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Martin Storm, Hauptkommissar bei der Potsdamer Kriminalpolizei, sitzt vor einer Akte aus dem Jahr 1977. Damals war ein achtzehnjähriges Mädchen aus dem brandenburgischen Ort Friesack verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Nun, fast drei Jahrzehnte später, hat man bei Bauarbeiten in Berlin ihre sterblichen Überreste entdeckt und Storm muss in die Hauptstadt fahren, um sich mit den Kollegen vor Ort zu einigen, wer jetzt eigentlich zuständig ist, denn ein Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass dieses Mädchen damals ermordet wurde. Somit ist es wieder ein Fall für die Kriminalpolizei und die Nachforschungen werden erneut aufgenommen. Zunächst etwas halbherzig, weil man davon ausgeht, dass die Zeit alle Spuren verwischt hat. Doch dann geschieht ein weiterer Mord. An einem der Zeugen von damals. Martin Storm und seine Kollegen von der Berliner Mordkommission sind alarmiert, weil aus dem Fall der siebziger Jahre plötzlich eine aktuelle Ermittlung geworden ist. Könnte der Täter noch einmal zuschlagen, nachdem er offenbar weiß, dass wieder nach ihm gefahndet wird?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Mädchen Birgit
Gerald Knopp
Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen,
oder realen Begebenheiten wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Erster Teil
Prolog
Es gab etwa fünfzig Zeugen, aber trotzdem ließ sich eine Rekonstruierung der Zeit, eine gute Stunde Busfahrt, bis zum spurlosen Verschwinden des Mädchens Birgit Hage, nicht vornehmen.
Das ist doch absurd, dachte er beim Durchblättern der Akte.
Auf seinen Fingerspitzen bemerkte er Staub. Der hatte zwischen den Falzen des knapp dreißig Jahre alten Hefters geschlummert. Mit einem Mundwinkelzucken schüttelte er die Hand aus.
Rund sechzig Leute – achtundfünfzig, um genau zu sein – besteigen an einem Freitagabend im Oktober 1977 einen Linienbus des Typs Ikarus 66, der zwischen dem Bahnhof Nauen und dem Marktplatz des kleinen Städtchens Friesack verkehrt, und niemand kann brauchbare Angaben machen, mit wem das Mädchen während der Fahrt geredet hat oder bis wohin sie mitfuhr. Nicht einmal der Busfahrer.
Es hätte zwei denkbare, plausible Möglichkeiten zum Aussteigen gegeben: das Dorf Pessin, in dem der Freund wohnte, oder ihr Zuhause in Friesack bei der Mutter. An keinem der beiden Orte kam sie an.
Das vergilbte Foto von Birgit Hage zeigte ein hübsches Gesicht.
Ein achtzehnjähriges Mädchen, das wohl auffiel, auffallen musste …
Auch Bekannte von ihr sind im Bus: ehemalige Schulfreunde, Leute aus dem Umkreis ihres Elternhauses und Gleichaltrige, die sich von Tanzveranstaltungen her kennen. Es wird geredet, getratscht und einige verabreden sich für den Samstag. Trotzdem kann sich später niemand genau daran erinnern, bis zu welcher Station das Mädchen mitgefahren ist.
Absurd, fuhr es ihm noch einmal durch den Kopf.
Nachdem er die vergilbten Blätter überflogen hatte, stellte er sich die Situation vor …
Gegen 18.50 Uhr an jenem Abend hält der Bus vor der Haltestelleninsel am Bahnhof Nauen. Dichtgedrängt stehen die Fahrgäste vor dem vorderen Einstieg. Sie haben es eilig beim Fahrer zu bezahlen und sich dann im Warmen einen Sitzplatz zu suchen, denn draußen weht ein scharfer, kühler Herbstwind. Die letzten müssen im Gang stehen, nur die Hälfte der Leute ergattern einen gepolsterten Platz. Nachdem alle eingestiegen und abkassiert sind, wird die Tür geschlossen und der Bus setzt sich in Bewegung. Zunächst durch kleinere schmale Straßen der Stadt, dann hält er am Rathausplatz an einer weiteren Haltestelle. Hier steigen nur noch zwei Frauen zu, die nach einem Einkauf zurück nach Ribbeck wollen. Mit sonorem Motorgeräusch geht es weiter auf der Hamburger Straße, die früher Transitstrecke war. Hinter dem Ortsausgangsschild dunkelt der Fahrer die Deckenbeleuchtung ab. Die Fahrt bekommt etwas Gemütliches, und vielleicht verlaufen die Gespräche zwischen den Leuten deshalb auch etwas gedämpfter.
Zu diesem Zeitpunkt lehnt Birgit an einem Sitz, wo sie sich mit Jörg Stein unterhält. Die beiden kennen sich flüchtig von einem Ferienjob bei der Post. Er wird später aussagen, dass dieses Gespräch keine fünf Minuten gedauert hat und sie sich dann im Gang weiter nach vorne geschlängelt hat, wo ihr jemand zuwinkte. Ein Mann, so um die Dreißig. Mehr konnte Stein nicht berichten, da er ihn nicht kannte und ohnehin nur von hinten sah.
Wie wollte Stein wissen, ob er den anderen kennen könnte, wenn er sein Gesicht nicht gesehen hatte?
Der Mann blätterte in der Akte, ob damals eine entsprechende Frage gestellt worden war. Er fand nichts.
„So etwas nennt man wohl eine lückenhafte Ermittlung“, kam ein missbilligendes Brummen über seine Lippen.
Von den achtundfünfzig Fahrgästen, die an jenem Abend in Nauen den Bus bestiegen hatten, konnte nicht zu allen ein Name und eine Adresse ermittelt werden. Neun blieben ohne Gesicht und Identität. Darunter auch der Mann auf einem der vorderen Sitze, der Birgit zugewinkt hatte.
„Dreißig Jahre, und sie ist achtzehn …“
Hinter Selbelang biegt der Bus ab, um in Retzow einige Fahrgäste herauszulassen. Ein kleines Dorf mit Buskehre hinter grauen weiten Feldern. Zehn Minuten später geht es auf der Hauptstraße weiter Richtung Pessin, jetzt stehen nur noch ein paar junge Leute im hinteren Teil, denn es ist merklich leerer geworden. Zu diesem Zeitpunkt sitzt das Mädchen Birgit Hage auf der Kante eines Doppelplatzes mit ausgestrecktem Bein im Gang – das wird der Traktorist Herbert Brunn bei seiner Befragung aussagen. Er kennt die junge Frau vom Sehen her, denn ein Nachbar aus Friesack ist sein Arbeitskollege. An wen sie auf dem Sitz herangerückt ist, kann er nicht beantworten. Auch nicht, ob sie mit ihm in Pessin ausgestiegen ist.
„Warum konnte der keine brauchbare Aussage machen?“
Drei Seiten weiter stand zu lesen, dass Brunn Probleme mit Alkohol gehabt hatte.
„Freitagabend, aha …“
Eine ältere Frau wollte bemerkt haben, dass Birgit Hage bereits am Ortseingang von Friesack den Bus verlassen hatte und auf ein Lokal zusteuerte. Zwei Mädchen widersprachen dem, denn sie waren der festen Meinung, mit ihr zusammen an der Haltestelle Berliner Straße ausgestiegen zu sein. Allerdings verließen dort mindestens zehn Fahrgäste den Bus, es dürfte also ein leichtes Gedrängel gegeben haben. Ein Mann aus dem hinteren Teil hatte sie dann schließlich am Markt aussteigen gesehen, bei näherer Befragung konnte er sich jedoch nicht mal an ihre Kleidung erinnern.
Mit einem Seufzen wurde umgeblättert.
Den folgenden Gesprächsprotokollen war nichts Substanzielles mehr zu entnehmen. In den Darlegungen der Fahrgäste, die bis zur Endhaltestelle in Friesack im Bus geblieben waren, standen nur allzu oft die schleierhaften Worte: … vielleicht, … könnte sein, … habe nicht daraufgeachtet, … bin mir nicht sicher, und so weiter.
Sein Daumen strich vorsichtig über den Rand der dünnen Seiten. Seit sie beschrieben wurden, waren sechsundzwanzig Jahre vergangen.
Papier aus einer anderen Zeit, dachte er. Vergangenheit wie fremdes Leben, so scheint es mir jedenfalls. Vieles von diesem Kapitel DDR ist für mich – selbst in Gedanken – oft gar nicht mehr richtig greifbar.
Er klappte den Hefter zu.
Auf dem Pappdeckel eine Notiz: 12. August 1978, Ermittlungen bis auf Weiteres eingestellt.
Knapp ein Jahr nach dem Verschwinden von Birgit Hage hatten sich die Kriminalisten eingestehen müssen, dass alle Nachforschungen ohne Erfolg geblieben und die wenigen Spuren mittlerweile im Sande verlaufen waren. Das vermisste Mädchen hatte trotz aller Bemühungen nicht gefunden werden können.
„Bis vor kurzem“, murmelte der Mann.
Sein Name war Martin Storm, Hauptkommissar bei der Kriminalpolizeidienststelle in Potsdam, die nach einer Polizeireform vor einem Jahr für den Bereich Havelland zuständig war. Er umfasste auch das flache Land zwischen Nauen und Friesack.
Vor zwei Tagen, am Freitagvormittag, war eine Nachricht auf seinem Schreibtisch gelandet: Die sterblichen Überreste des Mädchens Birgit Hage waren in Berlin gefunden worden. Bei Erdaushebungen für eine Baustelle im Bezirk Lichtenberg.
In Berlin? Konnte das wahr sein?
Wie kam man überhaupt auf eine etwaige Verbindung zu dem alten Fall?
Wenn er es richtig verstanden hatte, lag ein DNA-Abgleich mit dem Probenmaterial der Mutter vor … Alles recht merkwürdig.
Und nun war Martin Storm von seinem Chef dazu auserkoren worden, mit der schmalen Akte von damals nach Berlin zu fahren. Sein Einwand, dass man die Unterlagen doch auch mit der Dienstpost schicken könne, hatte kein Gehör gefunden.
`Schließlich müssen ja Zuständigkeiten ausgelotet werden´, lautete die karge Antwort. `Unter Umständen kommt es auch zu einer gemeinsamen Ermittlung …´
Was Gott verhüten möge!, war der spontane Gedanke Storms gewesen. Die da in Berlin haben ein paar Knochen gefunden, sollten sie sich selber um den Rest kümmern.
Er trank den letzten Schluck seines kalt gewordenen Sonntagkaffees und drehte sich mit einem Grummeln aus dem Sessel. Im Flur verschwand der Hefter in einer abgegriffenen Aktentasche.
Für morgen um 10.00 Uhr war ein Treffen mit den Kollegen aus der … Hauptstadt vereinbart worden.
Er allein mit denen …
Die S-Bahn fuhr von Potsdam aus bis Bahnhof Zoologischer Garten genau eine halbe Stunde, das stand in seinem Fahrplanheft zu lesen. Den Fußweg von dort aus bis zum Landeskriminalamt in der Keithstraße hatte sein Finger mehrmals auf der großen Karte im Konferenzraum erkundet.
Es dürfte nicht schwer zu finden sein, dachte er.
Und mit ein wenig Glück bin ich zum Kaffee wieder zu Hause.
1.
Klaus Schirad schaute einem Eichenblatt hinterher, das der Herbstwind vor dem Fenster über die nasse Scheibe tänzeln ließ. Wie es so an das Glas gedrückt wurde, schienen sich seine runden Ränder daran festhalten zu wollen, um nicht der Schwerkraft ausgeliefert zu werden und schließlich mit vielen gelbbraunen Gefährten unten am Straßenrand in einem Laubhaufen endgültig vom Leben Abschied nehmen zu müssen.
„Träumst du?“ Die vorsichtige Frage seiner Chefin vom Schreibtisch gegenüber riss ihn aus seinen Gedanken.
„Nein …“ Es lag immer noch etwas Fremdes in dem `Du´, auf das sie sich seit einigen Wochen geeinigt hatten. Zögerlich, von seiner Seite aus.
„Septemberblues?“
„Kenne ich nicht. Aber bei diesem kalten Regenwetter muss man ja trübsinnig werden. Und laut Kalender ist ja eigentlich noch Sommer …“
Er wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.
„Herein.“
Ein Mann im sandfarbenen Trenchcoat mit Aktentasche und nassem Schirm in der Hand betrat das Büro. „Ich suche Frau Kriminalinspektorin Schadow …“
Die junge Frau erhob sich und trat ihm entgegen. „Das bin ich.“ Ein flüchtiger Blick auf die Uhr.
„Mein Name ist Martin Storm. Wir waren verabredet …“
Der große Zeiger der Wanduhr bewegte sich in diesem Moment mit einem leisen Ticken auf die höchste Stelle des Stundenrondells.
Sie schüttelte ihm die Hand. „Zehn Uhr, jawohl. Ich hätte Sie fast vergessen.“
Seine schmalen Lippen deuteten ein Lächeln an.
„Nehmen Sie bitte dort an dem leeren Schreibtisch Platz. Wenn ich Ihnen meinen Kollegen, Hauptkommissar Klaus Schirad, vorstellen darf …“
Der Mann nickte leicht in die Richtung.
„Ihren Mantel und den Schirm können Sie an den Garderobenständer hängen. Scheußliches Wetter draußen. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
„Gerne. Danke.“
Sie nahm eine Tasse aus dem Schrank und goss ihm ein.
Klaus Schirads Blick wanderte indessen unauffällig über die Erscheinung des Potsdamer Kollegen. Unter dem Trenchcoat wurde eine flaschengrüne Strickweste sichtbar, welche sich an ihrem Abschluss ein wenig über der Hosenfalte wölbte. Im Kragenausschnitt der Knoten einer grauen Krawatte. Das Gesicht spitz und blass, mit hängenden Wangen, auf denen sich einige Sommersprossen gehalten hatten. Die dunklen Augen darüber allerdings hellwach.
Storm nahm Platz und behielt seine Aktentasche wie ein Kind im Arm.
Ein erneutes Danke, als die Tasse vor ihm abgestellt wurde.
Maria Schadow angelte eine Mappe aus dem Regal, schob sie ihrem Gast hinüber und setzte sich ebenfalls. „Eine Zusammenfassung unserer bisherigen Erkenntnisse. Ich habe Ihnen das Ganze selbstverständlich auch in einer E-Mail nach Potsdam geschickt …“
„Mich würde interessieren, wie Sie so schnell die Verbindung zwischen dem fast dreißig Jahre alten Fall und dem Fund der Überreste herstellen konnten.“
„Das war gar nicht so schwer. Aktuell – also ausgedehnt auf die letzten zehn Jahre – gab es keine vermisste Person, deren DNA dazu passte, die Suche in der bundesweiten Datenbank erbrachte keinen Treffer. Unser hervorragender Gerichtsmediziner Rudolf stellte bei seinen parallel laufenden Untersuchungen allerdings fest, dass die Knochen schon länger als zwanzig Jahre dort im Boden gelegen hatten. Das richtete den Fokus auf eine andere Zeit.“ Ihr Kopf neigte sich in Richtung des gegenüberstehenden Schreibtisches. „Mein Kollege Schirad hat dann zwar einige Tage recherchieren müssen. Aber letztlich wurde er in den DDR-Archiven fündig.“ Sie lächelte versonnen. „Er ist gewissermaßen ein Spezialist für alte … ungelöste Fälle.“
Klaus zog die Lippen zusammen.
„Die Mutter Birgit Hages war wenige Jahre nach dem Verschwinden der Tochter aus Friesack weggezogen.“
Storm nickte.
„Jetzt lebt sie in einem Seniorenheim hier in Berlin. Der Abgleich mit ihrem DNA-Material hat dann den endgültigen Beweis ergeben.“ Maria Schadow öffnete mit einem schnellen Mausklick eine Datei auf ihrem Laptop. „Außer einem Cousin in Schwerin gibt es keine Verwandten mehr, leider. Das wird die Ermittlungen nicht gerade erleichtern …“
„Ähm …“
„Eines konnten wir jedoch herausfinden. Birgit Schade hat für kurze Zeit dort gewohnt.“
Der Kriminalbeamte aus Potsdam runzelte irritiert die Stirn. „… Wo?“
„Entschuldigen Sie meine raschen Gedankensprünge.“ Sie lachte. „Bis Mitte der achtziger Jahre stand auf dem Grundstück, das jetzt bebaut werden soll, ein altes vierstöckiges Mietshaus. Ziemlich marode, sagen zwei ältere Zeugen, die wir bislang ausfindig machen konnten. Ein Paar, das auf derselben Etage wohnte, also gegenüber von Birgit Schade und ihrem damaligen Freund.“
„Freund?“
„Das Mädchen teilte sich mit einem jungen Mann die Wohnung.“
„Zum Zeitpunkt des Verschwindens hatte sie eine feste Beziehung in Pessin!“
„Ich nehme an, dies ist ein Ort im Havelland?“
„Ja. Liegt zwischen Nauen und Friesack.“
„Den Akten konnten wir entnehmen, dass sie in Berlin studierte und nur an den Wochenenden nach Hause fuhr …“
„Richtig. Die Mutter gab ihr Geld für die Miete in einem Studentenwohnheim.“
Maria Schadow zuckte mit den Schultern. „Das hat sie offenbar für andere Dinge verwendet. Stellt sich die Frage, ob ihr Verhältnis in Pessin tatsächlich ernster Natur war.“
„Konnten Sie die Identität des jungen Mannes in Berlin herausbekommen?“
„Nein, noch nicht.“
„Merkwürdige Verhältnisse.“
„Kann man wohl sagen.“ Sie schloss ihr Laptop. „Vielleicht wollen Sie sich jetzt erst einmal den Fundort der sterblichen Überreste anschauen? Wir haben die Baustelle selbstverständlich bis auf Weiteres absperren lassen.“
„Aber …“
„Herr Schirad wird mit Ihnen dorthin fahren. Unterwegs können Sie sich ja über die weiteren Erkenntnisse austauschen.“
Storm zog seinen Hefter aus der Aktentasche. „Ich habe hier die Protokolle von damals mitgebracht …“
„Wunderbar. Die sehe ich mir in der Zwischenzeit an und dann reden wir nachher über alles.“
Klaus erhob sich und nahm seine Jacke von der Sessellehne. „Die Fahrt wird ein Weilchen dauern, hier in Berlin reiht sich ein Stau an den anderen. Keine Planung, überall reißt man gleichzeitig die Straßen auf.“
Der Gast aus Potsdam trank mit nervösem Blick seinen Kaffee aus.
Die Baustelle umfasste ein Areal von etwa fünftausend Quadratmetern. Im Hintergrund war an der Grenze zum Nachbargrundstück, auf dem ein moderner Wohnblock stand, eine breite Grube ausgehoben worden.
„Dort hat man sie gefunden“, klärte Schirad seinen Kollegen auf. „Also, die Knochen meine ich.“
„Ja …“
„Heutzutage schauen die Verantwortlichen beim Erdaushub wohl etwas genauer hin, seit damals diese alte Bombe hochgegangen ist.“
Storm nickte. Er konnte sich an das Unglück erinnern, das noch keine zehn Jahre her war. Bei Bauarbeiten im Stadtbezirk Friedrichshain hatte der Baggerführer eine Weltkriegsbombe zur Detonation gebracht.
„Außerdem werden spezielle Geräte eingesetzt …“
„In welcher Tiefe hat man sie gefunden?“
„… Die Knochen?“
„Ja.“
Klaus zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche. „Exakt hundertdreiunddreißig Zentimeter tief, von der Betonoberfläche des Gehwegs aus gemessen.“
„Wie muss ich mir die damaligen Verhältnisse vorstellen? Wo stand das alte Haus?“
„Direkt hier an der Straße, vor unseren Füßen sozusagen. Es existiert ein unscharfes Foto, ich habe es leider im Büro vergessen.“
„Gab es Seitenflügel oder Hinterhaus?“
„Beide wurden in den letzten Kriegstagen von russischen Granaten getroffen und später abgerissen. Es standen dann nur noch die vier vorderen Etagen nebst Dachboden und Keller. Um den größeren begrünten Hof herum war eine Mauer gezogen worden, mit Durchfahrt zum Müllhaus und zwei Garagen …“
Storm zeigte auf die Grube. „Und dort?“
„An dieser Stelle war ungepflegtes Brachland, auf dem ein paar wilde Büsche wuchsen.“
„Zugänglich für jedermann?“
„Nein, nur für die Bewohner des Hauses. Der Durchgang war stets verschlossen, sagte das von meiner Kollegin erwähnte ältere Ehepaar.“
„Interessant …“
„Auch wenn es nicht unmöglich gewesen sein sollte, über die Mauer zu steigen, grenzt das Wissen um die örtlichen Gegebenheiten den Täterkreis ein.“
„Was aber nach sechsundzwanzig Jahren wohl egal sein dürfte.“
„Tja, da kommt keine leichte Ermittlung auf uns zu …“
„Uns?“
„Wir beide werden eine kleine Sonderkommission leiten, das haben unsere Chefs in der vorigen Woche so beschlossen. Hat man Ihnen das nicht gesagt? Mein Polizeidirektor Größer hat wohl mit Ihrem Vorgesetzten telefoniert.“
„Vorige Woche …“, kam ein leises Murmeln.
„Ja, am Freitagmorgen.“ Schirad hielt seine Hand in den Regen. „Lassen Sie uns wieder ins Auto steigen, ist nicht gerade angenehm hier zu stehen und in diese pfützenbedeckte Sandwüste zu schauen.“
„Nein.“
„Gibt außerdem keinerlei Spuren mehr zu entdecken …“
Das Quietschen einer Straßenbahn, die sich auf der nahen Hauptstraße in die Kurve legte, übertönte seine Worte.
Martin Storm starrte mit schmalen Augen in den Himmel.
2.
Der Mann faltete die aktuelle Ausgabe der Rhin-Nachrichten zusammen und kratzte mit seinem Daumennagel unruhig über die Sesselkante.
Jetzt haben sie sie also doch noch gefunden, dachte er. Was wird geschehen?
Die ermitteln natürlich und rollen den alten Fall wieder neu auf. Klar. Den Zeugen von damals steht eine abermalige Befragung bevor.
Das bedeutet, an einem der nächsten Tage wird es auch hier an der Tür klingeln.
Ich muss alles nochmal genau durchdenken … Gibt es etwas, das mich auch heute noch verraten kann? Nein, eigentlich nicht … Eigentlich …
Vom Nebenzimmer aus war das Streiten von zwei kleinen Jungen zu vernehmen.
In einer ruhigen Minute muss ich die Ereignisse von damals Bild für Bild ablaufen lassen, um nichts zu übersehen und gewappnet zu sein, wenn sie kommen. Vielleicht sollte ich mich vor einen Spiegel stellen und schauen, welchen Eindruck ich bei der Beantwortung einiger Fragen mache … Aber das war sicher etwas übertrieben. Damals haben mir die Kriminalpolizisten aus dem Osten auch jedes Wort geglaubt. Und warum nicht, ich hatte schließlich ein Alibi … Zumindest für die Zeit, um die es ihrer Meinung nach ging. Sie hatten nur einen kleinen Fehler in der Rechnung … Zufällig …
Die Tür wurde geöffnet und ein junges Mädchen spazierte in Leggins und einem dünnen, fast durchsichtigen Top durch das Zimmer auf die Terrassentür zu. Über ihrem Arm hing ein nasses Handtuch.
„Wenn du das bei dem Wetter da draußen aufhängst, trocknet es nie“, knurrte er und sein Blick striff ihre schmale Taille.
Diese jungen Dinger, dachte er.
„Im Bad ist kein Platz mehr“, entgegnete sie.
Aus dem Nebenzimmer ein spitzer Schrei.
„Kümmere dich mal um die Zwillinge! Dieses ewige Gezanke hält ja niemand aus.“
Das Mädchen warf ihr Handtuch nachlässig über die Lehne eines Gartenstuhls und schloss die Tür nach draußen wieder. Dann lächelte sie im Vorbeigehen. „Keine Nerven mehr?“
Sollte das eine Anspielung auf sein Alter sein?
„Ich muss nachher zur Schicht …“
„Bleib locker. Wollte die beiden Hosenscheißer jetzt sowieso in die Küche mitnehmen. Das Essen ist fertig, und Mama muss auch gleich nach Hause kommen.“
„Was gibt es denn?“
„Spaghetti mit Tomatensoße.“
„Schon wieder?“
„Wenn du etwas Besseres essen willst, musst du dich morgen in die Küche stellen.“ Mit diesen Worten verließ sie das Wohnzimmer.
Seine rechte Hand verkrampfte sich um die Zeitung.
In der Eingangstür drehte sich ein Schlüssel. Freudiges Kindergeschrei. „Mama!“
Der Mann legte den Kopf auf die Sessellehne.
Vielleicht ist jetzt wenigstens für ein paar Minuten Ruhe, ich muss schließlich nachdenken. Alle Eventualitäten sind zu beleuchten, man darf sich nie zu sicher sein …
Ein lächelndes Frauengesicht schaute ins Zimmer. „Hallo Liebling!“ Blonde Haare waren an den Spitzen feucht vom Regen. „Alles in Ordnung?“
„Ja …“
„Anika hat das Essen fertig. Kommst du?“
„Gleich. Ich will nur noch schnell … einen Artikel zu Ende lesen.“ Die Zeitung wurde hochgehoben.
„Wenn du nichts dagegen hast, fangen wir schon an.“
„Macht nur.“
„In der Kantine gab es heute nichts Vernünftiges. Ich habe Hunger …“
„Eine halbe Seite, dann bin ich bei euch.“
Sie warf ihm eine Kusshand zu und schloss die Tür. Alle Stimmen verlagerten sich in die Küche und wenig später war nur ab und zu ein weit entferntes Wort zu erahnen.
Es ist mehr Zeit nötig, um die damaligen Ereignisse zu rekapitulieren, dachte er. Heute Abend, wenn ich von der Schicht komme, bei einem Kognak …
Er runzelte die Stirn.
Es gab doch einen unsicheren Faktor: Rutloff …
Wie konnte ich den vergessen?
Ein schwacher Charakter. Dieser Mann konnte jetzt, in diesen anderen Zeiten, zu einer späten Gefahr werden!
Damals hatte er geschwiegen. In gutem Glauben und … aus Angst.
Rutloff …
Ich muss herausbekommen, wo der heute lebt.
Mehrere Personen fielen ihm ein, die eventuell Auskunft geben konnten. Aber Bekannte aus jener Zeit zu fragen, war sicher nicht sehr klug.
Er drehte den Kopf im Nacken.
Andererseits einfach abzuwarten ist zu riskant.
Rutloff darf nicht reden …
*
Je vous salue!
Kein schlechter Anfang für mein neues Tagebuch. Je vous salue - ich begrüße Sie!
Diesen französischen Satz hatte ich als pubertierendes Mädchen auf den Torbogen eines Schlosses geschrieben, das in meiner Zeichenmappe oben auf lag. Darunter Zeichnungen von verwunschenen Orten, an denen ich gern gewesen wäre …
Aber nun ist mein Sehnsuchtsort diese Welt.
Und dafür gibt es einen guten Grund.
Zunächst war es nicht mehr als ein Sommerflirt … Gestern Abend.
Denke ich.
Und schreibe es so dahin in mein neues … Tagebuch. Eigentlich ein kleines Oktavheft, dessen schmale Zeilen jetzt meine Worte füllen.
Das erste Mal, dass ich Gedanken ungelenk auf Papier bringe und dazwischen minutenlang auf dem Stiftende herumkaue.
Warum eigentlich?
Mir ist gerade danach.
Weil ich … verliebt bin? Wer weiß … Verwirrt auf jeden Fall.
Und wem sonst könnte ich diese geheimen Gedanken anvertrauen? Meine beste Freundin Ute macht zur Zeit eine vierwöchige Kur an der Ostsee, ihres Asthmas wegen.
Mama hat ihre eigenen Sorgen, sie wird immer verbitterter.
Ich denke an Jan und bekomme ein schlechtes Gewissen, denn wir verstehen uns eigentlich ganz gut. Wenn wir zusammen sind, Musik aus seinem Kassettenrecorder hören und ich in seinen Armen liege, war es bis jetzt immer ganz schön. Meistens.
Aber seit gestern …
Ich wollte erst gar nicht hingehen auf dieses Fest, für das Studium gab es genug Vorbereitungen zu treffen. Aber wie das eben so ist, im Bus nach Hause sprach mich ein Mädchen an, mit dem ich mal in Friesack zur Schule gegangen bin. Am Samstagabend wäre Tanz in Nauen …
Warum hätte ich auch nicht hingehen sollen? Jan war mit Freunden zum Kartenspielen verabredet, und wie das enden würde, wusste ich. Mit einem schweren Kopf am nächsten Morgen und ein paar dummen Entschuldigungen, es war stets dasselbe.
Sommerfest …
Als ich dem Ordner meine Karte zum Abreißen gab, war der Saal kaum zur Hälfte gefüllt. Ich setzte mich zu meiner ehemaligen Schulfreundin an den langen Tisch und wir bestellten jede ein Glas Rotwein. Das Gespräch über die alten Erlebnisse wollte allerdings nicht recht in Gang kommen.
Hinter unserem Rücken wurde es allmählich voller, die Stühle rückten zusammen und schließlich begann die Musik.
Wie immer dauerte es eine Weile, bis sich die ersten Paare auf die Tanzfläche trauten. Wahrscheinlich mussten die Jungs einige Gläser Bier trinken, um mutig zu werden. Ich schmunzelte innerlich und bestellte einen zweiten Rotwein.
„Würdest du mit mir tanzen?“, hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme neben mir und nahm zunächst gar nicht an, dass diese Frage an mich gestellt worden war. Kurz danach wurden die Worte wiederholt. Ich drehte mich um und sah erstaunt in sein Gesicht. Es kam mir bekannt vor … Ein paar Sekunden später wusste ich auch woher, aber heute sah dieser Mann so … anders aus. In den braunen Augen die stumme Wiederholung der Bitte und vielleicht – kaum zu ahnen – eine merkwürdige Sehnsucht.
Aber bestimmt deute ich in diesen Moment viel zu viel hinein.
„Gerne“, kam meine Antwort ein wenig zögernd und dann schlängelten wir uns durch die Leute, die unentschlossen am Rand der Tanzfläche standen.
Im Rhythmus der Musik fanden wir irgendwann die richtigen Schritte.
Ich spürte zum ersten Mal erstaunt die Kraft seiner Arme.
Und dann seine Blicke, Lächeln, Nähe …
*
Martin Storm setzte sich mit einem leisen Stöhnen an den Küchentisch und trank einen Schluck von dem Bier, das ihm seine Frau hingestellt hatte.
„Ein glücklicher Mensch sieht anders aus“, stellte sie fest, während ihre Hände mit geübtem Griff Petersilienblätter von den Stängeln zupften.
„Da hast du Recht. Der Chef hat mich für die Ermittlungen in dem Mordfall des Mädchens nach Berlin abgeordnet …“
„Oh.“
„… und jetzt bin ich dazu verdammt, zusammen mit den Kollegen dort diese alte Sache tatsächlich vom Grund her neu aufzurollen. Unsere Gruppe nennt man tatsächlich Sonderkommission.“
„Ist das nicht eine Auszeichnung?“
„Mag sein.“
„Eine spontane Entscheidung eurer Vorgesetzten?“
„Von den Berlinern erfuhr ich, dass es auf höherer Ebene bereits vorige Woche beschlossen wurde.“
„Dann ist es keinesfalls korrekt von deinem Chef, dich nicht informiert zu haben.“
„Du sagst es.“ Er nahm einen weiteren Schluck Bier.
„Sind sie nett?“
„Wer?“
„Deine neuen Kollegen.“
Ein verhaltenes Brummen. „Die Chefin dieser Mordkommission, eine erstaunlich junge Frau um die Dreißig, mit Piercing in der Nase, schon. Aber der Hauptkommissar, jenseits der Fünfzig, mit dem ich nun wohl hauptsächlich jeden Tag die wenigen Erkenntnisse von damals durcharbeiten soll, ist ein arroganter Flegel. Stell dir vor, er wollte sich im Auto eine Zigarette anzünden, als wir auf dem Rückweg vom Fundort waren.“
„Hast du …?“
„Selbstverständlich.“ Storm hob den Kopf. „Die beiden scheinen übrigens ein ganz merkwürdiges Verhältnis zu haben.“
„Wie meinst du das?“
„Obwohl er der Dienstältere ist, trifft sie ausnahmslos alle Entscheidungen, welche von ihm auch kritiklos hingenommen werden.“ Ein Fingerknöchel rieb über das beschlagene Bierglas. „Einige Male schien es mir sogar, als würden sich hinter ihren Worten versteckte Anspielungen auf irgendein Ereignis verbergen, das noch nicht allzu lange zurück liegen kann.“
„Interessant.“ Sie schüttete Spirelli-Nudeln in ein Sieb und ließ kaltes Wasser darüber laufen. „Ein Geheimnis?“
„Ich würde darauf tippen, dass er sich etwas zu Schulden kommen lassen hat.“ Storm reckte die Nase in Richtung Herd. „Es würde mich jedenfalls nicht wundern.“
„Ein Dienstvergehen?“
„Das liegt nahe.“
„Vielleicht hat er so eine Art Bewährung.“
„Dafür ist sein Auftreten wiederum zu … unbeschwert.“
„Inwiefern?“
„Wie soll ich es sagen? Außerhalb ihrer Blicke ist er der selbstbewusste Polizist mit einem Vierteljahrhundert Diensterfahrung, dem Jüngere nichts zu erklären haben. Klaus Schirad – so heißt dieser Mann – ist alles andere als ein reumütiger Sünder.“ Er leckte sich mit der Zunge kurz über die Lippen. „Aber nun verrate mir doch mal, was es zu essen gibt.“
„Meine Mutter hat heute Vormittag eines ihrer Hühner geschlachtet. Da dachte ich, Brühnudeln wären genau das Richtige an einem solch regnerischen, kalten Abend.“
„Eine fabelhafte Idee.“
Sie füllte die Teller und gab die Spirellis hinein.
Sein Blick wurde rund.
„Meinst du, ihr werdet nach so langer Zeit noch herausfinden, wer das Mädchen ermordet hat?“
„Es wird sehr schwer werden. Zeugen erinnern sich mit einem Abstand von über zwanzig Jahren an alles Mögliche, nur nicht an die Wahrheit. Da ist unser Gespür gefragt.“
„Erkennt man heute noch die Lüge?“
„Möglich, aber natürlich ungleich schwerer als damals. Denn der Täter hat sich mit seiner Schuld arrangiert, sie ist Teil seines Lebens geworden.“
„Eine große Verantwortung für euch.“
„Die sich glücklicherweise auf mehrere Schultern verteilt.“
„Sei froh.“
„Hm …“
Die Teller wurden auf den Tisch gestellt. „Möchtest du noch ein Bier zum Essen?“
Er spitzte die Lippen. „Ja, ich glaube, eines kann ich mir noch genehmigen.“
Das Glas wurde wieder gefüllt.
„Die besten Stunden des Tages“, sagte er mit wohlig tiefer Stimme und steckte sich eine Stoffserviette hinter den Krawattenknoten.
Über die Teller wurde frische Petersilie gestreut.
„Ich liebe dich.“
Christine Storm setzte sich. „Ich liebe dich auch.“ Sie sah ihren Mann zärtlich an.
3.
Pünktlich zum Beginn der Sieben-Uhr-Morgennachrichten im Radio klopfte es an die Tür des Büros. Maria Schadow war gerade damit beschäftigt, einen Nähfaden mit den Zähnen zu durchtrennen.
„Hrrrrr …“ Leise und knurrend.
Keine Reaktion.
Sie wartete einen Moment, dann galt ihre Aufmerksamkeit wieder dem Faden.
Nachdem er erstaunlich rasch durch das Nadelöhr geglitten war, setzte sich Maria Schadow auf die Tischkante, rollte ihren Pullover bis kurz unter die Brust hoch und nähte einen Knopf an den Gürtelsaum der Jeans.
Es klopfte erneut.
„Ja, bitte.“
Die Klinke wurde heruntergedrückt.
Martin Storm blieb erschrocken in der Tür stehen. „Verzeihung.“
„Kein Problem. Kommen Sie rein.“
„Wenn Sie erstmal …?“
„Bin fast fertig.“
„Ich kann auch draußen warten …“
„Sie haben nicht zufällig eine Schere bei sich?“
„Doch.“
„Wunderbar. Der Faden müsste hier über dem Knopf abgeschnitten werden.“
Er schluckte und öffnete seine Aktentasche. „Ein Maniküre Set …“
„So etwas tragen Sie mit sich herum? Es soll noch jemand behaupten, Männer wären nicht eitel.“
„Eitel? Das kann ich von mir gewiss nicht sagen, aber man weiß ja nie, ob es mal gebraucht wird.“ Eine Nagelschere wurde hervorgezogen.
Ihre Finger prüften in der Zwischenzeit den Sitz des Knopfes und für wenige Sekunden blitzte der Rüschenrand schwarzer Unterwäsche aus der offenen Jeans hervor. „Zu viele Kalorien in den letzten Wochen …, oder meine Hose ist seltsamerweise enger geworden“, scherzte sie.
Storm stellte seine Aktentasche umständlich auf den Boden und reichte ihr die Schere, während sein Blick irgendeinen Punkt im Zimmer suchte.
In diesem Moment betrat Klaus Schirad das Büro. „Guten Morgen …“
Über sein Gesicht huschte ein Grinsen. „Freut mich, dass ihr euch schon näher gekommen seid.“ Er warf seine Jacke achtlos über die Sessellehne.
Maria Schadow knöpfte sich ihre Jeans zu und rollte den Pullover herunter. „In manchen Situationen ist es besser, gar nicht hinzuhören, was er sagt.“ Sie gab ihrem Potsdamer Kollegen die Schere zurück.
Storm klappte sein Maniküre Set zu und stand dann etwas hilflos im Raum.
„Für die Dauer unserer Zusammenarbeit können Sie den freien Schreibtisch dort nutzen. An dem saß bis Anfang des Sommers eine Kollegin, die jetzt im Schwangerenurlaub ist.“
„Danke …“
Während er die Position seines neuen Sitzplatzes korrigierte, sah sie mit einem Lächeln zu ihm hinüber. „Wenn Sie nichts dagegen haben, könnten wir auch Du zueinander sagen. Es lockert die Atmosphäre ein wenig auf.“
„Ja, das wäre …“
„Mich nennen hier alle Mascha. Fast alle.“
„Angenehm, Martin.“ Ein Kopfnicken.
Schirad schob belustigt einen Pfefferminzbonbon von einer Mundhälfte in die andere. „Dann ist ja so gut wie alles geklärt“, kommentierte er.
Der Gesichtsausdruck von Maria Schadow bekam etwas Gemessenes, ihr Blick drehte sich zum gegenüberstehenden Schreibtisch. „Freut mich.“
Stummes Kopfheben.
Zwei Augenpaare trafen einander ohne zu Zwinkern für einige Sekunden.
„Habt ihr euch gestern schon über den weiteren Ablauf verständigt?“, fragte sie schließlich.
„Um acht Uhr findet ein erstes Zusammentreffen aller Mitarbeiter der Sonderkommission im Konferenzraum statt. Die entsprechende Mail habe ich dir gestern Abend noch geschickt.“
„So? Vielleicht war ich schon im Land der Träume …“
„Danach werden Martin und ich unserem Gerichtsmediziner Rudolf einen Besuch in seinen Katakomben abstatten, um den Stand der pathologischen und kriminaltechnischen Untersuchungen zu erfahren und hoffentlich zu hören, wie Birgit Hage damals zu Tode kam.“
„Hereinspaziert in den Zwischenhimmel der ewigen Ruhe“, begrüßte ein untersetzter Herr in weißem Kittel, unter dessen Kragen eine Fliege hervorschaute, die Kriminalisten. „Frau Schadow hat mir Ihren Besuch schon angekündigt.“
Schirad drehte seine Hände leicht nach beiden Seiten. „Wenn ich vorstellen darf: der gerichtsmedizinische Professor …“
„Nur nicht so förmlich.“
„… und Herr Hauptkommissar Storm aus Potsdam.“
Der Pathologe trat näher. „Storm? Interessant. Verwandte an der Nordseeküste?“
Ein irritierter Blick. „Nein.“
„Wäre ja auch Zufall …“
„Wir sind wegen dem Mädchen Birgit Hage hier“, brummte Klaus.
„Ah ja, Ihre Chefin erwähnte es. Folgen Sie mir zu dem Tisch dort hinten.“ Er ging zu einer Bahre, deren weißes Laken darüber sich nur an wenigen Stellen leicht erhob. „Viel mehr als ein paar Knochen und der Schädel sind ja nicht gefunden worden. Wollen Sie alle Teile sehen?“
„Nein danke. Uns interessiert …“
Der Gerichtsmediziner Rudolf strich mit den Fingern über eine Rundung unter dem Stoff. „Mir ist, als ob ich die Hände aufs Haupt dir legen sollt, betend, dass Gott dich erhalte.“
Storm runzelte die Stirn.
„Ein so junges Leben …“
„Wie ist dieses Mädchen damals zu Tode gekommen?“
„Genickbruch.“
Es herrschten einige Sekunden Stille, in denen die Kriminalisten wohl hofften, dass der Feststellung des Professors so etwas wie eine Erklärung folgen würde.
Der schwieg jedoch und zog das Laken glatt.
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Schirad schließlich.
„Erfahrung.“
„Das ist mir schon klar, aber Ihre Theorie muss doch …“
„Mein lieber Herr, ich speise hier niemanden mit Hypothesen ab.“
„Es sollte keine Kritik sein, wir würden allerdings gerne etwas mehr als nur ein Wort hören.“
„Nun gut, ich werde den Vorgang für Sie zum besseren Verständnis demonstrieren.“ Rudolf griff ins Regal über der Bahre und zog das Ladekabel eines Handys hervor. „Stellen Sie sich vor, dies wäre ein Strick.“ Er nahm die beiden Enden, legte einen Knoten und streifte sich das Kabel über den Hals. „Wenn ich die Schlinge zuziehe, drückt die Schlaufe auf den Halswirbel und mit entsprechender Gewalteinwirkung kommt es zur Fraktur desselben.“
„Dafür musste der Mörder aber einiges an Kraft aufwenden, oder?“
„Allerdings, erhebliche Kraft. Vorstellbar ist, dass er dabei mit einem Fuß auf dem Hals des Opfers stand.“
„Und einen solchen Bruch des Vertebra cervicalis konnten Sie nach so langer Zeit feststellen?“, fragte Storm dazwischen.
„Die entsprechenden Knochenränder sind erhalten geblieben, es gibt also keinen Zweifel.“ Ein anerkennendes Lächeln. „Die Polizeibeamten aus Potsdam scheinen ihren Berliner Kollegen zumindest in puncto Anatomiegrundlagen um einiges voraus zu sein.“
Schirad verdrehte die Augen.
„Haben Sie bei Ihren Untersuchungen sonst noch etwas Außergewöhnliches entdeckt?“
„Nein. Birgit Hage war eine normal entwickelte junge Frau, etwa Eins sechzig groß und von eher schlanker Statur. Die labortechnischen Untersuchungen ihrer Knochen brachten keine Auffälligkeiten ans Licht.“ Rudolf übergab den Kriminalisten einen Hefter. „Hier steht alles drin.“ Er wandte sich noch einmal der Bahre zu. „Das Gebiss ist ziemlich gut erhalten, ein oberer Zahn – der 16er – über dem Zahnfleisch abgebrochen. Und sie hatte mal eine Unterarmfraktur rechtsseitig, das wäre das Einzige, was vielleicht erwähnenswert ist. Im Pubertätsalter …“
Storm holte Luft, um eine Frage zu stellen, unterließ es dann jedoch und kratzte sich stattdessen an der Nase.
„Tja, meine Herren Hauptkommissare, meine Ausführungen werden Sie sicher nicht befriedigen. Tut mir leid, dass ich nicht mehr zu bieten habe. Aber nach all den Jahren unter der Erde hat die Natur eben sämtliche Spuren aufgelöst. Würmer und Maden sind unersättlich, was Weichteile angeht. Der Verwesungsprozess eines menschlichen Körpers hat deutlich mehr Eile als seine Entstehung – mit letzterem meine ich die Zeit von der Zeugung bis zur Geburt.“
„Welche sonst?“, raunte Klaus.
„Der Leib lag auf der Totenbahr, jedoch die arme Seele war, entrissen irdischem Getümmel, schon auf dem Wege nach dem Himmel.“
„Haben Sie vielen Dank dafür, dass Sie uns eine halbe Stunde Ihrer kostbaren Zeit opfern konnten.“
„Bitte …“ Der Pathologe korrigierte den Sitz seiner schief sitzenden Fliege.
Auf dem Weg zu den nächsten Zeugen, mit denen sie verabredet waren, hielt Schirad an einem Imbissladen. „Hier gibt es lecker frittiertes Hähnchen mit Knoblauchsoße und Rettich.“
„Oh, ich habe gar keinen Hunger …“
„Es ist fast 13.00 Uhr.“
„Mein Frühstück war ausreichend.“
Klaus drehte sich zu seinem Kollegen. „Du bist doch nicht etwa Vegetarier oder so etwas?“
„Nein.“
„Dann komm und iss wenigstens eine Kleinigkeit. Ich spendiere.“
Sie stiegen aus dem Auto, das schräg auf dem Bürgersteig geparkt war.
Storm bestellte sich eine halbe Portion Pommes frites ohne alles.
Auf dem Teller seines Berliner Kollegen landeten etliche panierte Geflügelstücke mit viel Soße neben einem Berg Gemüsesalat, dessen Bestandteile nicht zu definieren waren. „Was dagegen, wenn ich mir dazu ein kleines Bier genehmige?“
„Nein …“
Als sie sich dann an einem Stehtisch gegenüberstanden, fragte Schirad zwischen den ersten Bissen: „Glaubst du wirklich, dass wir den Fall lösen können?“
„Es wird sehr schwierig …“
„Optimist.“ Die Bierbüchse wurde mit einem lauten Knacken geöffnet. „Prost darauf!“
Storm hob seine Wasserflasche. „Immerhin gibt es neue Ansätze.“
„Welche denn?“
„Die sterblichen Überreste.“
„Wie hilfreich die Untersuchungsergebnisse sind, hast du ja eben selber von unserem verrückten Pathologen gehört.“
„Du denkst, er ist verrückt?“
„Ganz offensichtlich! Der Mann hat im Laufe der Jahre zu viel Formaldehyddämpfe eingeatmet, oder die ewige Stille in seinen Sektionssälen schlägt ihm mittlerweile aufs Gemüt.“
„Was sind das eigentlich für … Verse, die er da ständig rezitiert?“
„Eine ehemalige Kollegin erklärte mir bei einem früheren Besuch dort in der Gerichtsmedizin, es wären Texte von Heinrich Heine. Alter deutscher Dichter von Anno dazumal.“
„Heine …“
„Ich sage ja, der Typ ist nicht ganz dicht.“
Martin Storm kaute bedächtig auf einem Kartoffelstäbchen. „Zurück zum Fall. Ein weiterer Ansatz ist der Fundort …“
„Damit zumindest hast du Recht. Denn daraus ergeben sich gleich mehrere Fragen: Weshalb wohnte sie zeitweise dort? Wer ist der Mann, mit dem sie dort zusammenlebte, obwohl es einen Freund in Pessin gab?“ Er schob sich ein Stück knuspriges Hähnchen in den Mund. Und nach einem Schmatzen: „Nicht zuletzt die Frage: Warum werden die Knochen von Birgit Hage dort auf diesem Baugrundstück in Berlin gefunden, während das Mädchen doch letztmalig in einem Linienbus zwischen Nauen und Friesack gesehen wurde?“
„Eines scheint festzustehen, sie kannte ihren Mörder.“
„Davon bin ich auch überzeugt …“
„Es ist jemand, der im Bus saß.“
„Oder an irgendeiner Haltestelle auf sie wartete.“
„Das Mädchen könnte ihn nach dem Aussteigen auch zufällig irgendwo getroffen haben.“
„Unwahrscheinlich. Ich denke, er wusste, dass sie mit diesem Bus fährt.“
„Nun ja, Birgit Hage kam immer um dieselbe Zeit aus Berlin, jeden Freitag …“
„Siehst du.“ Schirad trank einen Schluck Bier und rülpste dezent. Über dem Tisch breitete sich der Geruch von Knoblauch, Rettich und Alkohol aus. „Aber Mutmaßungen bringen uns nicht weiter.“
„Thesen befördern das Denken.“
„So?“
„Sie lassen uns auch in andere Richtungen schauen.“
„Ja ja, die moderne Kunst des kriminalistischen Weitblicks.“ Die Gabel stach resolut in den Salat. „Mit mir hast du leider einen Partner der alten Schule erwischt. Fakten sammeln und auswerten lautet meine Devise.“
Martin Storm starrte auf die bunte Gemüsebeilage seines Kollegen. „Wie nennt man diese … Mischung?“
„Kimchi. Bin kein Fan von Grünzeug, aber das hier kann man wirklich essen.“ Ein Grinsen. „Ich glaube, da kommt alles rein, was in der Küche an Gemüse gerade zu greifen ist.“
Der Teller mit den Pommes frites wurde in die Mitte geschoben. „Hast du einen Plan, wie wir weiter vorgehen sollen?“
„Nachdem unsere fleißigen Kollegen heute hoffentlich herausbekommen haben, wie viele Zeugen von damals noch existieren, werden wir die Adressen abklappern und mit den Leuten reden. Du könntest ja dabei das Havelland übernehmen …“
„Ich möchte, dass wir alle gemeinsam befragen.“
Schirad wischte sich mit dem Handrücken einen Rest Knoblauchsoße vom Kinn. „Diese Vorgehensweise kostet uns aber mehr Zeit.“
„Darauf kommt es nach fast dreißig Jahren nicht mehr vordergründig an, oder?“
Ein verdrießliches Kopfschütteln, dann wurde der letzte Schluck Bier ausgetrunken.
Der Mann lag im Bett und dachte noch einmal über die weiteren Schritte nach. Zunächst mussten alle Telefonbücher durchforstet werden.
Eine Suche im Internet konnte vielleicht auch hilfreich sein. Aber wo …
Anika hatte in ihrem Zimmer einen Computer.
Jetzt am frühen Vormittag, wo alle außer Haus waren, würde ihn niemand stören …
Ein Blick in die Datenwelt seiner Stieftochter war sicherlich auch sehr aufschlussreich. Wie ein Tagebuch, dem sie ihre pubertären Liebesabenteuer und Sehnsüchte anvertraute. Wer weiß, was er da so alles zu lesen bekam.
Der Mann stöhnte gequält auf und schlug die Decke zurück.
Ich darf die Zeit nicht vergessen!
Rutloff …
*
Er stand am Ende des Bahnsteigs neben dem Ausgang und wartete.
Auf mich!
Dieser große, kräftige Mann mit der merkwürdigen Sehnsucht in seinen Augen wartete auf ein Mädchen, das eben noch ernsthaft überlegt hatte, ob es überhaupt aus dem Zug aussteigen, oder ganz einfach sitzenbleiben und nach Nauen zurückfahren sollte. Ein Mädchen, das keinerlei Erfahrungen mit eben jenem Teil des Lebens hatte.
Er lächelte mir entgegen. „Schön, dass du gekommen bist.“
„Warum sollte ich nicht?“ Die beabsichtigte Keckheit im Unterton dieser Worte starb, bevor sie zu leben begonnen hatte.
Sein Arm legte sich wie selbstverständlich um meine Schultern und so traten wir hinaus auf die Straße. Die Sonne begrüßte uns mit einer verheißungsvollen Wärme.
„Worauf hast du Lust an diesem schönen Nachmittag?“, fragte er.
Ein wenig gekünstelt, fand ich. Aber wahrscheinlich war er ebenso aufgeregt.
„Was können wir denn machen in Falkensee?“
„Nicht weit von hier gibt es ein kleines Café …“
„Du kennst dich aus?“
„Ein wenig.“
„Dann bin ich nicht die Erste, mit der du hier bist?“
Er nahm den Arm von meiner Schulter und streckte zwei Finger in die Luft. „Ich schwöre …“
„Meine Mutter hat mir gesagt, ich soll mich vor genau solchen Schwüren in Acht nehmen.“
„Eine kluge Frau, deine Mutter.“
Wir standen uns dicht gegenüber und ich spürte den Hauch seines Atems. Nicht unangenehm.
Und wieder dieser sehnsuchtsvolle Blick.
Für mich.
*
Martin Storm ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und streckte die Beine aus.
„Schwerer Tag?“, fragte seine Frau.
„Wie man´s nimmt. Viel Arbeit und noch mehr neue Eindrücke.“
„Gute?“
Er überlegte kurz. „Überwiegend … Die meisten Kollegen sind sehr nett …“
„Aber?“
Ein Lächeln. „Du hörst jeden Zwischenton, nicht wahr?“
„Ich bin deine Frau.“
„Mit diesem Schirad komme ich nicht klar. Seine überhebliche Art ist einfach unangenehm.“
„Hast du ihm das gesagt?“
Storm schüttelte den Kopf.
„Möchtest du ein Bier?“
„Gerne.“
Als seine Frau das Glas füllte, schaute er nachdenklich zu und sagte schließlich: „Ich glaube, der Mann hat ein Alkoholproblem …“
„Wie kommst du darauf?“
„Heute Morgen, als er ins Büro kam, war es deutlich zu riechen – trotz Pfefferminzbonbons. Und dann …“
„Ja?“
„Mittags hielten wir an einem Imbiss. Da bestellte er sich zum Essen ein Bier!“
„Du hast ihn doch sicher auf die Dienstvorschriften hingewiesen?“
„Nein.“ Er schüttelte wiederum den Kopf.
„Es wäre deine Pflicht gewesen …“
„Sicher. Aber ich muss die nächsten Wochen mit diesem Kerl zusammenarbeiten. Und ich wünsche mir nur eines: dass die Zeit so schnell und problemlos wie möglich vorbei geht.“
„Das kann ich verstehen.“ Christine Storm lüftete den Deckel eines Topfes auf dem Herd. „Hoffentlich hast du trotz Imbiss noch Appetit auf mein Essen?“
„Allemal! Mehr als ein paar Pommes frites habe ich dort ohnehin nicht hinunterbekommen.“
„Gut.“
„Was gibt es heute?“
„Einfache deutsche Küche …“
„Du glaubst nicht, wie froh ich bin, das zu hören.“
„… Kohlrouladen.“
Mit seligem Ausdruck in den Augen trank er einen Schluck Bier.
„Wenn ich auf euren Fall zu sprechen kommen darf: konntet ihr denn neue Erkenntnisse gewinnen?“
„Das Mädchen wurde erdrosselt, erklärte uns der Gerichtsmediziner. Ein ziemlich skurriler Mensch übrigens. Stell dir vor, er rezitiert zwischen den Sektionstischen Gedichte von Heinrich Heine!“
Vom Herd aus war ein leises Kichern zu vernehmen.
„Verrücktes Berlin.“
„Habt ihr schon eine ungefähre Ahnung, mit wie vielen Zeugen ihr jetzt noch reden könnt?“
„Sogar sehr genau: insgesamt siebenundzwanzig.“
„Das ist weniger als die Hälfte der Leute, die an jenem Abend in dem Bus mitgefahren sind.“
„Du sagst es.“ Ein weiterer Schluck. „Einige davon sind auch schon jenseits der Achtzig, da ist wohl kaum etwas Konkretes zu erwarten.“
„Mitunter funktioniert das Langzeitgedächtnis bei älteren Menschen erstaunlich gut. Nur bei Dingen, die sie vor fünf Minuten getan haben, hakt es.“ Christine Storm rührte mit einem Holzlöffel in der Soße und leckte ihn dann genüsslich ab.
„Mag sein. Es wird jedenfalls nicht leicht.“
„Vielleicht solltet ihr sie nach Haltestellen ordnen …“
Er hob den Kopf. „Wie meinst du das?“
„Nun ja, eine Liste mit den Dörfern, die der Bus angesteuert hat. Und jeder Zeuge wird zunächst an dem Punkt aufgeführt, an dem er ausgestiegen ist.“ Sie ließ den Holzlöffel auf ihrer Unterlippe wippen. „Eure Gespräche konzentrieren sich dann genau auf diesen Moment …“
„Den des Aussteigens?“
„Exakt. Folgende Fragen könnten sogar mehrmals wiederholt werden: Stiegen außer Ihnen noch andere Personen aus dem Bus? Wenn ja, können Sie sich an Geschlecht, Statur oder Kleidung erinnern? Jung oder alt? Hat an der Haltestelle jemand gewartet? Ein Mann, eine Frau? Gibt es Dinge, die Sie vielleicht nur aus dem Augenwinkel heraus gesehen haben? Schatten, Bewegungen … Und so weiter.“
„Du denkst, man könnte auf diese Weise erstmal versuchen herauszubekommen, wo das Mädchen nicht ausgestiegen ist?“
„Ja. Warum konnte damals niemand diesbezüglich eine klare Aussage machen?“
„Die Befragungen sind wohl nicht optimal gelaufen.“
„Jedenfalls müsste der Radius für alle weiteren Ermittlungen so weit wie möglich eingeengt werden …“
„Das haben die 1977 auch schon gemacht.“
„Einer Lösung sind sie damit allerdings nicht nahe gekommen.“ Christine Storm legte den Löffel beiseite und goss die Kartoffeln ab. „Ich stell mir vor, dass ihr die Aussagen von damals und heute wie eine Art … Blaupause übereinanderlegt und euch anschließend die Differenzen genauer anschaut.“
„So werden wir es machen. Du bist eine kluge Frau.“
„Danke.“ Sie streute ein paar Kümmelkörner in die Soße, nahm den Löffel und rührte um. „Noch ein Bier?“
„Das Glas ist halb voll.“
„Erzähl mal von den anderen Kollegen.“
„Sie sind alle ziemlich jung, ich bin mit ihnen kaum ins Gespräch gekommen.“
„Und die Chefin? Hast du sie näher kennengelernt?“
„Sie trägt schwarze Spitzenunterwäsche …“
Der Löffel stockte im Umrühren. „Woher weißt du das?“
Storm berichtete von der Begebenheit am Morgen.
„… Mit offener Hose …? Und just in der Situation ist dieser … Schirad hereingekommen?“
„Leider. Sein Grinsen war so breit wie ein Regenbogen.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Sie nahm zwei Teller aus dem Schrank. „Wie hat denn die junge … Dame darauf reagiert?“
„Humorvoll. Ich glaube, es machte ihr nichts aus.“
„Tss.“ Die Kohlrouladen wurden von einem Meter Bindfaden befreit. „Auf Autorität legt sie wohl keinen großen Wert?“
„Ihr ist ein gutes Team, in dem man respektvoll miteinander umgeht, anscheinend wichtiger.“
„Da passt dieser Schirad aber gar nicht hinein …“
„Wenn ich es richtig verstanden habe, gehört er erst seit kurzem dazu.“
„Strafversetzt?“
„Das könnte ihr merkwürdiges Verhältnis erklären …“
Christine Storm stellte die Teller auf den Tisch. „Lass es dir schmecken.“
Er lockerte seine Krawatte um eine Fingerbreite und steckte den Zipfel der Stoffserviette dahinter. „Ich liebe dich.“
Ihre Hand berührte kurz seinen Arm. „Ich dich auch.“
4.
Der kommende Morgen sah ein Team von acht Kriminalbeamten der Sonderkommission im Konferenzzimmer zusammenkommen. Vier Frauen und vier Männer.
Eine paritätische Angelegenheit, dachte Schirad und ließ sich an der Stirnseite des Tisches nieder. Ob das von oben so gewollt war?
Maria Schadow hatte sich entschuldigen lassen, sie war auf dem Weg zu einer sogenannten Leitungsrunde im Polizeipräsidium.
Die überwiegend jungen Kollegen breiteten ihre Unterlagen auf dem Tisch aus, stellten Kaffeebecher daneben und tauschten kurz die Erlebnisse des gestrigen Abends aus. Kino, Party, Zweisamkeit auf der heimischen Couch. Es wurde über einige frivole Scherze gelacht.
Klaus sah seinen Kollegen aus Potsdam fragend an, aber als der keine Anstalten machte, das Wort zu erheben, tippte er mit der Spitze seines Kugelschreibers auf den Tisch. „Guten Morgen allerseits. Ich hoffe, ihr seid ausgeruht, so dass wir mit Elan und Engagement in den zweiten Tag der Ermittlungen starten können.“
Was rede ich da?
„Zunächst sollten alle auf den gegenwärtigen Stand gebracht werden. Die Kollegen, die gestern bis in den Abend hinein Akten gesichtet, Zeugenadressen abgeglichen und aktualisiert haben, teilen uns dazu bitte ihre Erkenntnisse mit.“
Ein kurzer Moment des Schweigens, dann hob eine Mitarbeiterin am Tischende ihre Hand. „Ich könnte anfangen …“
Schirad nickte ihr zu. „Stell dich für unseren Potsdamer Kollegen bitte kurz vor.“
Sie fuhr sich etwas nervös durch die blonde Kurzhaarfrisur. „Mein Name ist Karoline Steffens, 2. Mordkommission. Also, … wie wir gestern im Laufe des Tages schon in Erfahrung bringen konnten, gibt es bislang insgesamt siebenundzwanzig Zeugen, von denen die aktuellen Wohnanschriften bekannt sind, und die für unsere Ermittlungen wichtig sein könnten. Einundzwanzig davon fuhren damals mit dem Bus von Nauen nach Friesack. Dazu kommt ein Ehepaar, das in dem Haus in Lichtenberg auf derselben Etage mit Birgit Hage und ihrem … Freund, oder was immer er war …“
„Kennen wir mittlerweile dessen Identität?“, fragte Schirad dazwischen.
„Nein, aber die Suche in den ehemaligen Melderegistern läuft. Ich schätze, im Laufe des Vormittags werden wir es wissen.“
„Gut. Weiter.“
„Ferner konnten wir zwei Kommilitoninnen ausfindig machen, die sich für kurze Zeit ein Zimmer im Studentenheim mit Birgit teilten. Mit beiden habe ich nachher einen Gesprächstermin vereinbart.“
Klaus streckte seinen Daumen anerkennend in die Höhe.öhe
„Dazu kommen zwei Personen, die auch heute noch in Friesack wohnen: ein ehemaliger Lehrer und ihre beste Schulfreundin …“
„Wird uns der Besuch bei denen weiterbringen?“
Die junge Kollegin schob eine einzelne rot eingefärbte Haarsträhne hinter das linke Ohr. „Mit beiden hatte sie bis kurz vor diesem bewussten Tag im Oktober 1977 noch regelmäßig Kontakt.“
„Als ich meine Schule verließ, wünschte ich mir, die Lehrer niemals wiedersehen zu müssen.“
Ein verhaltenes Lachen von der anderen Seite des Tisches.
„Zu diesem …“, die Kollegin blätterte eine Seite vorwärts, „Herrn Lohmann hatte Birgit Hage wohl ein besonderes Verhältnis.“
„Was für eines?“
„Sie tauschte sich mit ihm über Literatur aus. Die erwähnte Schulfreundin berichtete mir gestern am Telefon, dass Birgit ihrem Lehrer wohl ab und zu einige selbstverfasste Gedichte gezeigt hat.“
„War sie verliebt in ihn?“
Ein stirnrunzelnder Blick. „Keine Ahnung.“
Martin Storm räusperte sich. „Wie viele der Zeugen wohnen außerhalb von Berlin, also im Havelland?“
Die Kollegin blätterte weiter vor. „Wir haben zehn Personen in Friesack, zwei in Pessin, einen in Paulinenaue, sieben in Nauen, eine in Birkenwerder und der Rest in Berlin.“
Er nickte, als wäre ihm etwas bestätigt worden.
„Mit der Mutter von Birgit Hage habe ich gestern gesprochen, … also es zumindest versucht. Die Frau leidet unter fortgeschrittener Demenz, erklärten mir die Pflegekräfte im Seniorenheim. In einigen Momenten hielt sie mich für ihre Tochter, als die Sprache auf Birgit kam. Eine weitere Befragung ist demzufolge sinnlos.“
Es folgten kurze Erläuterungen zu den heutigen Lebensumständen der Zeugen, soweit diese ermittelt werden konnten.
Eine fleißige Mitarbeiterin, dachte Schirad und musste sich eingestehen, dass er sie kaum kannte.
Obwohl wir seit dem Sommer in derselben Mordkommission Dienst tun, haben wir noch nie mehr als drei, vier Worte miteinander gewechselt.
Er musterte sie unauffällig.
„… die Hälfte der Zeugen ist im Ruhestand …“
Wie alt mochte sie sein? Fünfundzwanzig? Das Gesicht hatte fast etwas mädchenhaftes mit einer Stupsnase neben weichen Wangen. Und darüber diese strubbeligen Haare, die aussahen, als wären sie von jemandem mit verbundenen Augen geschnitten worden. Für den Bruchteil eines Moments schien es ihn an irgendetwas zu erinnern.
„Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen.“
„Wie? … Äh …“ Schirad brauchte ein paar Sekunden, um in die Gegenwart zurückzufinden. „Danke, Karoline. Das war sehr aufschlussreich.“
Sie schob ihm und Storm Kopien mit den Namen der Zeugen über den Tisch.
„Es liegt sehr viel Arbeit vor uns, wie ihr ahnt. Daher wäre es nicht schlecht, wenn wir etwas System in die Ermittlung bringen …“
Sein Potsdamer Kollege holte gerade Luft, als sich ein junger Mann meldete.
„Bitte.“
„Mein Name ist Max Reimann, abgeordnet von der sechsten Mordkommission. Ich habe gestern auch ein Duplikat der Akte aus den siebziger Jahren bekommen und mich – wie wohl alle – zunächst mit den Fakten vertraut gemacht.“ Er zog den Ärmel eines blütenweißen Hemdes glatt. „Da kam mir eine Idee … Vielleicht werdet ihr darüber schmunzeln …“
„Keineswegs“, winkte Schirad ab.
Ich bin froh, wenn ihr jungen Leute euch nicht über mich lustig macht, dachte er.
„Gestern Nachmittag … fuhr ich spontan mit dem Regionalzug nach Nauen. Meine Absicht war, die Busfahrt nach Friesack noch einmal … nachzuerleben. Mit der Akte in der Hand … Zugegeben, eine etwas außergewöhnliche Aktion …“
„Ich finde es ganz und gar nicht lächerlich“, meinte Martin Storm. „Einen ähnlichen Gedanken hatte ich auch schon. Zunächst mal, um herauszufinden, bis zu welcher Station das Mädchen noch im Bus war.“
„Auf jeden Fall bis Pessin“, kam die abrupte Antwort von Reimann.
„Weshalb bist du dir da so sicher?“
„Weil dieser Zeuge Brunn Birgit kurz vor dem Aussteigen noch mit ausgestrecktem Bein – so seine Worte – im Gang gesehen hat.“
„Später gab er zu, nicht mehr ganz nüchtern gewesen zu sein.“
„Das stimmt, denn daraufhin wollte er sich auch nicht festlegen, ob sie mit ihm den Bus verlassen hat.“
„Wohl keine brauchbare Aussage …“
Der junge Kollege blätterte in der alten Akte und hielt an einer Stelle, wo alle damaligen Adressen aufgelistet waren. „Mir ist erst heute früh aufgefallen, dass der Freund von Birgit Hage und Brunn in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte. Keine vier Grundstücke auseinander. Luftlinie von der Haltestelle aus etwa fünfhundert Meter …“
Storm pfiff leise. „Derselbe Weg?“
„Genau. Brunn hätte doch sicher bemerkt, wenn das Mädchen hinter oder neben ihm gelaufen wäre. So betrunken war er nun auch nicht.“
„Können wir demzufolge annehmen, sie ist bis Friesack mitgefahren?“
„Da es bis dorthin nur noch zwei Haltestellen gibt, die etwas abseits von kleineren Dörfern liegen, halte ich es für sehr wahrscheinlich.“ Er sah mit selbstsicherem Blick in die Runde.
„Es gibt allerdings keinen einzigen Zeugen, der mit Sicherheit behauptet, sie nach Pessin noch im Bus gesehen zu haben“, gab Schirad zu bedenken.
„Dafür könnte es eine Erklärung geben.“ Auf dem Tisch wurde eine Zeichnung ausgerollt. „Das ist der Innenraum des Busses Typ Ikarus 66, der damals auf dieser Strecke verkehrte. Ich habe das Bild im Internet gefunden und … abgemalt, da es sich leider nicht herunterladen ließ.“
„Max, unser kleiner Picasso“, witzelte Karoline halblaut.
Er drückte die Schultern durch und hob das Blatt in Richtung der Hauptkommissare. „Auf beiden Seiten gibt es Doppelsitze in Fahrtrichtung mit hohen Lehnen, zwischen denen ein etwa dreißig Zentimeter tiefer gelegener Gang verläuft. Das bedeutet, jemand aus dem hinteren Teil sieht unter Umständen nur die Haarspitzen von den Leuten, die vorne sitzen. Birgit Hage war ein Meter und sechzig groß …“
„Also kaum auszumachen“, nickte Klaus.
„In Pessin wurden weitere Plätze frei, sie könnte also noch einmal weiter in Richtung vorderer Tür gerückt sein.“
„Wissen wir, wo unsere Zeugen damals gesessen haben?“
„Leider in wenigen Fällen, und auch nur, wenn es in den Aussagen erwähnt wurde. Einen genaueren Sitzplan gibt es nicht.“
„Das sollten wir bei unseren Gesprächen herausfinden und ergänzen.“
Die Kollegen machten sich eine Notiz.
Schirad ließ mehrere Sekunden vergehen und fragte dann: „Gibt es noch weitere neue Erkenntnisse?“
Es meldete sich niemand mehr zu Wort.
„Dann lege ich jetzt fest, wie wir in den kommenden Tagen vorgehen: zwei Kollegen bleiben hier für die Innenarbeit im Büro – sie aktualisieren die Liste der Zeugen, recherchieren anhand der alten Akte damalige Sachverhalte und so weiter. Die übrigen sechs teilen sich in drei Paare, welche die Vernehmungen durchführen werden.“
Fragende Blicke kreuzten sich.
Zwei Kolleginnen, die nebeneinander saßen, hoben fast gleichzeitig die Hand.
„Ja, bitte?“
„Sophie Kaleta, zweite Mordkommission …“ Ein rundes, ungeschminktes Gesicht mit wasserblauen Augen. Die blonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. „Ich würde gerne mit Elisabeth Moll zusammenarbeiten, wir sind auch sonst ziemlich eingespielt, wie du ja weißt.“
Vom benachbarten Platz bestätigendes Nicken. Eine untersetzte Kollegin musterte Schirad mit ernstem Gesicht, die Farbe ihrer Augen changierte irgendwo zwischen grün und grau, je nach Lichteinfall. Auf der dunkelbraunen Kurzhaarfrisur thronte eine Sonnenbrille.
„Bitte.“ Er schrieb die Namen in eine leere Spalte.
Storm räusperte sich. „Wenn der Kollege Reimann nichts dagegen hat, könnten er und ich ein Team bilden.“
Max streckte mit stummem Lächeln seinen Daumen in die Höhe.
„So …? Ja …“
Auch dieser Wunsch wurde – wenn auch zögerlich – notiert.
„Tja, dann bleiben noch zwei …“
*
Ich weiß gar nicht mehr, wie wir auf diese große Wiese neben dem Bahndamm gekommen sind. Wahrscheinlich liefen wir nach der Stunde im Café einfach los. Hand in Hand ohne Ziel und ohne zu reden. Haben uns stumm treiben lassen, wie ein Boot auf dem See, bei dem die Ruder eingezogen sind …
Und dann lagen wir nebeneinander auf seiner Jeansjacke.
Eine erste Umarmung. Ein erstes vorsichtiges Berühren der Lippen.
Dann mehr … Schüchternheit noch, Zärtlichkeit, Suchen, Finden …
Wir küssten uns sehr lange und nahmen die Welt um uns her gar nicht mehr wahr. Hätte sich unter uns ein tiefes schwarzes Loch aufgetan, ich wäre bereit gewesen, Arm in Arm mit ihm dort hineinzufallen. Für immer zusammen …
Als die Sonne tiefer sank, kam die Kühle des Abends.
„Wir müssen los“, sagte er irgendwann leise.
„Noch zehn Minuten!“
„Der Zug fährt bald …“
In Nauen auf dem Bahnsteig blieb er plötzlich stehen. „Lass uns schon hier Auf Wiedersehen sagen.“
„Kommst du nicht mit hinunter?“
„Doch, ein wenig später.“
„Warum?“
„Man könnte uns zusammen sehen.“ Sein Blick ging an mir vorbei. „Ich bin verheiratet.“
Natürlich! Tief im Inneren hatte ich es geahnt.
„… Nicht glücklich, musst du wissen.“
„Deine Sache.“
„Wie geht es mit uns weiter …?“
„Wir werden sehen.“ Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss, drehte mich um und lief die Treppen hinunter.
Unten am Bahnhofsvorplatz hielt ich kurz inne und wartete auf meine Tränen, aber die kamen nicht.
*
Klaus Schirad saß an seinem Schreibtisch und starrte in die Luft. Beim Verteilen der Ermittlungspartnerschaften waren am Schluss Karoline Steffens und er übriggeblieben. Ein irritierter Blick von ihm, und in den Augen der jungen Kollegin war ein ganz ähnliches Gefühl zu erkennen gewesen.
„Gleich werden die ehemaligen Kommilitoninnen von Birgit Hage hier sein. Willst du an dem Gespräch teilnehmen?“
„Nein, danke. Ich habe noch ein paar Dinge zu ordnen. Hol mich anschließend in meinem Büro ab.“
Eine kurze Kopfbewegung, dann war sie mit ihren Unterlagen davongeeilt.
Und nun saß er hier, den Kugelschreiber zwischen den Fingern drehend.
„Verdammt noch mal!“ Der Stift flog in die Ablage. „Ich bin zu alt, um mich an neue Partner zu gewöhnen. Erst dieser antiquierte Kollege aus Potsdam und jetzt dieses strebsame, alternative Mädchen.“
Sein Telefon klingelte.
Er wollte es ignorieren und schaute trotzig aus dem Fenster.
Es hörte nicht auf.
Irgendwann gab er nach. „Schirad …“
„Oh, du hast gute Laune?“ Ein leises Lachen am anderen Ende.
„Woher willst du das nach einem einzigen Wort wissen?“
„Die menschliche Sprache greift auf viel mehr Zwischentöne zurück, als wir annehmen.“
„Das wusste ich noch gar nicht …“
„Habt ihr den Mörder schon?“
Ein bitteres Schnaufen.
„Warum sitzt du dann tatenlos am Schreibtisch?“
„Wer sagt dir, dass ich nichts tue?“
„Mein Instinkt.“
„Es gibt so einiges an Büroarbeit. Außerdem warte ich auf eine junge Kollegin, um dann mit ihr in die Provinz zu fahren.“
„Zeugenbefragungen im Havelland?“
„Ja …“
„Wann wirst du wieder hier sein?“
„Keine Ahnung. Am späten Nachmittag, hoffe ich.“
„Lust auf einen gemütlichen Abend in diesem kleinen französischen Restaurant in Charlottenburg?“
Er leckte sich über die Lippen. „Sehr verlockend.“
„Gut, dann bestell ich uns einen Tisch, mein Lieber.“
„Sage ihnen, frühestens ab 18.00 Uhr.“
„Sie kennen mich dort und wissen, dass ich nie pünktlich bin.“
„Dann haben wir ja erfreulicherweise einen gewissen Spielraum. Ich muss jetzt übrigens weiterarbeiten …“
„Ist sie hübsch?“
„Wer?“
„Deine junge Mitarbeiterin.“
„Ich … weiß nicht …“
„Aha.“
Ein Stirnrunzeln. „Was bedeutet denn dieses `Aha´?“
„Mich wundert, dass du einer einfachen Frage ausweichst.“
„Ich weiche doch nicht aus …“
„Nun, darüber können wir ja nachher noch einmal sprechen. Rufst du mich an, wenn ihr auf dem Rückweg seid?“
„Ja.“
„Gut. Ich freue mich auf heute Abend.“
„Ich kann es auch kaum erwarten“, brummte er mit einem schiefen Lächeln.
Durch die Leitung kam noch ein akustischer Kuss, dann wurde aufgelegt.
Schirad senkte den Kopf auf die Kante der Sessellehne und schloss die Augen.
Jetzt irgendwo ganz weit weg sein, dachte er.
Ein paar Sehnsuchtsbilder tauchten auf …
Seine Beine hingen aus dem kleinen Ruderboot, das auf einem stillen kanadischen See trieb, auf den er zum Lachsangeln hinausgefahren war. Allein … Die Wasseroberfläche glänzte wie Bergkristall. Um ihn herum nur dunkle Wälder und Stille …
Einige Bilder später sah er sich im Liegestuhl am endlosen, menschenleeren Südseestrand einer Insel. Weißer Sand und davor die blaue Weite des Pazifiks. Der Hotelangestellte brachte ihm in einem beschlagenen Glas den Vormittagsdrink mit Eiswürfeln und viel Gin …
Danach eine neue Traumsequenz: Ein Restauranttisch mit weinroten Deckchen am Ufer des Canal Grande in seiner Sehnsuchtsstadt. Jetzt im Herbst waren die Touristenströme abgeebbt und auf den Plätzen und in den Gassen war wieder Raum zum Atmen. Sein Blick ging zu einem Palazzo auf der anderen Seite, hinter dessen dunklen Fenstern mit ihren gotischen Rundbögen man sich allerlei Geheimnisse ausmalen konnte. `Un´altra birra, signore?´, fragte der Kellner. `Con piacere´, kam die Antwort …
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und Karoline Steffens steckte den Kopf hinein. „Entschuldige …“
Schirad rutschte in seinem Sessel eine Handbreit hoch. „Schon fertig mit deiner Befragung?“
„Gerade eben.“
„Ist etwas Neues dabei herausgekommen?“
„Nicht viel.“
„Könntest du mir kurz die Essenz aus `nicht viel´ erzählen?“ Die letzten Worte waren ihm barscher herausgerutscht, als er es beabsichtigt hatte.
Karolines Wangen färbten sich leicht und sie drehte einen Schreibblock in den Händen. „Die beiden Kommilitoninnen wohnten nur etwa einen Monat lang mit Birgit Hage zusammen, dementsprechend sporadisch und selten hatten sie überhaupt Kontakt. Kurz gefasst beschrieben sie das Mädchen aus Friesack als freundlich und aufgeschlossen, es gab in den vier Wochen keinerlei Probleme untereinander. Da Birgit kulturell vielseitig interessiert war, kam sie des Öfteren erst spätabends oder in der Nacht von Veranstaltungen zurück ins Wohnheim. Bei einem dieser abendlichen Ausflüge könnte sie den Mann kennengelernt haben, zu dem sie dann zog.“
„Brachte sie ihn mal mit in ihr Studentenzimmer?“
„Nein. Die beiden Frauen konnten zu ihm keinerlei Auskunft geben, da Birgit sich diesbezüglich auch sehr bedeckt hielt.“
„Was waren das für … Veranstaltungen?“
„Konzerte, Theatervorstellungen und Lesungen.“
„Konkret?“
„Sie konnten sich an keinen speziellen Titel oder Künstler erinnern.“ Karoline zog einen Mundwinkel nach unten. „Partys waren für die Damen wohl interessanter.“
„Hat die Hage mal irgendetwas von zu Hause erzählt, oder über den Freund in Pessin?“
„Von der Mutter sprach das Mädchen nie. Und der Freund wurde wohl mal erwähnt, aber mit keinen glänzenden Augen, wenn du verstehst.“
„Bin noch nicht zu alt für diese Dinge“, kam ein Knurren aus dem Sessel.
„Sorry, ich wollte nicht …“