3,99 €
Izabel liebt abenteuerliche Geschichten über alles, doch ihr Leben hält nichts Außergewöhnliches für sie bereit. Als ein reisender Magier ihr abgeschiedenes Dorf besucht, ergreift sie diese einmalige Chance und beschließt ihn zu begleiten. Auf ihrem gefährlichen Weg durch das Reich lernt sie vieles und stellt fest, dass selbst im Alltäglichen etwas Besonderes und Magisches steckt. Acht ereignisreiche Jahre später kehrt Izabel in ihre Heimat zurück und kann ihren kleinen Bruder vor einer wachsenden Bedrohung retten. Nun ist sie die erfahrene Magierin und muss eine neue Rolle einnehmen, um all das, was ihr noch geblieben ist, beschützen zu können. Mutig tritt sie die Reise ihrer Kindheit noch einmal an, an deren Ende ein erbitterter Kampf um das Schicksal der Welt wartet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2025
wundersam
für alle Menschen,
die sich wie Heimat anfühlen
Kevin Johann Wundersam
das Mädchen
und die magischen Begleiter
das Mädchen und die magischen Begleiter
© Kevin Johann Wundersam
2025 – Originalveröffentlichung
Epik · Roman · Fantasy
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH,
Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
ISBN 978-3-384-57671-2 (softcover)
ISBN 978-3-384-57672-9 (hardcover)
ISBN 978-3-384-57673-6 (e-book)
Für die Erstellung dieses Werkes erforderliche Programmlizenzen (etwa für Verarbeitung sowie Gestaltung) wurden entweder rechtlich erworben oder gelten als frei. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit aller angegebenen Daten wird keine Gewähr übernommen.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jedwede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors;
zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
gleichsam einer Fantasie
what is life worth
if you don’t bleed for anything
das Mädchen und die magischen Begleiter
Hiermit schwöre ich feierlich,dass ich mich unserem Titel eines wahrhaftigen Magiers würdig erweisen will,indem ich dem Rat meines Herzens folgeund jederzeit sowie überall diein diesem Buch geschriebenen
Regeln der magischen Kunst
anwende, um mir selbstsowie allen mir zugetanen Wesendas bestmögliche Schicksal zu gewähren.
ein Magier soll nicht lügen,sondern Wahrheit sprechen
ein Magier soll erst den einen Schuh anziehen,ehe er sich dem anderen zuwendet
ein Magier soll nicht vor die Türe treten,wenn ein Sturm tobt
Gil d’Oath
Puszta
Flag III.
Zamarkin
Izabel
fufufuuu, juhuuu
die Reise der 9-jährigen Izabel
Mühlheim
Es kam nicht häufig vor, dass ein wahrhaftiger Magier zu den Dörfern der äußeren Gebiete reiste, aber wenn es doch geschah, war es für deren Bewohner ein ganz besonderes Ereignis – und dies galt natürlich auch für Mühlheim; das langweiligste Plätzchen der Welt, wie Izabel fand.
Ob das beschauliche Mühlheim wirklich der langweiligste Ort der Welt war? Nun, dieses weit im Südwesten gelegene Dorf war in der Tat mit einigen unspektakulären Eigenschaften behaftet. Mit nur neun Haushalten handelte es sich um eine sehr kleine Siedlung, die zudem so abgeschieden lag, dass sie ganzjährig nur wenige Reisende anzog. Ein großer Hof mit Stall ergänzte ein halbes Dutzend Wohnhäuser, die diese Ortschaft formten.
In einem fruchtbaren Tal, nun mit Weiden und Äckern gefüllt, hatten sich einst ein paar Menschen auf der Suche nach Schutz niedergelassen. Es war von einigen ungleichmäßigen Erhebungen auf der einen Seite und einem schier unüberwindbaren Gebirgszug auf der anderen eingekesselt. Betrat man es durch seinen einzigen Zugang, so hatte man einen wunderschönen Ausblick auf Mühlheim; mit all den Häusern sowie den bunten Gräsern im Vordergrund, etwas versetzt die dicht bewaldeten Hügel in Grün, dahinter die verschneiten Berge aus massivem grauem Stein, und über all dem ein strahlend blauer Himmel.
Die namensgebende Mühle im Zentrum war vor langer Zeit von einem wohlhabenden Händler mit dem Wunsch nach innerem Frieden errichtet worden. Sie hatte ihm einen gemütlichen Lebensabend beschert, war ansonsten jedoch keine allzu bereichernde Investition gewesen. Nichtsdestotrotz war diese Windmühle zum Wahrzeichen des Dorfes geworden. Auch wenn sie nun schon seit etlichen Jahren stilllag, brachte sie die Bewohner trotzdem noch gelegentlich zum Lächeln.
Unter den Bewohnern, die hauptsächlich als Bauern tätig waren, war man sich einig, dass es durchaus Vorteile hatte, in einem so ruhigen Dörfchen zu leben. Es lag fernab von Sorgen, und von den angeblichen Unruhen in den großen Städten ringsum merkte man kaum etwas. Man konnte sich gut auf die Arbeit konzentrieren und den Alltag genießen.
Wie alle Kinder in Mühlheim unterstützte auch Izabel die Erwachsenen tatkräftig. Beispielsweise mussten die Kühe gemolken oder die Hühner gefüttert werden. Bei dem intensiven Tiergeruch wurde Izabel mit ihrer feinen Nase jedoch schnell übel. Aus diesem Grund hatte sie sich andere Aufgaben gesucht. Oft half sie einer Nachbarin, Kräuter zu pflücken und Körbe zu flechten. Meistens allerdings unterstützte sie ihre Mutter beim Kochen.
Hatten die Kinder ihre Pflichten am Vormittag erfüllt, so durften sie nach dem Mittagessen bis zum Untergang der Sonne spielen. Viele von ihnen gingen in den angrenzenden Wald, um unterschiedliche Dinge wie etwa Pilze oder Insekten zu sammeln. Manche liefen zum nahegelegenen Bach und alberten mit selbstgebastelten Waffen herum.
Izabel war anders. Sie war ein in sich gekehrtes ruhiges Mädchen, das nichts von Erkundungen oder gar Kämpfen hielt. Ihr gefiel es viel eher, Bücher zu verschlingen.
Tatsächlich war Izabel das einzige Kind in der gesamten Umgebung, das lesen und schreiben konnte. Gelernt hatte sie dies von einer alten Dame namens Agatha, deren Hütte am Fuß eines Berges stand, einen halben Tagesmarsch von der Mitte Mühlheims entfernt. Vor knapp einem Jahr hatte Izabel ihrem Vater geholfen, der schwächlichen Dame ein paar Lebensmittel zu liefern. Als sie einen Fuß in deren Hütte gesetzt hatte, war es um sie geschehen.
All die vielen Bücher; jedes ein Meisterwerk für sich! Da waren Bücher mit wertvoll wirkenden Einbänden und beeindruckend gestalteten Initialen, solche mit bunt gezeichneten Bildern und welche mit mysteriös anmutenden Symbolen, fein säuberlich in einem riesigen Regal an der Wand stehend sowie in Stapeln auf dem Boden liegend.
Lächelnd hatte Agatha das Staunen ihrer Besucherin bemerkt und sie gefragt, ob ihr ihre Sammlung denn gefalle. Izabel hatte begriffen, dass jedes einzelne Buch in dieser Hütte eine Geschichte enthielt – eine Geschichte, die erlebt werden wollte; die gelesen werden musste.
In den darauffolgenden Wochen war Izabel wiederholt zu der Hütte gewandert und hatte von der alten Dame sowohl das Lesen als auch das Schreiben gelernt. Obwohl ihr Vater zunächst gegen diese Besuche gewesen war, hatte ihre Mutter ihm schließlich eine Erlaubnis abgerungen. Beide hatten sich darauf geeinigt, dass es nicht schaden konnte, wenn ihre Tochter solche Fähigkeiten besaß.
Wie eine Frau wie Agatha an die vielen Bücher gekommen war, wusste niemand so genau. Manche munkelten, dass sie einmal die Chronistin eines verwunschenen Kaisers jenseits des Gebirges gewesen war, bevor sie geflohen war und sich hier niedergelassen hatte. Außerdem wurde behauptet, sie wäre eine vortreffliche Fechterin und hätte sich einmal mit einer Diebesbande eingelassen. Nicht alles davon stimmte, jedoch lag in jeder Aussage wohl ein ganz kleines Fünkchen Wahrheit verborgen. Aber dies ist eine Geschichte für einen anderen Tag.
Natürlich besuchte Izabel die alte Agatha gerne, denn sie war sehr nett und hatte viel zu erzählen. Ihr eigentliches Interesse galt allerdings den Büchern, von denen sie eines nach dem anderen in sich aufsog. Nach und nach lernte das ruhige Mädchen auf diese Weise die Welt kennen, wenngleich es Mühlheim noch nie verlassen hatte. Sie las von fernen Ländern und deren Städten, von Reisenden sowie deren Abenteuern in fremden Regionen, über Gefühle und Sehnsüchte und auch Wünsche.
Mit jedem Buch, das Izabel las, wuchs ihr Unmut über ihre eigene Situation – dazu bestimmt, wohl den Rest ihres Lebens in einem langweiligen Dorf fernab jeglicher Möglichkeiten zu verbringen. Zudem bekamen ihre Eltern ein zweites Kind und mussten sich dann gänzlich auf das Neugeborene konzentrieren. Daher erhielt Izabel weitaus weniger Aufmerksamkeit als ihr neues Brüderchen, was ihre ohnehin schon kaum erträglichen Umstände nur noch verschlimmerte. So kam es, dass das unglückliche Mädchen seine Heimat von Tag zu Tag ein bisschen weniger leiden konnte.
Und schließlich kam jener schicksalshafte Tag, an dem der Magier erschien.
Angekündigt wurde der Besuch des Magiers durch eine gigantische graue Wolke in Form eines Raben, monströs sowie unheimlich. Daran erkannte man, dass es sich um einen wahrhaftigen Magier (und nicht bloß einen magiekundigen Scharlatan) handelte. Bereits sehr früh am Morgen dieses besonderen Tages an der Schwelle zum Herbst-einbruch konnte man jene Wolke am Horizont erblicken.
Es herrschte ein äußerst tristes Wetter, und der beständige Wind machte es noch kälter als es ohnehin schon war. Dennoch gingen viele Bewohner zeitig vor die Türe, um den Magier nicht zu verpassen. Sie mussten sich allerdings gedulden, denn er traf erst gegen Mittag in Mühlheim ein.
Natürlich gab es beim Besuch von fahrenden Händlern mit ihren vollbeladenen Karren weitaus mehr zu tun. Man tauschte eigene Erzeugnisse wie geräuchertes Fleisch oder frische Butter gegen Waren aus entfernten Städten, und man konnte sich über die wirtschaftliche Situation der benachbarten Regionen erkundigen. Bei einem Magier war dies anders, denn meist führten diese bloß einen Stock und einige wenige Beutel mit sich. Allerdings konnte man mit etwas Glück einen Ratschlag ergattern oder auf Hilfe bei einem mit üblichen Methoden nicht lösbaren Problemchen hoffen.
Emsig scharten sich die Bewohner aus Mühlheim um den Magier und lauschten, welche Kunde er aus den Ländern des Nordostens brachte. Nachdem alle Geschichten erzählt worden waren, wurde dem Magier ein Krug kühler Milch geschenkt, um ihn zufrieden zu stimmen. Daraufhin verteilte er ein paar Heilpflanzen unter den Bewohnern und legte schützende Magie auf ihre Häuser.
So schnell der Magier gekommen war, so eilig hatte er Mühlheim auch wieder verlassen. Da es zurzeit keine allzu großen Schwierigkeiten in dem Dörfchen gab, hatte er keine außergewöhnliche Aufgabe zu bewältigen gehabt. Trotzdem blieb der Magier bis zum Abend in der Nähe der Siedlung, da ein beunruhigendes Gefühl in ihm aufkeimte.
Dass die Kinder von Mühlheim mit Magiern sprachen, war nicht unbedingt erwünscht. Immerhin handelte es sich bei Magiern – und waren sie noch so freundlich – meist um unberechenbare Personen mit der beeindruckenden Macht, die Elemente zu beherrschen. Es war ihnen sogar möglich, einen Menschen in ein Tier zu verwandeln. Möglicherweise war dies aber auch nur ein Gerücht, denn noch kein Bewohner dieses Landes hatte etwas in dieser Art erlebt. Dennoch war Vorsicht beim Umgang mit solchen Leuten geboten, so sagte man.
Selbstverständlich war auch Izabel verboten worden, sich dem Magier zu nähern. Den ganzen Tag über hatte sie bei einer der Nachbarinnen Bottiche gereinigt. Als die Sonne dann allmählich hinter den Bergen verschwand, hielt sie die monotone Arbeit nicht länger aus. Das junge Mädchen entschuldigte sich und rannte aus dem Haus.
Izabel lief und lief, doch sie kannte ihr Ziel nicht. Eigentlich konnte man den Talkessel nur in Richtung Nordosten verlassen. Trotzdem schlug das Mädchen einen ganz anderen Weg ein, und schließlich fand es sich auf einem Hügel wieder, hinter dem Agathas Hütte lag.
Ganz in der Nähe hatte sich der Magier auf einem Baumstumpf niedergelassen. Bei ihm handelte es sich um einen großgewachsenen Mann mit hagerem Körper, mindestens fünfzig Jahre alt. Unter der weiten Kapuze seines beigefarbenen Mantels kam graues Haar zum Vorschein, lang und zerzaust. Neben ihm lag ein breiter Beutel aus Leder im Gras, und er führte auch einen langen Stab mit sich. Ansonsten wirkte er ziemlich gewöhnlich.
War dies tatsächlich ein wahrhaftiger Magier?
Vorsichtig näherte sich Izabel diesem Mann, der immerhin ein Fremder für sie war. Mit kleinen Schritten bahnte sie sich einen Weg den sanften Hang des Hügels hinunter. Es gab keinen Zweifel darüber, dass der Magier sie bereits bemerkt hatte, doch er grüßte sie nicht und rührte sich auch sonst kein bisschen.
Schließlich stand Izabel vor dem Magier und konnte ihn aus der Nähe begutachten. Im faltigen Gesicht des Mannes hatte sich eine breite Nase eingefunden. Darunter befanden sich wohlgeformte Lippen, und an einem der Mundwinkel war eine feine Narbe zu erkennen. Von den runden Ohren bis zum runzeligen Hals war fast die gesamte Haut von Bartstoppeln überzogen. Sein ergrautes Haar reichte bis zu den Schultern, wucherte allerdings ausschließlich auf dem Hinterkopf, während der Bereich um die hohe Stirn kahl geworden war. Erwähnenswert waren seine klaren blauen Augen, in welchen goldene Wellen zu toben schienen. Auf dem langen Mantel des Magiers prangte ein merkwürdiges Zeichen.
Nun; der Magier lächelte, doch Izabel hatte noch nie in ihrem Leben einen so traurigen Mann getroffen. Äußerlich gab es keinerlei Anzeichen für diese Traurigkeit, aber das junge Mädchen konnte sie hinter der lächelnden Fassade deutlich spüren.
»Na?«, machte der Magier und rückte seine Kapuze zurecht, sodass er das soeben aufgetauchte Mädchen besser mustern konnte. »Wie ist dein Name?«
»Elizabeth«, lautete die Antwort seines Gegenübers, das ihn gedankenverloren und neugierig anstarrte. »Aber viel lieber werde ich Izabel genannt.«
Langsam griff der Magier in seinen Beutel und zog eine Pfeife aus dunklem Material hervor. Dann stopfte er ein paar getrocknete Blumenstängel in die breite Öffnung und zündete sie an, bevor er sich das lange Ende in den Mund steckte.
»So wie die Königin von Cervantes?«, fragte der Magier, und seine Stimme klang durch die Pfeife zwischen seinen Lippen noch tiefer als ohnehin schon.
»Genau!«, rief Izabel, wobei sie stolz ihre Arme in die Hüfte stemmte. In einigen Büchern hatte sie von der Königin des Landes Cervantes gelesen. Sie war stets als strenge aber gerechte Herrscherin beschrieben worden, schön und weise zugleich. Insgeheim hatte Izabel diese Frau bewundert, und so hatte sie ihren eigenen Namen Elizabeth ein bisschen abgeändert, um eine Gemeinsamkeit mit dieser Königin zu haben.
»Tja, also die ist leider vor einigen Wochen gestorben«, meinte der Magier etwas trocken und nahm einen Zug von der Pfeife.
Schockiert blickte Izabel ihren Gesprächspartner an. Was hatte sie da soeben erfahren? Die unbeugsame Heldin aus all den Büchern über Cervantes war tot? Die einzige Frau, welche tatsächlich Abenteuer erlebt hatte und nicht bloß eine erfundene Figur aus den Romanen gewesen war? Die liebevolle Person, die sie in ihren Träumen begleitet hatte und zu der sie eine tiefe Verbindung aufgebaut hatte? Also sollte die Königin einfach gestorben sein?
»Hernando regiert nun Cervantes«, nuschelte der Magier und rieb sich das Kinn.
»Es müsste doch Santiago sein«, flüsterte Izabel, immer noch von dieser tragischen Neuigkeit überwältigt. Santiago war der mutige Sohn der Königin, während Hernando den faulen Neffen darstellte. So stand es zumindest in den zig Büchern über die royale Familie geschrieben, die bei Agatha in den Regalen standen.
»Der rechtmäßige Prinz, also Santiago, hat die Krone abgelehnt und ist aus dem Reich verschwunden«, erklärte der Magier kopfschüttelnd.
»Santiago ist ein Held«, gab Izabel mit gerunzelter Stirn von sich. »Er ist hübsch und stark; sogar viel mehr als das. Er soll dem fürchterlichen Basilisken von Faerland beide Flügel ausgerissen haben. Er soll sogar einen Blitzschlag vom Todesgipfel überlebt haben. Also ist er derjenige, der König sein sollte.«
»Du weißt ja ziemlich gut Bescheid für dein Alter, hm?«, knurrte der Magier, als er sich plötzlich aufrichtete und das junge Mädchen fixierte.
»Ich kann lesen«, antwortete Izabel.
Ein paar Regentropfen fielen vom Himmel.
Und plötzlich, aus einer Eingebung heraus, warf sich Izabel dem Magier vor die Füße und begann zu weinen.
»Nehmt mich mit!«, flehte sie. »Nehmt mich mit auf Euren Reisen!«
»Wie bitte?«
Das durch Zeiten des Schmerzes verhärtete Gesicht des Magiers öffnete sich schlagartig; mit einer plötzlichen Verwunderung – und als würde eine Mischung aus Stolz und Furcht über ihn hereinbrechen.
»Ich halte es hier nicht mehr aus, versteht Ihr das? Dieses langweilige Dorf wird zu meinem Grab, wenn mich nicht irgendjemand in die Welt da draußen mitnimmt, die so viel mehr zu bieten hat.«
Offenbar war es dem Magier sehr unangenehm, dass das Mädchen weinte, denn er stand auf und entfernte sich einige Schritte von dem Baumstumpf.
»Das kann ich leider nicht tun. Ich kann dich deinen Eltern nicht wegnehmen.«
»Meine Eltern kümmern sich eh nicht mehr um mich«, schrie Izabel, und der angestaute Frust der letzten Monate entlud sich explosionsartig. »Seitdem mein Bruder geboren worden ist, kümmern sich Mama und Papa nur noch um ihn. Auf meine Wünsche wird gar nicht mehr eingegangen. Nur das Lesen von Büchern hält mich am Leben, so ist das. Es ist unfair, das einzige Kind in diesem Dorf zu sein, welches sich lieber in andere Welten flüchtet als in dieser zu bleiben. Es ist mein Wunsch, von hier weg zu gehen! Ich will Abenteuer erleben! Ich will es wirklich!«
Izabel pustete sich ein paar ihrer Haare aus der Stirn und schluchzte.
Nun verstand der Magier, welches Gefühl ihn dazu verleitet hatte, in der Nähe dieses Dorfes zu bleiben – und zu warten. Vermutlich hatte das Schicksal gewollt, dass er auf Izabel traf. Auch er selbst hatte in seiner Kindheit dieses unbändige Verlangen gespürt, aus seinem Geburtsort fortzugehen und die Welt zu bereisen. Wer auch immer diesen Wunsch im Herzen trug, den konnte man nicht davon abbringen. Es war vorherbestimmt.
Izabel würde früher oder später aus Mühlheim fliehen; dies war gewiss. Lieber mit jemandem an ihrer Seite als alleine, dachte der Magier bei sich.
Und außerdem war da dieses blaue Mal.
»Warum sollte ich dich mitnehmen?«, brummte der Magier schließlich. »Was nützt du mir?«
»Ich könnte Eure Dienerin sein«, schlug Izabel vor, »und Botengänge für Euch übernehmen. Oder für Euch putzen. Außerdem bin ich eine tolle Köchin, ehrlich. Ihr werdet es nicht bereuen!«
Sanft berührte der Magier das Mädchen am Kopf und begutachtete es. Ein schlanker Körper, der kaum neun Mal den Frühling erlebt hatte. Leuchtende Augen in der Farbe von Edelkastanien, ruhig und kraftvoll. Braunes Haar bis zu den Schulterblättern, nicht wie Erde, sondern ein wenig gräulich wie Fels, glatt und fein. Ein rundes hübsches Gesicht, und ein angeborener bläulicher Fleck auf der Stirn.
»Wie viele Leute in deinem ruhigen Dorf besitzen dieses blaue Mal?«, fragte der Magier fast beiläufig.
»Ich, meine Mutter, mein Bruder, dann ein Nachbar und drei andere Kinder.«
Seufzend kniete sich der Magier vor der weinenden Izabel nieder. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie auch von seiner eigenen Person gelesen hatte, denn er hatte etliche Abenteuer erlebt und wurde in einigen Büchern erwähnt. Vielleicht erwartete sie deshalb, dass er sie mitnahm.
»Du weißt, wie die Leute mich nennen?«, erhob der Magier seine Stimme.
Izabel wischte sich langsam die Tränen aus dem Gesicht und nickte.
»Ihr seid bekannt als der Magier, der jeden Winkel dieser Welt bereiste.«
Ein letztes Mal überblickte Izabel ihre Heimat, die sie zu verlassen gedachte. Ihr wurde gewahr, dass sie möglicherweise niemals hierher zurückkommen würde. Auf einem nicht weit entfernten Plateau war sie stehengeblieben und warf nun einen Blick auf das Tal, in dem Mühlheim lag. Es dämmerte bereits, und die Bewohner hatten sich schon in ihre Häuser zurückgezogen. Still lag es da, behütet von den Bergen ringsum.
Mitgenommen hatte Izabel nur wenig. Es gab sowieso nicht viel Materielles, das ihr am Herzen lag. Eher tat es ihr um die Geschichten in den Büchern leid, die zwar in ihrem Gedächtnis ruhten, aber vermutlich über kurz oder lang verblassen würden. Sie hatte es geschafft, unbemerkt in das Heim ihrer Eltern zu schleichen und ein paar Habseligkeiten aus ihrem winzigen Zimmer zu holen. Alles, was Izabel nun ihr Eigen nennen konnte, war jetzt in dem grauen Täschchen an ihrer Hüfte verstaut. Dies war nichts weiter als ein silbernes Kettchen, welches sie zu ihrer Geburt von ihren Eltern erhalten hatte. Und ein zerfleddertes Büchlein, das sie sich vorigen Monat von Agatha ausgeliehen hatte und wohl nie wieder zurückgeben konnte.
Verabschiedet hatte sich Izabel von niemandem. Es hätte keinen Sinn gemacht. Man hätte sie nur aufgehalten. Selbst ihre Eltern hätten sie gezwungen, im Dorf zu bleiben. Jahr um Jahr wäre vergangen, und irgendwann hätte sie selbst einen Bauern geheiratet, hätte Kinder bekommen, wäre alt geworden und dann in Mühlheim gestorben. Doch das war nicht, was sie wollte. Izabel wollte Teil einer fantastischen Geschichte werden, draußen in der faszinierenden Welt.
Mit feuchten Augen dachte Izabel an ihre Mutter, die sie stets gut behandelt hatte. Von ihr hatte sie so einige nützliche Dinge gelernt. Ebenso dachte sie an ihren Vater, der streng aber liebevoll gewesen war. Vor vielen Jahren hatte er seine Tochter noch scherzhaft Spatz genannt, doch das schien schon längst Vergangenheit zu sein.
Izabel hatte sich entschieden.
»Bist du bereit?«, fragte der Magier und holte Izabel damit aus ihren Tagträumen.
Das Mädchen nickte.
»Lebwohl, Mühlheim.«
»Vielleicht kehrst du ja eines Tages zurück«, meinte der Magier und zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich nicht.«
Und mit dieser Aussage drehte sich das Mädchen um und ließ das langweilige Mühlheim hinter sich – dem Magier, der jeden Winkel dieser Welt bereiste, auf den Fersen.
Dies war der Beginn von Izabels Reise.
Möglichkeiten, dieses Buch zu nutzen
Es gibt mehr als eine Art und Weise, die Geschichte in diesem Buch zu lesen. Natürlich kannst du es wie gewohnt von vorne bis hinten durchblättern. Allerdings ist es auch möglich, jedes zweite Kapitel zu überspringen. Auf diese Weise kannst du zunächst die neunjährige Izabel auf ihrer Reise begleiten, und im Anschluss daran kannst du die Reise der siebzehnjährigen Izabel erleben. Jede der beiden Leseweisen kommt mit unterschiedlichen Vorzügen und Kehrseiten einher. Wie du dieses Buch letztendlich liest, bleibt natürlich dir selbst überlassen. Wenn du ganz aufmerksam bist und etwas über Magie lernen willst, kannst du dir auch diese informativen Abschnitte zwischen den einzelnen Kapiteln einprägen. Mit etwas Übung ist es nämlich durchaus machbar, ein wahrhaftiger Magier zu werden.
die Reise der 17-jährigen Izabel
Mühlheim
Dunkelheit, überall. Für die Feuer gab es keine Nahrung mehr, also waren sie erloschen. Von den Häusern waren bloß noch unförmige Haufen verkohlter Überreste übrig. Steinquader lagen zerstreut herum, und Holzbalken hatten sich in Asche verwandelt. Einzig und allein die Mühle war relativ unbeschädigt geblieben. Nun, da es keine Flammen mehr gab, die den Himmel erhellen konnten, war Finsternis eingekehrt.
Edward hatte sich in einem bauchigen Krug versteckt. Sein junges Herz klopfte wild. Obwohl diese Nacht ruhig war, traute er sich nicht aus seinem Versteck zu kommen. Noch vor wenigen Stunden waren Schreie durch das Dorf gehallt, doch jetzt war es totenstill. Selbst die Tiere, deren Rufe nachts ansonsten durch das ganze Tal hallten, waren verstummt.
Durch die Öffnung des Kruges konnte Edward ein paar Sterne zwischen den Wolken sehen. Ihr zaghaftes Flackern vermittelte ihm das Gefühl, dass alles wieder gut werden würde. Aber er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht war Edward ja der einzige Bewohner, der überlebt hatte. Dieser erschreckende Gedanke nährte seine Ängste, und Stunde für Stunde harrte er in dem Krug aus – darauf wartend, dass etwas geschah; dass jemand kam und ihn rettete. Denn wenn niemand kam, bedeutete dies, dass er alleine war. Und er wollte nicht alleine sein.
Irgendwann, nach einer langen Zeit der Zweifel, riss die Wolkendecke auf und gab den Mond frei. Das sanfte Licht der Sichel erleuchtete die Nacht, und es hatte zweifellos etwas Magisches an sich. Langsam formten sich die Wolken zu einem Raben, monströs und unheimlich.
Während der Junge voller Staunen die gigantische graue Wolke beobachtete, legten sich zwei Hände auf den Krug, in dem er hockte. Es gab einen Ruck, und Edward rutschte hinaus. Mit einem Plumps landete er auf seinem Hintern.
Ängstlich hob Edward seinen Kopf, denn er befürchtete, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Aber da war kein bösartiger Mensch, der ihm etwas Schlimmes antun wollte. Und auch kein Monster, das ihn fressen wollte. Da war nur eine junge hübsche Frau, die ihn anlächelte.
Diese lächelnde Frau war in einen beigefarbenen Mantel gehüllt, auf dem ein grünblaues Zeichen prangte. An den Mantel war ein Täschchen genäht worden, in welchem ein silbernes Kettchen und ein zerfleddertes Büchlein untergebracht waren. Tatsächlich handelte es sich bei dieser Frau um eine wahrhaftige Magierin – einst selbst hier in diesem Dorf aufgewachsen.
Acht ereignisreiche Jahre, nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte, war Izabel nach Mühlheim zurückgekehrt.
Izabel begutachtete den Jungen, den sie da vor sich hatte. Kurzes braunes Haar auf einem rundlichen Kopf, glänzende Augen in der gleichen Farbe, und ein angeborener bläulicher Fleck auf der Stirn.
»Na?«, machte Izabel und rückte ihre Kapuze zurecht, sodass sie den soeben aufgefundenen Jungen besser mustern konnte. »Wie ist dein Name?«
»Edward«, lautete die Antwort ihres Gegenübers, das sie gedankenverloren und neugierig anstarrte. »Aber alle nennen mich bloß Eddie.«
Leise atmete Izabel aus. Wie sie bereits vermutet hatte, handelte es sich bei dem Jungen um ihren kleinen Bruder.
Izabel wusste nicht, ob sie eher erleichtert oder verängstigt war; vermutlich allerdings von beidem ein bisschen.
Endlich hatte sie ein Stückchen Heimat gefunden – das wohl letzte Stück, das es noch für sie gab.
»Nun gut, Eddie; mein Name ist Izabel«, sagte die junge Frau und zwinkerte dem verblüfften Edward zu. »Ich werde dich beschützen, in Ordnung?«
Edward nickte zögerlich. Nun erkannte man an dem Ausdruck auf seinem Gesicht, dass er einige Momente lang einem Gedanken nachjagte und diesen dann plötzlich zu fassen bekam – als würde eine vage Erinnerung langsam aber sicher aus dem Meer der Vergangenheit hervorgeholt und ans Ufer gespült.
»Du bist Lyza«, hauchte Edward.
Nun war es Izabel, die sich verblüfft zeigte. Mit diesem Kosenamen hatten ihre Eltern sie manchmal gerufen. Ob der junge Edward sich an den Klang dieses Namens erinnern konnte, obwohl er damals noch ein Kleinkind gewesen war? Oder hatten ihre Eltern ihm von seiner verlorenen großen Schwester erzählt? Wie auch immer es sein mochte; jedenfalls wurde Izabels Herz mit Freude erfüllt. Schon lange hatte sie niemand mehr Lyza genannt.
Sanft packte Izabel ihren Bruder unter den Achseln und hob ihn hoch. Als sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden, starrten sie sich gegenseitig an. Und alle beide wussten, dass alles gut werden würde.
»Schlaf, Eddie, denn diese schreckliche Nacht sei keineswegs für dich gedacht.«
Fast unmittelbar nach dem Formulieren dieses magischen Spruchs fiel Eddie in einen tiefen Schlaf.
Izabel befestigte ihren schlafenden Bruder mithilfe eines Tuches auf ihrem Rücken und stapfte davon.
Bei der Ankunft im Tal war es finster gewesen, doch dank des Mondlichts konnte man jetzt das ganze Ausmaß der Zerstörung erkennen. Izabel wurde übel und zittrig, als sie die am Waldrand gelegene Lagerhütte, in deren Nähe sich Edward versteckt hatte, hinter sich ließ. Direkt vor ihr lag das Zentrum des Dorfes, aber davon war nichts mehr vorhanden. All die Häuser waren zu wertlosem Schutt geworden. Auch die Gegenstände in ihnen waren verschwunden. Und mit ihnen die Menschen, die hier gelebt hatten.
Tränen stiegen in ihre Augen, während Izabel zwischen den Ruinen ihrer Heimat wandelte. Zwar hatte sie Mühlheim nie besonders gemocht, doch jetzt, da es nicht mehr existierte, fehlte es ihr irgendwie doch. Sie vermisste ihre Jugend, und natürlich vermisste sie ihre Eltern.
Wie von Geisterhand wurde Izabel zu jenem Hügel geführt, auf dessen Spitze sie acht Jahre zuvor den Magier zum ersten Mal erblickt hatte. Von hier aus konnte man erkennen, dass auch die Hütte der alten Agatha vernichtet worden war. Dass sie die nette Frau und ihre Bücher nie wieder sehen würde, traf Izabel wie ein harter Schlag in den Bauch, und sie musste unwillkürlich keuchen.
Plötzlich hörte Izabel eine leise Stimme; ein undeutliches Murmeln bloß. Sie folgte dem Geräusch und wäre schließlich beinahe über eine Person gestolpert. Es handelte sich um einen verwundeten Mann, der stöhnend auf dem kalten Boden lag. Bestürzt hockte sich Izabel hin.
Als sie den Mann erkannte, presste Izabel ihre Hände auf den Mund, um nicht vor Entsetzen aufzuschreien.
»Spatz, bist du das?«
Ihr sterbender Vater hatte Izabel tatsächlich noch einmal liebevoll Spatz genannt, was schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr geschehen war. Sie brach in Tränen aus, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ja, ich bin es«, lautete die Antwort.
»Ich habe gewusst, dass du irgendwann wiederkommst«, sagte der Vater lächelnd, dann musste er husten und wand sich unter Schmerzen.
»Was ist passiert; wo ist Mutter?«, fragte Izabel schluchzend und legte ihre Hände auf den Brustkorb ihres Vaters, um ihn zu heilen. Doch es schien nicht zu wirken, denn die Magie wanderte nicht in seinen Körper, als läge dieser bereits auf der Schwelle des Todes.
»Sie ist … gestorben«, antwortete der Vater, bevor er auf die Stirn seiner weinenden Tochter deutete. »Alle mit dem blauen Mal … sind geköpft worden. Es sind Soldaten gewesen. Sie haben ein fremdes Banner getragen. Darauf ist ein rötlicher Stern mit sechs Spitzen zu erkennen gewesen. Jedes einzelne Haus haben sie in Flammen gesteckt. Alles ist weg. Alle … sind tot.«
Für einen kurzen Augenblick machte der Vater eine Pause, dann sprach er weiter.
»Aber ich bin froh, dass es dir und Edward gut geht. Beschütze ihn, und achte auch auf dich. Versprich mir das.«
»Ich verspreche es«, flüsterte Izabel.
»Du bist stets ein … ruhiges Kind gewesen«, fuhr der Vater fort. »Früher habe ich mir meist gedacht, dass du ein schwaches Mädchen bist; aus diesem Grund habe ich mir einen starken Jungen gewünscht. Dann bist du verschwunden, und ich habe mir Vorwürfe gemacht. Wir haben dich vermisst, deine Mutter und ich. Und jetzt kehrst du nach acht Jahren zurück, erwachsen und unabhängig. Du musst sehr viel stärker sein, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Du bist … mit dem Magier mitgegangen, oder?«
Izabel nickte stumm.
»Die weite Welt hat dich gerufen, so ist es immer schon gewesen.«
Mit diesen Worten schloss Izabels Vater die Augen und verließ die Welt der Lebenden.
Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, doch für Izabel gab es noch viel zu tun. Sie trug den Leichnam ihres Vaters zum Zentrum des Dorfes, wo sie ein großes Loch aushob. Dort hinein legte sie alle Toten, welche sie finden konnte. Danach schüttete sie das Grab zu und legte einen schweren Felsen darauf ab. Auf diesen meißelte sie eine Inschrift.
hier ruhen
die wunderbaren Bewohner
des langweiligsten
und zugleich schönsten
Dorfes dieser Welt.
gezeichnet
die Magierin, die jede Seite des Begleiters besuchte
All das tat Izabel ohne Magie, sondern (aus Respekt für die Verstorbenen) mit bloßen Händen – und es war eine der mühsamsten Aufgaben in ihrem gesamten Leben, denn sowohl ihr Körper als auch ihr Geist hatten sich noch nie so verausgaben müssen. Nach getaner Arbeit ging bereits die Sonne auf und zwang all die Schrecken der vorangegangenen Nacht in die Knie, um sie in der Vergangenheit zu bannen. Erst dann ließ sich Izabel auf den Boden fallen, um zu trauern. Sie weinte so lange, bis sie keine Tränen mehr vergießen konnte. Sie klagte so lange, bis ihre Stimme brach und versagte. Sie dachte an ihre Kindheit, bis ihr Kopf schwer wurde. Schließlich stand sie auf und klopfte sich den Staub vom Mantel, dann ging sie.
Izabel verließ Mühlheim mit Edward auf dem Rücken – sie hatte viel verloren, aber sie hatte einen Bruder und ein neues Ziel gewonnen.
An den Toren von Magena drehte sich die Magierin ein letztes Mal um.
»Lebwohl, Mühlheim«, hauchte sie kummervoll.
Dies war der Beginn von Izabels zweiter Reise.
Magie anwenden
Magier erfahren von ihren besonderen Fähigkeiten meist durch Zufall, und manches Mal bleiben diese auch unentdeckt. Magie wirken zu können stellt ein wundersames Geschenk dar, welches in etlichen Geschöpfen schlummert, jedoch nicht so einfach zu erwecken ist. Um ein wahrhaftiger Magier zu werden, benötigt man viel Geduld, denn nur mit ausreichend Übung lässt sich die Magie meistern. Das sorgsame Sammeln von Wissen und uneingeschränkte Konzentration bei der Ausbildung sind unbedingt vonnöten, um Fehler zu vermeiden. Neulinge in dieser Kunst der Magie benötigen ein vertrautes Etwas zur Kanalisierung, was bedeutet, dass sie nur durch die Berührung eines Gegenstandes oder beim Sprechen von Formeln zur Nutzung von Magie fähig sind. Besitzt man einen starken Willen und ist erfahren genug, reicht bloße Vorstellung aus. Einzig und allein die mächtigsten Magier können Stürme heraufbeschwören oder Tote in das Reich der Lebenden zurückholen. Nichtsdestotrotz ist ein Magier nur das Werkzeug, und die Magie selbst ist eine göttliche Macht mit eigenen unerklärlichen Regeln.
die Reise der 9-jährigen Izabel
Grabenweg
An den Toren von Magena legte der Magier zum ersten Mal eine Rast ein. Es war noch dunkel, und Izabel war stundenlang auf den Beinen gewesen, doch zum Schlafen war sie viel zu aufgeregt.
Bei diesen Toren handelte es sich bloß um einen Pfad zwischen mehrere Felsformationen hindurch, welche am Rand des Tals unbeeindruckt in die Höhe ragten. Dies war die einzige sichere Passage nach und von Mühlheim, denn in allen anderen Richtungen musste man sich auf gefährlichen Wegen über die Berge kämpfen.
Von hier aus war das Dorf kaum mehr zu erkennen. Nur einige helle Punkte in der Dunkelheit zeugten davon, dass sich Menschen an diesem abgeschiedenen Platz niedergelassen hatten. Ein letztes Mal fragte der Magier seine neue Begleiterin, ob sie denn nicht lieber umkehren wollte, doch Izabel schüttelte stumm den Kopf.
Ob sich ihre Eltern bereits Sorgen machten? Holten sie ihre Laternen, um nach ihr zu suchen? Nahmen sie an, dass sie bei Agatha übernachtete, wie sie es schon einmal getan hatte? Wann würden sie merken, dass ihre Tochter nicht mehr wiederkam? Und was würden sie dann tun?
Schließlich brachen die beiden ungleichen Wanderer auf. Izabel war so angespannt, dass ihr Bauch heftig rumorte. Bis zu den Toren von Magena war sie bereits ein paar Mal gereist, doch dahinter wartete eine gänzlich neue Welt auf sie. Und sie hoffte, dass es eine Welt voller Abenteuer war.
Doch jede Reise beginnt mit nur einem Schritt, und jede richtige Entscheidung kann zunächst wie ein sehr schwerer Fehler wirken. Izabel begann ihre Idee – oder besser gesagt diese einmalige Gelegenheit – bereits zu hinterfragen. Ihr innigster Wunsch, Mühlheim zu verlassen und die Welt zu bereisen, schien plötzlich gar nicht mehr so wichtig zu sein. Mit jeder verstrichenen Stunde wurden ihre Zweifel greifbarer.
Vermutlich lag die Unsicherheit an der Anstrengung, die eine solche Reise mit sich brachte. Natürlich war es Izabel gewohnt, harte Arbeit zu verrichten, doch das monotone einen-Fuß-vor-den-anderen-Setzen war mühsamer. Außerdem hatte sich an ihrer Situation bisher kaum etwas geändert. Ihre langweilige Heimat lag zwar hinter ihr, aber auch die Pfade jenseits des Dorfes boten nicht viel Aufregendes.
Der Magier war kein geselliger Reisegefährte. Er stapfte vor sich hin und sprach nicht viel. Zumindest versuchte er zu antworten, wenn seine neue Begleiterin ihm eine Frage stellte.
»Was ist unser Ziel?«, wollte Izabel zum Beispiel wissen, woraufhin der Magier seinen Arm bloß in Richtung Nordosten streckte. Als sie ihn fragte, ob er denn einen bestimmten Ort aufsuchen wolle, gab er lediglich ein leises Brummen von sich.
Tagsüber musste Izabel hinter dem Magier herlaufen, nur mittags ließen sich die beiden für eine kurze Pause nieder. Meist gab es nichts weiter als eine Suppe mit Gemüse zu essen, doch das Mädchen war kleine Mahlzeiten gewohnt. Nachts breitete der Magier eine Decke aus, auf der seine Begleiterin schlafen konnte. Manchmal schreckte sie aus einem Albtraum hoch und fühlte sich ohne ihre Eltern ein wenig verloren.
So vergingen drei Tage, bis der Magier und Izabel den Grabenweg erreichten.
Bei dem sogenannten Grabenweg handelte es sich um eine alte Lehmstraße, welche zu beiden Seiten steil abfiel. Links davon schlängelte sich ein schmaler Fluss durch eine von Sträuchern überzogene Ebene, zur Rechten schienen sich bebaute Äcker bis an die Hügel am Horizont zu drängen. Die bräunliche Straße selbst war so breit, dass zwei Karren nebeneinander Platz hatten – was auch wichtig war, denn eine Möglichkeit auszuweichen (etwa in Form einer weiteren Straße oder auch nur eines gewöhnlichen Trampelpfades) gab es nicht.
Tatsächlich war es das erste Mal seit dem Aufbruch aus ihrer Heimat, dass Izabel anderen Personen begegnete. Das waren beispielsweise Bauern auf Wägen, welche mit ausgebeulten Säcken beladen waren und von Ochsen gezogen wurden. Auch der eine oder andere berittene Bote nutzte diese Straße, und einmal kam sogar ein Trupp Soldaten in schimmernden Rüstungen entgegen. Viele dieser Leute begrüßten den Magier freundlich, doch von Izabel nahmen sie keine Notiz.
Nachdem etwa ein halber Tag auf der Lehmstraße vergangen war, blieb der Magier plötzlich stehen und sprach einen Hirten an. Dieser schlaksige Mann war mit einer kleinen Herde von Schafen unterwegs.
»Guter Herr, wisst Ihr möglicherweise, ob ich von Dualim aus die Südpassage oder die Turmstraße nehmen sollte, wenn ich nach Granoath gelangen will?«
Izabels Herz machte einen Sprung, als sie den Namen Granoath vernahm. Ob es sich dabei um jene Stadt handelte, in der die Königin von Cervantes gelebt hatte? In den Büchern, die Izabel gelesen hatte, wurde diese Stadt als wunderschönes Juwel (und auch als das Zentrum des Kontinents) bezeichnet. Sie wünschte sich innig, Granoath einmal mit eigenen Augen zu sehen. Doch vorerst verbarg sie ihre Aufregung.
»Schneller geht es über die Südpassage, aber die Turmstraße ist um einiges sicherer«, lautete die Antwort des Hirten, der lächelnd weiterzog, nachdem sich der Magier bei ihm bedankt hatte.
Für eine kurze Zeit schwieg Izabel, doch dann stellte sie eine neue Frage.
»Ich dachte, Ihr seid der Magier, der jeden Winkel dieser Welt bereiste? Warum müsst Ihr Euch eigentlich bei einem Hirten nach dem Weg erkundigen? Granoath sollte Euch doch bekannt sein.«
»Nur weil ich die ganze Welt bereist habe, bedeutet das nicht gleich, dass ich in jeder Stadt eingekehrt oder auf jeder Straße gewandelt bin«, erklärte ihr der Magier und musste lachen. »Es stimmt, dass ich in Ländern war, von denen die meisten Leute keine Ahnung haben, dass sie überhaupt existieren. Allerdings wäre es doch etwas zu viel verlangt, in nur einem einzigen Menschenleben jeden einzelnen Ort auf der ganzen Welt aufzusuchen. Meinst du nicht auch?«