Das Lied der Kämpferin - Lidia Yuknavitch - E-Book

Das Lied der Kämpferin E-Book

Lidia Yuknavitch

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Beschreibung

In einer nicht allzu fernen Zukunft ist die Erde ein düsterer Ort, heimgesucht von mörderischen Kriegen, zerstört von den Menschen selbst und gewaltigen Naturkatastrophen. Einigen wenigen ist es gelungen, sich auf eine Raumstation zu retten, um von hier aus die letzten Reserven der Erde zu Plündern. Herrscher dieser neuen, trostlosen Welt ist ein ebenso tyrannischer wie blutrünstiger Sektenführer. Doch eine Gruppe junger Rebellen lehnt sich auf gegen das eiserne Regime, angespornt von der charismatischen Mädchen-Kriegerin Joan, die über ganz eigene Kräfte verfügt und deren Geschichte das Schicksal zukünftiger Generationen bestimmen wird.

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Zum Buch

In einer nicht allzu fernen Zukunft ist die Erde ein düsterer Ort, heimgesucht von mörderischen Kriegen, zerstört von den Menschen selbst und gewaltigen Naturkatastrophen. Einigen wenigen ist es gelungen, sich auf eine Raumstation zu retten, um von hier aus die letzten Reserven der Erde zu plündern. Herrscher dieser neuen, trostlosen Welt ist der ebenso tyrannische wie blutrünstige Jean de Men. Doch eine Gruppe junger Rebellen lehnt sich auf gegen das eiserne Regime, angespornt von der Geschichte der charismatischen Mädchen-Kriegerin Joan, die über ganz eigene Kräfte verfügt und deren Geschichte das Schicksal zukünftiger Generationen bestimmen wird.

Zur Autorin

LIDIA YUKNAVITCH zählt zu den herausragenden neuen weiblichen Stimmen der amerikanischen Literatur. Sie ist preisgekrönte Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und des gefeierten Memoirs »The Chronology of Water«. Ihr TED-Talk »The Beauty of Being a Misfit« wurde mehr als 2 Millionen Mal angeschaut. Lidia Yuknavitch lehrt an der University of Oregon Kreatives Schreiben, Literaturwissenschaft und Women’s Studies.

LIDIA YUKNAVITCH

DAS LIED DER KÄMPFERIN

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Max

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Book of Joan« bei HarperCollins Publishers, New York.Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe April 2021

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2017 by Lidia Yuknavitch

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Covergestaltung: semper smile, München,

nach einem Entwurf von Rafaela Romaya für Canongate Book Ltd.

Covermotiv: © Florian Schammer/Debut Art

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-22903-0V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Dieses Buch ist für Brigid

»Wir alle sind Geschöpfe der Sterne.«

DORIS LESSING

»Heterosexualität ist gefährlich. Sie bringt einen in Versuchung, eine vollkommene Dualität des Begehrens erreichen zu wollen. Sie tötet jede andere Möglichkeit der Geschichte.«

MARGUERITE DURAS

»Passt auf, welche Geschichten ihr euch über Schönheit erzählt, über Anderssein. Passt auf, welche ›Geschichten‹ zählen. Sie werden Konsequenzen haben, die den Planeten erzittern lassen.«

Das Lied der Kämpferin

BUCH EINS

PROLOG Vor dem Asteroideneinschlag in Chicxulub, der das Massensterben der Dinosaurier auf der Erde auslöste, kam es im Dekkan-Trapp, einer Region Indiens, über Hunderttausende von Jahren immer wieder zu vulkanischer Aktivität. Der dabei freigesetzte Schwefel und das Kohlendioxid vergifteten und destabilisierten die Ökosysteme.

Als der Asteroid einschlug, standen die Dinosaurier und die meisten Lebensformen bereits an der Schwelle des Todes.

Die Eruptionen des Dekkan-Trapp führten zu einer drastischen Veränderung des Ökosystems. Sie verdunkelten die Sonne. Tod wurde Geschichte, die Geografie schrieb sich neu. Und trotzdem wurde die Erde wiedergeboren. Dass das ausgelöschte Leben von Neuem erwachte, hatte nichts mit einem Wunder zu tun. Sondern mit der zornigen Hartnäckigkeit lebender Organismen, die schlicht nicht aufgeben wollten.

Leben kehrte zurück, wie immer. Aus den Tiefen der Meere und Flussbetten, den starren unter Eisschichten verborgenen Biosphären, dem Innersten der unterirdischen Höhlen, jener gruftähnlichen Anderwelt der Erde, die in Vielfalt und Gestalt nur mit einem vergleichbar ist: dem interstellaren Raum.

Beim nächsten Geokataklysmus dieser Größenordnung war die Ursache alles andere als zufällig.

KAPITEL 1 Brandmale sind eine Kunst.

Ich ziehe mein Hemd aus und gehe zu einem Tisch, auf dem ich die benötigten Werkzeuge ausgebreitet habe. Ich reibe technischen Alkohol über meinen Oberkörper und die Schultern. Mein Körper zeichnet sich weiß gegen die Schwärze des Weltalls ab. Dort schweben wir in einem suborbitalen Komplex. CIEL.

Durch das wandgroße Fenster sehe ich einen entfernten Nebelfleck; die Gase und hypnotischen Farbschattierungen lassen mich die Luft anhalten. Wie kläglich dieses Wort schön ist. Oh, wie sehr brauchen wir eine neue Sprache, die unseren neuen Körpern entspricht.

Auch die sterbende sepiafarbene Erd-Kugel ist verschwommen zu erkennen. Die Erde, circa 2049, unser einstiges Zuhause.

Auf dem Fenster fällt mir ein Farn ins Auge. Beziehungsweise das, was einmal ein Farn war. Schon in meinem Leben auf der Erde vor vielen Jahren hatte ich nie einen grünen Daumen. Dieser Farn hier ist nicht viel mehr als ein kleiner trauriger krummer Stängel mit ein paar dunggrünen Büscheln links und rechts; er hängt wie ein toter alter weicher Schwanz schlaff herunter. Seine Photosynthese ist vollkommen künstlich. In der jetzigen ›Sonne‹ ohne entsprechende Ozonschichten würde er augenblicklich verdorren. Obwohl uns STAs – sogenannte Superiore Technologische Außenwelten – schützen, werden wir täglich von Sonneneruptionen verstrahlt.

Von außen habe ich CIEL schon lange nicht mehr gesehen, aber in meiner Erinnerung ähnelt der Komplex einer gespenstisch weißen Hand mit überzähligen Fingern.

Restmüll im Himmel. Ratten in einem Labyrinth, das sind wir. Weit genug von der Sonne entfernt, um in einer bewohnbaren Zone existieren zu können, trotzdem so nah, dass wir bei einer falschen Bewegung zu Asche verbrennen. In unserer künstlichen, freischwebenden Station, wo der geifernde Anführer unseres Reiches, Jean de Men, das Ruder hält. Wir sind das Nachspiel irdischen Lebens. CIEL wurde aus Überbleibseln alter Raumstationen und Modulen ehemaliger astronomischer und militärischer Industriekomplexe gebaut. Mehrere Tausend von uns wohnen hier, aus ehemals Hunderten von Ländern. Jeder von uns gehörte der einstigen herrschenden Klasse an. Die Erde ist der sterbende Klumpen unter uns. Unsere Ressourcen ziehen wir mittels unsichtbarer Hightech-Nabelschnüre ab. Den Skylines. Das klingt beinahe poetisch.

Der Farn ist geklont, wie jede grüne Materie momentan. Und ich? Wie man uns schon unzählige Male erklärt hat, verursachten »drastische Veränderungen im Ozon, der Atmosphäre und den Magnetfeldern von Erde und Sonne drastische Veränderungen der Morphologie«. Kein schlechter kosmischer Scherz an der herrschenden Klasse, oder? Die Erde ist nun das Erbe der Unterwürfigen, doch die Reichen saugen an ihr wie an einer Titte. Keiner weiß, wie viele Unterwürfige noch übrig sind. Falls überhaupt. Ich seufze so laut, dass ich beinahe zusehen kann, wie der Seufzer meinen Mund verlässt. Es ist stickig hier, die Luft ist zum Schneiden.

In meinem Schädel hat sich ein Lied festgesetzt, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, woher ich es kenne. Die Melodie ist überall gleichzeitig, trotzdem unerreichbar; die Einzelheiten schweben wie Weltraummüll davon. Manchmal denke ich, das Lied wird mich in den Wahnsinn treiben, doch dann fällt mir wieder ein, dass Wahnsinn meine geringste Sorge ist.

Heute ist mein Geburtstag, Fetzen dieses Liedes aus dem Nichts geistern durch meinen Körper, das sporadische orchestrale Donnern schwillt kurz an und verebbt dann wieder. Meine Ohren und mein Kopf sind von Geräuschen erfüllt, die Vibration bringt jeden Knochen in meinem Körper zum Schwingen. Danach nichts.

»Geburtstag« bedeutet, dass mit dem heutigen Tag mein letztes Jahr vor dem Aufstieg beginnt. Mit neunundvierzig habe ich die Altersgrenze erreicht und stelle für die Ressourcen eines endlichen, geschlossenen Systems eine Gefahr dar. Die CIEL-Behörden lassen zwar ein inszeniertes theatralisches Spektakel zu, wenn deine Zeit gekommen ist, doch tot heißt tot, in jeder Epoche. Damals, in den ersten Jahren hier, glaubten wir noch, Aufstieg bedeute, sich in einen höheren Seinszustand zu erheben. Nicht nur von einem ermordeten Planeten in eine schwebende Welt im All zu flüchten, sondern zu einer wirklichen Evolution von Geist und Seele aufzusteigen. Es erscheint mir nach wie vor absurd, dass all unsere bedeutenden Philosophien, Theologien und wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Blick nach oben beruhten. Jedes Tier, das je geboren wurde – blind oder dumm oder empfindsam –, blickte nach oben. Na und? Was, wenn es nicht mehr als ein dummer Reflex war?

Es gibt schlicht zu viele von uns, als dass das Reich von Jean de Men unsere Versorgung gewährleisten könnte – es sei denn, wir entdecken weiterhin neue verbliebene Schatzkisten auf der Erde oder entwickeln uns zu Geschöpfen weiter, die weder herkömmliches Essen noch Wasser brauchen. Unsere recycelten Fleischsäcke liefern Wasser, wenn wir sterben. Es ist die einzige biotechnische Errungenschaft, die wir hier oben erfolgreich »hervorgebracht« haben. Aus einer Leiche lässt sich reines Wasser gewinnen. Nach dem momentanen Entwicklungsstand ergibt eine frische Leiche durchschnittlich hundert Liter Wasser – die Überlebensration für ungefähr zwanzig Tage. Das ist nicht besonders effizient.

Niemand weiß, ob beziehungsweise wie schnell sich diese Quoten verbessern werden. Wir haben Weltraumanzüge und die Wiederaufbereitung von Urin getestet, außerdem unterschiedliche Ausatmungsmethoden, um aus der Feuchtigkeit des Atems Wasser zu gewinnen, dabei aber bloß herausgefunden, dass die Biotoxine eine wahre Welle von Todesfällen auslösten. Und so greifen wir weiter auf Mutter Erde zurück und saugen ihren kranken Leib aus.

Der Farn und ich führen einen Wettstreit, wer von uns zuerst den Blick abwenden muss. Als ich hierherkam, war ich vierzehn und siechte an unerwiderter Liebe dahin. Oder zumindest an hormonell nicht aufzuhaltender Liebe. Nun bin ich neunundvierzig und in meinem vorletzten Jahr. Sollten Hormone noch irgendeine Bedeutung für uns haben, dann harrt diese bestenfalls im Verborgenen einer anderen Epoche. Vielleicht werden wir uns zu asexuellen Systemen entwickeln. So fühlt es sich für mich gerade an. Doch vielleicht ist das auch reines Wunschdenken. Verzweifeltes Wünschen. Mir schnürt sich die Kehle zu. Hier wird niemand geboren. Es gibt ein paar Junge um die zwanzig. Danach, wer weiß.

Das ist mein Zimmer: geschmackvoll mit blaugrauen Schieferplatten eingerichtet. Eine Memory-Foam-Matratze auf einer Metallplatte, eine Platte zum Schreiben, mehrere Metallstühle, eine zylindrische Ein-Zimmer-Dusche mit einem Klärsegment für menschliche Exkremente. An meiner Unterkunft sticht vor allem das wandgroße Fenster mit Blick ins All – oder die Zerstörung – ins Auge. Eine Schutzblende hilft zu vergessen, dass uns die Sonne jederzeit bei lebendigem Leib verzehren kann oder dass sich ein schwarzes Loch – wie ein Kind beim Versteckspiel – anpirschen könnte.

Das ist mein Zuhause: CIEL. Ein Zuhause in der Unbehaustheit.

Meine Unterkunft bewohne ich allein. Oh, es leben auch noch andere hier auf CIEL. Früher hatte ich einen Ehemann. Jetzt ist es nur noch ein Wort, genau wie Zuhause, Erde, Land, Ich. Vielleicht besteht alles, was wir je erlebt haben, bloß aus Worten.

»Aufnahme«, flüstere ich der Luft im Raum zu. Früher habe ich so gebetet.

»Audiovisuellsensorisch?« Eine Stimme, die entfernt wie die meiner Mutter klingt. Mutter: noch eines der Wörter, die ich allmählich vergesse.

»Ja«, antworte ich. Der ganze Raum vibriert, erwacht zum Leben, fährt sich hoch, um jede Bewegung und jeden Laut von mir aufzunehmen.

Bevor ich gezwungen werde, diese Existenz zu verlassen, und mich in Staub und Energie verwandle, möchte ich mir noch zwei Geburtstagsgeschenke machen. Beim ersten handelt es sich um Geschichtsschreibung. Oh, ich weiß, dass dieser Geschichte womöglich nicht die ausgiebige Aufmerksamkeit zuteilwird, die ich anstrebe. Andererseits haben schon kleinere Spektakel Epochen bewegt. Und ich spüre diesen quälenden menschlichen Drang zu erzählen, was geschehen ist.

Beim zweiten Geschenk handelt es sich um eine eher körperliche Lektion. Ich bin eine Meisterin im Hautveredeln, der neuen Form des Geschichtenerzählens, und möchte die Fülle meines Wissens und meiner Kunstfertigkeit hinterlassen. Meine letzte Veredlung soll ein Meisterwerk werden.

Ich beende das Auftragen adstringierender Mittel. Meine Haut ist gerötet und protestiert zaghaft. Ich stelle den großen Spiegel vor mich – kippe ihn leicht, damit er meinen ganzen Körper wiedergibt. Das ununterbrochen spielende Lied in meinem Kopf bringt von Zeit zu Zeit meinen Brustkorb zum Schwingen.

Ich bin mehr oder weniger geschlechtslos. Mein Kopf ist weiß und wächsern. Keine Augenbrauen oder Wimpern oder volle Lippen oder dergleichen, nur spitze Knochen an Wangen und Schultern und Schlüsselbeinen und den Schnittstellen, wo sich technische Geräte an unsere Körper anschließen lassen. Wo früher die Brüste ansetzten, habe ich bloß noch eine flache Wölbung, weiterhin eine Art Hügel, wo eigentlich mein Schambein sein sollte. Das ist aber auch schon alles. Ansonsten ist jegliche Weiblichkeit an mir verschwunden. Nach einem Räuspern fange ich an: »Dies ist die Aufzeichnung der Geschichte von Christine Pizan, der zweiten Tochter von Raphael und Risolda Pizan.« Ich denke kurz an meine toten Eltern, meinen toten Ehemann, meine toten Freunde und Nachbarn, all die Menschen, die meine Kindheit auf der Erde bevölkert haben. Dann denke ich an die bleiche Horde, geronnene Milch, die hier oben noch existiert. Einen Augenblick lang möchte ich weinen oder mich übergeben.

Meine Haut ist … sibirisch. Kahl. Sie juckt. Das schwache Brennen des Adstringens erinnert mich daran, dass ich noch immer Nervenenden besitze. Der durchdringende Geruch in meiner Nase erinnert mich daran, dass meine Sinne noch funktionieren, und die Informationen, die zu meinem Hirn wandern, erinnern mich daran, dass meine Synapsen noch feuern. Ich scheine tatsächlich noch ein Mensch zu sein.

Der Farn und ich wechseln Blicke. Was für ein Gespann – eine Intellektuelle, die zu viel gesehen hat, und eine zu häufig geklonte Pflanze. Wie sinnlos Überleben sein kann. Doch zum ersten Mal seit Jahren habe ich endlich eine Daseinsberechtigung. Weil ich aus sogenannter Geschichtsschreibung eine Geschichte herauskitzle. Unter Einsatz meines Körpers und meiner Kunst will ich Worte sichtbar machen, Leben sichtbar machen. Und einen Tatort auferstehen lassen.

Meine Brustwarzen werden hart in dem kalten, düsteren Raum. Auf dem Tisch vor mir erwachen surrend die Werkzeuge meiner Zunft, dem Veredeln, zum Leben. Auf der unbeschriebenen Fläche meines Rumpfes bildet sich Gänsehaut. Die exquisite kleine Schönheit dieser Reaktion. Wird uns die Gänsehaut je verlassen?

Ich blicke mir im Spiegel in die Augen und beginne mit meiner Anleitung.

»Für Strike Branding sollte man grundsätzlich nichts verwenden, das länger als ein Schraubenschlüssel ist. Der Hauttyp ist ausgesprochen wichtig, ebenso die Tiefe des Schnitts und die Versorgung der Wunden während des Heilungsprozesses. Da Narben die Tendenz haben, sich beim Abheilen zu verbreitern, ist Elektrokauterisation dem Strike Branding unbedingt vorzuziehen.«

Ich will mit der Aufnahme mein Wissen weitergeben.

Ich halte einen Bunsenbrenner an ein kleines Metallplättchen.

»Falls es bloß ein Symbol werden soll, eine simple Abbildung, ist wiederum Multistrike Branding einem Strike Branding vorzuziehen; man ist flexibler und kann zumindest die Illusion von Stil vorgaukeln. Um eine V-Form zu erzeugen, empfiehlt es sich beispielsweise, lieber zwei separate Streifen anstelle eines V-förmigen Metalls zu verwenden. Zielt man allerdings auf komplizierte Muster, kunstvolle Formen, die Rundungen und Vertiefungen von Zeilen, Syntax, Diktion ab, ist Elektrokauterisation die naheliegende Wahl.« Ich nehme den Elektrokauter zur Hand. »Fast wie früher ein Stift …«, flüstere ich, »nur mutiger.« Ich halte die Arme hoch und zeige eine Auswahl an Zeichen: hebräische, arabische, asiatische, mathematische, wissenschaftliche, Zeichen indigener nordamerikanischer Völker, Zeichen in Sanskrit.

»Hier? Das ist Pi.«

Meine wunderschönen Schmetterlingsflügel – verziert und sensationell. Die verborgenen Stellen meines Körpers sind mir vorbehalten, sie kauterisiere ich selbst.

Ich schneide die ersten Linien. »Verbrannte Epidermis riecht ähnlich wie Holzkohle.« Ich halte einen Moment inne und betrachte mein Spiegelbild. Wir haben uns zwar alle an unser neues Aussehen gewöhnt, aber seien wir ehrlich: wir sind ein hässlicher Haufen hier oben auf CIEL. Haarlosigkeit war das Erste, was eintrat, darauf folgte der Verlust der Pigmentierung. CIEL hat der Menschheit neue Körper beschert: Armeen marmorweißer Statuen. Allerdings nicht annähernd so schön wie jene der Antike. Vielleicht war es die Geokatastrophe, die unseren Körpern das angetan hat, vielleicht eines der frühen Viren, vielleicht Fehler in der Konstruktion unserer Raumstation, vielleicht einfach Karma, weil wir die natürliche Welt umgebracht haben. Vor Kurzem habe ich mich gefragt, was als Nächstes kommen wird. Was folgt nach dem Weiß? Werden wir dann durchsichtig werden? Auf der Erde war nie jemand im wahrsten Sinne des Wortes weiß. Doch das Konstrukt hielt das Konzept von Rasse am Leben und Klassenkämpfe und Mythen. Hier oben sind wir tatsächlich langweilig weiß. Wie Eiweiß.

Ich konzentriere mich auf meine Arbeit.

»Technisch gesehen lässt sich ein medizinischer Laser zwar zur Skarifikation einsetzen, doch das Verfahren erfordert eigentlich keinen Laser, sondern eher einen Elektrokauter, der die Haut mittels Strom schneidet und kauterisiert – ähnlich wie früher Lichtbogenschweißgeräte funktionierten. Von dem manuell geführten Stift des Gerätes springen elektrische Funken auf die Haut und lassen sie verdampfen.«

Ich nehme meinen Elektrokauter. Mittlerweile zucke ich dabei weder zusammen noch verziehe ich das Gesicht, ich zeige keinerlei körperliche Reaktion auf den eigenartigen Schmerz, den der Kauter verursacht. Was bedeutet schon Schmerz im Vergleich zum Ende einer Lebensgeschichte.

»Kauterisation ist eine präzisere Form der Skarifikation, denn das Instrument erlaubt der Künstlerin, Tiefe und Beschaffenheit des Schadens zu steuern, den sie der Haut zufügt. Beim traditionellen Branding durch Auflegen erhitzter Metallplättchen wird das umgebende Gewebe verbrannt und beschädigt. Branding mit dem Elektrokauter hingegen lässt die Haut so schnell und zielgerichtet verdampfen, dass dem umliegenden Gewebe wenig bis kein Schaden zugefügt wird. Siehst du?«

Die Haut an meinen Schlüsselbeinen schreit. Winzige rötliche Hieroglyphen sprenkeln meinen Oberkörper.

In wenigen Stunden werde ich die erste Strophe auf der Leinwand meiner Brustplatte vollendet haben.

»Der Kauter verursacht weniger Schmerzen und beschleunigt die Heilung nach der Skarifikation.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch weiß, was das Wort Schmerz bedeutet.

Alles in einem Leben besteht aus mehr als einer Schicht Geschichte. Genau wie die Haut: Epidermis, Dermis, Subcutis oder Hypodermis. Meine Geschichte hat einen Subtext.

»Aufmerksamkeit erregte ich auf CIEL zum ersten Mal, als ich die literarischen Verdienste eines hoch angesehenen Autors narrativer Veredelungen – unseres mittlerweile diktatorischen Anführers Jean de Men – in Frage stellte.«

Ich rede nicht weiter. »Pause.« Die Namen der Dinge. Sie verraten unsere Dummheit. CIEL, so hieß auf der Erde eine internationale Umweltorganisation, aber vor den Kriegen, vor der großen geologischen Katastrophe auch ein Videospiel für Kinder. Nun nennen wir unsere schwebende Welt so. Was haben wir für dürftige Götter erschaffen.

Und Jean de Men. Den Namen fand ich schon immer zum Totlachen, diese Stilisierung zum son of man, zum »Menschensohn« und Messias, und dann noch falsch geschrieben. Er ist eher ein abstoßender Freier, der sich nimmt, was vermeintlich ihm gehört.

De Men verfasste, was auf CIEL als berühmteste Narrativ-Veredelung unserer Zeit betrachtet und irgendwann einstimmig als großartigster Text aller Zeiten bejubelt wurde. Als würde Zeit so funktionieren. Als sei die Geschichte der Erde und ihrer Lebewesen verdampft.

Mein Kopf schmerzt.

Als die Spur des Liedes in meinem Hirn in orchestralen Explosionen zurückkehrt und mich verhöhnt, gehe ich mit den ungeduldigen Schritten einer Kriegerin zu der Schatztruhe, die die letzten von der Erde stammenden Gegenstände enthält, von denen ich mich nicht trennen konnte. Ich schiebe die Truhe beiseite – der wahre Schatz befindet sich darunter, in einem Bodenversteck, das sich nur auf meine Stimme hin öffnet.

Darin ein schlichter Pappkarton. Durchaus nicht wenig: In einer papierlosen Existenz ist Pappe wie … was? Öl. Gold. Ich öffne die Schachtel und durchwühle den Inhalt – CDs, Videos, andere alte Speicherartefakte –, meine Hände sind wie ungeduldige Spinnen. Den gewünschten Gegenstand kenne ich besser als meine eigene Hand: ein zerkratzter USB-Stick. Ich halte ihn an meine Halsschlagader. Wir haben Schnittstellen an den Hälsen, Schläfen, Ohren und Augen, um Datenträger anzuschließen. Spezielle in unsere Köpfe eingepflanzte Implantate stoßen gemeinsam mit Nanotechnologie Gedanken aus, die anschließend lebendig von unserer Hautoberfläche flattern.

In meinem Zimmer erstrahlen holografische Projektionen: Fragmente aus Jean de Mens Werdegang. Es ist eine perfekte und erschreckende Geschichte der Konsumkultur. Seine Jugend als Selbsthilfe-Guru, sein kometenhafter Aufstieg als Autor, der weltweit von Millionen verehrt wurde, seine Übernahme des Fernsehens – jenes billigen Propagandamittels auf der Erde – und schließlich das scheinbar Undenkbare, nachdem die Medien einen festen Platz in unseren Heimen eingenommen hatten: Seine Übernahme von Leben. Seine Darbietungen wurden zunehmend gewalttätiger. Er wurde vom opportunistischen Entertainer zur gefeierten Celebrity zum Milliardär zum faschistischen Powermonger. Was fehlte noch? Seine Verwandlung zum sadistischen Militärführer bei Kriegsausbruch kam nicht weiter überraschend.

Wir CIEL-Bewohner sind das Ergebnis davon, wenn eine eigentlich unvorstellbare Celebrity die Macht an sich reißt.

Dass wir überhaupt existieren, lässt meine Augen schmerzen.

Die Menschen gehen immer davon aus, das Undenkbare könne nicht eintreten. Solange etwas nicht als Gedanke existiert, kann es auch nicht im Leben existieren. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, in einem Moment der Gefahr, taucht – wie eine Rippe aus dem Sand – eine Gestalt auf, die Macht aus unseren anfälligen Sehnsüchten und Versäumnissen schöpft: Jean de Men. Eine seltsame Kombination aus Militärdiktator und spirituellem Scharlatan. Ein kriegshungriger Marktschreier. Wie naiv wir an unsere kleinherzigen Fortschritte glauben. Und doch war es nur ein weiterer Fall, in dem etwas Glänzendes uns zunächst unterhielt und anschließend verschlang. Konsum macht uns exakt zu dem, was wir erschaffen. In jedem Zeitalter.

Ich starre auf einen Hologrammfetzen: Jean de Mens grotesk knollenförmigen Kopf, sein protziges Gesicht, das nur aus Stirn zu bestehen scheint: »Euer Leben ist nichts für sie, diesen fauligen Unrat, der sich der Zukunft verweigert und sich an einem Leben auf der Erde festklammert, das nicht aufrechtzuerhalten ist. Die Erde war bloß ein früher Wirtskörper für unseren zukünftigen Aufstieg. Euer Leben kann Bedeutung und Berechtigung haben, ihr müsst nur den Blick auf eine höhere Wahrheit richten.« Ich kenne diese Worte aus seinen endlosen wöchentlichen Ansprachen, die sämtliche Räume von CIEL durchdringen, es sind Rezitationen seiner besten Zitate.

Galle brodelt meine Kehle hoch.

Ich überspringe die dumme Aufnahme und versuche, das Lied zu orten, kann es aber nicht aufspüren. Mir kommen Selbstzweifel. Warum habe ich es mit ihm in Verbindung gebracht? Hatte ich es mir als absurden Soundtrack seiner Machtübernahme vorgestellt? Und wenn das Lied nichts mit damals zu tun hat, woher kommt es dann? Fast schien es aus dem Weltall um uns herum zu tönen, aus dem gewaltigen Mund oder der gewaltigen Kehle, in der wir manchmal in meiner Vorstellung leben.

»Tonaufnahme fortsetzen«, sage ich und hole Luft. »Zurückspulen … Aufmerksamkeit erregte ich auf CIEL zum ersten Mal, als ich die literarischen Verdienste eines hoch angesehenen Autors narrativer Veredelungen – unseres mittlerweile diktatorischen Anführers Jean de Men – infrage stellte.«

Ich wische mir über die Stirn. Obwohl ich seit Jahren nicht mehr geschwitzt habe, spüre ich nun eindeutig Feuchtigkeit.

»Bei der von ihm geschaffenen Veredelung handelte es sich ausgerechnet um eine Liebes-Veredelung, sie erlangte eine gewisse Berühmtheit: weithin gekauft, weithin von sogenannten Experten gefeiert, weithin und absurderweise belobhudelt, und obwohl es niemand gern zugibt, weithin unter Schnäppchenjägern begehrt, die in den schmutzigen Gassen des Schwarzmarktes nach Raubkopien und Billigware suchten. Jeder musste sie haben.

Warum? Weil selbst in unserer entsexualisierten Welt die Vorstellung von Liebe und all ihren Kurtisanen – Begehren, Lust, Erotik, die Jagd, die Eroberung, das Verschlingen – eine geradezu störrische Hartnäckigkeit bewies. Am Ende, so stellte sich heraus, war der letzte Wunsch von uns Überlebenden und Aufgestiegenen, die im Tausch gegen einen Bruchteil von Leben in eine endliche Lebenszeit eingewilligt hatten, nicht etwa Macht oder Geld oder Besitz oder Ruhm. Der letzte Wunsch, so stellte sich heraus, war bei allen Liebe: möge ich von der Schlichtheit und Reinheit einer Liebesgeschichte verzehrt werden, irgendeiner Liebe, gemeiner Liebe oder heroischer Liebe oder grenzüberschreitender Liebe oder Liebe, die eine dürftige und alberne Lüge ist – alles, bloß nicht allein und einsam und asexuell sein und ohne jemanden, der einem etwas bedeutet und mit dem man reden kann. Der Hunger nach Liebe verdrängte den Hunger nach Gott oder Wissen. Der Hunger nach Liebe wurde zum Betäubungsmittel. Die Geschichte von Liebe gewann in einer Welt, die ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung eingebüßt hatte, höchste Priorität.

Es war dieselbe Sehnsucht, die eine Motte zur Flamme hinzieht. Es war die Sehnsucht, der Sonne den Stinkefinger zu zeigen. Bei lebendigem Leib in einer Geschichte zu verbrennen, in der unsere Körper noch Begehren verspürten und tun konnten, was Körper tun wollen.

Drastische Veränderungen der Magnetfelder hatten drastische Veränderungen in der Morphologie des Lebens verursacht. Damit hatte jeder gerechnet. Aber niemand hatte mit Sicherheit vorhersagen können, wie rasch diese drastischen Veränderungen nach der Geokatastrophe und der daraus resultierenden Strahlung eintreten würden. An uns vollzogen sie sich jedenfalls schneller, als es je bei Laborratten oder Menschenaffen der Fall gewesen war. Das kommt dabei heraus, wenn eine Geokatastrophe durch Strahlung verstärkt wird. Wir verkümmerten, kurz gesagt. Unsere Sexualitäten mutierten und verschwanden schneller, als man Fuck sagen kann.

Das Ende der Genitalien. Unsere Körper konnten weder niedrigstes Begehren ausdrücken noch unsere hochtrabenden Vorstellungen einer Zukunft. In unserer Verzweiflung und unserem Nichtwahrhabenwollen wandten wir uns an den einzigen Heilsbringer in Sichtweite: die Technologie und ihre lautstärksten Vertreter. Nachdem wir des Fernsehens müde waren, nachdem wir der Filme müde waren, nachdem soziale Medien unseren Hunger nicht hatten stillen können, nach Hologrammen und virtuellen Realitäten und Pharmazeutika und jeder Menge anderer irrsinniger veränderter Seinszustände betrachtete irgendwo irgendjemand verzweifelt die traurige Haut ihres oder seines Arms und bemerkte zum ersten Mal eine Grenze.«

Ich nehme einen enormen Atemzug und halte die Luft an. Ich strecke die Arme seitlich aus. Im Spiegel habe ich entfernt Ähnlichkeit mit einem Schmetterling. Dann atme ich aus und sehe zu, wie mein Hautsack in sich zusammenfällt.

Haut. Das neue Papier. Leinwand. Bildschirm.

Durch Skarifikation verwandelten wir die Überreste unserer stummen Haut in Kunst.

»Hautveredelungen sind das Resultat unseres Hungers hier in unserem Pseudo-Himmel.« Ich gehe im Raum auf und ab und fahre mit meiner Erzählung fort. »Veredelungen waren Hautgeschichten: entfernte Nachfahren von Tätowierungen, eine durch Inzucht gezeugte Cousine der Blindenschrift. Binnen Kurzem ließ sich der Wert eines Menschen und sein sozialer Status an der Beschaffenheit seiner Haut erkennen. Die Haut der Reichsten ähnelte einem großen aufgedunsenen Fleisch-Palimpsest – Veredelung auf Veredelung, mit tiefen Verbrennungen dritten Grades, die weiß auf weiß zu Wellen und Wülsten und Furchen verheilten. Man musste länger als eine Minute in ein Gesicht starren, um die Suhlen zu entdecken, wo Augen hätten sein sollen, das Loch, in dem irgendwo noch ein Mund lebte. Gesichter sahen aus wie Haufen weißer Spitzendeckchen aus irgendeiner mittelalterlichen Epoche. Selbst auf den Händen schimmerten kompliziert angeordnete wulstige weiße Striemen und Höcker.

Auch ich verkaufte damals Veredelungen: erotische Mikroversionen, die sich besonders gut für die weiche einladende Kuhle zwischen Kinn und Schulter eigneten – dort, wo sich, legte jemand den Kopf aus Schüchternheit oder Verlangen schräg, diese kleine Fleischschale bildet. Nur zu. Neige das Kinn zu deiner Schulter, dann weißt du, was gemeint ist.

Das nette kleine Unternehmen mit den Veredelungen war aus Notwendigkeit heraus entstanden; nachdem mein Mann in der ersten Epidemiewelle auf CIEL gestorben war, musste ich selbst für meinen Lebensunterhalt sorgen.«

Ich versuche, den Namen meines Ehemanns auszusprechen. Ich öffne den Mund in der Form seines Namens, bringe ihn aber nicht heraus. Sein Tod ereignete sich so schnell – wie ein harter Atemzug. Meine Trauer bohrte ein Loch in mich und ersetzte den einstigen Lebensspalt.

»Auch wenn meine Veredelungen nicht von herausragendem literarischen Wert waren, befriedigten sie ein Bedürfnis. Berührten die CIEL-Bewohner diese kleinen Liebesveredelungen in Momenten der Trauer und Einsamkeit und schlossen einen Moment lang die Augen und legten die Hände in den Nacken, wanderten ihre Gedanken zu irgendeinem vergangenen Liebesabenteuer. Der Großteil meiner Kundschaft bestand aus Frauen, doch auch Männer kauften sie. Vermutlich aus Sentimentalität. Wenn beinahe alle sinnlichen Erfahrungen ausgelöscht sind, ist Sentimentalität womöglich der einzige Schutz vor Einsamkeit.

Und einsamere Geschöpfe als Männer gibt es kaum. Sie verlieren ihre Mütter und können keine Kinder gebären, ihr einziger Trost sind ihre verkümmerten Penetrationsanhängsel. Vielleicht ist das der Grund, warum sie, wenn sie sich nicht gerade aufs Ficken stürzen, sich immer in den Krieg stürzen. Aber wie könnte man ihnen ihr Verhalten zum Vorwurf machen, nun, da der Penis ausgedient hat und nur noch ein zusammengerolltes kleines Insekt ist?

Mein toter Ehemann war ebenfalls Hautveredelungsautor. Seine Veredelungen waren allerdings grandios: pietätslose, verderbte, abstoßend lustvolle Sex-Veredelungen ausschließlich für den Genitalbereich: für die Überreste von Penis, Fotze, Arsch, die verborgenen Wölbungen unter den Brüsten, zwischen den Schenkeln, für jede nur denkbare erogene Zone. Seine Arbeiten zu tragen galt als Zeichen von Gosse. Eine verlockende Vorstellung, eine Geschichte nur darüber aufzunehmen …« Ich spüre, wie meine Augen zu funkeln beginnen.

»Erwähnenswert: Die Schädel-Veredelungen der Wohlhabendsten gehören vermutlich zu den protzigsten – oder scheußlichsten, je nachdem, welchen Standpunkt man zum Klassensystem einnimmt. Die hoch aufragenden Wellen ähneln den pompösen gepuderten Perücken aus früheren Zeiten und fallen Männern und Frauen über den Rücken, als wären ihre Knochen und Gehirne aus den gewaltigen Schädeldecken ihrer kahlen Köpfe gequollen und langsam den Hals hinuntergelaufen oder als würden Gischt-Tumore auf ihren Hintern zufließen. Sie lassen ihre Haut dehnen und anschließend branden. Dann erneut dehnen und branden. Allein die Vorstellung!

Ich weiß nicht, warum ich gerade jetzt angefangen habe, von Meeren und Bergen zu träumen. Hier gibt es weder Berge noch Meere … nichts, das eine Majestät besäße, an die man glauben könnte …«

Meine Stimme versagt. »Pause.« Mein Abschweifen löst einen Schmerz zwischen meinen Schultern aus, der sich anfühlt, als würde mir jemand ein Gewehr zwischen die Brüste bohren. Ich starre durch das Fenster, starre in das unendliche Nichts. Der knotige Punkt von Erde erwidert mein Starren wie eine falsche Murmel.

Vor meinem Tod würde ich die Erde gern noch einmal betreten. Doch das ist unmöglich.

In diesem letzten Jahr meines Lebens hat sich etwas wie ein geheimes Vorhaben in meiner Fantasie eingenistet. Die Frau, deren Geschichte die Welt zerstört hat. Angeblich ist sie tot. Wir alle haben ihrer Hinrichtung beigewohnt, oder zumindest deren Darstellung. Doch Menschen basteln sich aus allem einen Glauben, vor allem, wenn es mit einer guten Geschichte einhergeht. Trotz meines Alters und meiner zynischen Weltsicht möchte ich an jene Frau glauben. So wie sich auf der Erde alte Menschen an eine erfundene Geschichte namens Gott geklammert haben. Allerdings gilt es als Verbrechen, ihren Namen auszusprechen oder Bilder oder Geschichten zu verbreiten, die von dem endlos präsentierten Bild und der Geschichte ihres »offiziellen« Todes abweichen. Ich verwahre den Gedanken und die Worte deshalb in meinem Kopf und meinem Herzen. Ich räuspere mich. »Aufnahme fortsetzen.

Ich bin eine Geschäftsfrau. Ich schreibe für Geld. Meine kleinen Balladen besetzen eine Nische. Am Hals. An der Halsader.«

Wieder fällt mir etwas ins Auge.

Ah. Eine Spinne kriecht über ein Netz von dem Farn auf meinen Arm. Ich rühre mich nicht. Die Spinne kommt an. Sie kitzelt. Ich beobachte, wie sie von meinem Handgelenk zur Armbeuge krabbelt. Wie viele Spinnen wir hier wohl noch haben? Werden auch sie eines Tages verschwunden sein? Wie die Tiere und Pflanzen und all die Dinge, die wir so verzweifelt versuchten, in den Himmel zu exportieren und bis zum Abwinken zu klonen? Eine absurde Arche Noah – sämtliche Unerwünschten werden geklont und perfektioniert! Obwohl ich zugeben muss, die Spinnen funktionieren besser als die Schmetterlinge, die sich weiterhin in einen Kokon einspinnen und halbfertig als irgendetwas zwischen Larve und Flügelding herauskommen. Es gibt kaum etwas Traurigeres, als sie in ihrem verkrüppelten Flattern daliegen zu sehen, ihre Flugunfähigkeit erinnert uns daran, wie viel Todesgeschichte die Evolution enthält.

Bevor ich mit der Veredelung fortfahren kann, muss erst die Strophe auf meinem Körper heilen. Ich trage noch einmal ein Adstringens auf. Das Brennen ist so kurz wie ein Flüstern. Ich puste auf meinen Oberkörper.

Im Spiegel ist alles auf meinem Körper rot und geschwollen und unleserlich. Aber die Wörter werden kommen. Bald werden dort erhabene Hautwörter sein, weißer als weiß. Und jegliche Spur von Brüsten und Frau ersetzen.

Ich bin alt genug, noch Bücher gelesen, Filme gesehen zu haben. Kunst und Geschichte studiert zu haben. Ich lächle. Ich erinnere mich an alles. Diese Geschichte der Mädchenkriegerin, die an der Schwelle zum Frausein getötet wurde, und alles, was danach geschah – sie hat die Welt auf den Kopf gestellt, oder etwa nicht? Die Leben derer auf den Kopf gestellt, die noch immer auf der sich unter uns drehenden Erde sind. Hat die Leben der erbleichten Körper auf den Kopf gestellt, die darüber aussterben. Wir kläglichen Engel.

Doch nicht jede Legende wird Geschichte, und nicht alle Literatur hat es verdient, zur Legende zu werden. »Aufnahme fortsetzen.

Das Werk des berühmten Jean de Men – ihr erinnert euch? – wurde lange als der Maßstab narrativer Veredelungen betrachtet, vor allem seine Liebesveredelungen. Seine Schöpfungen boten die zusätzliche Verlockung, sich perfekt um den Oberkörper zu schmiegen; eine seiner Veredelungen zu erhalten, so wurde behauptet, sei wie in eine Liebesgeschichte eingehüllt zu werden, wie eine lange erwartete Umarmung zu empfangen.

Ich betrachtete das alles als kompletten Bullshit – und hier begann das Feuer auszubrechen.« Ich spüre ein Stechen in der Kehle, als ich mich an Bullen erinnere. Oder überhaupt an Tiere.

»Ja, ich weiß. Wer bin ich denn, ihn herauszufordern, diese schillernde Berühmtheit der überlebenden CIEL-Elite? Und trotzdem sage ich Bullshit. Und zwar aus folgendem Grund: Jede Frau in seinem Werk verlangte danach, vergewaltigt zu werden. Sämtliche Frauen in seinen Geschichten zielten durch Sprache und Taten darauf ab, diesen Akt zu sanktionieren, zu bestätigen und zu beschleunigen. Frauen dienten im Plot nur einem einzigen Zweck – ihre kleinen roten Fleischlappen anzubieten, damit sie vom Schwanz geteilt wurden, oder um zuzulassen, dass ihr Loch gestopft wurde bis zum kleinen Tod. Aber wenn die Männer mit ihnen fertig waren, wurden die Frauen entsorgt. Getötet oder für tot liegen gelassen, geschwängert oder in den Wahnsinn getrieben, versteckt oder in die Ehe oder ein Gefängnis eingesperrt, zu einem Leben sexueller Dienstleistung degradiert, um überleben zu können. In Jean de Mens Welt bedeutete ›Glücklich bis an ihr Lebensende‹ für Frauen Vergewaltigung, Tod, Wahnsinn, Gefängnis oder Ehe. Indem er diesen kaputten Liebestropus zum allmächtigen Text erhob, drang er ins Bewusstsein ein. Wurde zum Allgemeinzustand. Zu Macht.

Auf dem Richtplatz der öffentlichen Meinung klagte ich die Berühmtheit deshalb, von Schriftstellerin zu Schriftsteller, unaufhörlich an: Ich begann bei der ungeheuerlichen Geschlechter-Nostalgie. Dann erweiterte ich den Katalog meiner Anschuldigungen um hinterhältige Unterwerfungsgesten, narrative Hasstiraden, Darstellungen brutaler Grausamkeiten an Menschen und schließlich die teuflische Mytologisierung dessen, was es für uns bedeutete, zum CIEL aufzusteigen – die komplett erlogene Geschichte, dass wir irgendwie die Menschheit retten würden. Trotz all meiner Anstrengungen konnte ich das herrschende Machtmodell nicht stürzen: Ein Mann, seine Maschinen in einer Himmelswelt, seine Herde von scheißreichen Schafen, die keinen anderen Zufluchtsort hatten. Unsere unterschiedlichen Kunstformen zu entwickeln und gegeneinander einzusetzen, war der einzige Krieg, den ich führen konnte. Darstellung gegen Darstellung.

Meine kleinen erotischen Veredelungen änderten ihre Gestalt. Sie waren nun bewaffnet. Ich vermählte Eros mit Thanatos und begann die Geschichte unserer Körper neu zu erschaffen: Nicht als sich fortpflanzende Spezies mit dem Ziel zu überleben, sondern als Abgründe des Begehrens. Schöpfung und Zerstörung in endloser und permanenter Bewegung.

Wie das All.

Hunderte von Frauen schworen meiner literarischen Widerstandsbewegung die Treue. Sie verließen Liebhaber, Ehemänner und Kinder. Zuerst änderten sie ihre Loyalität beim Lesen, anschließend – voller Hunger – ihr Leben. Worauf hätten sie ihre früheren Anstrengungen, schöne Sexualobjekte zu werden oder Geliebte von Männern oder Mütter auch richten sollen? Alle mit fließender Genderidentität konnten endlich atmen, als wir anderen ihre gelebten Erfahrungen nachholten. Wirklich überraschend war, dass auch einige aufgeschlossene Männer Kontakt zu mir aufnahmen, um Ideen zu diskutieren. Im Laufe dieser Treffen bildete sich eine gemeinsame Überzeugung heraus. Eine neue Philosophie war geboren, vital und pulsierend: Die Vorstellung von Männern und Frauen – beziehungsweise die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen – war ein für alle Mal tot. Wir organisierten uns. Wir agitierten. Wir bildeten Geheimbünde für Körperwahrheiten. Wir hielten mitternächtliche Orgien mit Pantomimen ab und erforschten unsere neu entdeckten Körper – vielleicht waren wir eine neue Spezies, irgendeine neue Gattung mit alternativen sexuellen Möglichkeiten! Wir feierten uns mit illegaler Schmuggelware und versuchten unermüdlich, die Flammen unserer Menschlichkeit, unserer Triebe und Freuden und Schmerzen lebendig zu halten. Allen voran mein geliebter Trinculo.

Was verlieh meiner kleinen literarischen Herausforderung solch epische Wucht? Haut war es, die der literarischen Darstellung episches Gewicht gab. Der menschliche Körper war das Medium. Nicht heilige Schriftrollen. Nicht militärische Ideologien oder umstrittene intellektuelle Theorien. Das Einzige, was uns geblieben war, ließ die Kluft zwischen Darstellung und Leben einstürzen. Am Anfang war das Wort, und das Wort wurde unsere Körper.

Der Protest, den wir hier unter Sternen und Strahlung organisierten, versetzte mich in grenzenlose Aufregung. Er wurde zu einer Sensation im Verborgenen. Mein Werk gewann nicht weiter an Popularität, es ließ die Menschen jedoch entflammen, löste ein Feuer in ihnen aus.« Hier scheint mir die passende Stelle, um meine Tonaufnahme anzuhalten.

Im Dämmerlicht des CIEL-Raumes, im letzten Jahr meines Lebens, spüre ich auf der Haut zwischen meinen Schultern, von meinem Hals bis zum unteren Rand meines Brustkorbes einen Schmerz. Sie rötet sich. Und schwillt an. Ich starre im Spiegel auf meinen Oberkörper, und fast scheint es, als würde er pulsieren. Lebendig verbrannt zu werden vor Bedeutung – das Gegenteil von Joans Tod. Dieses Feuer ersetzt jenes, das einst zwischen unseren Beinen gebrannt hat. Aber ich weiß bereits, wie der Kampf ausgeht, den ich fechte. Ich weiß bereits, was ich will.

Die Spinne – ich spüre sie an meinem Hals. Ich fange sie, indem ich meine Hand genau über die Stelle wölbe, an der ich eine meiner eigenen Hautveredelungen trage. Soll ich sie in meiner Handfläche zerquetschen? Was bedeutet schon ein weiterer toter Spinnenklon? Aber ich tue es nicht. Stattdessen trage ich die Spinne im Haus meiner Hand vorsichtig zu dem albernen Farnstängel. Sie krabbelt den Stiel hinauf und lässt sich sofort an einem seidenen Faden herabbaumeln.

Der Wille zu leben ist so stark. Ich fühle die sporadischen Wellen in meinen Ohren; das vertrackte Lied in meinem Kopf zieht sich zurück, verschwindet aber nicht.

Ich möchte ihre Geschichte zurückhaben.

Jene, die man ihr genommen hat. Und ersetzt durch Ketzerin. Öko-Terroristin. Mordlustige Jungfrau, die die Erde zum Schreien brachte.

Ich möchte meinen Körper einsetzen, um die Geschichte zu bekommen.

KAPITEL 2 Als meine Tür ohne Vorwarnung aufspringt, rutscht die Spinne auf dem Farn über das Netz. Ich ziehe hastig ein azurblaues Seidengewand um mein nächtliches Werk. Mein Körper brennt und juckt unter dem Stoff. Ich höre sein Geschrei, bevor ich ihn sehe.

»Christ! Komm sofort her du volles Taubenei. Komm her und gib mir einen Kuss. Ich glaube, heute habe ich mich selbst übertroffen.«

Egal wie oft er mich »Christ« statt »Christine« nennt, es bringt mich zum Lächeln. Bei jedem Treffen mit ihm spaltet sich mein Geist, eine Hälfte schießt in die Vergangenheit zurück, die andere steckt zitternd in der Gegenwart.

Was ist eine Liebesgeschichte?

Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, und das ist jeden Morgen und jeden Tag und jede Nacht, denke ich an all die Liebesgeschichten, die niemals erzählt werden. Die zerbrochenen Liebesgeschichten, die kaputten, die, die nicht in die alten Tropen passen. Passte irgendein reales Leben jemals in einen Tropus? Ein immer wiederkehrender Flashback sticht auf meinen Körper ein. Wie innig ich mit vierzehn auf der Erde in ihn verliebt gewesen bin. Ich sehe uns beide, schlaksig und unbeholfen, beide mit schulterlangen Haaren, nur Ellbogen und Schultern und Knie, wir sahen wirklich wie Zwillinge aus. Wir verbrachten jeden Morgen und den ganzen Tag und die meisten Nächte zusammen, im Wald oder an Flussbetten, in der Schule oder während der Ferien. Oder wir kletterten aus unseren Zimmern und trafen uns zu imaginären Abenteuern oder malten oder zeichneten oder lasen oder beobachteten die Sterne oder liefen oder taten nichts weiter, als zu atmen. Ich erinnere mich, dass er sich irgendwann tatsächlich wie die Luft anfühlte, die ich einatmete, die Materie meiner Moleküle. Ich erinnere mich an den Puls an meinen Handgelenken und meinem Hals und das Blut in meinen Ohren. Als mein Körper sich von Mädchen zu Frau rundete, stürzte ich mich eines Tages nach der Schule auf einem weiten Feld idiotisch auf ihn, das Gesicht mädchenhaft-gerötet, meine Beine zitterten, meine Arme griffen nach ihm, ich verschmierte einen Teil meines Lächelns mit seinem und küsste ihn falsch. Und dann erstarrte er und schreckte vor mir zurück – der Ausdruck auf seinem Gesicht schuf eine unbarmherzige Distanz zwischen uns, unermesslich, so unermesslich wie Neptun, dieser eisige Gigant.

»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, war alles, was er herausbrachte. Die erste und innigste Liebe meines Lebens, mein alles verzehrender Geliebter erstarrte vor mir, der Beginn eines Mannes, der keine Frauen liebte. Fakt. Mit einem Mal schien selbst seine Haut vor mir auf Distanz zu gehen.

»Ich liebe dich«, sagte er, als er zurückwich, seine Augen ertranken in ihren Höhlen. »Ich liebe dich«, sagte er, als er vor mir davonrannte. Und meine Welt endete.

Meine Liebe allerdings nicht. Nicht damals, nicht in meiner späteren Ehe, nicht jetzt. Aber es gibt kein Wort und keinen Körper dafür. Nur durch einen Trick des Schicksals oder einen glücklichen Zufall landeten wir beide im CIEL. Und obwohl wir, mittlerweile aus anderen Gründen, niemals Liebende sein würden, war keiner von uns ohne Begehren. Seines erblühte zu einer symbolischen, nie versiegenden Lüsternheit. Meines verkümmerte zu einem Schmerz, den ich mit in den Tod nehmen werde.

Nun presst er sein früheres Verlangen in alte tote Sprachen und niedere, sexuelle, immer obszönere Äußerungen, außerdem in Gegenstände und Technologien, sozusagen ein »Fuck you!« an dieses idiotische Weltraumkondom, in dem wir leben.

Ich brenne.

Wir sind quasi die letzte Bastion des Begehrens.

Dort steht der Mann – obwohl das Wort Mann