein. Praktische Kleidung gibt’s nebenan, bei Jandorf und Co.«

»Eigentlich nähen wir Kleider, dafür reden wir ziemlich viel über Politik.«

Hedi zuckte mit den Schultern. »Das war doch schon immer so. Was anderes anzunehmen, wäre Augenwischerei.«

»Wenn wir uns jetzt nicht sputen, kenne ich einen, der sehr ungehalten sein wird.«

»Komm, wir nehmen diese Kette. Lassen wir Hannes nicht länger warten.«

Nachdem sie der Kollegin Bescheid gegeben hatten, dass sie sich Schmuck ausliehen, eilten sie durch die Gänge, die einem summenden Bienenstock glichen. Die Geräuschkulisse bestand vornehmlich aus Gesprächen. Der Geruch des Hauses veränderte sich im Erdgeschoss beständig, je nachdem, welche Parfüms angeboten wurden. Im oberen Stockwerk roch es eher nach den sich türmenden Seidenstoffballen oder den vielfältigen Wollwaren. Wenn im Januar die Weißwarenwoche stattfand, schwebte der Geruch frischer Leinstoffe durchs Haus. Hedi genoss das warme Licht der neuen Kronleuchter, das sich in den Spiegelflächen brach und das die Messinggeländer, Rahmen und Wandleuchten erstrahlen ließ. Sie sog die neugierigen Blicke der Kundinnen auf und deren erfreutes Lächeln, wenn sie fanden, was sie suchten. Hedi liebte diese friedvolle Stimmung im Lichtenstein.

Sie erreichten den Personaleingang und tauchten in die Stille des Treppenhauses ab. Im Atelier kam Hannes ihnen sofort entgegen. Sein Gehstock klopfte einen harten Takt auf den Boden, einen, der verriet, wie ungeduldig er bereits war. Hedi bemerkte, wie stark er sein künstliches Bein nachzog. So wenig seine Kriegsverletzung sonst auffiel, so deutlich war sie jetzt zu erkennen. Vermutlich hatte er Schmerzen im Stumpf. Er verlor selten ein Wort darüber, im Lichtenstein ohnehin nicht. Am Morgen, da war Hedi sicher, hatte sein Gangbild deutlich weicher gewirkt.

Hannes musterte die Kette. »Da hatte ich mir schon etwas anderes vorgestellt. Mehr Glamour, etwas Lautes und Unübersehbares.«

»Sicherlich«, Hedi versuchte es mit einem Lächeln, »es gibt aber nichts Passendes.«

»Wir reden von Modell Amalia.«

»Ich weiß … Lass es uns doch bitte einmal probieren, ich bin sicher, dieses zarte Kettchen mit der Blüte unterstreicht die Form des Ausschnittes.«

Hedi trat an Alice heran, die bereits während der Lehre im Bereich der Konfektion wegen ihrer schmalen und dehnbaren Figur als Vorführdame zum Einsatz gekommen war. Sie hatte etwas Federleichtes, nichts in ihren Bewegungen war kantig oder ungelenk, und wenn sie lächelte, war sie schön wie ihre Mutter Trude. Die arbeitete seit Jahren in der Weißwarenabteilung und präsentierte ebenfalls die Mode des Hauses – inzwischen in Größen für üppigere Frauen. Hedi sah vor ihrem inneren Auge, wie Trude bei ihrem ersten Versuch, ein Kleid vorzustellen, in einen Wanderschritt verfallen war, der seinesgleichen gesucht hatte. Auch wenn sie gelernt hatte, wie ein Mannequin zu laufen, war sie bodenständig geblieben.

Ganz anders ihre Tochter. Die mit dem Vorführen der Kleider verbundene Aufmerksamkeit hatte Alice launenhaft gemacht – sie bestand darauf, als Mannequin und nicht mehr als Verkäuferin bezeichnet zu werden, sobald sie den Bereich der Konfektion verließ. Nun stand sie im Salon, mit einer Körperhaltung, die wirkte, als würde sie auf die Tram warten. Ihre Miene verbarg die momentane Langeweile nicht. Hedi konnte dieses Gefühl nachvollziehen. Wie oft hatte sie hier gestanden – im Nesselschnitt oder im Rahmen einer Vorführung – und auf irgendetwas gewartet. Mannequin sein hieß, warten können, darauf, dass andere einem sagten, was zu tun war. »Darf ich dir die Kette umlegen?«, fragte sie, und Alice beugte sich vor.

Hannes und Thea musterten das Zusammenspiel.

»Siehst du, das Silber der Fäden und der Gürtelschlaufe wiederholt sich in der Kette, und der kleine Simili-Stein, der ein wenig so tut, als wollte er ein Diamant werden, wenn er groß ist, betont den Hals. Es funktioniert«, sagte Hedi zufrieden. »Manchmal ist weniger mehr.«

Hannes nickte und wies auf den Rockteil. »Alice, laufen Sie mal bitte auf und ab.« Dann wandte er sich wieder an Hedi. »Der Stoff fällt sehr weich und umspielt die Silhouette auf besondere Weise. Das ist an sich bei Seidensamt üblich, aber dieser hier ist durch die Fäden weitaus glänzender, als beim Stoffmuster erkennbar war. Er schimmert regelrecht. Ein Meisterwerk unserer Weberei, wie ich finde.«

Cilly Meinicke betrat das Atelier. Sie schob einen messingfarbenen Rollständer neben sich her, an dem die anderen beiden Kleider hingen, die im Artikel beworben werden sollten.

»Ich weiß nicht, wie sie das in der Weberei gemacht haben«, sagte Hannes derweil, »aber das Ergebnis ist beeindruckend. Und das musst du der Damenwelt bitte klarmachen.« Prüfend schaute er zu Alice und dem Kleid. »Ja, ich denke, das hätten wir. Könnten Sie bitte noch das andere Modell anziehen?«

Unsicher sah Alice zur Uhr, dann zu Cilly. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Nein, das kann ich nicht.«

Nun schaute auch Hannes auf die Uhr, sichtlich irritiert. 11.20 Uhr, zu spät für die Frühstückspause, zu früh für den Mittagstisch.

»Wir haben um 11.30 Uhr ein Treffen der Betriebszelle. Dafür sind wir freigestellt«, erklang es nun aus dem Hintergrund.

Hannes fixierte Cilly Meinicke, und es war unverkennbar: Für einen Moment verstand er die Welt nicht mehr.

Ella

Mit einem Lachen riss Ella die Tür auf. Und tatsächlich, da stand sie: ihre Hedi! Sofort umarmte sie die Freundin, um sie dann in die Wohnung zu zerren. Ella nahm ihr die Bügel ab, auf denen die mit Stoff verhüllten Kleider hingen. »Herrgott, was die wiegen! Was hast du da alles mitgebracht?«, rief sie.

»Ein Abendkleid, zwei Kostüme, eines aus feiner Wolle, eines aus einem Mischgewebe, und ein Tageskleid aus Jersey. Und ein Cape aus Tweed.«

»Ich dachte, du kommst in Begleitung, hast irgendwen, der dir beim Schleppen hilft. Hätte ich geahnt, was du da alles mitbringst, wäre ich dir entgegengekommen.«

»Der Fahrer hat mich direkt vor dem Haus abgesetzt, das passt schon.«

»Du warst noch gar nicht hier, oder?«

Hedi schüttelte den Kopf, während sie den Mantel ablegte. »Hübsch hast du es, schon von außen ist es zauberhaft! Wie lange bist du wieder in Berlin?«

»Knappe drei Monate, und ich sage dir, der Dreh frisst mich auf. Kein Wunder, dass wir uns bisher nicht gesehen haben. Zweimal war ich allerdings schon im Lichtenstein, und wer war nicht zugegen?« Ella stemmte die Hände in die Hüften und versuchte, vorwurfsvoll dreinzuschauen.

»Das tat mir auch so leid, aber das eine Mal hatte ich einen Termin außer Haus bei einer Redaktion, bei dem anderen waren wir in der Weberei, um neue Techniken zu besprechen. Genug von der Arbeit! Wo ist Albert?«

»Er ist in Wien, er steht wieder im Burgtheater auf der Bühne, aber demnächst kommt er nach.«

»Was ist das jetzt eigentlich mit euch?«

»Was soll das sein? Eine gute Freundschaft«, entgegnete Ella, überrascht von der direkten Frage.

Hedi kicherte. »Eine Freundschaft? Na, ich weiß ja nicht.«

»Da ist nichts weiter, wir kennen uns ein halbes Leben lang.«

»Du wohnst in Wien bei ihm.«

»Na ja und bei meinen Eltern. Aber in Berlin wohnt er im Hotel. Ein kleines Haus, nicht unbedingt schön, aber sehr familiär und nicht so teuer.«

»Er geht jeden Abend wieder?«

»Ja, es sind nur ein paar Schritte, aber die Nachbarn würden sich das Maul zerreißen, wenn er dauerhaft hier wäre.«

»Ihr hattet doch mal eine Affäre, oder?«

Ellas Augenbrauen sprangen in die Höhe. »Du stellst ja Fragen heute. Das ist unfassbar lange her. Das haben wir längst hinter uns.«

»Alles gut, ich wollte nicht zu neugierig sein. Und vielleicht gibt es ja wirklich Freundschaften zwischen Frauen und Männern«, winkte Hedi ab und schaute sich weiter neugierig um.

Ella folgte ihrem Blick und glaubte, am Gesicht der Freundin ablesen zu können, wie sie nun in Gedanken Ellas letzte Stationen durchging: Mit Gustav Feinstein, dem begnadetsten Galeristen der Stadt, hatte sie gemeinsam ein Haus bewohnt, in dem sie gern rauschende Feste mit der Berliner Prominenz gefeiert hatten. Nach seinem Tod hatte Ella das Haus irgendwann verkauft. Zu schmerzlich hatte es sie an Zeiten erinnert, in denen sie und ihr Gatte eines der Glamourpaare der Stadt gewesen waren. Doch wie es so war mit jenen, die im Lichte standen: Sie warfen dunkle Schatten. Schatten, die in ihrem Fall Eifersucht, andere Frauen und übermäßigen Alkoholkonsum verbargen. Immer tiefer hatten sie sich, gefangen in einer Spirale der Zerstörung, umeinander gedreht, bis Gustav zum Äußersten gegriffen hatte.

Ein Schuss, abgegeben vor ihren Augen.

Beim Anwalt – als sie die Scheidung hatten einleiten wollen.

Im übertragenen Sinne hatte dieser Schuss auch sie getroffen: Ella Winkler, verheiratete Feinstein.

Drei Jahre hatte sie, die berühmte Schauspielerin, sich immer wieder in Theas winzigem Gartenhaus verkrochen, um so wenig Zeit wie möglich in den eigenen vier Wänden verbringen zu müssen. In der von Theas Mann und Sohn ausgebauten Remise hatte sie sich behütet gefühlt. In Gesellschaft und doch allein, geschützt vor Reportern und neugierigen Blicken. Und immer öfter hatte sie Zeit in Wien verbracht, bei ihren Eltern, bei Albert, bei Freunden. Doch irgendwann hatte Ella das Bedürfnis verspürt, zumindest eine kleine Anlaufstelle in der großen Metropole wieder ihr Eigen zu nennen. Und dann hatte sie diese Wohnung gefunden und gewusst, hier würde sie wieder ankommen können. All das glaubte Ella über Hedis Gesicht huschen zu sehen. »Komm, ich zeig dir den Rest der Wohnung«, sagte sie, auch um für sich selbst den Fluss der Erinnerungen zu unterbrechen. »Sie ist nicht groß, dafür aber auch nicht so teuer.« Sie lief den Flur hinab in die Küche, wo sie erst einmal eine Flasche Wein entkorkte. »Willst du ein Glas?

»Ja, danke. Und zu den Kleidern: Ich lasse sie einfach hängen, dann kannst du alles in Ruhe probieren. Sie werden morgen abgeholt, wenn es in deinem Sinne ist.«

»Gern!« Ella reichte ihr ein Glas. »Genug von mir, wie geht es Hilde? Und was machen Lou, Hannes und das Lichtenstein?«

»Bei uns ist im Moment ein wenig Druck. Lou kränkelt, deshalb möchte ich auch bald wieder los. Ich würde so gerne noch mit dir plaudern … Aber Hannes wird heute länger im Lichtenstein bleiben, das heißt, ich muss Hilde zu Hause ablösen. Sie leistet Lou Gesellschaft.«

»Wie alt ist die Kleine jetzt?«

»Acht Jahre.«

»Unglaublich. Und sofort fühle ich mich steinalt.«

Sie lachten und stießen miteinander an. »Gut, dann machen wir schneller beim Gang durch die Wohnung.«

Hedi stand unschlüssig an der Tür zum Schlafzimmer und warf einen flüchtigen Blick hinein. »Warum bist du nicht zur Anprobe ins Lichtenstein gekommen?«, fragte sie.

Ella verharrte kurz, steuerte dann auf die Gardine zu und legte sie in ordentliche Falten. Im Haus gegenüber waren einige Fenster erleuchtet, verschiedene Lichtflecken, warm und weich leuchteten sie in unterschiedlichen Gelbtönen. Ein Wechselspiel von Hell und Dunkel. So war Berlin im Winter: meist in der Dunkelheit am schönsten. »Ich weiß nicht«, sagte Ella und wandte sich vom Fenster ab, »ob du das wirklich hören willst. Und falls du es vermutest: Ich habe keine Allüren entwickelt. Nein, daran liegt es nicht.«

»Was ist es dann?«

»Die Stimmung bei euch.«

»Die Stimmung?«

»Ja, sie hat sich verändert.« Ella eilte an Hedi vorbei in den Flur und wies ins Wohnzimmer.

Kurz hielt die Freundin inne und betrachtete das Porträt, das Max Liebermann einst von Ella gemalt hatte. »Ich mag es gern, es zeigt dich so ehrlich und direkt.«

»Wirklich?« Ellas Brauen sprangen in die Höhe. Sie hatte mit dem Bild gehadert, und es war ihr nie gelungen, Gustavs Begeisterung darüber zu teilen. »Das hast du mir nie gesagt.«

»Doch, das hast du bestimmt nur vergessen.« Hedi zeigte auf die anderen Bilder, die dicht an dicht an der Wand hingen. »Sind die noch aus Gustavs Sammlung?«

»Es sind die Bilder, die wir zusammen ausgesucht haben. Dieses Selbstbildnis einer italienischen Malerin – tatsächlich habe ich ihren Namen vergessen – bringt mich zum Schmunzeln. Damals haben wir uns wie die Kesselflicker gestritten, als wir es aufgehängt haben. Worüber wir uns damals aufgeregt haben …«

Hedi sank auf das Sofa, stellte das Glas auf den Tisch und fixierte Ella. »Womit wir beim Thema sind: Was meinst du mit der veränderten Stimmung?«

»Du ahnst sicherlich, worauf ich hinauswill, aber glaube mir, ich will dich nicht aufregen.«

»Nein, das weiß ich. Kannst du mir auch auf die Gefahr hin, dass es mich doch ärgert, erklären, worum es dir dabei geht?«

»Also, die letzten beiden Anproben waren gut – im Hinblick auf Hannes’ Arbeiten. Die Kleider waren schön. Viel Vionnet-Stil, klassisch und elegant, so wie ich es mag.« Ella bemerkte Hedis ungeduldigen Blick. »Entschuldige! Um auf den Punkt zu kommen: Dabei fiel mir auf, dass bei euch im Haus einige Angestellte herumlaufen, die sehr deutlich dem neuen politischen Kurs folgen. Sie tragen das in ihre Arbeit hinein, das kann ich nicht leiden.« Kurz hielt Ella inne, um dann zu ergänzen: »Ein wenig Zurückhaltung wäre da angebracht.«

»Das ist von Jacob schon oft angeregt worden. Aber diese Betriebszelle … Wichtigtuer sind das.« Hedi starrte auf ihr Glas.

»Es tut mir leid, ich möchte das Lichtenstein nicht schlecht machen …«

»Nein, nein, du hast ja recht, das ist das Schlimme. Du bestätigst etwas, mit dem ich mich ebenfalls immer wieder gedanklich herumgeschlagen habe. Ich wollte es nur gerne – ich weiß nicht – kleinreden. Oft habe ich mich gefragt, ob sich etwas im Haus geändert hat. Aber ich versuchte mir stets einzureden, ich würde es mir nur einbilden. Du meinst Cilly Meinicke, die kleine Schlechtgelaunte mit der Zahnlücke, oder? Sie und ihre Entourage?«

Ella nickte. »Abfällige oder auch zickige Bemerkungen hat sie ja stets parat, so geschickt gesetzt, dass es nicht möglich ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen oder sich über sie zu beschweren. Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst: Viele meiner Kolleginnen und Kollegen werden angefeindet, weil sie als Kommunisten oder Sozialisten abgestempelt werden oder gar Juden sind. Sie liebäugeln damit, das Land zu verlassen, stell dir das vor! Und jetzt ist Hitler tatsächlich Reichskanzler. Ein Wahnsinn! Und auch wenn ich immer in die Floskel flüchte, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, merke ich, wie all das Spuren bei mir hinterlässt. Vielleicht bin ich überempfindlich geworden.«

»Genau das ist es, was ich auch an mir festgestellt habe. Meine Toleranz sinkt beständig«, sagte Hedi. »Ella, es ist beängstigend.«

»Ich würde sagen, ich hole jetzt den Wein her. Wir gießen uns noch ein Glas ein, ich schlüpfe schnell in die Kleider, und du berätst mich. Wir gönnen uns die paar Minuten, und dann kannst du wieder zu deiner Tochter zurück.« Sie schüttelte energisch den Kopf, der zweite Versuch binnen kürzester Zeit, dunkelste Schatten zu verjagen. »Was hilft es, wenn wir jammern? Lass uns einen kühlen Kopf bewahren. Angst wird uns kein guter Berater sein.«

»Wenn du meinst«, sagte Hedi und klang nicht sonderlich überzeugt. »Aber vielleicht wird’s besser, wenn ich jetzt noch ein wenig Winklerschen Pragmatismus und Wein genießen kann.«

Jacob

Helene wartete Alte Jakobstraße, an der Ecke zur Kommandantenstraße. Wie immer, wenn sie die Mittagspause nutzten, um gemeinsam spazieren zu gehen. Sie vermieden es, in der Nähe des Lichtensteins zu bleiben. Der Chef, der einträchtig mit einer Angestellten spazieren ging, das musste zu Geschwätz führen. Und es hatte ja bereits damals Gerede gegeben, als sie verliebt darauf gehofft hatten, heiraten zu können. Doch die Tochter eines wohlhabenden Bankiers hatte sich dem Willen des Vaters beugen und einen Mann jüdischen Glaubens heiraten müssen. Trotzdem hatte es Gerüchte gegeben. Auch heute, Jahre später, fühlten sie sich abseits des Trubels wohler. Ja, ungestört.

Jacob musterte Helene, sie sah wieder übernächtigt aus. Erste feine Linien waren auf ihrer Stirn zu erkennen. Noch wirkten die leichten Ringe unter den Augen wie Schatten ihrer langen Wimpern. Noch.

Sie nickten einander zu, liefen los, ohne ein Wort zu verlieren, und durchquerten den Waldeckpark. Kleine Schneeflocken fielen vom gleichmäßig grauen Himmel und tauten, sobald sie den Boden berührten. Helene hatte die Hände tief in ihre Manteltaschen vergraben. Der Schal berührte fast die Nasenspitze, so hoch hatte sie ihn gezogen.

»Heute ist es eine Kälte, die durch und durch geht«, sagte Jacob, weil er nicht wusste, wie er das Schweigen sonst überbrücken sollte. Ihr Schweigen kündigte stets an, dass sie – verstrickt in tiefer gehende Überlegungen – nach Worten suchte, um ein zumeist schwieriges Thema aufzugreifen.

»Auch wenn es dich anstrengt, muss ich mit dir darüber reden«, leitete sie wenige Schritte weiter erwartungsgemäß ihr Anliegen ein.

»Du musst dir schon viel Mühe geben, mich anzustrengen.«

»Meine Familie und ich müssen das Land verlassen.«

Kalter Wind.

Verkehrslärm.

Hakenkreuzfahnen, die knatternd im Wind schlugen.

Ein Satz wie ein Schlag.

Mitten hinein in die Magengrube.

Jacob blieb abrupt stehen und starrte Helene fassungslos an.

»Was glaubst du denn? Ich werde die Bilder einfach nicht mehr los. Diese Männer mit ihren Fackeln, wie sie am Brandenburger Tor entlangziehen und ihre Machtübernahme feiern. Einer schlimmer als der andere. SA, SS und Stahlhelm – was sind das für Dinge, mit denen wir uns hier umgeben müssen? Welche Veränderungen ertragen wir? Und die Ehrfurcht auf den Gesichtern der Frauen und Kinder am Straßenrand. Ich habe sie gesehen, Jacob.«

Innerlich fluchte Jacob, dass Helene montags bis zum Ladenschluss Dienst hatte und so auf dem Heimweg in die Meute hineingeraten war. »Wo wollt ihr hin?«, fragte er und räusperte sich.

»Hauptsache weg, wir wollen einfach raus hier.«

»Deine Mutter auch?«

»Ja. Sie sorgt sich am allermeisten. Um Ruth, um mich.«

»Das verstehe ich. Es gibt jedoch eine Menge Hindernisse, das weißt du, oder?«

»Was denn? Wir packen unsere Koffer, und dann fahren wir los.« Helene klang überraschend bockig, eine Seite, die Jacob an ihr nicht kannte.

»Das geht nicht so einfach, und das weißt du.«

»Und warum, bitteschön?« Ihre Augen funkelten zornig, als sie ihn anschaute.

»Du musst mich nicht anfahren. Brüning hat, als er Reichskanzler war, vor ein oder zwei Jahren sogenannte Devisenkontrollmaßnahmen eingeführt. Er wollte damit eine Kapitalflucht ins Ausland verhindern. Er fürchtete, sie könnten zusammenbrechen, wenn alle Besserverdienenden ihr Geld packen und das Land verlassen.«

»Mein Vater war Inhaber einer Bank, also weiß ich das. Wir würden über diese Fluchtsteuer fünfundzwanzig Prozent unseres Geldes verlieren.«

»Entschuldige, ich wollte nicht …«

»Und weißt du, was?« Helenes Blick wurde für einen Moment glasig und streifte ziellos über die Straße hinweg. »Es macht nichts, wir haben ohnehin kein Kapital mehr, das nennenswert ist. Von dem noch etwas abzuziehen oder nicht – das würde keine Rolle mehr spielen.«

Sie betrat die Straße, ohne sich umzuschauen. Ein vorbeifahrender Wagen hupte, aber sie schien es nicht zu bemerken.

»Wir liebäugeln damit, nach England zu gehen«, fuhr sie fort. »Und ich denke, Arbeit werde ich finden. Mein Englisch ist gut, und ich kann anpacken.«

»In England gibt es strenge Einwanderungsgesetze.«

»Ja, auch das weiß ich! Kannst du heute auch einmal etwas Ermutigendes zu unserem Gespräch beitragen?«, fuhr Helene ihn an. »Es ist doch so: Wenn man Kontakte hat, wird es einfacher.«

»Kontakte – was meinst du damit?«

»Stellst du dich heute absichtlich so sperrig an?«

Ja, antwortete Jacob, jedoch nur in Gedanken. Seine Widerworte sollten sein Entsetzen kaschieren. Über die Lippen kam ihm diese Erkenntnis nicht.

»Ich meine Kontakte in die Behörden, in die Reichsbank, von mir aus ins Wirtschaftsministerium oder gar gleich in die Auswanderungsabteilung des Innenministeriums. Was weiß ich. Du kennst doch alle und bestimmt irgendjemanden, der irgendwen kennt. Und wenn man in England einen direkten Kontakt hat, dann ist das doch ein Pluspunkt. Vielleicht hilft es auch, wenn wir behaupten, wir wollen von England aus weiterreisen, nach Amerika oder sonstwohin. Was weiß ich.«

Helene hakte sich bei ihm ein. Ihr Gesicht näherte sich seinem, und Jacob wandte den Kopf ab. Sie sollte nicht sehen, wie aufgewühlt er war.

»Bitte, hilf uns.«

»Helene, du weißt, ich würde alles für dich tun. Du kannst dich auf mich verlassen, aber ich möchte dich bitten, nimm dir noch etwas Zeit.«

»Zeit nehmen? Wofür?«

»Auch wenn Hitler jetzt Reichskanzler ist: Nichts hat momentan in der Politik Bestand. Lass uns die Wahlen abwarten, die im März stattfinden. Vielleicht gibt es dann eine Tendenz, die euch beruhigt.«

»Mich beruhigt momentan gar nichts.«

»Gestern habe ich gehört, die Zahl jüdischer Gewerbetreibender in Berlin habe im letzten Jahr sogar zugenommen.«

Helene lachte auf. »Das sind all die armen Krämerseelen, die aus den Kleinstädten kommen, weil sie dort regelmäßig zum Opfer werden. Weil sie geschnitten und boykottiert werden.«

»Du drehst alles ins Negative.«

»Ja, ich kann nicht anders, die Erfahrungen und Beobachtungen hinterlassen Spuren.« Helene blieb stehen, entzog ihm den Arm und schaute ihn direkt an. »Ich möchte, dass auch du auf dich aufpasst, Jacob.«

Er biss sich auf die Innenlippe, fühlte keine Kälte, nicht den Wind, noch weniger die Wärme der hinter den Wolken hervorbrechenden Sonne. Er spürte nur Schmerz und Gegenschmerz. Er grub die Zähne noch tiefer in seine Lippe.

»Was hältst du davon: Du hilfst uns, und wir werden uns einen Augenblick gedulden und die Wahl abwarten. Wenn vorher nicht noch irgendetwas Gravierendes passiert, denke ich, wird es auf die paar Wochen mehr oder weniger nicht ankommen.«

»Gut. Das klingt doch nach einem Plan.« Jacob klappte den Kragen hoch. Wie sollte er es ertragen, Helene noch einmal zu verlieren? Und das würde es sein – ein erneuter Verlust. Auch wenn sie ihn nicht erwähnt hatte, sie würde gehen – mit ihrer Tochter Ruth, mit ihrer Mutter Martha und mit ihrem Mann, Oscar Löwy.

Ella

Albert hielt sich tapfer. Es beindruckte Ella, wie er es schaffte, seine Langeweile zu verbergen und Fritjof Gustavson immer wieder freundlich bestätigend zuzunicken. Er hatte seinen Teller beiseitegeschoben und ließ den Blick über den Nachbartisch schweifen, an dem Gäste zahlten und hastig aufbrachen.

Ella versuchte, sich wieder auf Gustavson zu konzentrieren. Seit bestimmt vierzig Minuten malte er ihr die Vision seines kommenden Filmes aus. Ein Film, in dem sie nicht einmal die Hauptrolle übernehmen würde. Doch die Termine für den Dreh lagen günstig. Im Frühling, vermutlich im Mai, sodass sie im Anschluss mit Albert in die Sommerfrische verschwinden könnte.

Vielleicht nach Wien.

Innerlich seufzte Ella auf. Sah ihre Eltern beim Frühstück beieinandersitzen, in einer Küche, in der die alten Töpfe immer noch blinkten, die Fenster geöffnet standen und auf angenehme Weise die Zeit stehen geblieben schien. Sie verließ in Gedanken das Haus und lustwandelte mit Albert durch die engen Gassen, um …

Zwei Tische weiter rief ein Herr lautstark nach dem Kellner. Er holte Ella aus dem sommerlich-heimischen Idyll ihrer Gedanken zurück ins winterkalte Berlin, und sie brauchte den Bruchteil einer Sekunde, um sich zu orientieren.

Der Tisch.

Das Restaurant.

Ein Essen, das kein Ende nehmen wollte.

Für einen Moment blieb ihr Blick am Bart des Regisseurs hängen. Hatte er den schon immer so getragen? Er erinnerte unangenehm an den des frisch gebackenen Reichskanzlers. Sie nahm einen Schluck Wein. Immerhin erwartete Gustavson während seines Monologs keine Ergänzungen. Gelegentlich ein Nicken seines Gegenübers, und er schien zufrieden.

Mehrere Damen eilten an ihrem Tisch vorbei. Die Handtasche der einen schlug an Alberts Arm. Die Frau entschuldigte sich fahrig und rannte ihren Begleiterinnen hinterher.

Nun wurde Gustavson ungehalten. Er winkte den Kellner heran. »Schließen Sie heute früher, oder warum ist hier solch eine Unruhe?«, fuhr er ihn an.

Der Kellner beugte sich vor. »Der Reichstag brennt«, sagte er mit gesenkter Stimme.

Dem Regisseur, Albert wie auch Ella entglitten die Gesichtszüge.

»Was meinen Sie damit?« Ella runzelte die Stirn.

»Er brennt. Lichterloh. Der Plenarsaal brennt, die Flammen schlagen aus der großen Kuppel. Was ich bisher gehört habe … Es muss furchtbar sein.«

Gustavson schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wie bitte?«, brüllte er, und Albert zuckte erschrocken zusammen.

Der Kellner hob beschwichtigend die Hände. »Wir möchten den Gästen ihren Abend noch so angenehm wie möglich gestalten. Draußen«, er wies mit dem Kopf in Richtung Tür, »ist die Hölle los. Ein Löschzug nach dem nächsten rast in Richtung Reichstag. Die Straßenbahnen kommen nicht mehr durch, und wenn, müssen sie teilweise von der Dorotheenstraße aus bis hinter das Brandenburger Tor durchfahren. Bei uns in den Tiefen des Hauses Vaterland geht das glücklicherweise verloren.«

»Das ist ein Angriff auf … Mir fehlen die Worte«, brüllte Gustavson noch lauter.

Viele Gäste sahen nun auf, begannen die Auseinandersetzung zu verfolgen.

Der Kellner beugte sich noch weiter vor. »Da mögen Sie recht haben. Und alle Gäste werden dies noch früh genug erfahren und Ihre Gefühle teilen …«

»Ihnen geht es doch nur um Ihren Umsatz, bringen Sie mir die Rechnung. Alles zusammen, und das sofort.«

»Natürlich, der Herr, wie Sie wünschen.«

»Ist das wirklich wahr?«, fragte Albert, als Gustavson nach seiner Geldbörse suchte. »Ich kann es nicht glauben!«

»Da geht es mir wie Ihnen! Man stelle sich das vor: Der Reichstag brennt! Ein Anschlag auf das Herz der deutschen Politik! Mitten in Europa!«

»Vielleicht ist das Feuer durch eine Unachtsamkeit ausgebrochen.« Ellas Stimme klang dünn.

»Papperlapapp! Niemals! Das richtet sich gegen Hitler. Wir müssen dort hin, das mit eigenen Augen sehen.« Gustavson blickte auf seine Uhr. »Kurz vor zehn. Das wird eine lange Nacht.«

Albert erhob sich. »Vielen Dank für die Einladung, ich werde die Mäntel von der Garderobe holen.«

Als sie kurz darauf, nicht weniger übereilt als die bereits gegangenen Gäste, vors Haus Vaterland traten, schien die Welt eine andere zu sein als noch vor zwei, drei Stunden. Zuvor war der Verkehr über den Potsdamer Platz gerollt, waren die Menschen über das Trottoir geschlendert oder dem Feierabend entgegeneilt. Doch jetzt wurde der Platz vom Sirenengeheul eingehüllt. Das Entsetzen hing spürbar in der Luft, und Ella meinte, sogar Qualm zu riechen. Sie liefen in Richtung Brandenburger Tor, und selbst auf diese Entfernung konnten sie den Feuerschein am Himmel leuchten sehen. Sie kamen nicht weit – erste berittene Polizisten versperrten den Weg.

Zielstrebig steuerte Gustavson auf einen der Polizisten in der Postenkette zu, riss einen Ausweis aus seinem Mantel. Aufgrund des Lärms konnte Ella nicht verstehen, was die beiden miteinander besprachen. Im Licht der dahinrasenden Scheinwerfer der Feuerwehrwagen sah Gustavson bedrohlich aus – groß, massig und wutentbrannt. Ein Mann mit einer Mission, getragen vom Hass.

Was machten sie hier?

Erst jetzt spürte sie Alberts Hand, an der sie sich festkrallte. »Lass uns nach Hause gehen«, rief sie ihm ins Ohr. »Ich will weg.«

In dem Moment zeigte Gustavson auf Ella und Albert, und der Polizist nickte.

»Kommen Sie, kommen Sie!« Der Regisseur drängte hinter die Absperrung.

»Was? Wir wollen nicht im Weg stehen!« Ella riss abwehrend die Hände in die Höhe.

»Sie kommen jetzt, das ist Ihre vaterländische Pflicht!«

Erschrocken sah Ella zu Albert auf. Wollte Gustavson sie für die Fotografen ausstellen? Die berühmte Schauspielerin betroffen am Ort des Geschehens vorführen, wie sie ihre Entschlossenheit zeigt, dem Führer zur Seite zu stehen? »Was will er?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Wirft er jetzt die Propaganda-Maschinerie an?«

»Ich weiß es nicht, aber der Mann ist unberechenbar. Aufgewühlt. Lass uns einige Meter mitgehen. Sobald seine Schergen auftauchen und er in Beschlag genommen ist, setzen wir uns ab«, raunte Albert.

Ella nickte. Gemeinsam folgten sie Gustavson. »Die Kommunisten waren es, dieses Pack. Dafür werden sie bluten!«, brüllte der, während er beständig einen halben Schritt vor ihnen lief.

»Das weiß man jetzt schon?« Albert konnte seine Überraschung nicht verbergen.

»Sie haben einen Mann angetroffen und festgenommen, der sich als holländischer Kommunist bezeichnet hat. Nur mit einer Hose bekleidet, also tatsächlich mit nacktem Oberkörper, stand er im Saal. Er hat im wahrsten Sinne des Wortes sein letztes Hemd und seine letzte Jacke gegeben, um alles in Brand zu stecken. Nichts hat er ausgelassen: Gardinen, Teppiche, alles, was brennbar war, hat er entzündet.«

Ella war dankbar, dass Albert sich eng hinter ihr hielt, um sie, einem Bollwerk gleich, vor dem Polizeiaufgebot und umhereilenden Feuerwehrmännern zu schützen. Die Kuppel leuchtete grellrot, glich einem Feuerball, und aus den Fenstern der darunterliegenden Stockwerke schlugen Flammen. Der Verhaftete hatte eindeutig ganze Arbeit geleistet.

Zahlreiche Schläuche zogen sich an ihren Füßen entlang, bildeten ein unentwirrbares Netz, das sich um den Reichstag zog. Die mechanischen Leitern der Feuerwehrwagen ragten wie Klauen in die Luft, umringten das Gebäude, und gigantische Wassermassen schlugen ins Feuer. Scheinwerferlicht erleuchtete die gespenstische Situation und die aufsteigenden Rauchschwaden. Ella fühlte die kalte Luft, doch ihr war heiß, und ihr Schweiß stank nach Angst. Vermutlich würde sie den Geruch nie wieder aus dem Kleid gewaschen bekommen.

»Da hinten steht Reichsminister Göring. Sehen Sie ihn? Dort, umringt von den Offizieren«, rief Gustavson. »Der Reichskanzler und sein Vize, von Papen, sollen ebenfalls bereits eingetroffen sein.«

Ein Funkenregen sprühte in diesem Moment über den Wallot-Bau. Doch Gustavson ließ sich nicht beirren. Er schob Ella zum Offiziersreigen, dann drängte er sich zwischen die Männer. Hackenknallend begrüßte er Göring – es war offensichtlich, dass sich die beiden kannten.

Gustavson ist eine Nazi-Größe, das habe ich nicht gewusst, dachte Ella und konnte nicht umhin, Göring anzustarren. Sie war ihm noch nie begegnet, und obwohl sie ihn von Bildern aus den Zeitungen und Wochenschauen im Kino kannte, war sie erstaunt, wie anders als sein Bruder er war. Die Größe und das Massige teilte er mit Gustavson, allerdings wirkte er teigiger, fast aufgedunsen. Sein Bruder Albert, der zwischen Wien, Prag und Budapest pendelnde Bonvivant, war schlanker und drahtiger.

Im Hintergrund erloschen nach und nach die Flammen der Reichstagskuppel, vielmehr versanken sie in den herabstürzenden Wasserfluten der über die Kräne geführten Schläuche.

Was hatte Gustavson jetzt vor?, fragte Ella sich. Sie vor die Kameras zerren? Wozu? Als er ihr zuwinkte, schob sie sich folgsam durch den Pulk der Offiziere, bis sie vor dem Regisseur und Göring stand.

»Sehr erfreut, Verehrteste, auch wenn mir andere Umstände angemessener erscheinen würden. Entschuldigen Sie bitte, dass jetzt kein Platz bleibt, Ihre Arbeit zu würdigen. Mein Bruder schwärmt sehr von Ihnen, er hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Göring mit sonorer Stimme. Bevor Ella etwas erwidern konnte, wandte er sich ab.

Gustavson schaute Ella bewundernd an, schließlich hatte sie Kontakt zur Familie Göring. »Danke für Ihre Begleitung und Unterstützung, Sie sind sehr mutig, Verehrteste. Leider haben wir keine Verwendung mehr für Sie. Die Lage ist zu ernst, um heute … Sie wissen schon! Ich melde mich bei Ihnen.« Dann schob er sie wie ein Schulmädchen in Alberts Richtung und nickte ihm zu.

»Gleich werden die Panzerwagen der Polizei auffahren«, sagte einer der Offiziere derweil zu Gustavson.

»Wie groß sind die Schäden?«

»Das Feuer hat den Sitzungssaal vollkommen zerstört. Auch die Glasdecke ist vernichtet und heruntergefallen. Die Kuppel steht, wird vermutlich erhalten bleiben. Dank der Eisenkonstruktion. Trotzdem besteht Einsturzgefahr. Noch haben wir nicht den vollständigen Überblick …«

Ella stand mit offenem Mund neben den Männern, ihr Blick irrlichterte zwischen den ernsten Mienen, dem Kranz der Feuerleitern, den Wasserstrahlen und den Flammen umher.

»Komm, lass uns gehen«, hörte sie Albert, der neben sie getreten war. »Wir haben hier nichts verloren.«

Seine Hand war warm und weich. Besonnen führte er sie durch das Gedränge. Irgendwann passierten sie die Absperrungen, schoben sich zwischen Schaulustigen und hupenden Wagen hindurch. Ohne zu wissen, warum, liefen sie in Richtung Schöneberg. Auch auf der Potsdamer Straße herrschte noch Chaos.

Sie liefen.

Und liefen.

Schweigend.

Den Lärm der Sirenen in den Ohren.

»Du solltest nicht mit Gustavson drehen«, sagte Albert nach einer Weile.

»Denke ich auch.«

»Kannst du dich aus dem Vertrag winden?«

»Ich habe noch keinen.«

»Gut.«

Sie liefen weiter, ohne Ziel.

»Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Das war keine gute Idee der Kommunisten«, sagte Ella.

»Nein, das war es nicht. Wenn sie es denn waren.«

»Auch wenn sie es nicht waren, wird es ein Nachspiel für sie haben.« Ella stockte. »Ich habe Sehnsucht. Nach Wien.«

»Ich auch.« Albert drückte sanft ihre Hand.

Tränen liefen über Ellas Wangen, und sie konnte nicht sagen, ob der Qualm ihre Augen gereizt hatte oder ob es der Schock war.

Kein Zittern, kein Schluchzen.

Nichts dergleichen, nur Tränen.

Thea

Wo steckt denn der Hausmeister wieder?«, fragte Hannes und schaute kritisch auf die Spiegel im Salon.

»Wozu brauchst du den Kühn jetzt?«

»Der Spiegel dort rechts hat einen kleinen Sprung, ich hatte ihn gebeten, das mit einem Vorhang zu verdecken.«

»Willst du den Termin heute wirklich stattfinden lassen?« Theas Stimme verriet ihr Befremden.

Hannes’ Miene verfinsterte sich. »Natürlich! Was glaubst du, warum wir in aller Herrgottsfrühe durchs Haus rennen?«

»Wir können doch nicht so tun, als wäre nichts.«

»Sehr idealistisch von dir, aber die Geschäfte müssen weitergehen. Oder was willst du den Herren Lichtenstein verkünden? Wir arbeiten heute nicht, weil wir es ablehnen, dass Holländer in der Stadt kokeln?«

»Na ja, kokeln ist wohl nicht das richtige Wort. Der Reichstag brennt, das wird die Steilvorlage für die Nazis, mit einer neuen Notverordnung, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit weiter einzuschränken. Sie sitzen doch schon alle mit Hindenburg zusammen. Das wühlt durchaus den einen oder die andere auf …«

»Das hat nichts mit unserer Arbeit zu tun«, unterbrach Hannes sie und steuerte auf einen Gartentisch mit Stühlen zu, die eigens für den Fototermin aufgebaut worden waren. »Die Politik bleibt außen vor.«

»Natürlich bleibt das nicht außen vor. Alice wird heute in Hochstimmung sein, dafür dürfte deine Frau ziemliche Augenringe haben. Oder Trude, die schämt sich in Grund und Boden, wenn ihre Tochter mit Parolen um sich wirft.«

»Thea!« Hannes schlug mit dem Gehstock auf den Boden. »Lass mich damit jetzt in Ruhe.«

Cilly, die den Salon betrat, begleitet von zwei Lehrlingsmädchen, schaute aufmerksam herüber. »Den Ton würde ich mir nicht gefallen lassen!«, rief sie zur Begrüßung.

»Klappe!«, antwortete Thea, selbst erstaunt über ihre Kaltschnäuzigkeit.

Nun grinste Hannes. »Uh, so kenne ich dich gar nicht. Glaube mir, da schaut jetzt aber eine böse«, flüsterte er, um dann abrupt die Lautstärke zu ändern. »Wir sind ein Modehaus«, rief er übertrieben freundlich. »Wir stellen Konfektionskleidung her. Und diese fotografieren wir heute, wie angekündigt. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Du weißt genau, diese Sicht der Dinge stimmt nicht. Wir Modeschaffenden sind immer Spielball der Politik. Ein Spiegel der Gesellschaft, vor allem bei der Frauenmode.« Thea rang mit den Händen, sie bemerkte, dass sie wieder in Rage geriet. Das war nicht gut, sie musste aufhören. Das Gespräch beenden …

Cilly, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, schlug mit der Faust in ihre Hand. »Da muss ich ihr zustimmen, auch wenn ich das ungern sage. Wir müssen uns unserer Verantwortung bewusst sein! Immer! Hier im Lichtenstein, auf der Straße, überall! Nach der heutigen Nacht erst recht.«

Thea hob die Hände in die Luft und sah Hannes verzweifelt an. »Habe ich es dir nicht gesagt?«

Er sah betreten zu Boden.

»Wenn man es sich recht überlegt, ist es ein guter Tag für unser Land«, schwadronierte Cilly weiter, »denn endlich wird den Kommunisten der Garaus gemacht. Da sollte es kein Erbarmen geben. Und weil wir gerade darüber reden«, ein bösartiges Glitzern erschien in ihren Augen, »ist der Kühn nicht auch ein Kommunist?«

Hannes riss seinen Gehstock in die Höhe und richtete ihn drohend auf Cilly. »Erstens ist er Sozialist, zweitens ist der Mann steinalt und seit Jahrzehnten dein Kollege«, erwiderte er erbost.

Erneut öffnete sich die Tür. Trude und Alice betraten den Salon. Helene folgte ihnen, sie trug eine Kiste bei sich.

Das Glitzern in Cillys Augen wurde heftiger, das Grinsen diabolisch. »Wissen wir, was er treibt? Vielleicht sollten wir die politische Polizei informieren, die kann das prüfen und entscheiden.«

»Was soll das?«, fuhr Thea sie an.

Sofort trat Alice hinzu. »Reden Sie über den Hausmeister?« Die Arme vor der Brust verschränkt, stellte sie sich vor Cilly. »Der Mann arbeitet hier, wenn der Dreck am Stecken hat, beschmutzt das unser aller Weste.«

»Habe ich es dir nicht gesagt?«, sagte Thea spöttisch und fixierte Hannes dabei.

Helene sortierte abseits derweil Gürtel, Halstücher und Handtaschen zu den Kostümen, die sie anscheinend in der Kiste mitgebracht hatte. Sie schien dem Gespräch nicht weiter zu folgen. Erst als Hannes aufbrüllte, zuckte sie zusammen und fuhr herum.

»Verdammt noch mal!«, wiederholte Hannes laut.

Thea schaute ihn irritiert an. Er war oft knurrig, manchmal sogar launisch, und er verstand es, sein Umfeld mit Aufgaben in Atem zu halten. Aber laut zu werden, das hatte bisher nicht zu seinen Eigenarten gehört.

Lag da wieder ein Schatten über seiner Seele, einer, der ihn reizbar machte? Kamen unter dem allgegenwärtigen Druck die alten Geister zurück?

Unruhe machte sich in ihr breit. Gerade jetzt brauchten sie Hannes mehr denn je. Er musste das Atelier, die Näherei, die Schneiderkontrolle und all die anderen Abteilungen zusammenhalten.

Kurz strich er sich über die Augen.

»Entschuldige bitte!«, sagte Thea laut.

Er nickte. »Wir werden jetzt nicht mehr über Politik reden, wir konzentrieren uns aufs Handwerk, unser täglich Brot. Es ist die Aufgabe der Inhaber zu entscheiden, welche Angestellten in dieses Haus gehören und welche nicht.«

Genau dafür brauchen wir dich, dachte Thea. Du musst uns den Weg weisen. Jacob Lichtenstein kann das auf Dauer nicht allein leisten.

»Was ist jetzt mit dem Hausmeister?«, fragte er erneut. »Kühn hat von mir einen Vorhang erhalten, den er anbringen wollte. Wo ist er?«