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Kriminalhauptkommissar Klaus Schirad aus Berlin befindet sich nach dem Tod seiner Freundin in einer tiefen depressiven Krise. Er beschließt, aus einer plötzlichen Laune heraus, für ein paar Tage irgendwohin zu fahren, um sich in anderer Umgebung über den Fortgang seines Lebens klarzuwerden. Mit geschlossenen Augen tippt er auf die Karte und sein Finger bleibt auf dem Ort Repersfelde stehen, in der Nähe des märkischen Städtchens Rheinsberg. An einem regnerischen Tag kommt er dort an, bezieht sein Pensionszimmer und ist abends zu Gast im hauseigenen Restaurant. Nachdem er am Stammtisch dem Ortspolizisten in einem unbedachten Moment seinen Beruf verraten hat, erzählt der ihm von einem tragischen Unglücksfall, der zwanzig Jahre zurückliegt: ein Mann stolperte damals in der Nähe des Bahnhofs unbegreiflicherweise über die Gleise und wurde von einem Zug erfasst. Zum Hergang des Unfalls gab es einige Unstimmigkeiten. Schirads Neugier ist geweckt. Er fragt nach und neue Widersprüche tauchen auf. Für den Kriminalisten aus Berlin wird es allmählich zu einem Fall, für den Mörder von damals zu einer Bedrohung …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum:
Autor: Gerald Knopp, Berlin
Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen,
oder realen Begebenheiten wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Städtchen Repersfelde existiert nur in meiner Phantasie.
PROLOG
D
ie frühen Morgennebel lagen wie Schleier über den weiten Feldern. Aus ihnen ragten die Baumspitzen einer einsamen Weideninsel hervor, über der schwarze Vögel kreisten. Das erste Licht der Morgenröte ließ verschwommen die Konturen eines nahen Waldes erkennen. Die schmale Straße machte eine scharfe Kurve, dahinter ging es unerwartet bergab. Der Mann hinter dem Steuer des Autos bremste und rieb sich erschrocken seine verschlafenen Augen. Er fluchte leise. Unter dem Dach der dichtbelaubten Bäume am Rande der Straße war es fast wieder Nacht. Hinter einer weiteren Kurve wurden Lichter sichtbar: Scheinwerfer, Warnblinkanlagen und darüber das Flackern blauer Rundumleuchten. Kegel versperrten auf seiner Fahrspur die Weiterfahrt.
Er ließ den Wagen ausrollen und stoppte hinter den Kegeln, die er elegant umfahren hatte. Ein uniformierter Polizist kam heran und legte die rechte Hand zum Gruß an die Mütze. Etwas nachlässig allerdings, wie der Mann fand.
„Genosse Oberleutnant …“
„Graunke, was ist passiert, weshalb holt man mich so früh aus dem Bett?“
„Ein Eisenbahner, der zur Arbeit wollte, entdeckte den Körper dort hinten neben dem Bahndamm.“
„Tot?“
„So tot, wie man mit gespaltenem Schädel nur sein kann …“
„Dein loses Mundwerk wird dir noch einmal Unbequemlichkeiten einbringen. Ist der Hauptmann schon da?“
„Nein.“
„Wenigstens ihm gegenüber solltest du dich zügeln.“
Der Polizist grinste und wies mit dem Arm zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Bahndamm. Dann fiel sein Blick auf die Schuhe des Mannes.
„Das Gras ist noch sehr feucht. Hast du zufällig ein Paar Gummistiefel im Auto?“
„Zufällig natürlich nicht“, knurrte der Oberleutnant. „Habe auch nicht vor, mich lange aufzuhalten. Sind die Genossen der Spurensicherung verständigt?“
„Ein junger Kollege von euch hat das erledigt. Sie sind sogar schon eingetroffen ...“
„So schnell? Seltener Umstand.“
Sie gingen an einem Krankenwagen vorbei auf die Senke neben einer hohen Böschung zu. Dort standen einige Männer in weißen Kitteln um einen, mit dem Gesicht zum Boden liegenden, verrenkten menschlichen Körper herum.
„Genosse Bienert“, wurde der Oberleutnant von einem älteren Mann begrüßt. „Ihr Kollegen von der Kriminalbereitschaft habt einen tiefen Schlaf, was?“
„Durchaus nicht.“ Er gab keine Erklärung ab, schließlich zogen sie sich immer ein wenig auf. „Wenn mir jetzt mal jemand sagen würde ...“
„Wir haben hier die Leiche eines fünfundzwanzigjährigen Mannes, der offensichtlich beim Überqueren des Bahndammes von einem Zug gestreift wurde und hier heruntergerollt ist. Die multiplen Schädelverletzungen führten wahrscheinlich sofort zum Tode.“
„Hat uns der Zugführer verständigt?“
„Nein, ein Bahnarbeiter, der auf dem Weg zum nahen Bahnhof vorbeikam, sah den Leichnam hier liegen.“
Das Motorengeräusch eines weiteren Autos wurde hörbar. Ein dunkelblauer Lada hielt hinter dem grauen Kastenwagen der Kriminaltechniker. Ihm entstieg ein grauhaariger kleiner Mann in einem etwas zu langen Mantel, der die untersetzte Gestalt zusätzlich betonte. Keuchend tappte er durch das hohe Gras heran.
Er schüttelte allen die Hände. „Genossen ...“
„Herr Hauptmann, wir haben hier einen seltsamen Fall.“ Oberleutnant Bienert unterrichtete seinen Vorgesetzten über die Umstände.
„In der Tat merkwürdig. Die Züge haben so kurz vor oder nach der Einfahrt keine hohe Geschwindigkeit, da muss man doch einen Aufprall bemerken!“
„Sollte man meinen.“
Ein anderer Kollege zeigte auf den blutigen Kopf. „Wir haben eine an den Rändern glatt abgegrenzte Spaltung der Schädeldecke. Der Mann muss mit dem Kopf auf eine scharfe Stahlkante getroffen sein, die einer Waggonkupplung vielleicht.“
„Warum wurde er dann nicht vom Zug überrollt und lag auf den Gleisen? Eine solche Kupplung befindet sich doch nicht in Kopfhöhe.“
„Er wurde vielleicht zur Seite geschleudert …“
„Das wäre noch verwunderlicher. Die Wagenkanten der hier verkehrenden Vorortzüge sind abgerundet. Entweder es trifft ihn frontal – dann liegt er drunter –, oder er wird nur gestreift – dabei entsteht aber kaum ein solches Verletzungsmuster.“
Bienert hob stumm die Schultern.
„Keine hundert Meter weiter gibt es einen Bahnübergang, und dieser Mensch stolpert in finsterer Nacht ausgerechnet hier über die Gleise?“
„Lässt vermuten, dass er betrunken war.“
„Und wenn schon. Die Straße ist bis hinter die Schranke beleuchtet.“
„Er scheint sich verlaufen zu haben, denn dieser Weg hier war für ihn keine Abkürzung.“
„Weshalb? Wisst ihr schon, wer es ist?“
Der ältere Kollege der Spurensicherung reichte ihm einen durchweichten Ausweis hinüber. „Paul Kronenburg, geboren am ...“
„Kronenburg?“ Der Hauptmann beugte sich erschrocken zu dem leblosen Körper hinunter.
„Kennen Sie ihn?“, fragte Bienert.
„Ich … äh … Seinen Vater kenne ich.“ Er räusperte sich. „Vielleicht sollten wir doch erst einmal davon ausgehen, dass wir es mit einem bedauerlichen Unfall zu tun haben.“
„Aber Genosse Hauptmann …“
„Ich werde selbst die nötigen Ermittlungen in die Wege leiten.“ Zu den Technikern gewandt, befahl er: „Die Resultate der Untersuchungen bitte auf meinen Schreibtisch.“ Dann drehte er den Ausweis des Toten zwischen den Fingern. „Er hat dort drüben hinter den Feldern in Neu-Repersfelde gewohnt. Ich werde mal hinfahren.“
„Das kann ich doch übernehmen“, bot sich Bienert an.
„Als Ermittlungsleiter ist es meine Pflicht, deshalb fahre ich.“ Der Hauptmann stapfte zurück zu seinem Auto.
Die Techniker der Spurensicherung sahen ihm kopfschüttelnd hinterher.
„Was meinen Sie, Genosse Oberleutnant?“, fragte der ältere Mann im weißen Kittel. „War es ein Unfall?“
„Wir sollten den Fall zunächst mit der gebotenen Vertraulichkeit behandeln“, meinte Bienert. „Eure Ergebnisse gehen natürlich an den Hauptmann. Aber wenn ihr mich eventuell telefonisch auf dem Laufenden halten könntet …“
„Verstehe“, kam die leise Bestätigung. „Vertraulich, natürlich.“
Der Polizist Graunke schlenderte heran, er hatte die Mütze vom Kopf genommen. Seine flachsblonden Haare standen ihm wie Besenborsten vom Kopf ab.
„Kronenburg“, murmelte Bienert.
„Ein eher unangenehmer Zeitgenosse“, kommentierte Graunke. „Verschlagen und hinterlistig … Aber ich rede wieder zu viel. Nur wenige werden ihm eine Träne nachweinen, oder was meinst du?“
„Ich? Woher soll ich das wissen? Wir waren nicht befreundet.“
„Na, auf dem Präsidium war sein Name wohl bekannt. Siehst ja, der Hauptmann Jansen wurde ganz bleich.“
„Halt bloß deine Zunge im Zaum! Ich möchte nicht, dass die Einzelheiten des Falles heute Abend schon Stammtischgespräch im Gasthof sind.“
I.
E
r versuchte verzweifelt seinen Regenschirm aufzuspannen, aber das Gestänge klemmte. Hinter ihm schlossen sich die automatischen Türen des kurzen Regionalzuges mit einem Zischen, dann fuhr die Bahn wieder ab und verschwand hinter einer Kurve zwischen den Bäumen. Mit ihm waren noch drei weitere Personen an diesem kleinen Bahnhof mitten im Wald ausgestiegen: ein junges Paar, das sich in Richtung des nahen Bahnübergangs entfernte und ein älterer Mann, dem der Regen nichts auszumachen schien – er schlug den Mantelkragen hoch und bog in einen Waldweg ein, wo seine Gestalt bald nicht mehr hinter den hohen Büschen zu sehen war.
Dem Mann wurde plötzlich bewusst, dass er nun auf diesem abgelegenen Bahnhof allein war. Der Regen prasselte auf ein schiefes Wellblechdach über ihm und er fühlte, wie die feuchte Kälte unter seine Jacke drang. Er spähte durch ein schmutziges Fenster in den kleinen Warteraum, den anscheinend seit Jahren niemand mehr betreten hatte. Die Holzbänke waren mit einer dicken Staubschicht überzogen, die Wände voll von Graffitischmierereien. Das zweistöckige, aus Ziegelsteinen erbaute Bahnhofsgebäude machte insgesamt einen heruntergekommenen Eindruck. Unkraut wuchs hoch vor einer verschlossenen Tür, die wohl einst der Zugang zum Treppenhaus, zur Dienstwohnung des Stationsvorstehers, gewesen sein mochte. Es schienen seitdem Jahrzehnte, vielleicht sogar ein halbes Jahrhundert ins Land gegangen zu sein, dass jener diesen unheimlichen, einsamen Ort verlassen hatte. Aus einem verrosteten Fahrtrichtungsanzeiger ragte schief nur noch ein einziges Schild mit altdeutscher Aufschrift: Rheinsberg.
Der Mann betrat durch eine Pendeltür die Bahnhofshalle. Seine Schritte hallten auf dem Steinfußboden. Das schmale Fenster einer ehemaligen Fahrkartenausgabe war mit Brettern vernagelt, daneben befand sich ein Holzkasten, hinter dessen zersplitterter Scheibe ein vergilbter Fahrplan hing.
Plötzlich öffnete sich geräuschvoll sein Schirm und er schrak zusammen. Ein Riemen der Reisetasche rutschte ihm von der Schulter. Vor sich hin brubbelnd trat er die Tür nach draußen zum Bahnhofsvorplatz auf. Den Griff des aufgespannten Schirmes balancierend, versuchte er den Riemen der Tasche wieder hochzuschieben. Aus einer löchrigen Regenrinne über dem Ausgang lief ihm ein Regenwasserstrahl in den Kragen.
Ein lauter Fluch entfuhr ihm. Warum um Himmels Willen hatte er sich auf dieses Abenteuer eingelassen? Was brachte ihn bloß dazu, sich in diese Einöde zu flüchten? Er verzog den Mund. War es ein Wegrennen vor dem sinnlos gewordenen Leben? Nein! Oder …? Er wollte sich diese Fragen nicht in aller Ehrlichkeit beantworten. Jetzt noch nicht. Vor einigen Tagen hatte er zu Hause auf dem Tisch die Landkarte Deutschlands auseinander gefaltet, die Augen geschlossen und mit dem Zeigefinger blind irgendwohin getippt.
Repersfelde. Noch nie im Leben hatte er den Namen dieses kleinen Städtchens, das inmitten der Ruppiner Heide im Brandenburger Land lag, gehört. Glücklicherweise war es nicht allzu weit von Berlin entfernt. Ein Ort, der wohl dazu taugen konnte, sich in aller Stille über den Fortgang seines Lebens klarzuwerden. Aber war es wirklich Zufall, dass sein Finger in einer Gegend gelandet war, die er vor zwei Jahren schon einmal … Egal! Er hatte seine Entscheidung getroffen und an Winke des Schicksals glaubte er nicht.
Die Kopfsteinpflastersteine des Rondells vor dem Bahnhof glänzten im Regen. Gleich dahinter begann der dichte Wald. Über moosbewachsenen Wegrändern lag feuchter Dunst zwischen den Kiefern. Die holprige Straße führte zu einem nahen Bahnübergang, wo sich das verwaschene, matte Rot der Schranken vom Frühlingsgrün der Büsche und Bäume absetzte. Dort teilte sich die Straße, linkerhand führte sie anscheinend in den Wald, rechts nach irgendwo …
Der Mann sah unentschlossen zu den aufgeweichten Waldwegen hinüber. Sollte er einfach loslaufen? Aber wohin? Er wusste noch nicht einmal, in welche Himmelsrichtung er sich wenden musste, um zu der kleinen Repersfelder Pension zu gelangen, in der ein Zimmer für ihn reserviert war. Die Wegbeschreibung und eine Karte der Umgebung hatte er natürlich zu Hause vergessen.
Sein Mut der vergangenen Tage schien von einer Minute zur nächsten und vom andauernden Regen weggespült zu werden. Vielleicht sollte er einfach mit dem nächsten Zug zurückfahren. Es war sowieso eine idiotische Idee, hier in dieser Einöde wieder zu sich selbst finden zu können.
Zwischen seinen Gedanken wurde das Geräusch eines näherkommenden Autos lauter. Ein Zweitaktmotor, das erkannte er. Kurz darauf bog ein Barkasbus um die Ecke, drehte auf dem Bahnhofsvorplatz und kam direkt vor ihm zum Stehen. Ein kleines Männchen in schmutzigen Stiefeln und Arbeitskleidung sprang aus dem Wagen. Sein kugelrundes Gesicht war gerötet.
„Entschuldigung, Else hat heute Morgen gekalbt!“, rief es mit hoher Fistelstimme, und setzte nach einem Moment erklärend hinzu: „Else ist unsere Kuh.“
Der Mann unter dem Regenschirm runzelte die Stirn.
„Wir hatten mit der Ankunft des Kälbchens diese Woche noch nicht gerechnet, deshalb gab es einige Aufregung, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.“
„Hm …“
„Der Tierarzt war überzeugt, dass es später kommen sollte.“
„Aha.“
Das Männchen streckte dem Fremden die Hand entgegen. „Mein Name ist Lippold. Ich hoffe, Sie warten noch nicht allzu lange.“
„Ein paar Minuten.“
Die hintere Tür des Kleinbusses wurde aufgerissen. „Stellen Sie Ihre Tasche hier hinein.“
Der Mann tat wie ihm befohlen und schloss seinen Schirm, was sofort klappte.
„Setzen Sie sich auf die Rückbank, da haben Sie ausreichend Beinfreiheit.“
Nachdem die Türen geräuschvoll zugeworfen waren, wurde der Motor angelassen und das Fahrzeug setzte sich mit einem gemütlichen Tuckern wieder in Bewegung.
„Die Straßen sind nicht die besten“, hob Lippold in der ersten Kurve entschuldigend einen Arm und bog nach links in den Wald ab. „Ich glaube, seit dem Krieg ist hier nichts mehr ausgebessert worden.“
„Wie weit ist es bis zur Stadt?“
„Nach Repersfelde sind es gute zwei Kilometer. Der Bahnhof liegt etwas ungünstig, aber hier hat fast jeder ein Auto. Ohne Gepäck ist der Weg durch den Wald ein wenig kürzer und angenehm zu laufen. Sehen Sie, man kommt dort hinten am See vorbei …“
Zwischen hohen Bäumen wurden Schilfbüsche und die grauen Wellen eines dunstverhangenen Gewässers sichtbar. Dann schloss sich der Wald wieder und der Kleinbus erklomm ächzend eine seichte Steigung.
„Ziemlich triste Gegend hier, oder?“
„Ganz und gar nicht.“ Das Männchen korrigierte die Neigung des Innenspiegels und musterte das Gesicht des Gastes. „Entschuldigung, Sie sind doch Herr Schirad aus Berlin?“
„Ja, der bin ich.“
„Ab morgen soll die Sonne scheinen, haben sie vorhin im Radio angesagt. Dann wird Ihnen unsere Gegend nicht mehr ganz so trist erscheinen.“
„Ich möchte einfach nur ein paar Tage abschalten und meine Ruhe haben.“
„Die werden Sie bei uns finden, keine Sorge. Im Frühling gibt es hier in der Natur außerdem viel zu entdecken.“
Der Mann lehnte sich mit zweifelndem Gesichtsausdruck zurück. Hinter einer Anhöhe kamen die ersten Häuser des Städtchens Repersfelde zum Vorschein.
II.
K
laus Schirad saß am Stammtisch der kleinen Gaststube, die neben der Pension ebenfalls vom Ehepaar Lippold bewirtschaftet wurde. Frau Lippold hatte den neuen Gast an den Tisch in der Nähe des Ausschanks neben den Ofen gewinkt. Sie war gut einen halben Kopf größer als ihr Mann, hatte dunkle Augen über hohen Wangen und gelockte pechschwarze Haare.
„Was darf ich Ihnen bringen, Herr Schirad?“, fragte sie.
„Ein großes Bier, bitte.“
„Kommt sofort. Ich hoffe, das Zimmer ist zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Ja, alles in Ordnung.“
Er hatte nach seiner Ankunft gegen Mittag die Schlüssel für seine Unterkunft im ersten Stock in Empfang genommen und sich dann, ohne die Sachen ausgepackt zu haben, auf das weiche Bett gelegt. Begleitet vom monotonen Prasseln der Regentropfen gegen das Fenster war der Schlaf sofort über ihn gekommen. Beim Erwachen zeigte ihm ein Blick auf die Uhr, dass seitdem vier Stunden vergangen waren. Nachdem er sich gewaschen und umgezogen hatte, war er dann in die Gaststube hinunter gegangen.
An einem Tisch am Fenster saß ein junges Pärchen dicht nebeneinander, sonst war der Schankraum leer.
„Die meisten Gäste kommen erst nach 18.00 Uhr“, erklärte Frau Lippold, als hätte sie seine Gedanken erraten.
Er fasste das kühle Bierglas mit beiden Händen und trank es bis auf die Hälfte leer.
„Ich bringe Ihnen die Speisekarte ...“
„Danke, aber ich möchte erst später essen. Noch ein Bier bitte!“
Sie entfernte sich leise.
Schirad starrte in das Glas. In den letzten Monaten hatte er sich wieder das Trinken angewöhnt. Angewöhnt? Wie harmlos sich das in seinen Gedanken anhörte! Er trank, warum sollte man es nicht beim Namen nennen? Die Tageszeit spielte dabei keine Rolle. Zeit spielte für ihn im Allgemeinen keine große Rolle mehr. Hatte er denn welche zu verlieren? Wohl kaum …
Er schüttete den Rest des Bieres hinunter und wischte sich nachlässig den Schaum von den Lippen.
„Haben Sie heute überhaupt schon etwas gegessen?“, fragte Frau Lippold und stellte das frisch gezapfte Bier auf den Tisch.
Er hatte sie nicht kommen gehört und erschrak. „W-wie? Ja, heute Morgen.“
„Etwas lange her, nicht wahr?“
„Ich muss abnehmen“, kam die Antwort mit einem unsicheren Lachen.
„Sie? Wo bitte? Wir haben heute frische Forellen bekommen, wie wäre es damit?“
Schirad sah auf, und sein Blick traf ihre tiefbraunen Augen. Fast mütterlich besorgt schaute sie ihn an.
Er wurde mit einem Mal verlegen. Fühlte sich irgendwie durchschaut. „Forelle, hm? Gut, bringen Sie mir eine.“
„Mit Bratkartoffeln? Die sind sehr gut.“
„Ja, bitte.“
Die Wirtin verschwand mit dem leeren Glas und Schirad sah ihr hinterher. Sie mochte Mitte Vierzig sein, hatte aber die schlanke Figur einer jungen Frau. Ihre Augen strahlten neben heiterer Lebendigkeit auch eine unaufdringliche Wärme aus. In ihrer Nähe kann man sich wohlfühlen, dachte er. Dann glitt ein Grinsen über seine Lippen. Wie war diese attraktive Frau bloß an einen solch rotgesichtigen Zwerg geraten? Man hatte die beiden sicherlich irgendwann verkuppelt, es war gar nicht anders vorstellbar.
Das junge Pärchen am Fenster tuschelte leise miteinander, nachdem sie den einsamen Gast am Stammtisch eine kurze Minute lang beäugt hatten. Das Mädchen streichelte die ganze Zeit über den nackten Arm des Jungen. Er lehnte den Kopf an ihre Schulter.
Schirad atmete tief durch, nahm einen großen Schluck Bier und sah hinaus. Der Regen fiel dicht und ohne Unterlass. Auf der Straße standen große Pfützen, die sich teilweise bis hoch zum Gehweg erstreckten. Er seufzte leise. Was sollte er bloß bei dem schrecklichen Wetter in diesem vergessenen Städtchen anfangen? Den halben Tag oben auf dem Zimmer sitzen und grübeln? Das ging doch nicht, da hätte er ja in Berlin bleiben können! Die nächstgrößere Stadt in der Nähe war Rheinsberg. Dort gab es ein Schloss, das er sich ansehen konnte. Gut, damit war ein Tag vorbei, aber was kam danach? Es war eine Schnapsidee gewesen, für die Reise ausgerechnet den kühlen, ungestümen April zu wählen.
Eine junge Frau mit blassem Gesicht und brünetten Locken, die sich unter der Kapuze eines Regencapes hervorkringelten, betrat das Restaurant und verschwand in der Küche.
Kurz darauf kam die Wirtin wieder nach vorn und setzte sich zu Schirad an den Tisch. „Unsere Kellnerin ist gerade gekommen, jetzt habe ich etwas Zeit“, erklärte sie. „Irene hilft uns abends aus, sonst wäre es nicht zu schaffen.“
Er sah sich um.
„Die Gäste kommen schon noch.“ Sie musterte ihn unauffällig. „Machen Sie hier Urlaub?“
Schirad zögerte mit der Antwort. „Ich … äh … hatte im vorigen Jahr eine Operation am Knie und habe mich davon noch nicht ganz erholt. Eine private Kur, wenn Sie so wollen.“
Frau Lippold nickte. „Dauert lange so etwas, kenne ich. Bewegung ist wichtig. Wir haben Fahrräder im Schuppen auf dem Hof, suchen Sie sich eines aus. Wenn man einen Blick für die Schönheit unserer Landschaft hat, kann man viel entdecken. Mit dem Rad sind Sie beweglich und stärken außerdem Ihre Muskeln. Das ist sehr gesund.“
Schirad steckte sich eine Zigarette an.
„Was machen Sie beruflich?“
Er runzelte die Stirn.
Sie hob die Arme und lachte. „Entschuldigen Sie bitte meine Taktlosigkeit. Neugier ist eine meiner Schwächen.“
Sein Gesicht entspannte sich. Ihr offenes Lachen war irgendwie entwaffnend. „Ich bin bei der Kriminalpolizei.“
„Oh, bei der Polizei! Da haben Sie in Berlin sicherlich ganz ordentlich zu tun?“
„Zur Zeit nicht, da ich noch krankgeschrieben bin. Ich weiß auch nicht, ob …“
„In einer großen Stadt passiert wohl immer etwas. Manchmal auch kuriose Sachen, oder? Interessanter Beruf.“
„Na ja …“
„Sie können mir später noch davon erzählen.“ Frau Lippold erhob sich. „Ich werde mal nachsehen, ob Ihre Forelle fertig ist.“
„Wenn Sie mir auf dem Rückweg noch ein Bier bringen könnten?“
„Natürlich.“ Sie entfernte sich in Richtung Küche.
Klaus Schirad blies den Rauch über den Tisch und sein Blick verschwamm. Warum hatte er ihr seinen Beruf verraten? Der ging niemanden etwas an. Schon gar nicht, da er vorhatte, den Dienst bei der Polizei zu quittieren!
Und doch hatte er das Gefühl, sie nicht belügen zu können. Die Frau schien ihn zu durchschauen. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Unsinn, wie sollte sie? Sein Gesicht spiegelte sich verzerrt im Bierglas, deutlich sah er die Tränensäcke unter seinen verquollenen Augen.
Die Kellnerin kam und servierte den dampfenden Fisch.
Das Essen sah lecker aus, aber er hatte keinen Appetit. Sein Magen war wie zugeschnürt. Langsam, fast zeremoniell, drückte er den Saft aus einer Zitronenscheibe über die knusprige Haut der Forelle. Als das Bier kam, setzte er sofort das Glas an die Lippen und trank gierig. Der Alkohol durchströmte warm seinen Körper. Aufatmend stocherte er dann mit der Gabel in den Kartoffeln und kaute jeden Bissen bedächtig.
Allmählich stellte sich eine Art Wohlbehagen ein. Das kannte er, darauf lief es ja schließlich hinaus – sein Trinken. Er wollte die immer wiederkehrenden, zermürbenden Gedanken ausblenden und schließlich vergessen. Und das konnte er nur noch mit Alkohol – er bildete es sich jedenfalls ein. Das Gehirn wurde enggestellt und hinter der Stirn machte sich eine gefühllose Dumpfheit breit. Ein banges Herzrasen, das er in letzter Zeit sorgenvoll bemerkt hatte, verschwand von einer Minute auf die nächste.
Klaus Schirad schob mit der Gabel die letzten Kartoffeln zusammen. Nach dem Essen würde er sich einen Kognak bringen lassen. Zum Verdauen …
Zwei Männer kamen herein und setzten sich an einen Tisch in seiner Nähe. Sahen kurz zu ihm hinüber und gaben dann ihre Bestellung bei der Kellnerin ab.
Die Wirtin hatte nicht übertrieben, allmählich füllte sich die Gaststube. Die Repersfelder waren anscheinend alle von der Arbeit heimgekommen und sehnten sich nach Gesellschaft. Das Gemurmel an den Tischen wurde lauter. Die Kellnerin Irene bekam zu tun und musste eilen, um die Getränke an die Leute zu verteilen.
Schirad hatte gerade seinen Kognak hinuntergekippt, als die Tür des Gastraumes aufgestoßen wurde und ein kalter Windzug zwischen die Tische fegte. Von draußen kam ein Mann herein, der sich in der Tür bücken musste, um nicht mit dem Kopf an den oberen Rahmen zu stoßen. Seine Gestalt war klapperdürr und ein langer schwarzer Mantel schlotterte ihm um die Hüften. Auf dem Kopf saß ein Filzhut, den er jetzt hier drinnen abnahm. Nachdem der Blick aus seinen schmalen Augen einmal die Runde gemacht hatte, blieb er direkt vor dem Stammtisch stehen und starrte den Fremden ungeniert an.
Der Totengräber des Ortes, dachte Schirad und hielt dem stechenden, fast feindseligen Blick stand.
„Ich sitze jeden Abend hier“, knurrte eine heisere Stimme. Der Mann zog den Mantel aus und schüttelte die Regentropfen rücksichtslos um sich.
„Fünf Plätze an diesem Tisch sind noch frei“, antwortete Klaus unbeeindruckt.
Frau Lippold kam eilig hinter der Theke hervor. „Wenn ich vorstellen darf: Doktor Retzlaff.“ Sie gab dem dürren Mann die Hand. „Nimm Platz, mein Bester! Das ist Herr Schirad aus Berlin, er verbringt einige Urlaubstage bei uns.“
Der Angekommene setzte sich. „Wie kann man freiwillig in diese ungastliche Gegend kommen? Noch dazu bei diesem scheußlichen Wetter!“
„Morgen soll es endlich Frühling werden“, verkündete die Wirtin versöhnlich.
Retzlaff schüttelte ungläubig den Kopf. „Einen Grog mit viel Rum.“
„Was darf es heute zum Abendbrot sein? Schlachteplatte?“
„Dieses fette Zeug? Willst du mich vergiften, Elisabeth?“
„Die Forelle kann ich empfehlen“, wagte Schirad einzuwerfen.
Der Mann sah ihn an, als hätte er soeben die ungeheuerlichste Beleidigung empfangen. „Ich esse niemals Fisch, mein Herr! Sämtliche Gewässer sind verseucht – es ist ein wahres Wunder, dass die Fische bei all den eingeleiteten Schwermetallen noch an die Oberfläche kommen.“
„Schade, ich hatte gehofft, noch ein Fleckchen unberührte Natur vorzufinden.“
„Und da kommen Sie ausgerechnet hierher?“ Der Mund des Doktors wurde noch schmaler.
Ein Zyniker, dachte Schirad.
„Nehmen Sie ihn nicht ernst“, empfahl Frau Lippold.
Wieder betrat jemand die Gaststube. Ein dicklicher Mann, dessen angegraute Haare in jungen Jahren wohl blond gewesen sein konnten.
Retzlaff hob die Hand, ohne sich umgesehen zu haben. „Graunke, setz´ dich zu mir!“
Der Mann trat an den Tisch und grüßte zurückhaltend.
„Schlag keine Wurzeln, nimm endlich Platz!“, knurrte der Doktor. „Deine Frau war heute bei mir in der Praxis.“
„Ich weiß. Sie hat in letzter Zeit manchmal solche Bauchschmerzen.“
„Die kommen nicht von ungefähr …“
„So?“
„Kannst du dir nicht denken, was die Ursache ist?“
„Nein …“
„Hör zu: Wenn sie so weitersäuft, ist sie nächstes Jahr tot.“
Der Mann wurde bleich. „Aber so schlimm ist es doch gar nicht ...“
„Graunke, die Leber deiner Frau ist so groß wie ein Fußball. Mach mir nichts vor, sie bechert was das Zeug hält.“
Ein genierter Seitenblick streifte den Fremden. Schirad tat so, als höre er nicht zu und hob sein Bierglas zum Mund.
„Vielleicht liegt es daran, dass ich seltener zu Hause bin als andere Männer“, meinte Graunke leise.
„Mag sein. Wer wird auch schon Polizist? Ein Beruf für willensschwache Angeber. Euch fehlen Kinder, mein Lieber.“
„Meine Frau ist Ende Vierzig, da ist ja wohl kaum noch Aussicht, oder?“
„Unwahrscheinlich“, antwortete der Arzt trocken, und Schirad verbarg ein Schmunzeln hinter seinem Glas.
„Seit sie arbeitslos wurde, hat sich ihr Gemüt zusehends eingetrübt. Manchmal sitzt sie den ganzen Nachmittag über am Fenster und starrt hinaus auf den Hof.“
„Es fehlt ihr natürlich eine Art ... Beschäftigung“, sinnierte Retzlaff. „Etwas Sinnvolles, sie ist ja nicht dumm.“
„Keineswegs. Zuweilen denke ich, dass Gerda mir stets einen Gedanken voraus ist.“
Der Arzt hüstelte und sah sich nach der Bedienung um. Wie auf ein Stichwort kam Elisabeth Lippold mit einem vollen Tablett an den Tisch.
„So, meine Herren! Soll keiner sagen, er wäre bei uns verdurstet.“ Graunke stellte sie ungefragt ein großes Bier vor die Nase, dem Doktor und Schirad servierte sie die bestellten, hochprozentigen Getränke. Dann setzte sie sich zu den Männern. „Ihr habt euch in der Zwischenzeit bekannt gemacht? Unser Pensionsgast ist bei der Kriminalpolizei in Berlin.“
Schirad verfluchte im Stillen seine Offenherzigkeit.
Retzlaffs Blick traf ihn wie ein blankes Messer. Die Gesichtsmuskulatur des dürren Mannes vollbrachte eine bemerkenswert akrobatische Leistung – das linke Auge legte sich unter der gerunzelten Braue in Falten, während das rechte, weit aufgerissen, in seiner Höhle umherrollte. „Ich hab´ gleich gesehen, dass mit Ihnen etwas nicht in Ordnung ist.“
Der Polizist Graunke reichte Schirad die Hand. „Das ist ja eine Überraschung, wir sind also Kollegen?“
„Ja …“
„In welcher … Abteilung sind Sie denn tätig?“, fragte der Arzt.
„Mordkommission.“
Ein heiseres, erstauntes Pfeifen kam über die schmalen Lippen.
„Da bekommen Sie einiges zu sehen, was?“
„Ich bin zurzeit außer Dienst, krankgeschrieben.“
„Die Nerven?“, fragte Retzlaff zutraulich.
„Nein. Eine Schussverletzung hätte mich beinahe mein rechtes Bein gekostet. Das Knie musste operiert werden.“
„Nun seid doch nicht so neugierig!“, mahnte Elisabeth Lippold.
„Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre bei der Polizei“, sagte Graunke. „Glücklicherweise blieb unser Städtchen bislang von Verbrechen dieser Art verschont.“
„Gott sei Dank auch“, kommentierte der Arzt mit einem zweideutigen Seitenblick.
„Einmal hatten wir allerdings so eine merkwürdige Geschichte …“
„Graunke, bitte!“
„Kann gut zwanzig Jahre her sein“, fuhr der unbeirrt fort. „Die Sache mit Kronenburg, erinnert ihr euch?“
„Lass die alten Geister in der Flasche“, brummte Retzlaff.
„Spielt doch keine Rolle, was damals passiert ist“, fiel auch die Wirtin überraschend unwirsch ein. „Der Mann war ein Schwein, und deshalb ist es letztlich egal, wie er … Aber ich wollte euch eine neue Runde bringen. Trinkt ihr noch mal dasselbe?“
Die Männer nickten. Schirad spürte, wie ihm der Alkohol jetzt lähmend zu Kopfe stieg. Langsam breitete sich diese bekannte gedankenlose Leere aus, die ihn wärmend umfloss und vergessen ließ.
„Ich sage euch, da war etwas faul“, redete der Polizist weiter und ein letzter Funken Neugier in Schirads Wahrnehmung bewirkte, dass er interessiert zuhörte. „Man hat ihm den Schädel eingeschlagen, ich habe die Verletzung mit eigenen Augen gesehen – ich war ja am Tatort!“
„Der Mann kam mit dem Spätzug aus Rheinsberg, ist im Suff an der Schranke auf die Gleise geraten und hundert Meter hinter dem Bahnhof …“ Retzlaff schwenkte den letzten Schluck seines Grogs im Glas hin und her. „Aber, was geht das unseren Gast an?“
„Na ja, man erinnert sich natürlich“, hob Graunke verlegen die Arme. „Wie konnte Kronenburg sich verlaufen, wo doch die Straße an der Schranke beleuchtet ist? Er wohnte in Neu-Repersfelde.“
„Was wissen wir“, sagte der Arzt. Als er Schirads neugierigen Gesichtsausdruck bemerkte, erklärte er: „Neu-Repersfelde ist eine Siedlung, die Anfang bis Mitte der siebziger Jahre hinter den Feldern auf der anderen Seite des Bahndamms entstand. Die LPG ließ auf einem unerschlossenen Areal für junge Familien einige vierstöckige Wohnblocks errichten, daneben wurden etliche Grundstücke für den Bau von Eigenheimen verkauft. Es lag unserem Städtchen am nächsten, und so bekam der Ort den Namen Neu-Repersfelde.“
„Was ist eine LPG?“, rutschte Klaus die Frage heraus. Im selben Augenblick bereute er sie schon.
Retzlaffs schmale Augenbrauen hoben sich und sein Blick taxierte den Fremden. Spöttisch spitzte er die Lippen. „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“, kam die gedehnte Antwort.
Graunke glotzte verständnislos.
„Sind Sie wirklich nur hierhergekommen, um Urlaub zu machen?“, fragte der Arzt.
„Ja. Keine Sorge, ich habe nicht vor, mich hier … niederzulassen.“ Die Worte stolperten ein wenig, da Schirads Zunge allmählich schwer wurde.
„Vielleicht schauen Sie sich nach etwas anderem um.“
„Ich möchte hier einige ruhige Tage verbringen. Habe etwas Erholung nötig, nach dem schweren … Aber was erzähle ich? Dies wiederum geht nur mich etwas an.“
Retzlaff verzog keine Miene, aber seine dürren Finger klopften ein Stakkato auf die Tischplatte.
Eine Stunde später taumelte Schirad die enge Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Er war betrunken. Rülpsend schloss er die Tür auf, machte Licht und setzte sich benommen auf das Bett.
Es hatte aufgehört zu regnen. Letzte Tropfen fielen vom Dach hinunter und klatschten gegen das Blech des Fensterbrettes. Dunkle Stille draußen. Irgendwo bellte heiser ein Hund.
Er kam sich verloren vor. Wie auf einem anderen Kontinent, Millionen Kilometer von zu Hause entfernt. Aber wo war eigentlich sein zu Hause? Gab es noch einen Ort, der ihn mit vertrauter Wärme erwartete?
Die große Reisetasche stand unausgepackt neben dem Bett. Seine Hand fuhr zwischen die Sachen und holte eine Fotografie unter Glas hervor. Er legte sich auf die Seite und betrachtete das lächelnde Gesicht darauf. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die sich im Wind übermütig nach hinten auftürmten. An einem sonnigen Herbsttag am Berliner Wannsee. Um ihre Mundwinkel spielte dieses neckende Lächeln, spöttisch fast, neben den kleinen Grübchen ihrer Wangen. Damals hatten seine Finger jeden Abend zärtlich im Dunklen über ihr Gesicht gestreichelt … Damals, in seinem anderen Leben.
Wie viele Male hatte er dieses Foto in den letzten Monaten vor sich aufgestellt und geweint. Um Simone, seine große Liebe.
Jetzt schienen Schirads Augen tränenleer. Vielleicht hatte er zu oft seinen schweren Kopf in den Kissen vergraben und den Schmerz hinausgeschrien und geweint.
Er stellte das Bild behutsam auf den Nachttisch und zog sich aus.
„Morgen verschwinde ich von hier“, flüsterte er dem Foto zu. „Egal, was sie von mir halten. Ein paar Tage, dann wird man mich wieder vergessen haben.“
Schirad löschte das Licht und starrte an die Decke. „Du bist an jedem Ort der Welt bei mir, da kann ich ebenso gut nach Berlin zurückfahren.“
Damit zog er die Decke über sein Gesicht und wünschte sich nichts sehnlicher, als traumlos zu schlafen.
III.
D
ie Sonne schien mit grellem Licht durch die Fenster. Er fuhr hoch und sah erstaunt hinaus. Ein strahlend blauer Himmel lud die Natur zum Spielen ein, Vögel übertönten einander mit den verrücktesten Pfeifkünsten, noch die unscheinbarste Pflanze schüttelte sich den Tau von den Zweigen und ließ ihr zartes Blattgrün schüchtern sprießen. Der Frühling war endlich da, und mit ihm eine wohlige Wärme. Bäume erzitterten unter der Lust auszutreiben, letzte vertrocknete Blätter, die es den Winter über geschafft hatten, sich an den Ästen festzuklammern, wurden mitleidlos abgeworfen. Die Schöpfung setzte zu einem neuen erwartungsfrohen Leben an.
Eine halbe Stunde später saß Klaus Schirad mit Kopfschmerzen am gedeckten Frühstückstisch in der kleinen Gaststube. Er war allein im Raum, weitere Pensionsgäste schien es nicht zu geben. Nach der zweiten Tasse Kaffee machte sich sein Herz mit drohendem Flattern bemerkbar. Er würgte mit zähem Kauen ein Marmeladenbrötchen hinunter.
Frau Lippold kam mit einem Tablett. In ihren dunklen Augen blitzte schelmisches Mitleid. „Soll ich Ihnen ein Glas Orangensaft bringen?“
Er nickte.
Kurz darauf stellte sie das beschlagene Glas vor ihm ab und legte eine Tablette daneben. „Es war ein bisschen viel Alkohol gestern Abend, nicht wahr?“ Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. Im hereinfallenden Sonnenlicht bemerkte er über ihren Lippen einige schwarze Härchen, die ihre reife Schönheit aber eher unterstrichen und das Gesicht interessant machten.
Schirad nahm die Tablette und setzte das Glas mit zitternden Händen an den Mund. Trank es fast leer.
Elisabeth Lippolds Blick war ihm unangenehm.
„Hätte nicht so viel Kognak trinken sollen“, raunte er heiser. „Ich hoffe, ich war nicht unhöflich …“
„Keine Sorge.“ Sie faltete eine Serviette. „Was haben Sie heute vor?“
Abhauen, dachte er spontan. „Nichts Besonderes.“
„Für eine Fahrradtour sind die Wege vom gestrigen Regen noch zu aufgeweicht. Machen Sie einen Rundgang durch unser Städtchen! Das Wetter lädt ja direkt zum Spazieren gehen ein.“
„Ja, das werde ich wohl tun. Ihre Prognose war richtig.“
„Hier auf dem Lande haben wir gelernt, die Zeichen der Natur zu deuten. Sie verraten einem viel, wenn man einen offenen Blick hat.“
„Sagen Sie, was hat es mit dieser Geschichte auf sich, die der Polizist da gestern erzählt hat?“
Ihre Augen wurden eng. „Graunke ist ein Schwätzer, der sich gerne wichtigmacht. Auf seine Worte kann man nicht viel geben.“
Klaus Schirad hatte sich in den vielen Jahren bei der Kriminalpolizei die Fähigkeit angeeignet, zu erkennen, wann jemand, der ihm gegenüber saß, nicht die volle Wahrheit sagte oder etwas verschweigen wollte. Manchmal war es nicht mehr als eine Ahnung, aber sein Instinkt betrog ihn selten. Auch in diesem Moment meldete sich der Argwohn, und ein kaum erklärbares Interesse war geweckt. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass der Mann mir irgendwelche Spinnereien auftischen wollte.“
„Das Ganze ist zwanzig Jahre her. Ein bedauerlicher Unglücksfall.“
„Graunke sprach von Mord …“
„Ach was. Die Kriminalpolizei hat ihre Ermittlungen irgendwann eingestellt, weil sich dieser absurde Verdacht nicht bestätigen ließ. Es war ein Unfall, das stand ja auch in der Zeitung.“
„Dass es ein Unfall war?“
„Ja, natürlich. Paul Kronenburg ist auf dem Heimweg nach Neu-Repersfelde in betrunkenem Zustand von einem Zug angefahren worden und verstarb an seinen schweren Verletzungen.“ Frau Lippold erhob sich und stellte das Geschirr zusammen. „Haben Sie noch einen Wunsch?“
„Nein, danke.“ Er beobachtete an ihren Bewegungen eine gewisse Unruhe. Die Fragen waren der Frau offensichtlich unangenehm.
Schirad verschränkte seine Hände hinter dem Kopf und sah zum Fenster hinaus. Da gingen Leute in luftigen, hellen Sommerjacken vorbei. Im Haus gegenüber stand eine rotwangige Frau am Fenster, schüttelte eine Decke aus und sah dann mit einem fröhlichen Lächeln nach oben in den Himmel.
Nun gut, dachte er. Ein, zwei Tage will ich noch bleiben, jetzt wo der Frühling sich so freundlich zeigt. Zeit ist für mich ja sowieso zu einem abstrakten Begriff geworden.
Eine Stunde später hatte er den Innenstadtbereich – wenn man das Karree um den kleinen Marktplatz herum denn überhaupt so nennen konnte – erkundet. Märkische Bürgerhäuser, selten höher als zwei Etagen, säumten die gepflasterte Freifläche, in deren Mitte ein Brunnen mit runden, steinernen Bänken stand. Unter einer eingezäunten Baumgruppe schräg daneben hatte ein Kriegerdenkmal die Patina vieler Jahre angesetzt. Die Inschrift war mit Efeu zugewachsen, so dass man nicht mehr lesen konnte, für welche bedauernswerten Soldaten es einst errichtet worden war.
Schräge Bürgersteige ließen Schirad ein ums andere Mal ins Stolpern geraten. An einem Kiosk war er stehen geblieben, hatte eine Büchse Bier getrunken und zwei weitere ungeöffnet in der Innentasche seiner Jacke verschwinden lassen. Die Kopfschmerzen ließen langsam nach, aber in der Apotheke neben dem Rathaus kaufte er sich vorsichtshalber Schmerztabletten.
Danach stand er, die Arme auf dem Rücken verschränkt, mitten auf dem Platz und schaute sich unentschlossen um. Die Vormittagssonne stand noch nicht allzu hoch. Sollte er zurück zur Pension gehen und sich aufs Bett legen? Nein, die Angst vor betrüblichen Gedanken schüttelte innerlich den Kopf. Ihm kam eine Idee: am Bahnhof hatte er den Aushang mit den Abfahrtszeiten der Züge in Richtung Berlin gesehen. Es konnte ja nicht schaden, wenn er sich schon mal informierte …
Klaus trabte in die Richtung los, aus der ihn Lippold gestern hierher gefahren hatte. Er bemerkte, dass seine Schritte für einen gemütlichen Spaziergang viel zu lang waren, aber er konnte sich von seiner gewohnten schnellen Gangart nicht lösen. Wahrscheinlich war das auch einer der vielen Gründe, warum Stadtmenschen für das gemächliche Leben auf dem Lande nicht taugten – sie mussten einfach immer von einem Ort zum anderen hasten, ihnen war die beschauliche, innehaltende Ruhe fremd.
Hinter den letzten Häusern wurde der Wald sichtbar und er schlug einen Weg ein, von dem er glaubte, er würde ihn am See vorbeiführen. Den wollte er zumindest noch aus der Nähe gesehen haben. Im Gegensatz zur holprigen Straße ging es hier leicht bergab. Und tatsächlich lichteten sich nach mehreren hundert Metern die Bäume, ein Schilfgürtel schlängelte sich vorsichtig heran. Dann stand er plötzlich am flachen Ufer und mit den trägen Wellen blies ihm ein kühler Windzug um die Wangen. Das Wasser hatte seine Farbe verändert. Die leise plätschernden Schaumkronen spiegelten das Kristallblau des Himmels wider und vermischten sich zur Mitte hin mit einem tiefen, unergründlichen Grün.
Schirad setzte sich auf ein kleines Stückchen Wiese, von wo aus er freie Sicht über den See hatte. Ihm wurde wieder warm und er entledigte sich seiner Jacke. Breitete sie hinter sich auf dem Rasen aus und öffnete eine Büchse Bier. Den ersten Schluck trank er gierig, dann legte er sich hin und blinzelte in den Himmel. Die Sonne fächerte milde Wärme über sein Gesicht, das sich in letzter Zeit über den Wangenknochen leicht abgerundet hatte. Unter den Augen deuteten sich Tränensäcke an.
Er legte die Hände unter den Kopf und musste plötzlich an seine Kollegen denken. An Konrad Hofer, der in den vergangenen Jahren zu seinem Freund geworden war, dessen Besorgnis er sich in letzter Zeit jedoch verweigerte. Einige Male hatte er die Tür einfach nicht geöffnet. Klaus schämte sich dafür, aber er war zu einer Begegnung nicht fähig gewesen – die Scheu vor unliebsamen Unterhaltungen hatte mittlerweile fast krankhafte Züge angenommen.
Dann spielte ein Lächeln um seine Mundwinkel. Er dachte an Hatice Özdekim, die junge, intelligente Kriminalbeamtin – Deutsche türkischer Abstammung. Sie hatte schon vom Beginn ihrer Zusammenarbeit an die selbstbewusste Courage, seinen Launen zu trotzen und ihm furchtlos die Meinung zu sagen. Klaus schätzte sie sehr, und je länger er an sie dachte, desto mehr verstärkte sich das Gefühl, dass sie vielleicht die Einzige sein könnte, der er seine Gedanken und Ängste anvertrauen wollte. Vielleicht oder gerade wegen der gewissen nüchternen Bodenständigkeit, die ihr zu eigen war.
Er trank das Bier aus und wollte die leere Büchse in den nächsten Busch werfen, besann sich jedoch und steckte sie in seine Jacke. In der Mitte des Sees zog ein kleines Segelboot seine Kreise, das blaue Fähnchen hoch oben auf dem Mast flatterte übermütig im Wind. Klaus sah ihm eine Weile zu und überlegte, ob es ihm Spaß machen würde, selbst mal hinaus aufs Wasser zu fahren. Morgen konnte er sich ja erkundigen, ob ihm jemand ein Boot ausleihen würde.
Aber hatte er sich nicht eigentlich vorgenommen, morgen oder übermorgen zurück nach Berlin zu fahren? Warum den Aufenthalt hier unnötig verlängern? Schirad stand auf, brummte missmutig und warf einen letzten Blick auf den See und das Segelboot mit dem blauen Fähnchen. Er schüttelte das Gras von der Jacke. Die Wärme der Frühlingssonne legte sich sanft über seine Schultern.
Nachdem Schirad am Bahnhof die Zugfahrpläne studiert und sie durch lautes Vorsichhinsprechen im Gedächtnis zu behalten versucht hatte, ging er wieder ins Freie und wandte sich zur Straße. Er blieb nach wenigen Schritten an den rostgeränderten Schranken stehen. Auf der anderen Seite der Gleise beschrieb die Kopfsteinpflasterstraße eine linksgerichtete, scharfe Kurve in den Wald hinein. Dort ging es sicher nach Neu-Repersfelde.
Er betrat die Betonschwellen zwischen den Schienen und sah sich um. Dabei behielt er argwöhnisch die Schranken im Augenwinkel. Vor der Kurve bog ein schmaler Weg unmittelbar neben der Bahnböschung in den Wald hinein. Gleise und Weg verlaufen also im weitesten Sinne parallel, waren seine ersten Gedanken. Wenn sich Kronenburg damals den Heimweg abkürzen wollte, warum war er auf die Gleise geraten?
Klaus verließ den Bahnübergang und ging auf den Schienen weiter. Wenn man die Füße auf jede Schwelle setzte, tippelte man in albern kleinen Schritten, nahmen die Beine allerdings nur jede zweite, mussten sie sich gehörig spreizen. Wie machten das die Streckenläufer der Bahn? Er lief schließlich schnaufend neben den Schienen her. Der Damm gewann dem Weg unten gegenüber schnell an Höhe. Nach ungefähr hundert Metern blieb Schirad stehen. Die Böschung fiel hier steil ab und man musste schon ein guter Kletterer sein, um unbeschadet hinunter zu kommen. Soweit er sehen konnte, gab es aber keine bessere Möglichkeit mehr, den Damm zu verlassen. Er drehte sich um – der Bahnhof war noch zu sehen. Hatte es Kronenburg hier erwischt, oder noch ein Stückchen weiter? Egal, der Höhenunterschied blieb. Gute fünf Meter, schätzte er. Schon wenn man einfach nur hinunter fiel, mochte es einige Knochenbrüche zur Folge haben. Büsche, die einen auffangen konnten, gab es nicht. Nur kurzes Gras. Daneben der schmale Weg, und erst dahinter begann der Wald.
Ein müdes Klingeln kündigte plötzlich das Schließen der Schranken an. Kurz darauf fuhr im Bahnhof der Regionalzug in Richtung Rheinsberg ein. Schirad stolperte auf die andere Seite der Gleise und setzte sich ins Gras der Böschung. Er hörte das zischende Geräusch der Türverriegelung, dann summte es in den stählernen Strängen und der Zug näherte sich. Das Gesicht des Lokführers war nun ganz deutlich zu erkennen – er musterte den Mann am Rande des Gleisbettes misstrauisch. Dann polterten die Wagen vorbei, langsam noch, mit etwa zwanzig, dreißig Stundenkilometern. Klaus sah ihnen nach und überlegte. Warum hatte der Lokführer damals den torkelnden Kronenburg auf den Schienen nicht gesehen und eine Vollbremsung eingeleitet? Eine Chance, das Unglück zu verhindern, hätte durchaus bestanden. Die Geschwindigkeit hatte hier, kurz nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof, ihre Spitze längst nicht erreicht. Selbst wenn der Zugführer die Gestalt im Lichtkegel der Scheinwerfer zu spät bemerkt hätte, warum war niemand verständigt worden? Sehr merkwürdig, dachte er und machte sich auf den Rückweg.
IV.
D
as junge Pärchen saß wieder an seinem Tisch am Fenster, als Schirad nachmittags die Gaststube betrat. Heute sahen sie nicht mehr zu ihm herüber. In stiller Zärtlichkeit kraulte das Mädchen den Jungen mit den Fingerspitzen am Haaransatz über dem Ohr.
Simone hatte das auch manchmal getan, erinnerte sich Klaus und Wehmut ergriff sein Herz. Nie wieder würde ihm unter dem Streicheln ihrer Hände ein wohliger Schauer über den Rücken laufen.
`Es mag sehr lange dauern, bis wir uns wiedersehen´, vernahm Schirad plötzlich von irgendwoher ihre Stimme. Das passierte ihm in letzter Zeit manchmal.
`Wenn einen das Leben nicht mehr liebt, stirbt man schneller´, kam seine gedankliche Entgegnung.
Er horchte in sich hinein, aber es blieb still. So war es auch damals meistens gewesen: wenn er irgendwelchen Unsinn von sich gab, hatte sie mit einem stirnrunzelnden Lächeln dazu geschwiegen.
Die Finger zitterten leicht beim Anstecken der Zigarette.
Ähnliche Dialoge hatte er seit ihrem Tod im Geiste öfter geführt. Er bekam dann das Gefühl, sie sei ganz nah und spräche mit ihm – einzig die Wärme ihres Körpers fehlte.
Schirad hatte schon oft gedacht, wenn er einmal verrückt werden würde, käme dies von einer Sekunde auf die andere. Wie ein Blitzschlag sozusagen. Es gab irgendwie einen Knacks im Gehirn und dann brannten die Sicherungen durch. Dass dies einmal geschehen würde, davon war er überzeugt.
Sein derzeitiger Zustand war vielleicht schon eine Art Vorstufe, denn normal war es wohl kaum, dass man im Geiste Gespräche mit Personen führte, die in dieser Welt gar nicht mehr anwesend waren …
Elisabeth Lippold unterbrach seine Gedanken. Sie stellte ihm ein Bier auf den Tisch und legte die Speisekarte daneben. „Haben Sie in der Sonne gesessen? Ihr Gesicht ist ganz gerötet.“
„Ich war am See.“
„Sie sollten die Frühlingssonne nicht unterschätzen, man kann sich auch jetzt schon leicht einen Sonnenbrand holen.“
Er nickte und trank einen Schluck Bier. „Wie komme ich am schnellsten von hier aus nach Neu-Repersfelde?“
Sie stutzte. „Am Bahnhof über den Bahnübergang, und dann immer die Landstraße entlang. Ungefähr zwei Kilometer …“
„Kann man sich die Strecke auf dem Weg neben den Gleisen abkürzen?“
„Nein. Nur wenn man zur sogenannten Eisenbahnersiedlung will – die liegt etwas abseits des Ortes zur Bahn hin. Dort wohnen ausschließlich Bahnangestellte, deshalb der Name.“
„Und wo wohnte Paul Kronenburg?“
Die Wirtin trat einen Schritt zurück. „An der Hauptstraße, die mitten durch Neu-Repersfelde führt“, sagte sie schroff, drehte sich um und verschwand in der Küche.
Schirad hob das Glas und trank bedächtig. Er überlegte: Kronenburg hätte sich demzufolge neben den Schienen entlang einen Umweg gemacht. Was hatte ihn in diese falsche Richtung getrieben? War er so betrunken gewesen, dass er die Orientierung verloren hatte? Der Bahnübergang und die Straße wurden durch Laternen beleuchtet, der Weg dagegen lag im Dunklen. Unwahrscheinlich, dass man sich dort so verirren konnte.
Er zog einige Zigaretten aus der Schachtel, legte sie aneinander und schob Bierdeckel gegenüberliegend auf beide Seiten der entstandenen Linie. Zwischen zwei Zigaretten ließ er eine kleine Lücke – den Bahnübergang. Klaus starrte auf den Tisch und dachte nach. Eine Karte dieser Gegend müsste man haben! Morgen würde er sich eine kaufen.
Dann legte er die Deckel wieder übereinander und zog die Mundwinkel schief. Die Leute hier hatten Recht, was ging ihn die Geschichte eigentlich an? Den Rest des Bieres hinunterstürzend sah er sich ungeduldig nach der Bedienung um.
Vor der Tür wurden Schritte laut. Lippold kam in Gummistiefeln in den Gastraum gestapft, grüßte und ging hinter den Tresen. Er schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und rief zu Schirad hinüber: „Morgen schlachten wir. Sie können dabei sein, wenn Sie wollen.“
Der winkte erschaudert ab.
Über das rosige Gesicht des Wirtes spazierte ein Lächeln.
Kurz darauf wurde wieder die Tür geöffnet. Eine ältere Frau betrat die Gaststube, ging zu Lippold und schüttelte ihm die Hand.
„Bist ja heute früh dran, Ursula.“
„Meine Enkeltochter ist auf Klassenfahrt, es ist mir zu still im Hause.“
„Ich wünschte mir mal einige Tage Ruhe …“
„Wir beide gehören nicht zum Menschenschlag, der still am Ofen sitzen kann.“
„Das mag wahr sein.“ Er drehte sich zu seinem Gast. „Frau Kollweit ist unsere Köchin. Wenn Sie mal einen speziellen Wunsch haben …“
„Danke“, hob Klaus die Hände. „Es schmeckt alles sehr gut.“
Sein Blick traf ihre grünlich braunen Augen. Sie schauten ihn aus einem ernsten, fast verhärmten Gesicht flüchtig an.
Die Frau zog ihren Mantel aus, legte ihn zusammen und ging in die Küche.
Wie auch am vergangenen Abend füllte sich die Gaststube mit fortschreitender Stunde. Draußen legte die Abendsonne einen goldenen Teppich über die Straße und färbte die Ziegelsteinfassaden flammend rot.
Schirad trank wieder Schnaps und Bier, nachdem er zwei Bouletten mit Senf hinuntergeschlungen hatte. Die Kellnerin Irene bediente ihn.
Elisabeth Lippold hielt sich die meiste Zeit hinter dem Schanktisch auf. Er vermutete, dass ihr seine Fragen nach Kronenburg unangenehm gewesen waren. Aber warum? Die Sache lag zwanzig Jahre zurück. Ihre Reaktion war merkwürdig.
Fast um dieselbe Stunde wie am Vortag kam der Polizist Graunke herein, schaute sich unentschlossen um und blieb stehen. Klaus nickte ihm zu.
„Du solltest zu Hause bei deiner Frau sein“, begrüßte ihn die Wirtin kopfschüttelnd.
„Sie ist schon zu Bett gegangen“, antwortete er und näherte sich dem Stammtisch. „Migräne, die hat sie manchmal … Bring mir bitte ein großes Bier, Elisabeth.“
Zögernd nahm er Schirad gegenüber Platz.
„Es gefällt Ihnen hoffentlich hier?“, kam nach einer Weile die erste Frage.
„Repersfelde scheint ein gemütliches Städtchen zu sein“, meinte Klaus vorsichtig.
„Ja, das ist es.“
„Ich war heute auch am See …“
„Bei Schulze am Fließ – er wohnt im gelben Haus hinter der Kirche – können Sie sich ein Boot ausleihen. Von dort kommt man über den Kanal direkt auf den See hinaus.“
„Danke für den Hinweis.“
„Können Sie segeln?“
„Nein, leider nicht. Ein Ruderboot tut es aber auch.“
„Nehmen Sie sich eine Angel mit, das entspannt. Ich fahre an freien Tagen manchmal ganz früh aufs Wasser, da ist es noch still und man kann nachdenken.“
„Vom Angeln verstehe ich auch nichts.“
Sie mussten beide lächeln und prosteten sich zu.
„Na ja, Sie sind eben ein Stadtmensch“, sagte Graunke mitfühlend.
„Vielleicht kann ich das eine oder andere noch lernen.“
„Wenn Sie lange genug bleiben.“
Schirad räusperte sich. „Ich kam vorhin beim Spazierengehen am Bahnhof vorbei. Schade, dass man das Gebäude so verfallen lässt.“
„Die Gemeinde hat kein Geld, wir können es nur notdürftig sichern. Zudem wird gemunkelt, dass die Bundesbahn im nächsten Jahr den Zugverkehr auf dieser Strecke einstellen will. Die zurückgegangenen Fahrgastzahlen machen eine Rentabilität fraglich, heißt es. Schlaue Leute, die woanders sitzen und bestimmt nicht auf die Bahn angewiesen sind, haben es ausgerechnet. Eine Schande! Solange ich denken kann, gibt es diese Strecke.“ Er hob den Finger und lächelte. „Mit genau demselben Fahrplan seit vielen Jahrzehnten, vor und nach der Wende! Verlässlich wie der tägliche Sonnenaufgang. Aber nun ja, es ist wohl auch etwas dran, dass nicht mehr so viele Leute mit dem Zug fahren. Die Jungen gehen von hier weg, weil sie keine Arbeit finden, und von den Alten haben sich viele ein Auto gekauft. Gelegentlich kommt es sogar vor, dass niemand mehr hier aussteigt.“
Sie schwiegen eine Weile. Am Nachbartisch wurde Karten gespielt und Graunke sah verstohlen zu. Klaus ließ zwei Schnäpse kommen und prostete seinem Repersfelder Kollegen zu.
„Sie haben da gestern Abend etwas von einem Unglücksfall erzählt, der schon einige Jahre zurückliegt ...“
„Ach ja, die Sache mit Kronenburg.“
„Mir schien, Sie glauben nicht so recht daran, dass es ein Unfall war?“
„Was heißt glauben? Ich weiß es: Der Mann wurde ermordet.“
„Mit dieser Meinung stehen Sie ziemlich alleine da, oder?“
„Mag sein. Der Fall wurde damals vorschnell zu den Akten gelegt, ohne dass je umfassendere Untersuchungen erfolgten. Dabei gab es eine ganze Reihe von Merkwürdigkeiten, ein paar Dinge passten einfach nicht zusammen. Von der Logik her, wenn Sie verstehen, was ich meine?“
„Welche Dinge?“
Graunke setzte behäbig sein Bierglas an den Mund und nippte. Es schien, als überlege er, ob dem Fremden zu trauen war. Die Finger wischten langsam den Schaum vom Mund. „Nun, man kann ja heutzutage seine Meinung frei äußern, nicht wahr?“
„Im Allgemeinen schon.“
Der Polizist grinste verschmitzt. „Ich kam damals als erster an den Tatort, von offizieller Seite her, meine ich. Es war eine warme Nacht, das weiß ich noch genau. Der 10. Juni 1975 …“
*
… Er fuhr ruckartig aus dem Schlaf hoch. Der Hund unten auf dem Hof hatte angeschlagen und gebärdete sich wie wild. In den kurzen Pausen zwischen dem wütenden Bellen war ein ungeduldiges Klopfen an der Haustür zu vernehmen. Es war noch stockfinstere Nacht.
Seine Frau richtete sich benommen neben ihm im Bett auf. „Wer veranstaltet denn da so einen Lärm?“
„Ich geh´ nachschauen.“ Er sprang aus dem Bett und zog sich den Morgenmantel über.
Im matten Schein des Flurlichts erschien in der geöffneten Tür das verstörte Gesicht des Bahnarbeiters Thale. „Graunke, du musst sofort mitkommen!“, japste es dem Polizisten entgegen.
„Beruhige dich. Was ist denn passiert?“
„Ein Toter! Am Weg neben dem Bahndamm …“
„Wie …? Ein Unfall?“
„Kopfverletzung, mehr konnte ich im Licht meiner Taschenlampe nicht erkennen.“
„Bist du dir sicher, dass der Mann tot ist?“
„Er atmete nicht, und als ich das Ohr an seine Brust legte, hörte ich auch keinen Herzschlag. Ich glaube, es ist …“
„Ja?“
„Kronenburg.“
Graunke trat einen Schritt zurück. „Paul Kronenburg?“
„Ich bin mir ziemlich sicher. Komm doch endlich!“
„Gleich. Ich muss vorher anrufen und die zuständigen Stellen verständigen.“
Kurz darauf fuhren sie auf dem tuckernden Moped des Polizisten über die Straße am Bahnübergang und bogen in den schmalen Weg neben den Gleisen ein.
Zuerst sah Graunke einen hellen Fleck im Gras. Die blassgraue Blazerjacke des Toten, wie er dann beim näheren Hinschauen feststellte. Sie war blutgetränkt.
Thale richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Kopf im Gras.
Der Polizist erschrak. Im Schädeldach klaffte eine große Wunde, aus der ein spitzes Stück Knochen herausragte. Es gab keinen Zweifel, der Mann am Wegesrand war tot.
„Hab´ ich Recht?“, fragte der Eisenbahner flüsternd.
„Mit dieser Verletzung überlebt niemand“, gab Graunke zurück und nahm ihm die Lampe aus der Hand. „Die obere Kopfhälfte ist ja regelrecht in zwei Teile gespalten.“
„Er muss von einem Zug erwischt worden sein.“
Der Lichtschein wurde die Böschung hinaufgerichtet. „Möglich, aber warum liegt er dann hier unten? Wenn er nur gestreift worden wäre …“
„Es ist Kronenburg, nicht wahr?“
„Ja. Sein Gesicht erkenne ich.“
„Soll ich mal hochklettern und mich oben auf den Gleisen umschauen?“
„Nein, hier darf nichts angefasst und zertreten werden!“
Thale nickte. „Gut, dass ich dich gleich geholt habe. Es ist ja jetzt wohl notwendig, die Gedanken beisammen zu haben und Umsicht zu bewahren.“
Der Polizist war froh über die Dunkelheit, so sah der andere wenigstens nicht seine schlotternden Knie.
Kurz darauf war das Geräusch eines nahenden Autos zu hören, es kam von Neu-Repersfelde her die Landstraße herunter. Zwischen den hohen Bäumen erkannten sie die zuckenden Blaulichter eines Polizeiwagens …
*
Schirad pustete mit gespitzten Lippen in sein leeres Schnapsglas. „Wurde die Umgebung der Stelle, an der man den Mann gefunden hatte, gründlich untersucht?“
„Selbstverständlich. Es ging dann alles sehr schnell, die Kollegen des Funkstreifenwagens aus Rheinsberg veranlassten das Nötige. Eine Bereitschaft der Spurensicherung traf sogar noch vor Bienert ein.“
„Bienert?“
„Ein Oberleutnant der Kriminalpolizei. Ich kannte ihn von der Schule her, wir sind im selben Alter. Andreas Bienert ging in die Parallelklasse, bevor er dann nach Rheinsberg zur dortigen EOS kam.“
„EOS?“
Graunkes Blick taxierte den Fremden. „Ich habe mich gestern schon gewundert. Sie sind nicht von hier – ich meine, Sie kommen von drüben?“
„Drüben, wie das klingt! Ist es denn noch von Bedeutung, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung?“
Der Polizist drehte sein Glas zwischen den Händen. „Ich glaub´ schon. Man muss sich doch erst dran gewöhnen, was sind da fünf Jahre? Alles ist so anders, wenn Sie verstehen, was ich meine?“
Klaus winkte der Kellnerin und zeigte auf die leeren Gläser. Sein Herz machte sich wieder mit diesem unangenehmen Stolpern bemerkbar, obwohl er in den Schläfen schon den dumpfen Druck des Alkohols spürte. Auf der Stirn standen ihm Schweißperlen. Er versuchte, seine Unruhe zu unterdrücken und wandte sich wieder seinem Gegenüber zu: „Wurden damals Spuren gesichert, die Ihre Theorie eines Gewaltverbrechens gestützt hätten?“
„Nicht, dass ich wüsste. Nachdem dann noch ein Hauptmann der Kriminalpolizei aus der Kreisstadt eingetroffen war, taten alle sehr geheim. Über den weiteren Verlauf der Ermittlungen habe ich nichts mehr erfahren können. Es machten allerdings verschiedene Gerüchte die Runde …“
„Welche?“
„Zum Beispiel, dass der Fall nur sehr zurückhaltend untersucht wurde. Im privaten Umfeld Kronenburgs waren unter seinen Verwandten und Bekannten kaum Befragungen durchgeführt worden. Aber das wäre doch das Erste, was geschehen hätte müssen, nicht wahr?“
„Unbedingt.“
„Es war stets nur von einem Unfall die Rede, nie sprach jemand auch nur andeutungsweise von Mord.“
„Warum schloss man denn ein Verbrechen so rigoros aus?“
„Keine Ahnung.“
„Das klingt gerade so, als wenn missliebige Umstände dieses Falles bemäntelt werden sollten.“
„In unserem Staat wurden Mordverbrechen rückhaltlos verfolgt …“
„Offenbar nicht immer. Sie selbst sind ja der Überzeugung, dass damals ein Mord geschah, und Sie werden zugeben müssen, dass dies alles sehr eigenartig ist.“
„Vielleicht fehlten den Kollegen dann letztlich doch die konkreten Hinweise.“
„Das Verletzungsmuster am Kopf Kronenburgs deutete darauf hin, dass dem Mann der Schädel eingeschlagen wurde.“
„Allerdings. Ich möchte nur nicht, dass Sie denken, hier wäre …“
„Ich denke schon nichts Falsches“, brummte Schirad und kippte den gerade eingeschenkten Schnaps hinunter. Dann rieb er sich mit der flachen Hand über die Brust. „Was gab es damals noch so an Gerüchten?“
Graunke sah sich flüchtig um. „Ich weiß gar nicht, ob ich es …, ob ich Ihnen davon überhaupt erzählen sollte.“
„Sie haben mich neugierig gemacht, und außerdem bin ich doch quasi schon eingeweiht.“
„Es ging hier in der Stadt ein Gerede herum, den Kronenburg betreffend. Viele Leute waren der Überzeugung, dass der Mann nicht ungefährlich sei …“
„Sie meinen, er hatte seine Augen überall?“
„Ja.“
„Wie kam man darauf?“
„Das ging halt rum.“
„Kommen Sie, solch ein Verdacht entsteht doch nicht grundlos!“
„Er hatte so eine Art, sich überall anzubiedern, ohne wirklich mit irgendjemandem befreundet zu sein. Bei allen möglichen Gelegenheiten tauchte er auf, setzte sich uneingeladen zu den Leuten und lauschte ihren Gesprächen. Überdies steckten seine Finger in allerhand Geschäften – er hatte stets Sachen anzubieten, die es im Handel nur selten gab. Das fiel allmählich auf. Es wurde allerlei gemunkelt und die Bewohner von Repersfelde äußerten schließlich hinter vorgehaltener Hand zunehmend ihr Misstrauen. Wie Schimmel, der langsam die Wände hoch kriecht. Wenn Sie verstehen, was ich meine …“
Schirads Gesicht verkrampfte sich plötzlich mit schmerzerfülltem Ausdruck. Er atmete schwer und fasste sich an den Hals.
„Was ist mit Ihnen?“, erschrak Graunke.
„Schon gut“, kam ein Keuchen. „Mein Herz gerät von Zeit zu Zeit etwas aus dem Takt, und dann habe ich für ein paar Sekunden das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.“
„Damit sollten Sie mal zum Arzt gehen! Mit dem Kreislauf ist nicht zu spaßen.“
„Geht gleich wieder.“ Klaus wandte sich in die Richtung der Theke. „Ich trinke noch einen Kognak und dann gehe ich zu Bett. Ist ja auch Zeit.“
Neben dem Durchgang zur Küche gab es eine weitere Tür, durch die man in einen Flur kam, von dem aus die Treppe in das Obergeschoss mit den Gästezimmern führte.
Klaus stand unten und schloss kurz die Augen. Er war wieder betrunken und die Stufen vor ihm schaukelten wie die Planken eines Schiffes in Seenot. Sein Atem ging schnell und rasselnd. Mit beiden Händen fasste er das Geländer, um sich emporzuziehen.
Nach einigen Schritten, auf halber Höhe zur oberen Etage, fuhr ein heftiger Schmerz durch seine Brust. Er stöhnte auf und hob die Hände – alles drehte sich plötzlich um ihn. Der Schwindelanfall brachte seinen wankenden Körper zum Straucheln, und als er merkte, dass er fiel, war es bereits zu spät zum Festhalten. Die Arme ruderten hilflos in der Luft, sein Rücken schlug gegen die Sprossen, dann verlor er vollends das Gleichgewicht und stürzte, sich drehend, die Treppe hinunter.
Die Wände des schmalen Ganges kreisten um ihn, als er mit den Händen den Aufprall auf dem kalten Steinboden abfing. Schirad spürte den Stoß kaum, es wurde dunkel vor seinen Augen. Wie zum Schlaf legte sich der Kopf ganz sachte auf den Boden, dann kam eine finstere Bewusstlosigkeit über ihn.
V.
E
r schlägt die Augen auf“, hörte Schirad die Stimme Elisabeth Lippolds im Hintergrund.
Im selben Moment sah er die Hakennase Doktor Retzlaffs bedrohlich nah über seinem Gesicht. Der Arzt leuchtete ihm mit einer dünnen Stabtaschenlampe in die Pupillen.
„Lassen Sie Ihre Augen geöffnet, verdammt noch mal!“
„Was ist passiert?“
„Sie sind die Treppe hinuntergestürzt und hätten sich beinahe den Hals gebrochen.“
„Wo bin ich?“
„In Ihrem Zimmer. Elisabeth, bringe bitte eine Schüssel mit warmem Wasser!“
Die Wirtin eilte hinaus.
„Ich wollte keine Unannehmlichkeiten machen“, röchelte Klaus.
Retzlaff zog sich einen Stuhl an das Bett und legte eine Blutdruckmessmanschette um Schirads Arm. Dann aber hielt er inne. „Ich würde Sie gerne in eine Klinik einweisen …“
„Auf keinen Fall, ich bleibe hier.“
„Sie sind noch dümmer als ich vermutet hatte.“
„Ich will nicht.“
„Wir sollten mal Klartext reden: Es geht mich zwar nichts an, aus welchem Grund Sie sich unbedingt zu Tode saufen wollen …“
„In der Tat.“
„… aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie dies in Berlin tun würden. Problemfälle haben wir hier genug.“
„Graunkes Frau zum Beispiel.“
Retzlaff lächelte das erste Mal für einen Augenblick. „Sie haben Ihre Kripoohren überall, was?“ Dann wurde er wieder ernst. „Ich habe in diesem Fall etwas übertrieben, damit sich Graunke Gedanken macht und etwas öfter zu Hause sehen lässt. Bei Ihnen liegen die Dinge anders: Sie sind tatsächlich auf dem besten Wege, sich umzubringen.“
„Meine Sache.“
Der Arzt nahm das Foto vom Nachttisch. „Würde sie das wollen?“
„Stellen Sie das Bild zurück!“ Schirad versuchte sich aufzurichten, fiel aber kraftlos in die Kissen.
„Scheußlicher Anblick, wenn Alkoholiker verrecken. Die Leber versagt, ihre Gerinnung gerät durcheinander und sie bluten aus allen Knopflöchern.“
„Hören Sie auf!“
„Wenn Sie sich dann letztlich hilflos in Ihren Exkrementen wälzen …“
„Lassen Sie mich allein.“
„Ein paar Minuten noch, dann bin ich wieder weg. Oder dachten Sie, ich würde mich abends um 23.00 Uhr so sehr langweilen, dass es mich ausgerechnet nach Ihrer Gesellschaft verlangte?“
Frau Lippold brachte die Schüssel mit dem Wasser.
„Stell sie hier neben mich“, zeigte Retzlaff auf einen kleinen Hocker. „Ich säubere diesem Verrückten noch die Schürfwunde an der Schläfe und dann soll er meinetwegen tun, was ihm beliebt.“
„Aber du kannst doch nicht …“
„Er will nicht, dass man ihm hilft.“
„Was wird denn nun?“