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An einem regnerischen Sonntagmorgen wird an einer Straßenbahnhaltestelle der leblose Körper einer Frau entdeckt. Schnell steht für die herbeigerufenen Kriminalisten der Berliner Mordkommission fest, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Während die Ermittlungen anlaufen, nach etwaigen Zeugen gesucht wird und Spuren ausgewertet werden, meldet sich am folgenden Tag bei der Polizei ein anonymer Anrufer, der den Fundort einer weiteren Frauenleiche kundtut. Auf dem verlassenen Gelände eines ehemaligen Krankenhauses in der Nähe einer Straßenbahnlinie … Zufall? Für das Team um die Kriminalbeamten Konrad Hofer und Klaus Schirad beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn sie ahnen, dass der Mörder sehr bald wieder zuschlagen könnte.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Verfolgt
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Impressum:
Autor: Gerald Knopp, Berlin
Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder realen Begebenheiten wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Mai 1996
PROLOG
„Notruf der Berliner Polizei, Hofer. Guten Abend.“
„ ...“
„Hallo?“
„ ... Ich werde mich umbringen ...“
„Wie bitte?“
„ ...“
„Sprechen Sie etwas lauter, ich verstehe Sie kaum!“
„Ich werde mich umbringen.“
„Wo sind Sie jetzt ...?“
„Spielt doch keine Rolle. Ich tue es.“
„Weshalb wollen Sie sich das Leben nehmen?“
„ ...“
„Sind Sie noch dran?“
„Ja.“
„Ihre Stimme klingt sehr jung ...“
„Zweiundzwanzig.“
„Ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen sollte über Selbstmord nicht nachdenken!“
„Das können Sie natürlich leicht sagen, Sie haben meine Probleme nicht.“
„Was sind das für Probleme?“
„Wie alt sind Sie?“
„ ... Ich werde dieses Jahr einundvierzig ...“
„Kinder?“
„Sie wollten mir von Ihren Problemen erzählen.“
„Meine Wohnung ist aufgebrochen worden, aber egal, stand nichts mehr von Wert drin.“
„Ich kann Ihnen einen Funkwagen schicken, um eine Anzeige aufzunehmen ...“
„Nein. Ich muss da nächste Woche sowieso raus. Die haben mir gekündigt, ich konnte die Miete nicht mehr zahlen.“
„Die meisten Vermieter lassen sich auf eine Art ... Abzahlung ein.“
„Wovon? Ich habe keine Arbeit und noch ... andere Schulden.“
„Wie viel?“
„So um die fünfzehntausend Mark.“
„Da wird es doch bestimmt Verwandte oder Freunde geben, die Ihnen helfen können ...“
„Ich habe niemanden.“
„Jeder hat doch irgendjemanden ...“
„Ich nicht.“
„Von wo aus rufen Sie an?“
„Telefonzelle.“
„In der Nähe Ihrer Wohnung?“
„ ... Sonnenallee ...“
„Sie wohnen in Neukölln?“
„Ist doch egal.“
„ ...“
„Hallo?“
„Ich bin noch dran ... Die Sonnenallee ist lang ...“
„Mein blödes Leben ist verpfuscht.“
„Wo wohnen Ihre Eltern?“
„In Bochum. Die sind seit langem geschieden und wollen mit mir nichts zu tun haben.“
„Sie stammen aus Bochum?“
„Ja. Bin vor zwei Jahren nach Berlin gekommen. Ich dachte, hier in Berlin könnte ich freier leben ...“
„Was ist schief gelaufen?“
„Weiß auch nicht genau. Mein damaliger Freund vertickte Drogen und zunächst ging das ganz gut – wir hatten eigentlich immer Kohle. Dann war er wohl irgendjemandem im Weg, der auch Geschäfte machen wollte, und der schickte ein paar Leute ..., na ja, egal. Wir sind dann bald auseinander gegangen.“
„Wie ging es weiter?“
„Das Geld ging so weg. Die Wohnung, ein Kredit ...“
„Aber das sind doch alles noch keine Gründe, um sich ...“
„Was wissen Sie schon?“
„Gibt es denn gar keinen Menschen, mit dem Sie mal über alles reden können?“
„Schon lange nicht mehr.“
„Versuchen Sie doch, mit ihren Eltern wieder in Kontakt zu kommen!“
„Hat keinen Sinn, für die bin ich erledigt.“
„Geschwister?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Ehemalige Freunde in Bochum?“
„Geben Sie sich weiter keine Mühe! Mein Leben ist weniger wert als der Dreck auf der Straße ...“
„Sagen Sie das nicht!“
„Es gibt halt einige, die stehen immer außen vor.“
„Ich kann Ihnen einige Telefonnummern geben, wo Sie sich aussprechen können. Wo jemand sitzt, der Ihnen ...“
„Brauch´ ich nicht.“
„Aber ...“
„... Vielleicht könnte ich mit Ihnen reden, Sie haben so eine warme Stimme ...“
„ ...“
„Ich werde jetzt auflegen.“
„Nein, bitte!“
„Kann Ihnen doch egal sein. An einem Samstagabend bin ich nur eine Minutenepisode unter all den anderen Verrückten, die bei Ihnen anrufen.“
„Sie sind mir nicht gleichgültig!“
„Wenn ich mir die Pulsadern aufschneide ...“
„Wir wollen lieber reden!“
„Worüber? Helfen können Sie mir ja doch nicht.“
„Es gibt Leute ...“
„Ja ja, ich weiß schon. Engagierte Sozialarbeiter, oder wer auch immer. Die werden meine Schulden nicht bezahlen. Ich bräuchte einen Menschen in meiner Nähe, verstehen Sie? Jemanden, der wirklich mich meint! Ich habe manchmal einen Traum: Familie, Kinder, Zusammenhalt ...“
„Irgendwo ist jemand, der dieselben Sehnsüchte hat wie Sie.“
„Verdammte Scheiße! Haben Sie dort in Ihrer Leitzentrale ein Protokoll oder einen Ratgeber, in dem Sie nachlesen können, wie man Menschen wie mich am Telefon ... behandelt?“
„Nein.“
„Hat man Sie daraufhin geschult?“
„Alles, was ich sage, kommt gewissermaßen spontan ...“
„Und Ihre größte Angst ist im Moment, dass ich auflegen könnte, und Sie später erfahren müssen, dass sich, trotz all Ihrer Bemühungen, irgendwo eine Frau das Leben genommen hat?“
„Ehrlich gesagt, ja.“
„Morgen früh, oder wann immer Sie Feierabend haben, werden Sie auch dann nach Hause fahren und sich schlafen legen. Wie nach jeder Schicht.“
„Wollen Sie mir Ihren Namen verraten?“
„Melanie.“
„Und weiter?“
„Ist doch egal.“
„Lassen Sie uns noch einmal über Ihre Träume sprechen.“
„Was interessiert Sie daran? ... He, was ist das? Hier vor der Tür hält jetzt ein Polizeiauto und ... Das waren Sie, stimmt's?“
„Hören Sie mir zu ...“
„Ich denke nicht daran. Sie haben mich gelinkt ...“
„Melanie!“
„ ...“
„Hallo!“
„ ...“
„Melden Sie sich ...“
„Hier spricht Schröder vom Berolina 412.“
„Ah Kollegen, habt ihr sie?“
„Klar. Hat einen Augenblick gedauert, da wir ja von euch keine Hausnummer oder Straßenecke bekamen.“
„Ich rufe bei der Feuerwehr an, damit die einen Rettungswagen schicken.“
„Nicht nötig. Wir müssen noch wegen einer anderen Anzeigenaufnahme zum Krankenhaus Neukölln. Da können wir das Mädel gleich selber beim Arzt vorstellen.“
„Danke. Sie hat Probleme.“
„Alle haben Probleme. Aber ich bin heute mit einer Kollegin auf dem Auto, die wird das schon hinkriegen.“
I.
E
r strich mit der freien Hand immer wieder und gerne über die Armaturen des Führerpultes der Straßenbahn. Alle notwendigen Kontrollanzeigen waren wohl geordnet und blitzblank sauber. Fast jungfräulich konnte man sagen, nur wenige Male berührt. Vielleicht gefiel ihm das sogar am besten. Er atmete tief ein – diesen neuen ungewohnten Geruch. Als ob der Zug geradewegs aus dem Werk gekommen war und dies seine allererste Fahrt wäre.
Der Mann im Führerstand der modernen Niederflurstraßenbahn nahm den Fahrthebel ein wenig zurück, die nächste Haltestelle kam in Sicht.
Sonntagmorgen 06.43 Uhr, nur wenige Fahrgäste saßen hinter ihm im Wagen. Diejenigen, die am Wochenende arbeiten mussten, waren schon früher unterwegs gewesen, jetzt kamen junge Leute aus den Tanzclubs nach Hause, aufgedreht, aber mit blassen Gesichtern. Der Mann seufzte mitleidig. Früher, als er in ihrem Alter gewesen war, kam man irgendwann nachts aus den Discotheken … Alles änderte sich halt.
Die Drehzahl des Motors nahm leise pfeifend ab. Der gelbe Straßenbahnzug kam sanft zum Stehen. Haltestelle Rhinstraße. Linkerhand ausgedehnte Laubenkolonien, rechts dunkle Bürogebäude, in der Nähe eine Tankstelle. Hier stieg so früh an einem Sonntag selten jemand ein oder aus.
Unter dem Dach des Haltestellenunterstands saß eine Frau im kurzen Sommermantel.
Der Fahrer stutzte. Schon auf der Hinfahrt nach Köpenick hatte er sie bemerkt, und das war eine gute Stunde her gewesen.
Schlief sie? Der Kopf lag seitlich vornüber gebeugt und die blonden Haare verdeckten ihr Gesicht. Lange, schlanke Beine waren an den Knöcheln übereinander geschlagen.
Er hatte die Hand schon wieder am Fahrthebel, zögerte jedoch.
Aus dem knisternden Lautsprecher des Funkgerätes drang die müde Stimme eines Dispatchers. Die Durchsage war nicht für ihn bestimmt, er lag gut in der Zeit und hielt seinen Fahrplan minutengetreu ein. 06.45 Uhr. In zwei Minuten hatte er am Königin-Elisabeth-Hospital zu sein. Das würde er schaffen. Obwohl …
Diese Frau. Warum saß sie noch immer in derselben, merkwürdig verdrehten Haltung da?
Draußen regnete es leicht. Ihr musste in den dünnen Sachen doch irgendwann kalt werden! In diesem Jahr war der späte Frühling nicht sehr warm.
Er erhob sich langsam und presste das Gesicht an die Seitenscheibe. Nicht viel mehr zu sehen.
Vielleicht war die Frau krank und brauchte Hilfe? Nun, viel wahrscheinlicher schien es, dass ihr nach einer durchfeierten Nacht einfach nur schlecht geworden war und sie hier ihren Rausch ausschlief.
Er brummte unwillig und setzte sich wieder. Man konnte sich nicht um jede Schnapsleiche kümmern. Da hätte er viel zu tun an einem Sonntagmorgen in Berlin.
Als er noch einen Blick zur Seite warf, fiel ihm ihr rechter Arm auf, der schlaff an der Seite herunterhing. Wie bei einer kaputten Puppe, dachte er.
Der große Scheibenwischer fuhr fast lautlos über das Glas und hinterließ nicht den kleinsten Tropfen. Alles sauber für Sekunden.
Sein Finger tippte schließlich auf den Türöffner und er stieg aus. Böiger Wind trieb ihm den Regen unangenehm ins Gesicht.
„Hallo, kann ich Ihnen helfen?“ Er rüttelte sie sanft an der Schulter und bemerkte erst jetzt, dass der helle Mantel schmutzig war. Sand rieselte vom fleckigen Ärmel.
Die Frau gab keinen Laut von sich.
„He, aufwachen!“
Seine Finger näherten sich ihrem Kopf. Hinter ihm in der Bahn klopfte jemand ungeduldig von innen an die Scheibe.
Für einen Augenblick war er versucht, wieder einzusteigen und einfach weiter zu fahren.
„Junge Frau ...“
Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und blickte in zwei starre, leere Augen.
Seine Hand fuhr zurück.
In der offenen Tür der Straßenbahn stand schwankend ein halbwüchsiger Bursche. „Wann geht´s denn endlich weiter, Mann?“
„Gar nicht ...“
„Wie bitte?“
Der Fahrer ruderte plötzlich unkontrolliert mit seinen Armen.
Auf den weißen Beinen der Frau sah er jetzt auch das geronnene Blut, dunkle feine Rinnsale, die sich unter ihrem Rock hervorgekringelt hatten.
Plötzlich wurde ihm schlecht und er stützte sich auf das Absperrgeländer.
Ein Taxi hielt auf der linken Fahrspur. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
Der Mann sah verstört hoch. „Der wird wohl nicht mehr nötig sein. Aber die Polizei bitte, ... unbedingt!“
II.
W
as für ein trostloses Wetter“, seufzte Hauptkommissarin Sabine Perl und stellte eine Schüssel mit frischem Obst auf den Schreibtisch.
Ihre Kollegin Hatice Özdekim warf einen Blick auf die kunstvoll zerlegten Äpfel und Kiwis. Seit einigen Tagen schon hörte sie das Wort Frühjahrsdiät aus dem Mund ihrer Chefin, aber deren Hüften schienen sich merkwürdigerweise eher in die Breite hin abzurunden. Und was hieß überhaupt Frühjahr? – der Kalender zeigte Mitte Mai.
Regen trommelte unablässig an die Fensterscheiben des dunklen Büros. Vor einer halben Stunde noch waren es nur feine Nieseltröpfchen gewesen.
Sonntagmorgenbereitschaft im Büro der Mordkommission.
Sabine Perl stand vor einem Spiegel und zupfte sich die Augenbrauen. „Was fangen wir mit dem Vormittag an?“
„Ich habe noch ein ungelesenes Buch …“
„Liegt der Katalog von `Womans finest dress´ eigentlich noch bei dir im Schreibtisch?“
„Ja ...“ Hatice betrachtete ihre Kollegin aus dem Augenwinkel heraus und schmunzelte. Die grelle Farbe des Lidschattens kollidierte gewissermaßen mit der quittengelben Bluse, aber solche unsensiblen Zusammenstellungen kannte sie mittlerweile. Peinlich wurde es manchmal in der Öffentlichkeit, wenn nicht nur die Kollegen verblüffte Blicke auf das Äußere der Chefin warfen.
„Meinst du, dass mich die Hose dicker macht?“
„… Gar nicht.“
„Hm …“
„Wann wirst du nun endlich auch offiziell Leiterin unserer Mordkommission?“, fragte Hatice, um weiteren Meinungsäußerungen in Sachen Mode zu entgehen.
„Es gibt noch eine zweite Bewerbung für die Stelle. Irgendwann wird wohl ein Auswahlverfahren stattfinden.“
„Wer hat sich denn außer dir noch beworben?“
„Das hat mir der Polizeidirektor nicht gesagt. Ich habe am Freitag nur kurz auf dem Gang mit ihm reden können.“
„Irgendein auswärtiger Kollege kann dir also die Stelle noch streitig machen?“
„Es soll ein Berliner Kollege sein …“
„Ein Mann?“
„Ja.“
Hatices schwarze Augen funkelten kampflustig. „Du wirst in den nächsten Tagen nichts anderes tun, als dich auf diese Anhörung vorzubereiten: Dienstvorschriften, Gesetzesbücher – ich werde dich abfragen.“
Sabine Perl setzte sich an den Schreibtisch gegenüber. Ihr Blick hatte einen zweifelnden Ausdruck angenommen. „Dinge stur auswendig zu lernen, liegt mir nicht.“
„Wir wollen dich als Chefin, niemand anderen.“
Ein gerührtes Lächeln. „Wenn ich daran denke, dass du mich anfangs gar nicht leiden konntest ...“
„Vergessen.“ Die junge Kriminalbeamtin band sich mit einem Zopfgummi die Haare zusammen und zeigte dann auf das Wandregal: „Gib mal den Ordner mit den Geschäftsanweisungen herunter.“
„Die beherrsche ich.“
„Wenn Konrad nur hier wäre, der wüsste, was die hören wollen.“
„Sicher, da er ja gerade selber einen Weiterbildungskurs besucht.“
„Wann kommt er eigentlich wieder?“
„Anfang nächster Woche. Zurzeit absolviert er noch einige Dienstschichten in der Polizeileitstelle.“
„Weshalb?“
„Frage mich nicht, es gehört wohl zum praktischen Teil.“
„Konrad Hofer, Hauptkommissar unserer Mordkommission, muss sich am Notruftelefon der Berliner Polizei mit aufgeregten Bürgen herumschlagen …“
„Ich habe gestern mit ihm telefoniert, und er hat mir versichert, dass es mal ganz interessant ist, auch diese Seite der Polizeiarbeit kennen zu lernen.“
„Leitstelle wäre wirklich das Letzte …“
In diesem Moment klingelte das Telefon.
„Perl ... Ja ... Verstehe ... Wir machen uns auf den Weg.“ Sabine legte den Hörer auf und sah verdrießlich aus dem Fenster.
Die jüngere Kollegin nahm ihre Lederjacke von der Lehne. Sie ahnte, dass sich mit diesem Anruf die Hoffnung auf einen ruhigen Wochenenddienst erledigt hatte.
„Eine Frauenleiche in Lichtenberg.“
Hatice Özdekim ließ das Auto direkt hinter einem Streifenwagen zum Stehen kommen. Beide Stoßstangen berührten sich fast schon. Trotz des anhaltenden Regens war sie froh, endlich aussteigen zu dürfen, denn ihre Chefin hatte während der Fahrt von der Keithstraße bis nach Lichtenberg nicht weniger als vier Zigaretten geraucht. Als die Türen des Dienstwagens geöffnet wurden, entwich eine dichte Qualmwolke nach draußen.
Ein uniformierter Polizeibeamter schilderte der Hauptkommissarin die Situation mit wenigen Worten und endete dann: „Die Straße ist zwischen Allee der Kosmonauten und Bahnhof Friedrichsfelde-Ost gesperrt, aber wir haben den Bahnverkehr wieder freigegeben müssen, es gibt keine Ausweichstrecke.“
„Welche Linien fahren hier vorbei?“
„Die 26, von Hohenschönhausen nach Köpenick, und die 27 nach Johannisthal. Der Straßenbahnfahrer, der die Tote entdeckte, sitzt in dem Dispatcherfahrzeug der BVG dort hinten.“
„Weitere Zeugen?“
„Einige Fahrgäste der Bahn – angetrunkene Jugendliche, die nichts sagen können.“
„Habt ihr alle Personalien?“
Er übergab Sabine Perl einen gefalteten Zettel.
„Wann ungefähr ist sie ...?“
„Zwischen fünf und sieben Uhr schätzt der Arzt – er sitzt dort hinten im Feuerwehrfahrzeug. Dem Straßenbahnfahrer fiel die Frau um 06.45 Uhr auf, als er in Richtung Lichtenberg unterwegs war.“
„Um welche Zeit kam er heute Morgen das erste Mal hier vorbei?“
„Gegen 05.25 Uhr.“
„Saß sie da schon hier?“
Der Polizist hob die Schultern. „Er meint ja, aber der Mann ist ziemlich durcheinander.“
„Auf der Straße verkehren ständig Autos, oder?“
„Jawohl. Die Rhinstraße ist eine stark befahrene Hauptstraße, auch nachts.“
„Wann wird es dieser Tage hell?“
Er sah die Kriminalbeamtin verwundert an. „So gegen halb fünf, würde ich meinen.“
„Hm, schon so früh?“
„Die längsten Tage des Jahres stehen bevor, wir haben heute den 19. Mai.“
„Stimmt. Bei dem kühlen Wetter denkt man noch gar nicht so recht an den nahen Sommer. Die Tankstelle dort drüben ...“
„Ein Kollege befragt gerade das Personal, aber die Leute von der Nachtschicht werden sicher schon zu Hause im Bett liegen.“
„Anzunehmen.“ Sabine Perl schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. „Na, dann werden wir mal schauen. Wissen wir, wer die Tote ist?“
Der Polizist schlug ein Notizheft auf: „Doris Kappe, fünfunddreißig Jahre alt, geschieden, wohnhaft in Hohenschönhausen …“
„Steht die Adresse auf meinem Zettel?“
„Natürlich. Die Papiere der Frau haben wir bei uns im Auto.“
„Gut.“ Die Hauptkommissarin kletterte mit verdrießlichem Gesichtsausdruck über ein Geländer.
Hatice saß auf dem Sitz neben der Toten und tastete über deren Hals. „Sie ist erdrosselt worden.“
„Im Warteunterstand einer Straßenbahnhaltestelle?“
„Ich vermute, dass dies hier nicht der Tatort ist.“
„Weshalb?“
„So wie es aussieht, wurde die Frau außerdem vergewaltigt.“
„Verdammt.“
Der Notarzt, ein untersetzter Mann mittleren Alters, trat hinzu und nickte bestätigend. „Ganz offensichtlich ein Sexualverbrechen. Der Tod wurde dabei oder danach durch Strangulation herbeigeführt.“
Sabine zeigte auf die Blutspuren an den Beinen der Frau: „Können Sie uns mehr über die Verletzungen …?“
„Intravaginal. Exakte Angaben können Ihnen nur die Gerichtsmediziner machen.“ Er rieb sich das Kinn. „Ich möchte mich nicht festlegen, und mir steht es natürlich auch nicht zu, mich in Ihre Kompetenzen einzumischen, aber hier am Boden oder auf den Sitzen findet sich kein einziger Blutspritzer – zumindest die Vergewaltigung geschah augenscheinlich an einem anderen Ort.“
Hatice sah sich zweifelnd um. „Welche Frau begleitet denn ihren Peiniger nach einer solchen Tat noch zur nächsten Straßenbahnhaltestelle?“
Die Hauptkommissarin trat an den Fahrplanaushang. „Alle zehn Minuten fährt hier eine Bahn vorbei – und das nur für diese Richtung.“
Der Arzt knöpfte sich den Kittel zu. „Es gibt eigentlich nur eine schlüssige Erklärung: Die Frau war schon tot, als man sie hier her setzte.“
III.
S
o wie die Dinge liegen, haben wir ein gewaltiges Stück Arbeit vor uns“, begann Sabine Perl die Frühbesprechung der Mordkommission am Montagmorgen.
Neben ihr hatte der zweite Hauptkommissar Konrad Hofer Platz genommen und studierte die vorläufigen Berichte im Fall Doris Kappe. Ein schlanker Mann Anfang Vierzig mit bedächtigen Bewegungen. Seine linke Hand zwirbelte gedankenversunken den blonden Schnurrbart.
Hatice Özdekim hatte sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und malte mit langen Armen eine krakelige Skizze der Örtlichkeiten in der Rhinstraße.
Ihr gegenüber saß Kriminaloberkommissar Daniel Kelm, der damit beschäftigt war, eine rotgerandete Brille zu putzen.
„Du siehst dich heute mal in der Laubenkolonie um“, sprach ihn die Hauptkommissarin an, und er bestätigte ihre Anweisung mit einem Nicken.
„Kalle, hast du mit den Leuten von der Tankstelle sprechen können, die Samstag Nachtschicht hatten?“
Hatice hob müde den Kopf. Ihr Spitzname war Kalle, aber niemand wusste so recht, wie sie dazu gekommen war. „Dort hatte eine junge Frau Dienst, und die hat nichts gesehen oder gehört. Auch der Mann von der Frühschicht konnte keine brauchbare Aussage machen.“
„Kam der mit der Bahn zur Arbeit?“, fragte Kelm.
„Nein. Ein Taxi hat ihn zur Tankstelle gebracht.“
Sabines Hand fuhr nervös zur Zigarettenschachtel, dann klopften ihre weinrot lackierten Fingernägel gegen die Verpackung. Die Abmachung unter den Kollegen lautete, dass wenigstens hier im Besprechungszimmer nicht geraucht werden durfte. „Kalle, du fährst dann gleich mal rüber in die Gerichtsmedizin, vielleicht kann der Pathologe schon etwas sagen.“
„Warum ausgerechnet immer ich?“
„Konrad hat um 10.00 Uhr einen Termin mit den Presseleuten, Daniel fährt nach Lichtenberg und ich habe in wenigen Minuten eine Audienz beim Polizeidirektor.“
„Frage ihn doch mal, ob wir endlich mehr Personal bekommen.“
„Das werde ich natürlich tun.“
„Du machst dir in dieser Hinsicht Hoffnung?“, kam eine spöttische Bemerkung Hofers.
„Nicht wirklich.“
Er sah Hatice an. „Wenn ich mit den Journalisten fertig bin, hole ich dich in der Gerichtsmedizin ab. Dann fahren wir zu der Schwester von Doris Kappe nach Weißensee.“
„Gibt es noch weitere Verwandte?“
„Wir konnten bislang keine ausfindig machen.“
„Wo steckt der Ex-Mann?“
„Der macht zurzeit mit seiner zweiten Frau Urlaub in Thailand, sie kommen Mittwoch zurück.“
„Was gibt es über die Tote zu sagen?“
Sabine faltete die Hände. „Eigentlich herzlich wenig. Ich war gestern in ihrer Wohnung in Hohenschönhausen und habe versucht, mir ein Bild zu machen. Zwei Zimmer, Küche, Bad – alles pico bello sauber und aufgeräumt –, normale Einrichtung, keine Spur von Luxus. Wenige Bücher in der Schrankwand, im Fernsehteil ein paar Videos mit schnulzigen Liebesfilmen, ansonsten keinerlei Hobbys oder Vorlieben irgendwelcher Art erkennbar.“
„Fotos?“
„Ein dünnes Album, Familienschnappschüsse und Bilder eines Betriebsausfluges nach Prag.“
„Keine Spur von einem Mann?“
„Nicht die geringste.“
„Doris Kappe war doch keine hässliche Frau“, runzelte Hatice die Stirn.
„Wir werden natürlich alles noch einmal gemeinsam auf den Kopf stellen, aber ich habe nichts gefunden, was auf eine Beziehung hindeutet.“
„Wo arbeitete sie?“
„In der Verwaltung einer Krankenkasse, die ihren Sitz unweit der Friedrichstraße hat.“
„Na Mädchen, haben sie dich wieder mal vorgeschickt?“, grinste der Pathologe Rudolf und seine Fliege glänzte im Neonlicht des Gerichtsmedizinischen Instituts.
Hatice kannte die Sprüche. Vor wenigen Jahren noch hätte sie sich das Mädchen entrüstet verbeten, aber jetzt fand sie, dass ein Lächeln die beste Antwort war.
„Du kommst gerade zur rechten Zeit, ich habe wieder einige interessante Fälle hier.“ Er beschrieb mit dem Arm einen Halbbogen, als wäre in den kalt gefliesten Räumen soeben eine Kunstausstellung eröffnet worden. „Dort hinten, auf dem dritten Tisch, liegt ein Mann, der von seinem eifersüchtigen Bruder mit einer Tischkreissäge enthauptet wurde …“
„Ich habe nur begrenzt Zeit.“
„Gar nicht so leicht, wenn man bedenkt, dass er rundherum schneiden musste.“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Daneben die Überreste eines jungen Burschen, der sich Freitagnacht im Drogenrausch vom Dach eines Hochhauses gestürzt hat, in der Annahme über die Stadt fliegen zu können.“
„Doris Kappe“, erinnerte ihn die Kriminalistin. „Ausschließlich ihr Bericht interessiert mich.“
Der Pathologe schlug unvermittelt ein Laken auf dem Tisch neben ihm zurück. „Hier ist sie.“ Die nackte Leiche der Frau schien wie aus weißem Wachs gegossen. „Schön, oder? Jedenfalls auf den zweiten Blick. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen ist irgendwie reizvoll.“
„Finden Sie?“
„Fragst du jetzt den Mann in mir?“
Hatice lächelte. „Genau den.“
„Ich bin ja nicht mehr ganz jung und habe deshalb eine gewisse Lebenserfahrung.“ Er strich sich mit einem stolzen Lächeln über seine angegrauten Schläfen. „Es gibt Frauen, die sieht man jeden Tag, ohne zunächst ihre Attraktivität zu bemerken. Aber irgendwann bleibt der Blick dann stehen …“
„Zurück zu den Fakten: Was gibt es zu sagen?“
„Die Kappe ist einem Verrückten zum Opfer gefallen. Ohne jeden Zweifel ein Mord mit sexuellem Hintergrund, aber die Umstände und Befunde sind äußerst seltsam.“
„Inwiefern?“
„Der Täter muss zur Penetrierung irgendwelche scharfkantigen Gegenstände benutzt haben, und das mit einiger Gewalt.“
Hatice trat einen Schritt zurück und dachte an die dunklen Blutspuren auf den Beinen der Frau.
„Multipelste Verletzungen im inneren Vaginalbereich: Risse und Einblutungen.“
„Verstehe.“
„Aber“, er hob den Zeigefinger, „kein Sperma!“
„Der Kerl hat nicht …?“
„Nein. Die Laborbefunde stehen natürlich noch aus, aber so viel ist aus meiner Sicht klar: es kam nicht zur Ejakulation, jedenfalls nicht dort.“
„Und die anderen Körperbereiche?“
„Auf und in der Leiche finden sich keine derartigen Spuren. Ihr müsstet den Tatort daraufhin untersuchen lassen.“
„Den kennen wir nicht.“
„Er könnte natürlich auch einen Gummi benutzt haben.“
„Lässt sich das feststellen?“
„Unsere modernen Labormethoden sind sehr gut. Mag sein, dass die es herausfinden, aber …“
„Ja?“
„… das würde bedeuten, dass der Täter mit einigermaßen kühlem Kopf gehandelt hat, berechnend sozusagen.“
„Aber Sie sagten doch gerade, ein Irrer …“
„Nun, für die psychologischen Aspekte sind die Kollegen von der entsprechenden Fakultät zuständig.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Übrigens, im vorigen Jahr hatte ich mal eine Frau hier, die von ihrem Ex-Mann mit fünfundvierzig Messerstichen umgebracht wurde – der Kerl konnte es einfach nicht verwinden, dass sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Als ich ihn dann im Gerichtssaal sah, machte er einen völlig normalen Eindruck.“
Hatice zuckte mit den Schultern. „Vor dem Richter sehen die meisten aus wie unschuldige Schäfchen.“ Sie trat näher an den Sektionstisch. „Die Strangulationsmerkmale am Hals, was gibt es dazu zu sagen?“
„Es wurde offensichtlich kein dünner Draht oder so etwas verwendet, denn die Haut ist nur an einigen Stellen oberflächlich verletzt. Ich sage dir, was ich spontan gedacht habe: der Mörder hatte eine Wäscheleine zur Hand.“
„Wäscheleine?“
„Irgendetwas in der Art. Glatt, vielleicht aus weichem Plastik und nicht so scharf wie ein Draht, sonst hätten wir ein ganz anderes Verletzungsmuster. Da gab es mal einen Fall, bei dem wurde ein junges Mädchen mit einer Klavierseite erdrosselt – die Haut war regelrecht zerschnitten …“
„Ich glaube, ich habe es verstanden.“
Sein Zeigefinger fuhr über den Hals der Toten. „Da gibt es aber noch etwas zu sagen: Einige Hautpartien sind rechtswärts in Fältchen gezogen.“
Hatice beugte sich tiefer hinab und kneistete mit den Augen.
„Nur für den Fachmann zu erkennen“, meinte er, mit einer Spur Eitelkeit in der Stimme. „Hier zum Beispiel, direkt über der Vena jugularis externa – der großen Halsvene.“
„Ja, und?“
„Beim Zuziehen der Schlinge wurde linksseitig mehr Kraft verwendet, was zu einem Faltenwurf der Haut in die entgegengesetzte Richtung führte. Ihr solltet nach einem Linkshänder fahnden.“
„Das grenzt die Anzahl der Verdächtigen natürlich enorm ein.“
„Nach einem Menschen, bei dem diese Veranlagung außergewöhnlich stark ausgeprägt ist“, betonte er.
„Können Sie den Todeszeitpunkt schon etwas genauer eingrenzen?“
„Vier Uhr … Keinesfalls später.“
„Der Notarzt vermutete, es sei erst nach 05.00 Uhr geschehen!“
„Er hat sich geirrt, das konnte ich am Telefon bereits mit ihm klären. Die Frau war mindestens 3 Stunden tot, als man sie gefunden hat. Es war kühl an jenem Morgen und erste Anzeichen der Leichenstarre …“
„Der Mörder hat also sein totes Opfer an der Straßenbahnhaltestelle abgesetzt?“
„Ohne jeden Zweifel.“
IV.
H
auptkommissar Konrad Hofer nestelte an seiner Krawatte, die er eigens für den Termin mit den Journalisten umgebunden hatte. Er fühlte sich unbehaglich. Kameramänner zweier Fernsehsender bauten ihre Gerätschaften vor dem Eingang des Polizeigebäudes auf, das grüne Schild mit der Aufschrift „Delikte am Menschen“ im Focus. Es nieselte leicht.
Die Reporterin eines privaten Senders strich sich durch ihr blondes Haar. Sie sah missmutig zum Himmel und trieb die Kollegen schließlich zur Eile an.
Eine Plastikabdeckung wurde noch über die teure Aufnahmetechnik gedeckt, dann kam das Zeichen zum Start und ein Stativscheinwerfer warf sein Licht über die Gesichter.
„Guten Morgen. Wir möchten dem Kommissar der Mordkommission, Herrn Konrad Hofer, einige Fragen zu dem scheußlichen Frauenmord stellen, der sich gestern in Berlin-Lichtenberg ereignet hat …“
`Wer ist wir?´, überlegte Konrad und schaute sich die unbeteiligten Minen der Kameraleute an.
„Herr Kommissar, können Sie unsere Zuschauer über den aktuellen Stand der Ermittlungen informieren?“
„Es handelt sich bei dem Opfer um eine fünfunddreißigjährige Frau aus Hohenschönhausen. Sie wurde in den frühen Sonntagmorgenstunden an einer Straßenbahnhaltestelle in Lichtenberg gefunden.“
„Ein Sexualverbrechen?“
„Die Umstände deuten darauf hin.“
„Gibt es Erkenntnisse, wer der Mörder sein könnte?“
„Nein, bislang noch nicht. Wir verfolgen einige Hinweise und unsere Kriminaltechnik ist dabei, Spuren auszuwerten.“
„Welche?“
Konrad rieb seine Daumen hinter dem Rücken zusammen. Sollte er sagen, dass sie noch im Dunklen tappten und dass es keine Hinweise und nur wenige Spuren gab? „Dazu kann ich, wie Sie wohl verstehen werden, in diesem frühen Stadium der Ermittlungen keine Angaben machen.“
„Konzentrieren sich die Nachforschungen auf das private Umfeld der Frau?“
„Nicht nur …“
„Hatte sie Familie? Gibt es Kinder?“
„Nein, sie lebte allein.“
„Bestanden Kontakte zum Rotlichtmilieu?“
Hofers Augenbrauen hoben sich. „Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Wir möchten auf diesem Wege aber …“
„Wie sieht es mit Parallelen zu anderen Sexualverbrechen aus, speziell zu solchen, die nicht aufgeklärt wurden?“
„In diesem Bereich ist die Aufklärungsquote sehr hoch.“ Er schaute für einen Moment finster in die Kamera. „Tatmusterentsprechungen zu anderen Fällen konnten von uns nicht erkannt werden.“
„In Amerika erzielen sogenannte Profiler spektakuläre Erfolge, indem sie der Polizei wertvolle Hinweise zur Persönlichkeitsstruktur des Täters liefern. Gibt es in Berlin solche Spezialisten?“
„Wir arbeiten eng mit Psychologen und Gutachtern zusammen, die auf dem Gebiet der Kriminalistik dementsprechende Erfahrungen aufzuweisen haben.“
„Wäre es nicht besser …“
„Wir möchten auf diesem Wege diejenigen Zuschauer bitten, welche die Frau vergangenen Samstag in den späten Abendstunden oder in der Nacht zum Sonntag gesehen haben, sich bei uns zu melden.“ Er hielt ein Foto in die Kamera.
Die Wangen der Reporterin röteten sich, aber sie behielt ihre Fassung und ließ Hofer weitersprechen.
„Aufgerufen sind im Besonderen die Besucher von Lokalen oder Tanzveranstaltungen in Lichtenberg, Hohenschönhausen, Marzahn oder angrenzenden Bezirken.“
„Das war ein erstes Statement der Berliner Polizei zu dem scheußlichen Mordfall in der Rhinstraße. TV 8 wird Sie natürlich auf dem Laufenden halten.“
Daniel Kelm schlenderte den Hauptweg der Kleingartenkolonie entlang und besah sich über die Zäune hinweg die Blütenpracht. Ausnahmsweise empfand er den heutigen Auftrag seiner Chefin als recht angenehm, teilte sie ihm doch sonst ganz gerne langweilige und zeitaufwendige Ermittlungsaufgaben zu, die – seiner Meinung nach – hauptsächlich für ihn übrigblieben, während sich seine Kollegen weitaus interessanteren Arbeitsfeldern widmen durften. Er war der Jüngste im Team.
Hinter einer hüfthohen Hecke stand ein älterer Mann in seinem Garten und beschnitt Sträucher.
Daniel blieb stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Schönen guten Tag.“ Er deutete mit dem Kopf in die Richtung der Beete. „Wird es ein gutes Erntejahr geben?“
Der Gärtner hielt in der Arbeit inne. „Woher soll ich das wissen? Im Moment ist es jedenfalls viel zu nass.“
„Übernachten Sie manchmal hier draußen?“
Der Mann runzelte seine grauen Augenbrauen und ließ die Schere fallen. „Sind Sie vom Ordnungsamt?“
„Kriminalpolizei.“ Kelm holte seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn über den Zaun.
„Warum fragen Sie?“
„Hier in der Nähe ist in der Nacht zum vergangenen Sonntag ein Verbrechen geschehen.“
„Eine junge Frau ist ermordet worden, hab´ davon in der Zeitung gelesen.“
„Waren Sie in jener Nacht hier draußen?“
„Ja.“
„Irgendetwas Verdächtiges gehört oder gesehen?“
Der Mann kratzte sich an seinem unrasierten Kinn. „Nein, eigentlich nicht.“
„Was heißt eigentlich?“
„Der Hund von Meinrads hat einmal ziemlich lange gekläfft.“ Seine Hand wies schräg den Weg hinauf. „Aber der macht öfter mal Krach, einige Leute haben sich schon beim Vorstand beschwert.“
„Um welche Zeit war das?“
„Kann so gegen vier oder fünf Uhr gewesen sein, es dämmerte schon.“
Kelm rollte unmerklich mit den Augen. „Also, Sie wissen es nicht genau?“
„Samstagabend hatte ich mit meinem Nachbarn gefeiert …“
„Verstehe.“
„Ist Ihnen danach etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Schritte, Stimmen oder eine Bewegung hier auf dem Weg?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nee.“
Die junge Frau saß an einem Tisch in der Nähe der Bar und schaute gelangweilt auf das Fernsehbild über dem Tresen. Der Ton war leise gestellt, so dass man kaum etwas verstand. Es lief irgendeines dieser blöden Reportermagazine, die in den letzten Jahren allzu sehr in Mode gekommen waren. Von der Moderatorin wurde gerade ein verlegen dreinschauender Mann vor einem Polizeigebäude interviewt.
Die Frau, fast noch ein Mädchen, rieb sich über den schmutzigen Verband an ihrem Handgelenk und trank bedächtig den letzten Schluck Tee, als im Fernsehen ein Schriftzug eingeblendet wurde: Konrad Hofer, Hauptkommissar.
Sie riss die Augen auf und musterte den Mann auf dem Monitor. Sein Gesicht gefiel ihr – es war durchaus männlich und doch irgendwie ... weich, empfindsam wie es schien. Er hielt unvermittelt ein Foto in die Kamera und seine Lippen bewegten sich fast lautlos.
Ein Lächeln glitt über ihren Mund, sie kannte den Tonfall seiner Stimme, den hatte sie nicht vergessen.
„Hofer ... Konrad Hofer also ...“
Die Frau erhob sich und ging zur Bar. „Haben Sie ein Telefonbuch hier?“
Der Kellner griff in eine Ablage und reichte ihr zwei abgegriffene Bände hinüber. Sie sah flüchtig auf die Rückenbeschriftung und schlug dann das zuoberst liegende – A bis H – in den letzten Seiten auf. Ihr Finger glitt über die Zeilen, bis er plötzlich stehen blieb.
„Konrad Hofer, Mahlsdorf ... So so ...“
„Das Telefon ist dort hinten an der Wand.“
„Danke, aber ich möchte niemanden anrufen.“ Sie zählte das Geld für den Tee umständlich in vielen Münzen auf den Tresen.
Der Mann hinter der Bar beäugte sie misstrauisch.
„Wie komme ich nach Mahlsdorf?“
Er setzte ein väterlich selbstgefälliges Grinsen auf. „Bist wohl nicht von hier?“
Ihr Kopf hob sich und die braunen Augen warfen stumme Abwehr.
„Mit der S-Bahn Richtung Strausberg.“
V.
D
ie Schwester von Doris Kappe bedeutete Hatice und Konrad auf einem Sofa Platz zu nehmen.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Die Kriminalbeamten schüttelten die Köpfe.
Hatice Özdekim suchte im Gesicht der etwa vierzigjährigen Frau nach Zeichen von Trauer, konnte aber keine entdecken – die grauen Augen zeigten keine Spur von Rötung.
„Wann haben Sie Ihre Schwester das letzte Mal gesehen?“, fragte Konrad.
„Samstag vor vierzehn Tagen beim Geburtstag einer Bekannten.“
„Bemerkten Sie irgendeine Veränderung an ihr?“
„Was genau meinen Sie?“
„Eine ungewöhnliche Stimmung beispielsweise“, nahm Hatice das Wort.
„Es waren viele Leute dort, wir haben nur wenige Worte gewechselt.“
„Kam sie allein?“, erkundigte sich Konrad.
„Ja.“
Hatice beugte sich vor. „Wie oft sahen Sie ihre Schwester?“
„Das kann ich gar nicht so genau sagen …“
„Sie beide hatten kein sehr inniges Verhältnis?“
Konrad lehnte sich zurück und ließ seine junge Kollegin gewähren, er schätzte ihren Scharfblick und das untrügliche Gespür für Zwischentöne.
„Wir sahen uns vielleicht fünf, sechs Mal im Jahr. Und Weihnachten natürlich, das feiert man ja mit der Familie, nicht wahr?“
„Ich fragte Sie nach Ihrem Verhältnis zu Doris.“
„Was wollen Sie hören? Wir hatten halt beide unser eigenes Leben. Manchmal schien es mir, sie wäre ein wenig eifersüchtig auf meine Familie.“
„Sprachen sie miteinander über Gefühle?“
„Es war mit Doris nicht gerade leicht, sie war so schwankend in ihren Stimmungen. Wenn sie gute Laune hatte, waren wir uns schon nah, da sprachen wir auch über persönliche Dinge.“
„Welche?“
„Lebensträume und Sehnsüchte zum Beispiel.“
„Welche Sehnsüchte hatte Doris?“
„Viele. Aber die änderten sich mitunter von einem Tag auf den anderen. Sie war ganz gern allein, glaube ich. Andererseits suchte sie einen Mann.“
„Suchte?“
„Nun ja, sie ging nicht in Nachtbars, da dürfen Sie keinen falschen Eindruck bekommen.“
„Annoncen?“
Die Frau zuckte mit den Schultern. „Das wohl schon eher.“
„Beschreiben Sie mir das Leben Ihrer Schwester.“
„Langweilig, so wie ich es sah. Tagsüber im Büro und abends vor dem Fernseher.“
„Freunde, Bekannte?“
„Doris traf sich manchmal an den Wochenenden mit einer Arbeitskollegin – Brigitte heißt sie –, auch alleinstehend.“
„Gab es in den letzten Jahren eine feste Beziehung?“
„Im vergangenen Winter hatte sie einen Freund, der sich aber nicht scheiden lassen wollte. Wie das halt so ist.“
Konrad schob ihr ein kleines Notizheft und einen Stift hinüber. „Wenn Sie uns den Namen aufschreiben würden …“
„Ich weiß nicht, wie der Mann heißt.“
„Dann bitte die der Bekannten und Freunde, die Ihnen einfallen.“
„Das sind nicht sehr viele …“
„Welche Interessen hatte Ihre Schwester?“, fragte Hatice. „Gab es Hobbys?“
„Sie ging gern ins Kino, sah am liebsten seichte Komödien und Liebesfilme.“
„Wie war sie als Kind?“
„Zurückhaltend und still, Doris spielte oft allein. Zur der Zeit gab es noch keine Probleme mit ihr, sie war der Liebling unseres Vaters.“
Um den schmalen Mund der Frau zogen sich einige Fältchen zusammen.
Nach wenigen Minuten verständigten sich Hatice und Konrad mit einem versteckten Blick darüber, die Befragung an dieser Stelle abzubrechen.
Hauptkommissarin Sabine Perl stand mitten im Wohnzimmer der kleinen Wohnung von Doris Kappe und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Sie drehte sich langsam wie eine Kamera und prüfte die verschiedenen Perspektiven, um dann die Bilder in ihrer Erinnerung abzuspeichern. Manchmal war die visuelle Distanz wichtiger als das Berühren und Ertasten von Gegenständen.
Was für ein Mensch hatte hier gewohnt? Konnte der Stil der Einrichtung darüber Auskunft geben? Verriet die Zusammenstellung von Möbeln, Lampen und Gardinen etwas über denjenigen, der sich dazwischen bewegt hatte? Oftmals schon, aber sie konnte auch Beispiele aus ihrer jahrelangen Praxis nennen, bei denen die Erwartungen enttäuscht worden waren. Die Kriminalbeamtin erinnerte sich an das Haus eines begabten Musikvirtuosen, dessen seelenloses Innere sie damals erschrecken ließ.
Das Ticken einer verschnörkelten Standuhr rief sie in die Gegenwart zurück. 11.32 Uhr, Montagvormittag. Doris Kappe war seit ungefähr dreißig Stunden tot und sie hatten noch keine Spur, die zu ihrem Mörder führte.
Gerade eben, im Treppenhaus, hatte sie per Handy die Kollegen der Spurensicherung angefordert, damit die in dieser Wohnung ihre stille Arbeit verrichten konnten. Das baldige Eintreffen war ihr zugesichert worden.
Die Hauptkommissarin zog sich Handschuhe über und nahm einige Bücher aus der Schrankwand: Duden, Gesundheitslexikon, Ratgeber für die Pflege von Zimmerpflanzen – „Literatur“, wie sie wohl in den allermeisten Haushalten zu finden war. Sie blätterte flüchtig die nach unten gewandten Seiten durch, dann nahm sie einige Romane aus dem Regal. Belletristik einer ganz eigenen Gattung. Über manche Titel musste sie schmunzeln: Gewissen in Not, Nur das Herz spricht, Einen heißen Sommer lang, Im Sog der Sehnsucht ...
Plötzlich fiel aus dem letzten Buch ein geöffneter Brief heraus. Sabine pfiff leise und drehte den schmucklosen Umschlag einen Moment zwischen den Fingern. Auf der Vorderseite nur der Name Doris Kappe. Keine Anschrift, weder Briefmarke noch Poststempel, hinten auch kein Verweis auf den Absender. Der war persönlich abgegeben oder vom Verfasser selbst in den Kasten gesteckt worden.
Sie zog ein unliniertes DIN A 5 großes, einmal gefaltetes Blatt heraus. Abgegriffen – oft gelesen?
Ein kurzes Zögern. Hatte sie das Recht, Einblick in dieses ganz Private eines fremden Menschen zu nehmen? Den unbeteiligten Blick auf intime Geheimnisse zu richten?
Ja, das hatte sie.
Der Mord an Doris Kappe zwang sie dazu, nicht mehr unbeteiligt zu sein, gab ihr gewissermaßen den Auftrag, wissen zu müssen.
Wenige handgeschriebene Zeilen:
Liebe Doris!
Du wirst ja auch gemerkt haben, dass es in den letzten Wochen
zwischen uns nicht mehr so war wie noch im Oktober, als wir
in dem kleinen Hotel an der Ostsee glücklichere Tage verlebten.
Vielleicht sollten wir uns einige Zeit lang nicht sehen, der Abstand
von allem wird uns zeigen, ob es wirklich Liebe ist.
Meine Frau ist sehr krank – ich erzählte Dir kürzlich von dieser
Untersuchung im Krankenhaus –, ich kann sie jetzt unmöglich
verlassen, das wirst Du hoffentlich verstehen. Und dann die Kinder ...
Bitte rufe nicht mehr an, ich melde mich bei Dir.
Fred.
„Immer dieselbe Geschichte“, murmelte Sabine. „Und immer wieder finden sich Frauen, die auf solche Kerle hereinfallen.“
Sie blätterte die übrigen Bücher langsam durch, aber weitere Briefe oder Notizen kamen nicht zum Vorschein.
Dann fiel ihr die kleine Schatulle mit den Fotos ein, die sie schon bei ihrem gestrigen Besuch in einem der Schrankschübe gefunden hatte. Die Bilder wurden schnell auf dem Tisch nebeneinander ausgebreitet.
„Na Fred, wo bist du?“
Das Foto eines einzelnen Mannes gab es nicht. Auch keine Aufnahmen vom Strand der Ostsee im Abendrot, Hand in Hand mit dem großen Glück.
„Merkwürdig“, murmelte sie.
Dann fiel ihr Blick auf ein Gruppenfoto, das an einem sonnigen Tag in Prag auf dem Wenzelsplatz aufgenommen worden war. Den kannte sie, da war sie vor zwei Jahren selber gewesen.
Zwölf Personen stellte sie nach kurzem Durchzählen fest. Sieben Frauen und fünf Männer unterschiedlichen Alters. Zwei junge Frauen hatten die Jacken aufgeschlagen und streckten lachend ihre T-Shirts mit dem Schriftzug der Krankenkasse, bei der auch Doris Kappe gearbeitet hatte, in die Kamera. Offensichtlich eine Art Betriebsausflug. Das Foto hatte sie gestern auch schon in der Hand gehabt, aber jetzt bekam es noch eine andere Bedeutung. War dieser Fred unter den Männern? Zwei waren zweifelsfrei über Fünfzig, aber schieden sie deshalb aus?
Bitte rufe nicht mehr an, ich melde mich bei Dir ... Konnte das ein Arbeitskollege geschrieben haben, den man jeden Tag sah? Eher unwahrscheinlich. Wo aber hatte sie diesen Fred dann kennen gelernt?
Das stürmische Klingeln an der Tür riss die Hauptkommissarin aus ihren Gedanken.
Die Kollegen von der Spurensicherung standen unten vor dem Haus, sie betätigte den Summer.
Einige Fotos ließ sie in ihrer Tasche verschwinden, bevor die Techniker mit Koffern und Stativen ausgerüstet die Wohnung betraten. Sie grüßten lässig. Alltagsarbeit.
„Gibt es etwas, worauf wir unser besonderes Interesse richten müssen?“
„Wenn sich in den letzten fünfzig Jahren ein Mann in diesen Zimmern aufgehalten hat, will ich seine Blutgruppe, den Namen und die derzeitige Anschrift wissen“, gab Sabine eine schmunzelnde Order.
Hatice und Konrad saßen in einem Büro mit Blick auf die Leipziger Straße der Krankenkassenangestellten Brigitte Klein gegenüber. Die etwa vierzigjährige Frau mit den matt blondierten Haaren war geschockt über die Nachricht der Kriminalbeamten.
„Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“, erkundigte sich Hatice.
Brigitte Klein nickte kaum merklich, in ein Taschentuch schniefend.
„Könnte man sagen, dass Sie Doris Kappe gut gekannt haben?“
„Wir waren befreundet.“
„Erzählen Sie uns von ihr.“
„Erzählen …?“
„Alles, was Ihnen spontan einfällt.“
„Ich lernte Doris vor fünf Jahren kennen, als diese Zweigstelle hier eröffnet wurde. Wir waren uns von Anfang an sympathisch, und mit der Zeit entstand daraus eine Freundschaft. Auch privat trafen wir uns öfter, unternahmen Ausflüge und gingen ins Kino … Unsere Lebenssituationen, wenn man so sagen will, waren die gleichen – alleinstehend, kinderlos – Scheidungsopfer im reiferen Alter eben.“ Sie lächelte flüchtig. „Doris und ich verstanden uns.“
„Gingen Sie auch manchmal am Wochenende zusammen aus? Tanzen zum Beispiel.“
„Einige Male haben wir das gemacht, aber …“
„Ja?“
„Die Veranstaltungen für unsere Jahrgänge muss man schon suchen, da gibt es nicht allzu viele. Wir stellten außerdem fest, dass die Sorte Männer, die man dort kennen lernt, nicht gerade für ernsthafte Absichten taugt. Sie verstehen?“
Hatice nickte.
In der Jackentasche des Hauptkommissars klingelte das Handy. Hofer murmelte eine Entschuldigung, erhob sich und ging hinaus auf den Gang.
„Gab es Bekanntschaften?“, fragte Hatice.
„Einmal wurden wir von einem Herrn, der von sich sagte, er sei Zahnarzt, auf sein Wochenendgrundstück eingeladen. Nichts von Bedeutung.“
„Sahen Doris oder Sie diesen Mann wieder?“
„Nein.“
„Noch andere Männer?“
Kopfschütteln.
„Kennen Sie jemanden, der eine Laubenparzelle an der Rhinstraße besitzt?“
Die Frau schaute verwirrt. „Rhinstraße in Lichtenberg? Nicht, dass ich wüsste ...“
„Oder in der Nähe?“
„Wurde Doris dort …?“
„Ja.“
„Ich kenne niemanden in ihrer Bekanntschaft, der einen Garten hat.“
Konrad betrat wieder das Büro und sagte zu Hatice: „Es war Sabine, sie ist in der Wohnung.“ Er nahm Platz und schlug sein kleines Notizheft auf. Dann wandte er sich an Brigitte Klein: „Kennen Sie einen Mann mit dem Vornamen Fred?“
„Doris hatte letzten Herbst einen Freund, der so hieß.“
„Wie lautet sein Familienname?“
„Ich weiß es nicht. Die Beziehung dauerte nicht lange genug, um Näheres über ihn zu erfahren.“
„Haben Sie den Mann gesehen?“
„Ein einziges Mal, an einem Nachmittag im September oder Oktober, hier von diesem Fenster aus. Er holte Doris von der Arbeit ab, und ich sah die beiden in sein Auto steigen.“
„Wir brauchen eine Beschreibung.“
„Ich fürchte, die kann ich Ihnen gar nicht geben. Es regnete an jenem Tag, ich sah eigentlich bloß seine Umrisse.“
Hatice stand auf und trat an das Bürofenster. „Wir sind hier in der vierten Etage, nicht wahr?“
„In der fünften, wenn man das Erdgeschoss mitzählt.“
Die Kriminalistin schirmte ihren Blick mit der Hand gegen die kurze Aufhellung des Himmels ab und sprach vor sich hin: „Da unten ist zur Zeit eine Baustelle – neben der Absperrung steht ein Auto der Wasserbetriebe, soviel kann ich erkennen. Davor ein Halteverbotsschild mit zeitlicher Befristung, die Schrift unleserlich ...“ Sie drehte sich um. „Versuchen Sie sich zu erinnern.“
„Ein Mann Ende Vierzig. Bauarbeiter, Gerüstbauer oder so etwas, das wusste ich von Doris. Groß – mindestens einen Kopf größer als sie –, breite Schultern, etwas dicklich und lichte Haare.“
„Und sein Gesicht?“
„Können Sie die Gesichter der Leute da unten erkennen?“
Hatice presste ihre Nase an die Scheibe. In der Tat sah man die Vorbeilaufenden da unten nur aus einem ungünstig senkrechten Winkel. Hüte, Mützen, Frisuren … Anonyme Figuren, die kaum hoch schauten, an einem regnerischen Tag schon gar nicht.
„Und das Auto des Mannes?“
„Ein weißer Mercedes, kein großer – Mittelklasse, würde ich sagen.“
„Was hat Ihre Freundin von diesem Fred erzählt?“
„Kaum etwas. Wie gesagt, die Beziehung dauerte nicht allzu lange.“
„Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.“
„Tut mir leid, mit Einzelheiten kann ich Ihnen nicht dienen. Es hat sie jedenfalls unerwartet hart getroffen, als er mit ihr Schluss gemacht hat.“
„Wissen Sie, ob der Mann verheiratet war?“
„Ja. Er schwor, sich irgendwann scheiden zu lassen.“
„Wo hatte Doris diesen Fred kennen gelernt?“, fragte Konrad dazwischen.
„Eine andere Kollegin hatte sie zu einer Schriftstellerlesung in eine Buchhandlung mitgenommen. Da sahen sie sich zum ersten Mal.“
„Sie waren nicht mitgegangen?“
„Ich lag mit einer Erkältung zu Hause im Bett.“
„Dann kann uns diese Kollegin sicher Auskunft darüber geben, wie der Mann aussieht“, überlegte Hatice laut.
„Da werden Sie möglicherweise auch keinen Erfolg haben, denn soweit ich weiß, hat sie an jenem Abend vorzeitig die Veranstaltung verlassen. Aber wir können gleich zu ihr gehen, sie ist heute im Dienst.“
„Sie sagten, die Trennung von jenem Fred hätte ihre Freundin hart getroffen?“
Brigitte Klein seufzte und sah zu Boden. „In unserem Alter ist man nicht mehr auf Abenteuer aus. Man wünscht sich den Partner fürs Leben, den geliebten Menschen, der jeden Morgen neben dir aufwacht, der dich versteht und deine Wünsche und Hoffnungen kennt. Jemanden, der zu dir hält. Eben den Mann, mit dem du sicher alt werden kannst.“
*
... und dann war da plötzlich die Angst in ihren Augen, diese nicht mehr
unterdrückbare Gewissheit des Ausgeliefertseins, der vollkommene Verlust
aller Stärke und jeglicher Kontrolle.
Ich habe dich, besitze dich! In diesem Augenblick war es dir klar.
Alle Spielchen, das naive katzenhafte Schmeicheln und Schnurren, dieses
scheinbar arglose Liebesflüstern, verfangen nicht mehr.
Liebe, ha!
Lügen, Lügen, alles nur Lügen, um einen betrunken zu machen
im Rausch des angeblichen Glücks!
Was für ein Glück, benutzt zu werden, bis man verloren und versunken ist,
sein eigenes Ich kaum mehr kennt und nur noch ... funktioniert,
läuft wie eine Uhr, die immer seltener aufgezogen wird,
und doch in ihrem verlässlichen Ticken genau geht, ... gehen muss.
Und irgendwann erst diese Ahnung, dann das schmerzhafte Erkennen,
dass alles in Scherben zerfällt, alles kaputtgemacht von dir, ... Dir!
Liebe kaputt, Vertrauen kaputt, ... Leben kaputt ...
Weißt du überhaupt, was du mir angetan hast?
Meine Seele ...
*
VI.
I
m Büro der Mordkommission hing eine schwüle Stickigkeit. Sabine trat ans Fenster, um es zu öffnen.
„Eine Luft wie in den Tropen“, stöhnte sie.
„Fehlt bloß noch dein Zigarettenqualm“, setzte Hatice hinzu und schob einen Stuhl an die Tür, um diese am Zufallen zu hindern.
Von der Straße herauf drangen die Geräusche des nachmittäglichen Berufsverkehrs, Autoreifen auf nassem Asphalt, unablässiges breiiges Rollen.
„Wann hört dieser Regen endlich auf?“
„Ich habe das Gefühl, wir kriegen dieses Jahr keinen richtigen Sommer mehr“, meinte Konrad und warf missmutig sein Notizbuch auf den Tisch.
„Sei nicht so pessimistisch, es ist erst Mai.“
Hatice grinste. „Der Ärmste macht schwere Zeiten durch, sein Wohnhaus wird endlich saniert.“
Er nickte. „Ich möchte am liebsten überhaupt nicht mehr nach Hause fahren. Ihr könnt euch das nicht vorstellen, unsere Wohnung gleicht einer Ruine! Das Bad ist nur noch ein finsteres Loch, man kann durch den aufgestemmten Boden bis ins Erdgeschoss sehen. Auf der Straße steht ein Container mit Klo und Dusche für alle Mieter des Hauses, weil das Wasser mindestens für eine Woche abgestellt bleibt.“
„Da trefft ihr euch unten alle mit dem Handtuch über der Schulter und der Seife in der Hand?“
„Sehr witzig.“
„Die Mieter treten zur gemeinschaftlichen Freikörperkultur an …“
Hatice wurde unterbrochen, als Daniel Kelm den Raum betrat.
„Stau überall“, sagte er entschuldigend.
„Wo wir jetzt vollzählig sind, ein kurzes Resümee im Fall Doris Kappe“, bat die Hauptkommissarin. „Was haben wir bis jetzt?“
„Einen Mann – Fred –, von dem wir nichts weiter wissen als den Vornamen.“
„Und die schemenhafte Statur: etwa ein Meter achtzig bis neunzig groß, kräftiger Körperbau, lichtes Haar.“
„Was sagt die Schwester?“
„Ihr war der Mann nie vorgestellt worden“, hob Hatice die Hände.
„Es muss doch möglich sein, die Identität dieses Kerls herauszubekommen“, brummte Sabine. Dann wandte sie sich an Kelm: „Hast du in dieser Laubenanlage etwas Interessantes erfahren können?“
„Ich habe mit mehreren Leuten gesprochen. In der Nacht zum Sonntag war da irgendetwas.“
„Was?“
„Ein Hund hat gebellt.“
„Und weiter?“
„Nichts.“ Er nahm die Brille ab und berichtete von seiner Unterhaltung mit dem älteren Kleingärtner.
„Eigentlich hat niemand eine außergewöhnliche Beobachtung gemacht, außer dass ein Hund gebellt hat?“
„Korrekt.“
Die Hauptkommissarin holte tief Luft, ordnete dann aber kommentarlos einige Schriftstücke auf dem Tisch.
„Seit heute Vormittag sind die Telefonleitungen für die Anrufe aus der Öffentlichkeit geschaltet“, sagte Konrad.
„Hat sich schon jemand gemeldet?“
„Es gibt zwei Aussagen, die vielleicht von Bedeutung sein könnten: Eine Frau behauptet, Doris Kappe gegen zweiundzwanzig Uhr vor einem Kino in Hohenschönhausen gesehen zu haben, ist sich aber nicht hundertprozentig sicher. Der Besitzer eines asiatischen Imbissgeschäftes im selben Stadtbezirk – Luftlinie zum Kino ungefähr dreihundert Meter – hat ihr kurz nach zwanzig Uhr ein Schnellgericht zum Mitnehmen verkauft. Das war es bis jetzt.“
„Nicht viel.“
Hatice drehte ihren Kugelschreiber in den Händen. „Mir geht ein Gedanke durch den Kopf: Was macht eine Frau wie Doris Kappe für den Täter eigentlich so anziehend? Welches unbewusste Signal lässt den Mann aufschauen und steuert ihn zielgerichtet zu seinem Opfer? Einer, für unsere Begriffe, mehr oder weniger unscheinbaren Frau. Sie war keine hervorstechende Schönheit.“
„Für ihn war sie ganz offenbar die Frau seines Begehrens“, meinte Konrad.
„Aber was machte sie dazu? Du hast die Fotos gesehen – was spricht den Mann in dir an?“
„Da ist nichts Greifbares. Aber ich bin schließlich auch nicht er ...“
„Lass deinen Assoziationen freien Lauf.“
„Doris Kappe geht an einem Samstagabend allein aus. Sie bewegt sich verhalten … unsicher vielleicht. Mag sein, dass ihr Blick zu lange auf Paaren in der Nähe verweilt. Neidisch …, sehnsüchtig …, wer weiß. Der Mann hat einen Blick dafür, er kann ihre Schutzlosigkeit gewissermaßen riechen …“
„Wir reden hier nicht von dem Löwen, der sich an die Antilope heranschleicht.“
„Raubtiere jagen dem schwächsten Tier der Herde hinterher. Sie haben ein untrügliches Gespür …“
„Solche Diskussionen bringen uns nicht weiter“, unterbrach Sabine ihre Kollegen. „Ihr wisst, dass sich Opfer und Täter in den allermeisten Fällen vorher schon gekannt haben. Da müssen wir ansetzen.“
„Ansetzen ist gut, aber wo bitte schön? Doris Kappe hat ein zurückgezogenes Leben geführt. Mit den wenigen Menschen, mit denen sie überhaupt Kontakt hatte, haben wir gesprochen.“
„Dann müssen wir die Kreise eben weiter ziehen. Weitläufigere Bekannte, Nachbarn, die Zeitungsfrau an der Ecke und so weiter. Unter Umständen auch frühere Arbeitskollegen, Schulfreundinnen oder Lehrer.“
„Warum konnte sich dieser Kerl keine Frau schnappen, die mitten im Leben stand?“
„Genau aus dem Grund! Doris Kappe schenkte man keine große Aufmerksamkeit, und somit auch nicht dem Mann, der sich ihr näherte.“
„Irgendjemand muss die beiden zusammen gesehen haben!“
„Sicher. So wie du flüchtig einem vorbeifahrenden Auto nachschaust, von dem du schon einen Wimpernschlag später die Farbe vergessen hast.“
„Die Aufrufe in Presse und Fernsehen müssen intensiviert werden.“
Die Hauptkommissarin nickte. Dann verteilte sie die Aufgaben für den nächsten Tag.
Hatice fiel beim Hinausgehen noch etwas ein: „Wann beginnt eigentlich das Auswahlverfahren für die Leitung unserer Mordkommission?“
Sabine zuckte mit den Schultern. „Unser geschätzter Herr Direktor hält sich da merkwürdigerweise sehr bedeckt. Der zweite Bewerber ist ein Mann, mehr hat er nicht verraten.“
„Was kann das für ein Typ sein, der dir die Stelle streitig macht?“
„Ich habe keine Ahnung.“
Hatice drehte sich zu Konrad. „Du kennst doch einige Kollegen in den entsprechenden Positionen …“
„Ich habe mich in den vergangenen Tagen schon umgehört, aber die polizeiinterne Gerüchteküche gibt nichts her.“
„Macht euch nicht verrückt“, mahnte Sabine. „Ich habe mich jedenfalls gut vorbereitet. In der Zwischenzeit können wir nur abwarten und unsere Arbeit weiter so engagiert machen wie bisher.“
Sie schaute von der gegenüberliegenden Straßenseite zu dem eingerüsteten Haus hinüber, in dessen Eingang Holzbohlen verlegt waren, über die Bauarbeiter alle paar Minuten mit Schubkarren voller Schutt herauskamen. Im Hausflur kräuselten sich dünne Staubwölkchen. Die Fassade hinter den Rüststangen war bröcklig und von einem dreckigen Grau, das über den verzierten Fensterstuckabsätzen schon in Schwarz überging. Ein altes Haus, heruntergekommen, vernachlässigt, aber nicht ohne Charme. Gründerzeitarchitektur, aber das wusste die junge Frau nicht.
Sie kaute auf ihrem brüchigen Daumennagel und schaute hoch. Dort im dritten Stock wohnte Konrad Hofer, das hatte sie vorhin am Klingelbrett gesehen, bevor die rüden Bemerkungen der Bauarbeiter sie aus dem Hausflur vertrieben hatten.
Ob er da war? Der Mann mit der einfühlsamen Stimme ... Er sah außerdem gut aus, soweit sie es auf den schnellen Fernsehbildern erkannt hatte. Vielleicht schlief er, todmüde nach einem anstrengenden Dienst, im hinteren abgedunkelten Zimmer, mit Watte in den Ohren wegen des Lärms im Treppenhaus … Die junge Frau träumte. Sie würde ihn schlafen lassen, die Handwerker zur Rücksicht mahnen und ihm in der Zwischenzeit ein Abendessen bereiten. Teller mit frischem Käse und Obst auf einer weißen Tischdecke mit roten Servietten – in der Mitte Kerzen …
Aus dem Hausflur traten eine dunkelhaarige Frau und ein pubertäres Mädchen, das sich mit mauligem Gesichtsausdruck ein Top unter der Jeansjacke hochzog, so dass der Bauchnabel sichtbar wurde. Die beiden blieben neben der Tür stehen und es entspann sich eine Diskussion, von der die junge Frau auf der anderen Straßenseite nur Bruchstücke verstand.
„Muss ick unbedingt mitkommen? … zu Nancy gehen …“
„Ich schleppe die Einkäufe nicht alleine …“
„ … jetzt einkoofen? … wenn Papa kommt …“
„Du weißt doch, wie ungewiss es ist, wann dein Vater …“
Ein Stück die Straße hinunter parkte ein Auto hinter einem Schuttcontainer ein.
„Michael könnte ruhig ooch mal …“
„Janett, wir brauchen gar nicht weiter zu streiten …“
In diesem Augenblick hellte sich das Gesicht des Mädchens auf und sie wies mit ausgestrecktem Arm auf den Mann, der aus dem Auto stieg. „Papa!“
Die junge Frau gegenüber erkannte den Mann sofort – es war Konrad Hofer.
Dann flog ihr Blick zurück zu der Dunkelhaarigen.
Dann wieder zurück zu ihm. Er lächelte im Näherkommen.
Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie trat hinter einen Baum und ihr abgenagter Daumen kratzte wütend über die Rinde.
„Wir werden uns kennen lernen!“, zischte sie leise.
Hatice warf ihre Umhängetasche auf den Flurschrank und streifte sich die Schuhe von den Füßen. Im Wohnzimmer ließ sie sich auf die Couch fallen und schloss die Augen, um gleich darauf wieder hochzufahren.
Nein, jetzt bloß nicht einschlafen! Dann würde sie erst irgendwann spätabends mit Kopfschmerzen aufwachen und die halbe Nacht wach liegen.
Sie erhob sich und schob eine CD in die Anlage. Musik war jetzt das Richtige gegen die Müdigkeit. Die ersten Klänge einer elektrischen Gitarre ließen die Stoffbespannung der großen Lautsprecherboxen zittern. Just between you and me.
Hatice summte den Refrain mit. Mit der entsprechenden Sehnsucht, denn einen YOU gab es schon seit längerem nicht in ihrem Leben. Wo sollte der auch zu finden sein? Ihre Tage spielten sich vorwiegend im Polizeigebäude in der Keithstraße, an Tatorten von Tötungsverbrechen und ihrer kleinen Kreuzberger Wohnung ab, in die sie sich abends flüchtete. Ausgegangen war sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.
Ein Blick auf die Uhr: 17.32 Uhr. Sie sah sich in der Küche um. Jetzt schon ein Glas Rotwein? Besser nicht, schließlich sollte ihr Abend nicht schon um acht mit trägen Augenlidern enden.
Gegen die Fensterscheiben klopften leise Regentropfen. Was für ein düsterer Frühling! Wenn jetzt jemand zum Kuscheln da wäre, oder einfach nur zum Reden … zum Lachen … Hatice Özdekim, einunddreißig Jahre jung, hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, den Rest ihres Lebens in monogamer Tristesse zuzubringen. War sie ein Fall für den Psychologen? Letztens hatte sie im Fernsehen mit Interesse einen Bericht über Depressionen verfolgt und fast schon befriedigt festgestellt, dass einige der Symptome bei ihr erkennbar waren. Abgenommen hatte sie auch: zwei Kilo. Das war zu Beginn des Sommers zwar eher erfreulich, aber wem sollte das auffallen? Alleine ins Strandbad zu gehen, wäre ihr nicht im Traum eingefallen, und ihre Freundin Ayse hatte nie Zeit. Die stand zusammen mit ihrem Mann von früh bis spät in ihrer stinkenden Imbissbude am Halleschen Ufer. Kein beneidenswertes Leben, aber Ayse hatte wenigstens einen Kerl.
Das Schicksal war nicht fair.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Hatice hob stirnrunzelnd den Hörer ab.
Am anderen Ende war Sabine Perl: „Kalle, wir haben wieder eine Frauenleiche …“
„Was?“
„Du musst kommen. Konrad und Daniel sind nicht zu erreichen.“
„Hm …“
„Es ist in der Treskowallee in Oberschöneweide, auf dem Gelände des ehemaligen russischen Krankenhauses. Du kannst es nicht verfehlen, die Kollegen weisen dich ein.“
„Bis gleich.“
VII.
D
er Regen hatte im Laufe des Abends an Stärke zugenommen, dazu wehte ein frischer Wind.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, wir haben September“, stöhnte Sabine Perl und winkte Hatice zu einer schmalen Treppe, die an der Giebelseite des leerstehenden ehemaligen Krankenhauses der russischen Streitkräfte offenbar in den Keller hinunter führte.