Das Mädchen das mit dem Wasser spielte - Lukas Heumann - E-Book

Das Mädchen das mit dem Wasser spielte E-Book

Lukas Heumann

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Beschreibung

Fynn ist der Sohn einer Fischerfamilie auf der kleinen Insel Riegen. Neben der Schule hilft er seinem Vater im Familieneigenen Fischereiunternehmen. Es war ein bisweilen normaler fast schon ermüdend langweiliger Sommer als auf ein mal dieses Mädchen in sein Leben tritt. Mit ihrem Geheimnis stellt sie nicht nur sein Leben auf den Kopf, sondern auch ihn vor einige schwere Entscheidungen.

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Seitenzahl: 171

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Mädchen das mit dem Wasser spielte

Die BegegnungDie EnthüllungDas WiedersehenMysteriöse MordeUnter VerdachtDer NächsteDas RätselFang des LebensDie FluchtDas EndeImpressum

Die Begegnung

„Hey, los, mach das du da weg kommst“, dröhnte es aus seiner Kehle. Doch sie schien ihn nicht zu hören, der Blick aufs Smartphone gerichtet und die Ohren verstöpselt war sie von der Außenwelt nahezu abgeschnitten. Fast schon instinktiv ließ er die Kiste, aus welcher langsam kalte Wassertropfen durch die Spalten zwischen den Holzlamellen heruntertropften, auf den harten, verwitterten Steinplattenweg vor dem Restaurant fallen. Er kam bis zum Anfang der Straße, als die Kiste auf dem Boden aufschlug und ihr kalter Inhalt vulkanartig aus ihrem hölzernen Gefängnis eruptierte. Bereits im rechten Augenwinkel konnte er die herannahende Gefahr sehen, wie sie sich unaufhaltsam durch das Licht und Schattenspiel der die Straße einzäunenden Bäume zu pflügen schien. Es war eine dieser Stellen, an der es schon häufig Tote gegeben hatte, dachte er, während seine Füße den abgefahrenen Straßenbelag abwechselnd unter sich begruben. Die Vorderreifen des immensen weizengrasgrünen Ackergaules drückten sich bereits um die scharfe, von Alleebäumen und Strauchwerk eingepferchte Kurve, als er sie endlich zu packen bekam. Ihren rechten Arm fest im Griff schmiss er sich die letzten Meter in den rettenden Straßengraben, während das Mädchen hinter ihm her stolperte, bevor auch sie das Gleichgewicht verlor und in den Straßengraben fiel. Nur wenige Sekunden nachdem das in ein kornblumenblaues Kleid gehüllte Mädchen unsanft, jedoch unversehrt in dem noch immer tauigen Gras, das dort neben der Straße zwischen den Bäumen erbittert um die wenigen durchdringenden Sonnenstrahlen kämpfte, aufschlug, donnerte mit ohrenbetäubendem Lärm der Schlepper an ihnen vorbei. Obwohl der Fahrer das Bremspedal mit beiden Füßen erbittert bis auf den Boden der Fahrerkabine durchtrat, verlor er nur spärlich an Geschwindigkeit. Wenige Meter weiter verlor er die Kontrolle und kam von der schmalen Alleestraße ab. Erst eine am Straßenrand stehende Buche konnte das Gespann mit einem dumpfen Knallen des schieren Eisens auf der Rinde des alten Holzes ausbremsen. Danach herrschte Stille. Vögel, die hätten singen können, waren durch den Lärm verschreckt geflohen. Noch nicht einmal einen Grashüpfer konnte man zirpen hören. Erst das Knallen der gläsernen Tür, welche der Fahrer mit einem kräftigen Hieb zudrückte, unterbrach die seit dem Verstummen des Dieselmotors herrschende Stille. Der Mann lief mit sichtlich ratlosen Blick um den Schlepper und den nun schief stehenden Baum herum. Es war ein grausiger Anblick. Die Rinde war zu zentimetertiefen Narben herausgeplatzt und am Boden neben den auslaufenden Ölen war der Wurzelteller wie eine Stufe aus der Erde herausgedrückt worden. Nachdem er die Schäden mit Bauchschmerzen begutachtet hatte, informierte er die Polizei, bevor er auf die im Gras des Straßengrabens liegenden Teenager zuging. Der Mann, welcher dort auf sie zuschritt, war wie seine Maschine von brachialer Erscheinung, dachte der Junge mit jedem Schritt, den er näher kam. Er war groß, über 1,90 Meter, hatte durch den Zahn der Zeit bereits ausgedünnte braune Haare und trug eine kantige titanfarbene Brille. Seine massige Erscheinung bestach vor allem durch beeindruckend vernarbte sowie imposant muskulöse Unterarme, an dessen Enden Hände saßen, die nur das Wort Pranken zu beschreiben in der Lage war. „Thomas“ stand in gelber Schrift aufgestickt auf der oberen rechten Seite seiner grün-schwarzen, stellenweise löchrigen und leicht ölig verschmierten Latzhose. Sein Oberkörper bedeckte ein tiefschwarzes Shirt, unter welchem sich kreidebleiche Haut zu verstecken schien. Ein krasser Gegensatz zu dem ledrig dreinschauenden Rest seines sonnengeplagten Körpers. Er stellte sich vor, ihm und dem mittlerweile ebenfalls im Gras sitzenden Mädchen. Der Mann reichte ihnen die Hand und zog mühelos an einem Arm erst das Mädchen und dann den Jungen hoch. Er hatte eine solche Kraft, dass ihre Füße für einen kurzen Moment nicht den Boden berührten.

„Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, wie leid mir das tut. Ich hatte Probleme mit der Bremse und … zum Glück ist euch nichts passiert, das hätte ich mir nicht verzeihen können“, sagte er und zündete sich nach Beendigung des Satzes mit leicht zittrigen Händen eine Zigarette an, welche er zuvor aus einer blau-weißen zerknitterten Zigarettenschachtel gefischt hatte. Er rutsche einige Male kräftig mit dem Finger über das Ritzel, die andere Hand als Windschutz vor die Zigarette gehalten, ehe er dem Feuerstein einen Funken entlocken konnte, um das Gas zu entflammen und die Zigarette anzuzünden. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie er sich entspannte, als der erste tiefe Zug Zigarettenqualm seine Lungen flutete und das freigesetzte Nikotin seine Adern mit Dopamin sättigte. Den kläglichen Rest seiner Zigarette schnipste er aus der Hand vor den aufgeheizten Asphalt seiner schwarz-orangenen Arbeitsschuhe und rieb sie mit dessen Sohle tief in die Poren des Asphalts, während ein Streifenwagen vor dem wuchtigen Hinterreifen des Schleppers zum Stehen kam. Es stiegen zwei Polizisten aus dem Wagen aus. Der eine, man konnte ihm ansehen, dass er kurz vor der Pensionierung stand, hatte wuschelige weiße Haare und einen mit den Händen in Form gehaltenen ebenfalls weißen Bart. Seine Uniform füllte er im Bauchbereich durch ein beachtliches Feinkostgewölbe aus, das seine Gangart schwer zu beeinflussen schien. Er kam mit mühselig anmutenden Schritten auf die drei am Straßenrand Stehenden zu. Seine Kollegin, eine junge sportlich durchtrainierte blonde Polizistin, gerade erst frisch von der Polizeischule entlassen, sperrte währenddessen die Straße ab.

„Guten Tag, die Dame, die Herren. Mein Name ist Rolf Wegman. Die hübsche blonde da hinten ist meine Kollegin Leonie Wagener, würden Sie mir bitte einmal Ihre Personalien geben und erklären, was hier vorgefallen ist?“, sagte er mit leicht schnaufender Stimme. Während der Traktorist und der Junge ihre Ausweise rauskramten, stand das Mädchen unschuldig dreinschauend da und schien zu warten. Sie gaben dem Polizisten ihre Ausweise in seine schwitzigen, von Kaffee und Donoutzucker gezeichneten Hände und warteten seine Reaktion ab.

„Herr Thomas Preisig, ein Meter 95, wohnhaft in Pruna, Augenfarbe braun. So, so, 1,95?“

Herr Wegman schaute skeptisch zu ihm hoch.

„Scheint zu passen.“

Er gab ihm seinen Personalausweis wieder und fuhr mit dem des Jungen fort.

„Aha, der Herr Brehmer junior“, sagte er. „Richte deinem Vater mal schöne Grüße von mir aus, Fynn, sein geräucherter Fisch war wirklich köstlich. Aber ich schweife ab, also, was ist hier vorgefallen?“, sagte er, während er dem Jungen seinen Personalausweis zurückgab. Fynn erzählte dem Polizisten, was passiert war, welcher sich daraufhin der jungen Dame zuwandte.

„Stimmt das, junge Frau? Sind Sie wirklich ohne Reaktion mitten auf der Straße stehen geblieben, ohne den Blick von Ihrem Telefon zu heben?“

„Ja, das ist richtig“, antwortete sie mit zögernder Stimme.

„Sie wissen ja, dass das nicht nur lebensgefährlich, sondern auch verboten ist, oder?“

Sie nickte.

„Gut, dann hätte ich auch gerne von Ihnen den Personalausweis und eine Erklärung, warum Sie so fahrlässig gehandelt haben.“

Auf die Aufforderung des Polizisten folgte keine Reaktion des Mädchens. Sie stand, die Blicke des Polizisten meidend, links neben Fynn und schien erneut zu warten.

„Junge Dame, würden Sie mir bitte Ihren Personalausweis aushändigen“, gab der Polizist nach kurzer, angespannt tatenloser Zeit mit Nachdruck erneut von sich.

„Ich habe keinen“, nuschelte sie zögernd und fast schon unverständlich in Richtung des Polizisten, während der Traktorist und Fynn von der jungen blonden Kollegin mit zum Streifenwagen genommen wurden, um den Unfallvorgang noch einmal zu schildern und zu protokollieren, da ihr Kollege dies nicht gemacht hatte. Kurz darauf kam auch ihr Kollege mit dem Mädchen auf den Streifenwagen zu und setze sie wortlos ins Auto. Anschließend ging er zu Frau Wagener, die mittlerweile zusammen mit Fynn und dem Traktoristen an dem verunglückten Schlepper samt Anhängern stand.

„Sieh dir das an, Rolf, siehst du das? Das hab ich ja noch nie gesehen, also so etwas, ja, ich würde schon fast behaupten, das ist verantwortungslos, wie kann man das vergessen?“, krehlte sie fassungslos und zeigte auf den Bremskraftregler an der Druckluftanlage des Anhängers, welcher anstatt auf voller Bremskraft auf „Bremse aus“ gestellt war.

„Ich habe die nicht vergessen, die muss mir jemand umgestellt haben! Ist doch schnell gemacht, einmal den Hebel nehmen, drehen und zack, dauert zwei Sekunden“, erwiderte der Traktorist sichtlich nervös, während er in der Brusttasche seiner Latzhose nach der zerknitterten Zigarettenschachtel suchte.

„Da ist was dran, Sie hätten das ja auch gemerkt, wenn die Bremse nicht geht, oder?“, erwiderte der Polizist nachdenklich.

„Eben, mein Reden“, bejahte der Traktorist zeitgleich mit dem seine Lunge verlassenden Rauch, ehe er zum nächsten tiefen Zug ansetzte.

„Rolf, sag mal, du kannst mir doch hier nicht so in den Rücken fallen, was soll das?“, schrillte seine Kollegin mit wütender Stimme.

„Tut mir leid, Leonie“, sagte er, „wir werden den Fall selbstverständlich sachgemäß bearbeiten und dann feststellen, ob es sich um Fahrlässigkeit oder böswillige Manipulation handelt.“

„Das will ich doch wohl meinen!“, erwiderte sie selbstsicher, die Arme auf Brusthöhe vor ihrer vorbildlich sitzenden dunkelblauen Uniform verschränkt.

„Wo haben Sie eigentlich das Mädchen gelassen?“, fragte Fynn, nachdem sich die Stimmung etwas gelockert hatte.

„Die sitzt im Auto. Die junge Dame kommt mit uns mit aufs Revier, da sie sich nicht ausweisen konnte. Wir müssen noch ihre Personalien feststellen“, sagte der Polizist.

„Und du bist sicher, dass du sie ins Auto gesetzt hast?“, fragte ihn seine Kollegin, während sie auf die hintere Beifahrertür des Wagens zeigte. Rolf drehte sich um und sah die offen stehende Tür des Wagens.

„So ein Misst! Das ist doch auch ein Müll mit diesen neuen Schlüsseln. Man weiß nie, ob die Karre jetzt zu ist oder nicht. Ich krieg schon wieder zu viel hier. Mit meinem alten Mercedes wäre das nie passiert! Warum musste ich den überhaupt abgeben?“, schnaufte er wütend über die neue Technik, mit der er nicht zum ersten Mal nicht einig wurde. Seine Kollegin verkniff sich ein Lachen über die augenscheinliche Überforderung ihres Kollegen, bevor sie ihm antwortete:

„Nach einer Million Kilometern kann man sein Auto auch ruhig mal wechseln, Rolf. Und das Mädchen finden wir schon wieder, du hast ja eine Personenbeschreibung gemacht, richtig?“

Ihr Kollege kramte seinen Notizblock hervor.

„Ja, hier. Name Bella, hüftlange bernsteinfarbene Haare, grüne Augen, ca. ein Meter 70 groß, sportliche Statur, blaues Kleid und …“

In diesem Moment brachte eine Hupe mit der Intensität eines Nebelhorns großer Überseefrachter die Luft förmlich zum Beben. Der Abschlepper, ein gelb-schwarz umlackiertes Ungetüm aus Militärbeständen rollte am Horizont heran. Im ersten Leben hatte dieses Monster Panzer geborgen, nun wurde er nur noch zum Bergen von Lkw und Landmaschinen benutzt. Als das Ungetüm in einem etwa 80 Meter weit entfernten Feldweg einfuhr, drehte und rückwärts an die verunglückte Maschine setzte, brachte der näher kommende und vor sich hin brodelnde V16-Motor dieses Biestes den Brustkorb von jedem zum vibrieren, der sich ihm näherte.

„Du kannst übrigens gehen, Fynn. Wir haben alle Informationen. Sollte uns etwas fehlen, melden wir uns selbstverständlich noch einmal bei dir. Sie, Herr Preisig, bleiben allerdings noch hier. Wir haben noch einiges zu besprechen“, sagte Heer Wegmann. Fynn nickte und ging um den braun-grünen, nach frisch gedroschenem Getreide duftenden Anhänger herum zu dem weißen Kühlauto, auf welchem in goldener Schrift stolz sein Familienname prangte: „Brehmer Fisch von der Insel, für die Insel“. Darunter die Anschrift: Hafenweg 55, 18765 Thilow. Jedes Mal wenn er dieses Logo sah, entglitt ihm ein stolzes Grinsen. Er stieg in den noch neu aussehenden, zu einem Kühlfahrzeug umgebauten Kleintransporter ein und startete mit einem Knopfdruck auf den „engin on“-Knopf den Sechszylinder-Diesel. Anschließend verließ er den kopfsteingepflasterten Parkplatz des Restaurants mit dem im Rückspiegel immer kleiner werdenden Unfall Richtung Thilow, während die Sonne durch die Baumkronen der Lindenallee schien und das Korn der unendlich erscheinenden Felder trocknete, auf denen sich bereits die ersten Mähdrescher erneut unaufhaltsam durch die Bestände fraßen.

Die Enthüllung

In Thilow angekommen, fuhr Fynn durch das kleine Örtchen durch, bis er die nächste Kreuzung hinter dem Marktplatz rechts Richtung Hafen abbog. Dort, vor den Toren der Hafenmauer, hatte sein Vater den Firmensitz der Firma seiner Familie errichtet. Es war ein 3500 Quadratmeter großes Gelände. Die Einfahrt, welche ein handgeschmiedetes, an zwei massiven gemauerten und weiß verputzen Pfeilern aufgehängtes vier Meter breites schwarzes Stahltor vesperrte, war mit graphitgrauem Split bedeckt. War es geschlossen, prangte auch hier in goldener Schrift sein Nachname auf beinahe zwei Metern Länge. Auf dem Gelände standen hinter der Einfahrt auf der linken Seite aneinandergereiht fünf weitere hoch polierte, zu Kühlfahrzeugen umgebaute Kleintransporter. Auf der rechten Seite des Geländes reihten sich insgesamt drei, vier Meter hohe, fünf Meter lange und sechs Meter breite weiß-graue Kühlhallen aneinander, auf deren Dächern Solarzellen angebracht waren. Passend zu dem Abschluss des letzten Gebäudes auf der rechten Seite schloss die kleine Werkstatt für Reparaturen an Fahrzeugen und Technik auf der linken Seite des Geländes ab. Zwischen der Werkstatt und den Stellplätzen für die Kühlfahrzeuge lagen noch die Parkplätze für die Angestellten. Mittig wurde der Firmenplatz durch eine mit kleinen Findlingen eingefasste, auf Rindenmulch wachsende Buchsbaumhecke getrennt. Vor Kopf des am Ende des Geländes sitzenden Firmengebäudes endete sie in einen zwei Meter breiten steinernen Springbrunnen. In ihm prangte nur eine Hand breit über der Wasserkante ein bronzefarbener bärtiger Fischer in Lumpenkleidung. Er warf seine Angel in das mit echten Kois bestückte achteckige Wasserbecken des Springbrunnens. Der satinschwarze Büropalast, welcher sich hinter dem Wasserbecken mit riesigen, teils getönten Glasfronten erhob, bildete das Herzstück des Geländes. Er wurde durch den rundherum wachsenden englischen Rasen, nach dem sich jeder Golfplatz die Finger geleckt hätte, sichtlich vom restlichen Firmengelände getrennt. Wollte man das Gebäude betreten, so musste man zuerst eine dreistufige, von der Eingangstür mondsichelförmig auslaufende weiße Treppe emporsteigen. Eingefasst war alles von einer Mauer aus Findlingen, die in Stahlkörben mannshoch aufgetürmt das Grundstück imposant abgrenzten. Beeindruckend, was so ein paar Fische nicht alles bezahlen konnten, dachte Fynn, während sich die Reifen seines Sprinters durch den Rollsplitt des dekadenten Firmengeländes seines Vaters kämpften. Er parkte den Wagen auf dem dafür vorgesehenen Parkplatz neben den anderen Fahrzeugen. Nachdem er die Mappe mit den Lieferscheinen aus dem Fußraum des Beifahrersitzes gekramt hatte, ging er mit dem Schlüssel in die Werkstatt. Dort hing er ihn in den zu einem Schlüsselkasten umgebauten kalkweißen Sicherungskasten, direkt hinter der Eingangstür der Werkstatt auf der linken Seite. Hier hingen neben den Autoschlüsseln auch der Schlüssel des Gabelstaplers sowie der vier seinem Vater gehörenden Schiffe. Er warf die Lieferscheine noch in einen extra dafür angebrachten Briefkasten neben der Treppe zur Eingangstür des Firmengebäudes, ehe er sich auf sein schon etwas älteres Mountainbike setzte und vom Firmengelände die Hafenstraße hoch nach Hause fuhr. Das Haus der Familie Brehmer lag nur wenige Straßen weiter an der Kreuzung rechts und dann an der nächsten Straßeneinmündung sofort wieder links in der Strandstraße. Im Gegensatz zu dem Monument, das sein Vater im Laufe der Jahre vor den Hafentoren errichtet hatte, war das Haus, in dem sie lebten, unscheinbar. Es war ein rot geklinkertes Einfamilienhaus mit schwarzen Dachziegeln, die in der Sonne einen leicht bläulichen Touch bekamen. Es unterschied sich kein bisschen von den anderen Häusern in der Straße. Erst die schwere 500er Mercedes E-Klasse gab einen Hinweis darauf, wer dort wohnte. Fynn stellte sein Fahrrad neben der Mülltonne, welche in der Einfahrt stand, ab und lief an den preisgekrönten blutroten Rosenbeeten seiner Mutter vorbei ins Haus. Dort erwarteten ihn seine Eltern bereits am Wohnzimmertisch, welchen man beim Betreten des Hauses durch den geraden, eierschalenfarben gestrichenen Flur, in dem ein Bild des ersten Schiffes hing, gut sehen konnte. Fynn setze sich zu ihnen und schilderte ihnen den Vorfall des heutigen Tages, bevor er sich sichtlich erschöpft die Treppe hochschleppte und noch angezogen in sein Bett fiel.

Am nächsten Morgen wurde er unsanft von dem seine Ohren vergewaltigenden schrillen Ton seines wie jeden Morgen viel zu lauten Weckers aus den Träumen gerissen. Er schlug mit der flachen Hand einige Male planlos auf den kniehohen Nachttisch aus Buchenholz, bis er seinen Wecker endlich traf und dieser verstummte. Noch im Halbschlaf drehte er sich auf den Rücken, streckte seine noch müden Arme aus und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Nachdem er es aus dem Bett geschafft hatte, ging er zur allmorgendlichen Badroutine über. Nach der obligatorischen Predigt seiner Eltern, auf sich aufzupassen, trank er noch den letzten Schluck des frisch gepressten Orangensaftes aus und verließ das Haus. Er zog die Haustür hinter sich zu, nahm sein Mountainbike und machte sich auf dem Weg zum Hafen. Unterwegs hielt er noch beim einzigen Bäcker des Dorfes, dem Lila Bäcker, bei dem sich jeder wunderte, dass er noch nicht pleite war. Nicht weil die Brötchen nicht schmeckten, sondern weil einfach chronisch zu wenig gebacken wurde, um alle Kunden zu bedienen. Dort holte Fynn sich bei der jungen blonden Bäckerin, welche auf den bezaubernden Namen Emma hörte, zwei Schokobrötchen. 1,60 Euro in kleinen Münzen leichter, dafür um zwei sagenhaft locker-saftige Schokobrötchen reicher verließ er die Bäckerei, kurz bevor sie von den Rentnern des Dorfes gestürmt wurde. Entspannt rollte er mit dem warmen Schokoladenduft in der Nase den restlichen Weg zur Einfahrt hin sanft bis in den Fahrradständer aus, der direkt neben der Werkstatt stand. Er holte den Schlüssel seiner kleinen bordeauxroten Nussschale aus dem Sicherungskasten. „Unsinkbar II“ stand auf dem Schlüsselanhänger. Nach dem gestrigen Vorfall wollte sein Vater ihn erst einmal nicht mehr mit dem Auto fahren lassen, weshalb er zum Fischen eingeteilt wurde. Die ihn noch von seinem Boot trennenden letzten 400 Meter lief er zu Fuß über den zum Glück erneuerten Buchenholzsteg, welcher seine Schritte abfederte, ohne dass er befürchten musste, bei der einen oder anderen Holzplatte einzubrechen. An dem Anlieger, an dem die gerade einmal sechs Meter lange Unsinkbar II festgemacht war, angekommen, schob er sich noch kurz den letzten Bissen seines ersten Schokobrötchens in den noch vollen Mund und sprang von dem Steg aus gekonnt über die weiß angestrichene, mit einem Metallrohr als Aufsatz endende Bordwand auf den minzgrünen, nicht federnden Blechboden. Das gesamte Boot geriet daraufhin ein wenig ins Schaukeln. Mist, vielleicht muss ich wirklich etwas abnehmen, dachte er sich, als er über den noch leicht schwankenden Boden in die Kabine ging. Er kramte seine schwarzen Stoffhandschuhe aus der ewig klemmenden Schublade links neben dem Steuerrad, löste die handknöcheldicken ausgefransten Taue und startete den in die Jahre gekommenen stotternden Zweitakt-Diesel. Anschließend drückte er das Boot mit einer langen Metallstange, an deren Ende eine rechteckige Platte angeschweißt war, vom Steg und somit von den anderen Booten weg, bevor er den Gashebel bis in die Windschutzscheibe vorschob, um den Hafen zu verlassen. Auch wenn er nicht wirklich zufrieden damit war, seinem Vater heute in diesem Ausmaß zu helfen, immerhin steckte er mitten in den Abiturvorbereitungen und hätte die schulfreie Zeit lieber zum Lernen genutzt, vergaß er den aufkommenden Kummer an Morgen wie diesen schnell. Die Sonne stand bereits oben am Himmel und heizte das königsblaue Wasser, auf dessen Oberfläche er sich mit mittlerweile neun Knoten, der wohl langsamsten Höchstgeschwindigkeit aller Schiffe im Hafen, bewegte, auf. Er schaute durch die von der Witterung bereits stark gezeichnete, mit Eichenholz verkleidete Kabine mit großelternartiger Holzvertäfelung hinaus über die weiße Reling, weit über die Wellenbrecher, die aus Zentner schweren massiven Steinen zu langen Schlangen aufgetürmt waren. Vor den Hafentoren erstreckte sich das kristallklare Wasser noch bis hinter den Horizont, mit welchem es schlussendlich zu verschmelzen schien. Er würde eh Fischer werden, dachte er dann immer, ob heute oder morgen, mit oder ohne Abitur, Fischer, das würde er so oder so. Trotzdem wollte er sein Abitur schaffen, weshalb er gegen die Anweisung seines Vaters weit raus bis vor die Küste der kleinen Insel Grewitz fuhr. Die Insel samt umliegender Gewässer wurde vor einiger Zeit zu einem Naturschutzgebiet erklärt. Fischen war hier in diesen Gewässern verboten. Doch da ihm die Matheprüfung am Montag im Nacken saß, beschloss er, wohl wissend, hohe Bußgelder und noch viel schlimmer den guten Ruf seiner Familie zu riskieren, genau hier an der Grenze des legalen Bereichs zu fischen. Fynn warf das Netz wenige Meter vor dem auf seiner Satellitenkarte rot markierten Bereich aus und ließ es in diesem treiben, ehe er es wieder Richtung Boot zog. Das Verbot hatte nämlich zur Folge, dass es vor Fischen nur so wimmelte. Sie schienen sich in diese Gewässer zurückgezogen zu haben. Ein Netz nach dem anderen zog er im Grenzbereich aus dem Wasser. In jedem war mindestens ein Zentner bester Fisch. Sie füllten sich im Minutentakt und waren teilweise so voll, dass er sie wieder öffnen musste, damit sich die Fische nicht durch ihr eigenes Gewicht zerquetschten. Beim letzten Netz jedoch passierte etwas Unerwartetes. Etwas Großes und Kräftiges hatte sich in ihm verfangen. Die Winde, mit der er seine Ladung mit einigen Ausnahmen fast schon spielerisch anmutend aus dem Blau zog, krächzte und knackte bedenklich. So etwas hatte er noch nie gehabt. Wie versteinert stand er neben dem pfeifenden und krächzenden Motor und blickte angespannt aufs Wasser, in welchem sich das Netz mit aller Kraft gegen die Winde zu stämmen schien. Plötzlich hämmerte ein lauter Knall durch die ansonsten idyllisch anmutende Stille des Meeres. Der Motorschutzschalter war rausgeflogen und die Winde stand mit rauchendem Motor still. Das Netz wickelte sich mit solch eine Kraft von der nun stehenden Rolle ab, dass das gesamte Boot tief nach hinten gezogen wurde. Nur noch wenige Zentimeter trennten die Reling von der Wasseroberfläche, als die Rolle das Netz endlich losließ. Das gesamte Boot machte einen gewaltigen Satz nach vorne und mit dem Aufprall des Bugs auf der Wasseroberfläche verlor er das Gleichgewicht, woraufhin er mit dem Rücken auf den harten Blechboden knallte. Mit schmerzverzogener Miene und zu gleichen Teilen wütend wie fassungslos wurde ihm klar, dass er nun in Schwierigkeiten steckte. Er legte sich auf den Bauch, drückte seinen Oberkörper mit zittrigen Armen vom Boden weg, zog die Knie heran und stand auf.

„So ein verdammter Mist, warum musste das auch wieder mir passieren? Kann nicht mal ein Tag normal sein? Klappt bei anderen doch auch!“