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Ursprünglich lebten die legendären Astra und Novae in Harmonie auf Azura – zwei mächtige Rassen mit der Gabe, die Elemente dieser Welt zu befehligen. Doch seit der gewaltig verheerenden Katastrophe, welche fast alle Länder unter dem Meeresspiegel begraben hat, sind die Astra aufgrund der Nöte beinahe ausgestorben, und die Novae setzen sich mit stählernem Willen durch. Das gesamte Schicksal der menschlichen Bevölkerung hängt von den Taten des jungen unerfahrenen Xin ab, dem vermeintlich letzten Überlebenden der Astra, denn seine Bestimmung ist es, die Novae zu entthronen. Auf seiner Reise findet er mithilfe seiner neuen lebhaften Freunde namens Marin und Jeff heraus, mit welcher Ungerechtigkeit die Menschen von den selbsternannten Göttern behandelt werden. Und dann ist da noch Yin, eine Person mit besonderen Eigenschaften, welche ein seltsam vertrautes Gefühl in ihm weckt. Allerdings sprechen seine Wünsche und Träume gegen ein Leben voller gefährlicher Abenteuer, und er ahnt, wie verlockend es wäre, alle Hoffnung aufzugeben; einfach nur frei zu sein. Dass der Planet Azura sowohl nehmen als auch geben kann, bewahrheitet sich am ultimativen Wendepunkt.
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2022
wundersam
für jene, die an mich glauben
Kevin Johann Wundersam
das Schicksal von Azura
© Kevin Johann Wundersam
2022 – aktuelle Auflage
2015 – Originalveröffentlichung als ›Gods of Azura‹
Epik · Roman · Fantasy
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
ISBN 978-3-347-57933-0 (softcover)
ISBN 978-3-347-57934-7 (hardcover)
ISBN 978-3-347-57935-4 (e-book)
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DAS SCHICKSAL VON AZURA
wie ruhiger Schnee dein Lächeln so zart
wie stürmischer Regen dein Herzlein so wild
behalt du die Unschuld und sei doch gewillt
so der tapferste Recke an deiner Seite verharrt
Volkslied der Novae
PROLOG
sechzehn Jahre zuvor
Nichts, was wir je tun, ergibt einen Sinn.
Wenn wir einen Brief verfassen, ein Bild malen, eine Beziehung pflegen, macht es da Sinn, nichtssagende Schriftzeichen aneinander zu reihen oder bedeutungslose Farbkleckse nebeneinander zu platzieren oder dem Streitgespräch eine Zärtlichkeit folgen zu lassen? Wohl kaum!
Dennoch ist das Ergebnis jener Taten ein meisterhaftes Werk, das in Hinsicht auf Erhabenheit und Einzigartigkeit seinesgleichen sucht. Dies ist das Wunder unseres Lebens, das jede Unvollkommenheit so unendlich kostbar erscheinen lässt.
So schritt ein Mann mit silbernen Haaren vor die Tür seiner Behausung, mit dem Ziel, sich selbst und seiner Familie einen Vorteil in dieser von Chaos gebeutelten Welt zu verschaffen. Er war im Begriff, seine entkräftete Frau am vermutlich wichtigsten Tag überhaupt alleine zu lassen, um zu tun, was ihm richtig erschien. Denn kein Kodex und keine Moral konnten ein Herz aufhalten, das einen lebensverändernden Entschluss gefasst hatte. Aus diesem Grund wurde er ein Teil der Schwärze und verschwand.
Blitze zuckten auf. Sie wurden von lautem Donner sowie heulendem Wind und prasselndem Regen begleitet. Die launische Nacht war finster und kalt. Streckte man eine Hand aus, so verlor sie sich rasch in der Dunkelheit, und hob man den Kopf, so bekam man sofort eisige Peitschenhiebe zu spüren.
Jeder Mensch, der zu dieser Zeit an das Fenster seiner Unterkunft getreten wäre, hätte ein solch unfreundliches Wetter für ein schlechtes Omen gehalten. Doch für eine ganz besondere Frau war diese stürmische Nacht die glücklichste ihres Lebens, obwohl sie unter beinahe unerträglichen Schmerzen litt und schon bald in das Antlitz des Todes blicken würde.
Der nicht sehr außergewöhnliche Schauplatz jener schicksalhaften Ereignisse, die der Auftakt zu einem wunderbaren Abenteuer werden und in einer gewaltigen Schlacht zwischen den Völkern Azuras gipfeln sollten, war eine einsame namenlose Insel inmitten des unergründlichen Ozeans.
Die werdende Mutter lag auf einem schlichten Podest aus hartem Stein. Ihre nackten Beine waren gespreizt, und auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Um das provisorische Lager hatten sich engste Angehörige versammelt. Sie alle warteten gespannt auf die Geburt des Kindes. Obwohl die schmerzerfüllten Schreie der Mutter ihre Trommelfelle in Mitleidenschaft zogen, hörte man außerhalb der Höhle, in der sie sich befanden, keinen einzigen der erschütternden Laute. Sowohl das Klatschen des Regens als auch das Pfeifen des Windes übertönten jedes andere Geräusch mit Leichtigkeit.
Nichtsdestotrotz wurde ein feindlich gesinnter Reisender auf den Geburtsritus aufmerksam. Wie aus dem Nichts erschien der große Mann im nahegelegenen Tal, das von alten und hohen Bäumen mit prächtigen Kronen umschlossen war. Er hatte die weite Kapuze seines roten Umhanges über den Kopf gezogen und ging leicht gebückt. Entschlossen erklomm er den Weg, der ihn auf den Hügel mit der Höhle führte, dem Zufluchtsort seiner Beute.
Dort war die Geburt mittlerweile bereits vollzogen. Eine Amme hielt das schreiende blutbefleckte Kind in die Höhe und begutachtete es sorgfältig, bevor sie es seiner Mutter in die Arme legte. Im flackernden Schein des Kerzenlichtes konnte man sehen, wie die Sorgen von den aufgewühlten Gesichtern der Eltern endlich verschwanden. All ihre Ängste und Zweifel schienen auf einmal wie weggespült, als hätten sie nie existiert.
»Xin«, verkündete die Mutter mit einer schwachen Stimme, die kaum zu hören war. »Dies ist sein Name.«
»Er wird ein starker und gerechter Krieger«, fügte der Vater lächelnd hinzu.
Als ob es die Worte seiner Eltern verstanden hätte, gab das Neugeborene ein glucksendes Geräusch von sich, gleich einem Lachen, bevor es wieder zu schreien begann.
Plötzlich wurde die Höhle von einem Blitz erleuchtet, und der ohrenbetäubende Knall des Donners folgte sofort. Alle Köpfe drehten sich in Richtung Höhleneingang, wo eine fremde Gestalt aufgetaucht war, ein unheilvolles Wesen mit rotem Umhang.
Es schien, als ob jeglicher Lärm von außerhalb der Höhle verschwunden war. Das Donnergrollen war kaum mehr zu hören. Im Gegensatz dazu wurde das Geschrei des Neugeborenen lauter und hysterischer, doch selbst ihm galt keine Aufmerksamkeit mehr, denn alle Blicke ruhten nun auf dem Neuankömmling.
Die Kapuze des roten Umhanges wurde zurückgeschlagen. Darunter kam das markante Gesicht eines Mannes mittleren Alters mit breiter Nase und ausdruckslosen Augen zum Vorschein. Sein Mund war zu einem Grinsen verzogen, und auf seinem Kopf befand sich langes glattes Haar, das silbern glänzte. Jeder der Anwesenden wusste, um wen es sich hierbei handelte.
»Yasa«, knurrte der Vater des Neugeborenen. Seine Hand, die auf der Schulter seiner Geliebten ruhte, versteifte sich.
»Ganz recht«, murmelte der Mann mit den silberfarbenen Haaren. Dass er alleine gekommen war, zeugte davon, dass sich die Situation zugespitzt hatte. Er trat langsam vor, streckte seinen rechten Arm in die Höhe und breitete seine Finger aus.
Einer der Blitze, die außerhalb wüteten, änderte seinen Kurs und schoss in die Höhle. Wie ein tödliches Projektil mit wahnwitziger Geschwindigkeit schnellte er durch den natürlichen Hohlraum und durchbohrte zwei der Anwesenden.
Noch bevor die beiden Körper der Astra, die sich in dieser Nacht hier eingefunden hatten, um der Geburt eines Kindes beizuwohnen, auf dem kalten Boden aufschlugen, begriff die Mutter des Neugeborenen, dass es zu spät war, um alle ihre Freunde retten zu können. Sie lag immer noch auf dem steinernen Podest und war zu schwach, um sich erheben zu können. Aus diesem Grund tat sie das einzig Mögliche und drückte ihr Kind in die Hände ihres Geliebten.
In dem Moment, in dem sie das Baby losließ, fühlte sie einen unvorstellbar quälenden Schmerz in ihrer Brust. Wie hatte es dazu kommen können, dass ihr eigenes Kind nicht länger als wenige Atemzüge lang die gütige Wärme seiner Mutter erfahren durfte?
Der Vater sah sein Kind an, und dann die Frau, die er über alles liebte.
»Du verlangst zu viel«, flüsterte er.
Um die Eltern war Chaos ausgebrochen, denn die anwesenden Astra, welche einen Schutzring um die dreiköpfige Familie gebildet hatten, führten nun einen erbitterten Kampf gegen den Eindringling mit dem roten Umhang. All das war in diesem Moment völlig unbedeutend für das sich liebende Paar.
Die Mutter war den Tränen nahe, bemühte sich jedoch zu lächeln.
»Es ist gut so. Bitte, bring ihn in Sicherheit.«
Sie verabschiedeten sich stumm. Beim nächsten Donnergrollen war der Vater bereits verschwunden.
In der Höhle befanden sich nun nur noch die Mutter und der Mann im roten Umhang. Alle anderen lagen leblos auf dem Steinboden, der immer noch von einigen Kerzen, welche dem Wind nicht nachgegeben hatten, beleuchtet wurde.
Yasa, der Neuankömmling mit den silbernen Haaren und den ausdruckslosen Augen, welcher die Schuld für dieses Massaker trug, schritt auf das Podest in der Mitte der Höhle zu. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt, und er fühlte sich überaus erregt, denn bald würde er am Ziel seiner Träume angelangt sein.
Mit einem hässlichen Grinsen im Gesicht beugte er sich über die heftig keuchende Mutter, die ihre Augen kaum geöffnet halten konnte. Als sie Yasa anblickte, überkam sie ein Gefühl der Übelkeit.
»Wie wunderschön du bist, selbst nach einer solchen Tortur«, flüsterte Yasa und wischte der nackten Mutter eine Strähne ihres goldenen Haares aus dem Gesicht. »Es ist eine Schande, dass du nicht als Nova geboren wurdest.«
Ein Schrei hallte durch die Höhle. Yasa taumelte zurück und griff sich an die Wange. Er spürte warmes Blut auf seiner linken Gesichtshälfte. Erzürnt verpasste er der Mutter eine schallende Ohrfeige.
»Wie kannst du es wagen, mich anzugreifen?«, fauchte Yasa.
»Ich bin stolz darauf, eine Astrum zu sein«, sagte die Mutter bestimmt. »Und dieser Stolz wird in meinem Sohn weiterleben – er wird selbst dann weiterleben, wenn du uns alle getötet hast.«
Yasa lächelte.
»Das wird sich zeigen.«
Nur eine kurze Zeit nach dem Tod der Mutter hatte der rot gekleidete Mann den Vater eingeholt. Die unbeschreibliche Verfolgungsjagd durch den düsteren Wald der einsamen Insel endete mit dem Sturz des Flüchtenden. Während der Vater im Schlamm liegend sein neugeborenes Kind mit einem Schutzbann versah, ging sein Verfolger gelassen und siegessicher auf ihn zu.
Schwere Regentropfen fielen auf den aufgeweichten Waldboden und wirkten dabei wie Tränen des Himmels. Yasa, dessen durchnässte Haare an seinem Kopf klebten, wollte nicht ruhen, bis er auch noch die letzten beiden Astra getötet hatte.
»Wie viele?«
»Was meinst du?«, kicherte Yasa höhnisch.
»Wie viele Astra sind noch übrig?«
Der Vater schloss seine Arme um das Kind und blickte voller Verzweiflung in Yasas Gesicht. Dieser antwortete zunächst nur mit einem unheimlichen Lachen, das seinem Gegenüber sofort einen Schauer über den Rücken jagte.
»Niemand ist übrig«, sagte der Schurke mit dem silbernen Haar dann und zeigte mit dem Finger auf das Neugeborene. »Alle sind tot. Jetzt fehlen nur noch du und das da.«
Wild schüttelte der Vater den Kopf.
»Niemals.«
Kurz bevor Yasa reagieren konnte, warf der Vater sein Kind in die Höhe. Das Baby, eingewickelt in schmutzige Stofffetzen, segelte eine kurze Zeit lang durch die Luft und löste sich dann plötzlich auf. Zurück blieben nur die Lumpen, die zu Boden fielen und im Schlamm landeten.
»Du Narr!«
Yasa beschwor einen weiteren Blitz und ließ ihn durch den Körper seines am Boden liegenden Feindes fahren. Der Vater starb mit Tränen in den Augen und mit einem Lächeln auf den Lippen.
Langsam griff Yasa nach den im Dreck liegenden Lumpen und hielt sie anschließend in die Höhe, wie um einer stummen Warnung Ausdruck zu verleihen.
»Ich werde dieses Kind schon noch finden«, grunzte Yasa schließlich und spuckte auf die durchlöcherte Leiche zu seinen Füßen. »Ich werde es finden.«
Der silberhaarige Nova im roten Umhang, welcher nun kaum seine unbeschreibliche Wut bändigen konnte, hatte zwar den Großteil der Astra getötet, doch dieses eine Kind hatte er nicht weiter verfolgen können. Ganze sechzehn Jahre warteten die Novae vergeblich auf eine Spur dieses Kindes mit dem Namen Xin.
Das Baby erschien mehrere tausend Felder entfernt auf einer kleinen Insel namens Maradonien. Auch hier herrschte ein Unwetter, und die Regentropfen, welche von den dunklen Wolken nicht mehr gehalten werden konnten, prasselten auf das Kind herab, so als wollten sie es unsanft reinwaschen. Es schrie aus Leibeskräften, doch nicht wegen der eisigen Kälte der Nacht und auch nicht wegen des brutalen Windes – sondern aufgrund der Tatsache, dass es spürte, wie seine Eltern und der Rest seiner Familie es für immer verlassen hatten … und das obwohl sich das Neugeborene später an die grausame Tat der Novae glücklicherweise gar nicht erinnern können würde.
Was blieb, war ein Gefühl der Leere.
KAPITEL 1
das endlose Reich
Xin schreckte hoch. Er war eingenickt, als er sich ein letztes Mal auf dem höchsten Punkt der Insel entspannt hatte. Dies war sein Lieblingsplatz, denn von dem großen Felsen auf der beeindruckenden Hügellandschaft aus konnte man die gesamte Umgebung überblicken.
Von den Feldern am Plateau, auf denen die emsigen Bauern ihre Schafe hüteten, über das kleine Dorf in der Nähe des Strandes, bis hin zur natürlichen Steinbrücke, welche die beiden Landmassen verband und zu einer einzigen Insel namens Maradonien zusammenfügte, befand sich alles Vertraute im Blickfeld des Jungen. Dies war Xins Heimat, und wie an jedem anderen Tag war er auch heute zu diesem besonderen Ort auf den Hügeln gekommen, um unbeschwerten Gedanken nachzuhängen.
»Clay!«
Wieder ertönte die Stimme, die ihn aus seinen Träumen gerissen hatte. Sie gehörte einer Frau mittleren Alters, welche am Fuße der Hügel stand und aufgebracht mit den Armen wedelte. Von ihr und ihrem Mann hatte Clay seinen neuen Namen erhalten. Der Name, den ihm seine wahren Eltern bei seiner Geburt vor sechzehn Jahren gegeben hatten, Xin, war zu einem unbedeutenden Begriff geworden, mit dem er nichts verband.
Eilig sprang Clay auf. Nach einem herzhaften Gähnen fuhr er sich mit den Händen durch seine blonden Haare. Er schlüpfte in die ledernen Schuhe, die er vor dem Einschlafen von den Füßen gestreift hatte, und begann den Hügel hinunterzulaufen. Einige Krabben, die sich hierher verirrt hatten, stoben schnell auseinander, als die Beine des Jungen zwischen ihnen herumstampften. Schon bald war Clay am Pfad zum Strand angekommen, wo die Frau, die ihn gerufen hatte, auf ihn wartete.
»Das Schiff läuft bald aus, Junge«, erklärte sie. »Beeil dich.«
»Ja doch, Shoshan, bin schon unterwegs«, antwortete ihr Ziehsohn, der ihr zulächelte und dann an ihr vorbei rannte. Auf dem Weg in das Dorf begegnete er vielen Leuten, die ihm winkten und zuriefen.
»Viel Glück an deinem großen Tag!«, sagte einer der Dorfbewohner, und Clay bedankte sich mit einer leichten Verbeugung.
Tatsächlich war dies ein ganz besonderer Tag für den sechzehnjährigen Blondschopf. Jahrelang hatte er sein Leben auf Maradonien genossen; voller Freude war er den Pflichten eines einfachen Jungen auf einer Insel von Bauern und Hirten sowie Händlern nachgekommen – doch nun war der Zeitpunkt für den Aufbruch des ungeduldigen Jugendlichen gekommen.
Durch den Brief eines befreundeten Mannes, der Mitglied einer Gruppe von stolzen Seefahrern war, hatte Clays Ziehvater Erik vor einigen Monden erfahren, dass im Sommer ein großes Handelsschiff in die Nähe von Maradonien käme. Nachdem Erik gefragt hatte, ob es auf der Insel anlegen könnte, um seinen Ziehsohn mitzunehmen, hatte er eine positive Antwort erhalten.
Clay war ein letztes Mal zu seinem Lieblingsort auf der Insel hochgestiegen, doch nun rannte er schnell zwischen den alten Hütten des Dorfes hindurch, um rechtzeitig zum Schiff, das heute angelegt hatte, zu gelangen. Davor machte er einen Zwischenhalt bei dem Häuschen seiner Zieheltern, an dem viele glückliche Erinnerungen hingen.
Im Inneren des kleinen Gebäudes traf er auf Erik. Der dickliche Mann mit den graubraunen Haaren lächelte, als Clay hereinkam, danach umarmte er den Jugendlichen und tätschelte seinen Rücken.
»Ich habe alles vorbereitet, Junge«, sagte er wehmütig. »Die Tasche liegt in deinem Zimmer. Hol sie, und dann begleite ich dich zum Schiff.«
Bevor Clay einen weiteren Schritt machen konnte, hielt ihn sein Ziehvater zurück.
»Du weißt, dass du mit niemandem … wirklich niemandem … über dein Geheimnis sprechen darfst?«
Der Jugendliche nickte.
»Gut.«
Ein letztes Mal ließ Clay seine Augen über die vertrauten Gegenstände in den schmalen Räumen schweifen; den wuchtigen Holztisch, an dem er und seine Zieheltern stets gegessen hatten, und das einfache aber angenehme Strohbett unter dem Fenster, durch das er jeden Abend die Sterne beobachtet hatte, bevor er eingeschlafen war.
Nachdem der Junge die Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten geschultert hatte, verließ er mit Erik das Häuschen, um zum Strand zu laufen. Das Handelsschiff, das Clay dort vorfand, war gigantisch. Er hatte es bereits von dem Fels auf den Hügeln aus gesehen, doch nun konnte er es von nahem begutachten.
Die Größe des Schiffes beeindruckte ihn. Im Gegensatz zu den Booten und anderen schwimmenden Transportmitteln, die sonst auf Maradonien anlegten, um etwa Fische oder Getreide zu den benachbarten Inseln zu bringen, war dieses hier ein wahrer Riese. Es handelte sich um eine wendige und einfach zu steuernde Fleute, die den Namen Lucky Banshee erhalten hatte. Sie war, wie Clay später erfuhr, beinahe ein Drittel Feld lang und konnte von weniger als zehn Besatzungsmitgliedern gesteuert werden.
Alle drei Masten der Lucky Banshee erstreckten sich weit in die Höhe und trugen mehrere breite Segel. Auf dem größten dieser leicht gelblichen Segel befand sich das kreisförmige Zeichen des Inselringes. So bezeichnete man das Gebiet um das Zentrum des Planeten Azura.
Während das Zentrum namens Utopia, in dem die wohlhabendsten Menschen überhaupt lebten, von den Novae stark bewacht und kontrolliert wurde, konnten die Menschen auf dem Inselring und den umliegenden Gegenden relativ unbeschwert leben, waren allerdings sehr arm. Der rege Schiffshandel unter den Inseln war für jene Besitzlosen lebenswichtig.
Nur schwer konnte Clay seinen Blick von dem beeindruckenden Transportschiff losreißen. Shoshan wartete bereits am Strand, wo die ankommenden Wellen die Grenze zwischen Land und Meer berührten. Auch sie schloss ihren Ziehsohn in die Arme und wiegte ihn leicht hin und her. Als sie ihn losließ, bemerkte Clay eine Träne auf ihrem gutmütigen Gesicht.
Shoshan war etwa einen Kopf kleiner als ihr sechzehnjähriger Ziehsohn mit dem blonden Schopf. Die Zeit, die sie mit ihm hatte verbringen dürfen, war schnell verflogen – das kleine Baby von damals war groß und kräftig geworden, und nun hieß es Abschied nehmen. Als sie in Clays blaue Augen sah, freute sie sich, dass darin Zuversicht und Stärke zu finden waren.
»Weine nicht, Shoshan«, sagte der Jugendliche und versuchte zu lächeln. »Irgendwann komme ich zurück. Ich werde mein Glück in der weiten Welt suchen und finden.«
»Versprich es mir«, bat Shoshan und strich ihr langes graubraunes Haar, das vom Wind zerzaust wurde, aus dem Gesicht.
»Ich verspreche es.«
Ein Geräusch ertönte. Jemand auf dem Schiff hatte in ein Horn geblasen und somit das Signal für den Aufbruch gegeben. Clay betrat die Lucky Banshee, und auch einige andere Menschen begannen sich zu beeilen, um sich und ihre wertvollen Waren an Bord oder unter Deck zu bringen.
Clay stellte sich an die Reling des Hecks und winkte Erik und Shoshan zu, die Seite an Seite am Strand standen. Trotz des Lärmes auf dem Schiff, etwa dem Brüllen von Befehlen oder dem Ausstoßen von weiteren Lautsignalen, verstand das Paar, was ihm ihr Ziehsohn zurief.
»Danke für alles!«
Dann legte das Schiff ab, und die Insel Maradonien wurde immer kleiner, bis sie nur noch ein schwarzer Punkt am Horizont war. Wohin Clay nun auch blickte, sah er nichts weiter als das große weite Meer.
Schiffe waren die wohl wichtigsten Transportmittel auf Azura. So nannte die menschliche Bevölkerung den blauen Planeten, der zu siebenundneunzig Prozent von Wasser bedeckt war.
Früher hatten Menschen mit den beiden anderen Völkern Azuras – den Astra und den Novae – in Einklang und Harmonie gelebt. Abkömmlinge dieser zwei besonderen Rassen waren überaus mächtig und wurden von den Menschen als Götter bezeichnet. Eines Tages jedoch war ein erbitterter Streit zwischen Astra und Novae entbrannt. Ein gewaltiger Krieg war die Folge dieses Zwists gewesen und hatte die gesamte Bevölkerung des Planeten an den Rand des Abgrundes getrieben.
Bevor die hilflose Menschheit von den sich bekriegenden Rassen beinahe ausgelöscht worden war, hatte ein mysteriöses Ereignis stattgefunden, bei dem sich kein Mensch gänzlich sicher sein dürfte, was eigentlich geschehen war. Viele meinen, in schwarze und weiße Gewänder gehüllte Wesen wären vom Himmel gestiegen und hätten mit unbarmherziger Magie all jene gestraft, die Krieg führten – die Tamashii. Andere behaupten, dieses Wort sei nur der Name einer außergewöhnlichen Ansammlung von Stürmen gewesen, einer Art Naturkatastrophe. Manche wiederum sagen, eine grauenvolle Krankheit hätte ihr Unwesen getrieben, sodass versucht worden war, die Völker voneinander zu trennen, durch monströse Praktiken. Was auch immer der Grund gewesen sein mochte, jedenfalls waren die Kontinente des Planeten versiegelt worden, und eine einzige riesige Welle hatte den Großteil der Landmassen unter sich begraben. Dies war vor etwa fünfhundert Jahren geschehen. So war Azura zu einem Planeten des Wassers geworden.
Viele der Dörfer und Städte waren in den Tiefen des Meeres verschwunden; fruchtbares Land war rar geworden. Ob der Not hatten die Menschen Zusammenhalt gelernt, und die Zeiten der Kriege waren vorüber gewesen, denn die zerstreuten Astra und Novae waren schwach geworden. Frieden kehrte ein.
Doch was auch immer nach Ordnung gerufen hatte, hatte versagt. Von den beiden mächtigen Rassen war nur eine beinahe ausgelöscht worden, die andere jedoch hatte sich schnell von dem schweren Schlag erholt und bald wieder über sagenhafte Kräfte verfügt.
Bei den aufstrebenden Wesen hatte es sich um die Novae gehandelt. Diese hatten begonnen, die gewöhnlichen Menschen zu unterjochen, denn ihre natürlichen Feinde, die Astra, welche ihnen Einhalt hätten gebieten können, waren zahlenmäßig weit unterlegen gewesen. Schon bald hatte eine Schreckensherrschaft begonnen. Astra waren getötet worden, und Menschen hatten sich den Novae ergeben müssen. Anstelle des ersehnten Gleichgewichts hatte das Mysterium der Tamashii gewaltiges Chaos und somit schreckliches Leid in die Welt gesetzt.
Azura war wieder der aufgewühlte Planet, der er zuvor gewesen war.
Während das Schiff über das Meer glitt, angetrieben von der mächtigen Kraft des unsichtbaren Windes, war es das Treiben an Bord, das Clay faszinierte und vor Langeweile bewahrte. Muskulöse Arbeiter mit ernsten Mienen eilten über das Deck des Schiffes. Sie trugen Seile, Fässer, Säcke, Werkzeuge und viele andere Dinge umher. Manche Männer waren damit beschäftigt, das Schiff auf Kurs zu halten, etwa der konzentriert wirkende Kapitän, der das Steuerrad vor sich hin und wieder kräftig drehte, oder die Matrosen, die mit Tauen in den aufgeschürften Händen darauf achteten, dass die Segel intakt blieben. Andere Leute, die vermutlich Passagiere waren, darunter auch einige Frauen, standen einfach nur herum und starrten auf das weite Meer.
Bald kam ein sehniger Mann auf den jungen Blondschopf zugetreten. Es handelte sich um den Seefahrer, dem Clay diese Reise zu verdanken hatte. Er war der Bekannte, den Erik gebeten hatte, dieses große Handelsschiff auf der unbedeutenden Insel Maradonien Halt machen zu lassen. Sein Name war Marten, und er wechselte einige Worte mit Clay. Nachdem er dem Jungen erzählte, dass das Ziel des Schiffes eine Insel namens Pandra war, die sich am Rande Utopias befand, gab er ihm noch einige gut gemeinte Ratschläge.
»Deine Kajüte befindet sich übrigens unten, am Ende des Flurs, auf der rechten Seite. Du musst sie dir mit drei Männern teilen – sie sind zwar recht höflich, aber verärgere sie nicht. Ich hoffe, du hast genug Proviant bei dir; Essen für die Mannschaft gibt es hier nur ein Mal am Tag, und das fällt ziemlich spärlich aus. Oh, und halte dich von dem alten Moko fern, der nachts am Heck herumlungert – er ist ziemlich merkwürdig und macht den Leuten nur Angst.«
»Vielen Dank, Marten«, sagte Clay und verbeugte sich leicht. »Ich werde Euch keinen Ärger bereiten. Ich will meine Eltern nicht beschämen.«
»Sehr schön«, antwortete Marten mit hochgezogenen Augenbrauen und einem aufrichtigen Lächeln. »Die Fahrt dauert knapp zwei Tage. Viel Spaß.«
Spaß hatte Clay keinen, doch er versuchte die Überfahrt nach Pandra zu überstehen – so gut es eben ging. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er seine vertraute Umgebung verlassen. Zwar war er mit seinem Ziehvater oftmals zu benachbarten Inseln gesegelt, um dort etwa neue Waren zu begutachten oder Tauschgeschäfte abzuwickeln, doch diese lange Fahrt in die Richtung Utopias war eine neue Herausforderung für ihn.
Es gab niemanden, mit dem sich Clay bis zum Anbruch des Abends unterhalten konnte. Die Passagiere des Handelsschiffes waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt und vermieden es, mit fremden Personen zu sprechen. Von den Seefahrern gab es keinen einzigen, der etwas Zeit erübrigen konnte, denn schon bald kamen hohe Wellen auf, und das Manövrieren verlangte der gesamten Mannschaft alles ab.
Der erste Tag verstrich für Clay trotz des Mangels an Unterhaltung relativ schnell. Er hatte das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug verging. Am Abend fand er sich unter Deck ein, wo er von einem Smutje zwei Scheiben Brot und etwas gegartes Gemüse bekam. Nachdem er das einfache Gericht verspeist hatte, suchte er die Kabine auf, in der er übernachten sollte.
In der Kajüte fanden sich schon sehr bald die anderen Personen ein, die sich hier zurückziehen und ausruhen konnten. Die drei Seefahrer, die zur Mannschaft des Schiffes gehörten, machten Clay klar, welche Regeln er zu befolgen hatte.
»Sei artig, halt die Klappe und stiehl nichts; dann verstehen wir uns prächtig.«
Clay nickte, denn das war ohnehin sein Plan gewesen. Er schleuderte seine Tasche auf das harte und unnachgiebige Holzbrett, das ihm für die nächsten zwei Nächte als Bett dienen sollte. Dann legte er sich darauf und starrte an die Decke, ganz in Gedanken versunken.
Es wurde immer dunkler, und der Lärm auf dem Schiff wich einer nervösen Ruhe. Nur ab und an hallte ein Ruf durch die Gänge des schwimmenden Riesen, und bis auf die monotonen Geräusche der Wellen und des Windes war alles still. Dennoch konnte Clay nicht einschlafen. Er fragte sich, ob er plötzlich seekrank war, oder ob die Schlaflosigkeit einfach etwas mit der leichten Aufregung zu tun hatte.
Gegen Mitternacht, als es für ihn unerträglich wurde, hopste Clay von dem unbequemen Brett und schlich aus der Kabine. Er folgte dem Gang und stieg die Leiter in der zentralen Kammer hoch. Als er an Deck war, atmete er tief durch – die kalte Nachtluft war belebend.
Außer ihm waren nur wenige andere Menschen an Deck. Die meisten Seefahrer hatten sich in ihre Kammern zurückgezogen, um Schlaf zu finden. Nur einige tüchtige Matrosen halfen dem Kapitän, der am Steuerrad stand und gebieterisch das Meer überblickte.
Es war eine helle Nacht. Der Mond stand tief und wurde kaum von Wolken verdeckt. Sein Schein bewirkte, dass das Meer nicht vollkommen schwarz aussah, doch gleichzeitig verlieh er der Nacht etwas außerordentlich Unheimliches.
Clays Blick wanderte zum Heck des Schiffes. Dort stand eine einsame Gestalt, deren dünne Silhouette sich nur undeutlich vor dem dunkelgrauen Himmel abzeichnete. Sie weckte die Neugierde ihres Betrachters.
Mit kleinen Schritten ging Clay auf die Gestalt zu. Als er nähergekommen war, sah er, dass es sich um einen dürren alten Mann handelte, der von kleiner Statur war. Sein Gesicht, in dem schmale Augen und eine krumme Nase saßen, war faltig und von kleinen braunen Flecken überzogen. Die Kleidung des Mannes war dreckig und zerlumpt.
»Ah, Besuch«, brummte der alte Mann mit einer leisen rauchigen Stimme. Er drehte seinen Kopf und musterte Clay gründlich. »Na, Jungchen? Was kann der alte Moko für dich tun?«
Clays Verdacht, dass es sich bei diesem Alten um Moko handelte, vor dem ihn Marten gewarnt hatte, bestätigte sich.
»Nichts«, antwortete der Jugendliche höflich. »Ich genieße nur die Nachtluft, weil ich nicht schlafen kann.«
Der alte Moko brach in Gelächter aus.
»Schlaflosigkeit bei Jungspunden! Naja. Hat man dir denn nicht gesagt, man solle sich von mir fernhalten?«
»Doch, aber das haben die Leute auch immer über mich gesagt«, erklärte Clay und fuhr fort, als der alte Moko fragend seine buschigen Augenbrauen anhob. »Um mich herum geschehen immer seltsame Dinge, und deshalb fürchten sich einige Leute vor mir. Die Bewohner meiner Heimat Maradonien haben sich damit abgefunden, aber auf anderen Inseln sieht man mich nicht gerne, denke ich.«
Ein Schweigen setzte ein, das der alte Moko erst brach, nachdem er sich sein Kinn mit der Handfläche gerieben hatte.
»Du fährst also nach Pandra, Jungchen? Dann solltest du dich hüten, wenn um dich herum seltsame Dinge geschehen – denn Pandra ist eine Insel des Inselringes, der Grenze zu Utopia, und somit ein gefährlicher Ort. Siehst du, da haben wir den Grund, warum mich die Leute meiden. Ich erzähle schon wieder Geschichten, die einem Angst einflößen.«
»Ist es denn wirklich so gefährlich in Utopia?«, fragte Clay interessiert. Er hatte in der Vergangenheit bereits von vielen Reisenden die übelsten Gerüchte über das Zentrum Azuras gehört. Dort lebten zwar reiche und angesehene Menschen, doch diese wurden streng von den Novae kontrolliert, die Utopia vor langer Zeit zu ihrer Hochburg gemacht hatten.
»Jaah«, machte der alte Moko. »Ja, in der Tat, Utopia ist sehr gefährlich, und Pandra ist ein Vorgeschmack auf das, was dich dort erwartet. Du musst wissen, dass die Novae überaus mächtig sind. Während wir hier unbeschwert über sie sprechen können, belauschen sie jedes Gespräch innerhalb der Grenzen Utopias. Ein falsches Wort, und man wird getötet.«
»Das ist … schrecklich«, fand Clay, der zwar bereits von der furchtbaren Grausamkeit der Novae gehört hatte, sich aber nicht wirklich vorstellen konnte, dass sie dermaßen mächtig und skrupellos waren.
»Also, hör mal, Jungchen«, fuhr der alte Mann fort. »Nicht ohne Grund haben die Novae unter der Führung von Herrscher Yasa vor sechzehn Jahren die letzten Astra ausgelöscht. Sie regieren mit eisernem Willen. Niemand kann sich ihnen widersetzen. Das ist ihr Privileg, weil sie sich vor fünfhundert Jahren gegen die Strafe der Tamashii behauptet haben.«
Clay versank in Gedanken. Die Worte seines Gesprächspartners ließen ihn nachdenklich werden. Wenn es stimmte, dass vor sechzehn Jahren die letzten Astra ausgelöscht wurden, dann hieß das, dass dieser Herrscher mit dem Namen Yasa seine wahren Eltern ermordet – oder es zumindest angeordnet – haben musste.
»Aber man munkelt doch, dass einige Astra noch leben«, sagte Clay bestimmt. »Wenn man sie fände, könnte das Gleichgewicht zwischen Astra und Novae wiederhergestellt werden.«
Doch der alte Mann wollte nichts davon wissen.
»Hör mal, Jungchen, das ist unwahrscheinlich. Die Novae gewinnen jeden Tag an Macht. Schon bald werden sie die Grenzen Utopias ausweiten. Nächstes Jahr steht Pandra unter ihrer Kontrolle, und kurz darauf folgt Maradonien. So wird die gesamte Welt Schritt für Schritt von den Novae eingenommen, und niemand kann etwas dagegen unternehmen. Die Menschen …«
Clay hörte dem alten Moko nicht länger zu. Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte zu den funkelnden Sternen am dunklen Firmament. Seine Gedanken waren bei seinen Eltern, sowohl bei seinen wahren, die ihm vor sechzehn Jahren das Leben geschenkt hatten, als auch bei jenen, die er Shoshan und Erik nannte und ihn liebevoll großgezogen hatten. Niemals würde er zulassen, dass die Novae die Kontrolle über die gesamte Menschheit an sich rissen. Für Clay fühlte es sich an, als wäre er es jemandem schuldig, etwas gegen die Problematik in Utopia oder gar ganz Azura zu unternehmen.
Den gesamten nächsten Tag verbrachte Clay in seiner Kajüte, wo er nichts weiter tat, als die Decke anzustarren und sich Gedanken über die Novae zu machen.
Sein Geist war unermüdlich, und sein Körper war angespannt. Er wollte unbedingt die Inseln Utopias sehen und sich mit eigenen Augen ein Bild von der Situation dort machen. Sollten die Menschen in Utopia trotz ihres Reichtums noch mehr leiden und schlimmere Qualen durchleben als die armen Menschen auf Maradonien und den benachbarten Inseln, so würde Clay ohne Zweifel etwas dagegen unternehmen müssen.
Der sechzehnjährige Junge wusste bloß noch nicht, dass er die Novae unterschätzte. Und er wusste ebenso wenig, dass er schon sehr bald eine Demonstration ihrer Kräfte erleben würde.
Es donnerte. Der Knall war so gewaltig, dass Clay aus dem Schlaf gerissen wurde und hochschreckte. Er stieß sich den Kopf an der Wand und fluchte.
Alarmiert sah er sich um. Die Matrosen, die sich in der Kajüte befunden hatten, als er eingeschlafen war, waren verschwunden. Vorsichtig rutschte Clay von seinem harten Bett und landete unsicher auf den Füßen. Er öffnete die Tür zum Gang und lugte aus der Kabine.
Plötzlich kam ihm ein Schwall Wasser entgegen. Die ungeheure Kraft der Wassermassen drückte Clay gegen die Wand des Ganges. Er rang nach Luft, doch er spürte, dass Flüssigkeit in seine Lungen zu strömen drohte. Panisch vor Angst strampelte Clay, um an die Oberfläche zu gelangen.
Schließlich war sein Kopf wieder über Wasser. Er hustete wild und atmete dann wohltuende Luft. Clay ermahnte sich selbst und versuchte sich zu beruhigen.
Ein Blick in die Zentralkammer des Schiffes genügte, um zu erkennen, dass das gesamte Schiff unter Wasser stand. Zunächst zögerte Clay, doch nach fünf Atemzügen, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, stieß er sich an der hölzernen Wand ab.
Wie ein Fisch schwamm er durch den Gang. Dabei wurde sein Kopf immer wieder unter Wasser gedrückt, sodass er darauf achten musste, wann er atmen durfte und wann nicht. Gefährlich wurde es, als eine schwere Kiste vom Deck durch die Öffnung in den Gang fiel und Clay fast erschlug. Im letzten Moment wich er aus und entging so dem Tod.
Endlich hatte er die Leiter erreicht. Seine Finger klammerten sich um die Sprossen, doch die Macht des Wassers verhinderte, dass er sich daran hochziehen konnte. Schließlich gelang es ihm doch, und nur unter dem Einsatz all seiner Kräfte erreichte er das Deck des Handelsschiffes.
Hier herrschte reinstes Chaos. Es regnete dicke schwere Tropfen, und Blitze zuckten durch die finstere Nacht. Clay hörte Männer brüllen und Frauen schreien; überall wurden Gegenstände und Körper herumgewirbelt, und das stete Wechseln von Hell und Dunkel schmerzte in den Augen. Erst jetzt spürte sein Körper die unbeschreibliche Kälte. Sofort begann er am ganzen Leib zu zittern.
Eine flüchtige Kopfbewegung zur Seite offenbarte dem Jugendlichen die tobende See. Durch den Anblick der gigantischen Wellen wurde ihm sofort klar, welch unglaubliche Gefahr das Meer darstellte. In diesem Moment hätte man die Lucky Banshee mit einem von Kindern gebastelten Boot aus Stoff vergleichen können, welches auf einer unsteten Oberfläche aus Wasser sein Ende erwartete.
Dann sah Clay ihn. Ein großgewachsener Mann mit silbernen Haaren schwebte in der Luft, im Auge des Sturms. In seinem ernsten Gesicht regte sich kein Muskel. Seine Arme waren ausgestreckt, und aus seinen Handflächen schossen Blitze, die das Schiff auseinanderrissen. Der Anblick war so entsetzlich, dass sich Clay augenblicklich wie versteinert fühlte und vergaß, dass er sich retten musste.
Es war ein Nova.
Inmitten des Chaos stapfte ein Mensch auf den schwebenden Nova zu. Es handelte sich um den Kapitän des Schiffes. Mit aufgerissenem Mund schrie er dem silberhaarigen Nova etwas zu. Die Antwort ertönte so laut, dass sie jeder noch lebende Seefahrer und Passagier hören konnte, im eigenen Schädel dröhnend und gleichzeitig überall ringsum donnernd.
»Jemand auf diesem Schiff hat über die Vernichtung der Novae nachgedacht. Dies ist inakzeptabel. Erwartet eure Bestrafung.«
Dann durchschlug den Kapitän ein leuchtender Blitz, und Clay wurde schwarz vor Augen.
Die Lucky Banshee fügte sich ihrem Schicksal, und die Wellen umschlossen das Schiff in einer tödlichen Umarmung, um es in ihr nasses Grab zu ziehen.
KAPITEL 2
Abenteuer auf Umwegen
»Au, aua!«
Der weinende Junge war auf seine Mutter zugelaufen. Seine Hände waren mit Blut beschmiert gewesen, doch dort hatte sich kein einziger Kratzer befunden.
»Wo kommt denn auf einmal das ganze Blut her?«, hatte Shoshan erschrocken gefragt.
»Mein Knie, es hat stark ge–«
Er hatte mitten im Satz abgebrochen. Als der Siebenjährige sein Knie begutachtet hatte, war dort nur etwas verriebene Erde zu sehen gewesen. Die üble Wunde, die er sich beim Spielen auf den Hügeln zugezogen hatte, war innerhalb kürzester Zeit verschwunden.
Nachdem Clay als Sohn zweier Astra geboren und von seinem Vater mit einem Bann belegt worden war, hatte sich sein Körper aufgelöst und an einem anderen Ort wieder materialisiert. Das nackte und halb erfrorene Kind, dessen Eltern soeben von einem brutalen Nova in rotem Umhang getötet worden waren, war damals von einem dreißigjährigen Mann namens Erik in einem Wäldchen Maradoniens gefunden worden. Anstelle von Pilzen, die der Mann seiner Frau hatte bringen wollen, damit daraus ein leckeres Gericht würde, hatte er das Baby in sein Heim gebracht.
Der Mann mit dem Namen Erik und die Frau mit dem Namen Shoshan hatten sich nämlich immer schon ein Kind gewünscht, doch noch nie hatten sie sich über Nachwuchs freuen können. Bereits drei Mal war ihre immense Vorfreude durch eine Fehlgeburt zerschmettert worden, weshalb der Fund dieses Babys eine unerreichbar geglaubte Chance für sie beide darstellte. Der feine Schriftzug über dem Bauchnabel des gefundenen Kindes hatte Erik und Shoshan zwar beunruhigt, doch sie waren viel zu glücklich über die schicksalhafte Fügung gewesen, um sich weitreichende Gedanken zu machen. So hatte sich das Paar dazu entschlossen, das Kind zu behalten und großzuziehen.
Im Laufe der Jahre war Clay zu einem großen Jungen herangewachsen. Er hatte nun blonde Haare, die ihm bis über die Ohren gingen. Seine blauen Augen waren so unbekümmert und freundlich wie er selbst, sodass ihn alle Bewohner Maradoniens schnell ins Herz geschlossen hatten. Jedoch umhüllte Clay auch ein Mysterium, denn wenn er sich das eine oder andere Mal verletzt hatte, waren seine Wunden stets innerhalb kürzester Zeit geheilt.
Die Befürchtungen seiner Zieheltern Erik und Shoshan hatten sich schließlich nach seinem zehnten Geburtstag bewahrheitet. Immer wieder war Clay mit seltsamen Ereignissen in Verbindung gebracht worden. Man sagte dem Knaben etwa nach, dass er Kies schweben lassen oder die Wellen beeinflussen konnte – Clay selbst wusste jedoch nichts von solchen Begebenheiten. Einmal hatte einer der Dorfbewohner sogar behauptet, dass er gesehen hätte, wie ein Blitz auf den Jungen niedergefahren wäre. Weil dieser sich jedoch an nichts Derartiges erinnern konnte und auch kein bisschen verletzt gewesen war, hatte man den Worten des Dorfbewohners keinen Glauben geschenkt. Nur die Zieheltern hatten die erschütternde Wahrheit erkannt.
An Clays fünfzehntem Geburtstag hatten Erik und Shoshan endlich beschlossen, ihrem Ziehkind die ganze Wahrheit zu erzählen. Sie hatten dem Jungen erklärt, dass sie nicht seine wahren Eltern waren und ihn in der Wildnis gefunden hatten. Weiter hatten sie ihm gesagt, dass sie glaubten, sein wahrer Name lautete Xin, denn genau dieses Wort stand über dem Bauchnabel des Jungen geschrieben.
Danach hatte Clay von seinen Zieheltern erfahren, was es mit den Namen, die mit dem kreuzförmigen Buchstaben begannen, auf sich hatte. Denn obwohl die Geschichten der Astra und Novae überall bekannt waren, wussten heutzutage nur noch wenige Menschen, dass das X für die Astra dieselbe Bedeutung wie das Y für die Novae hatte.
»Das heißt, dass ich ein Astrum bin?«, hatte Clay damals gefragt. »Deshalb diese ganzen seltsamen Ereignisse? Darum war ich nie ernsthaft verletzt? Aber die Astra sind doch schon vor langer Zeit ausgestorben.«
»Nicht alle«, hatte Erik geantwortet. »Die Novae lassen die Menschheit in diesem Glauben, damit sie ihre Hoffnung verlieren. Doch es gibt Gerüchte über eine Gruppe von Astra, die sich zur Zeit der Auslöschung durch die Novae gerettet haben soll. Irgendwann wirst du bestimmt von hier aufbrechen und die Angehörigen deines Volkes suchen.«
Nur ein Jahr später war es so weit gewesen. Clay war an Bord der Lucky Banshee gegangen und hatte der Zukunft unbeschwert entgegengesehen. Niemals hatte er sich träumen lassen, dass dieser erste Schritt seines neuen Abenteuers in einem Fiasko endete.
Dunkelheit, überall.
Außer Dunkelheit gab es nichts mehr. Da waren verschiedene Grautöne, die sich zu einem Strudel der Finsternis vermengten, und da war das Geräusch von tosendem Wind und polterndem Donner – zu all diesen Empfindungen gesellte sich die kalte Umarmung des Wassers. Das Meer hatte ihn in die Tiefe gezogen und beinahe nicht mehr freigegeben.
Irgendwann wurde es wieder heller, erst kaum merklich und dann mit einer überraschenden Schnelligkeit, und schließlich gelang es Clay, seine Augen zu öffnen. Das Tageslicht blendete, und sofort setzten unerträgliche Kopfschmerzen ein. Unter lautem Gestöhne griff sich der sechzehnjährige Astrum an die Stirn, um die Schmerzen zu vermindern, doch es wurde nur noch schlimmer.
Schlagartig erinnerte sich Clay an die Ereignisse, die ihn hatten ohnmächtig werden lassen. Vor seinem geistigen Auge tauchten schreckliche Bilder auf – ein sich auflösendes Schiff, eine Frau, die von einer Kiste zerquetscht wurde, ein Mann, der von einem Blitz erschlagen wurde, ein schwebender Nova, alles vernichtend.
Clay setzte sich auf, beugte sich vornüber und übergab sich. Der Gestank seines Erbrochenen stieg ihm in die Nase und verschlimmerte die Kopfschmerzen weiter. Um nicht an den quälenden Erinnerungen oder Umwelteinflüssen zugrunde zu gehen, kauerte sich der Jugendliche zusammen und versuchte sich nicht zu bewegen, was sich aufgrund seines heftig zitternden Körpers als schwierige Aufgabe herausstellte. Erst nach etlichen Atemzügen konnte Clay seine Augen geöffnet halten, ohne gleich wieder unerträgliche Übelkeit zu verspüren.
Er befand sich an einem Strand. Weit und breit gab es nichts zu sehen – bis auf die von den Wellen angespülten Teile des Schiffes sowie Möwen, die zwischen ihnen nach Futter suchten. Die friedlich wirkende Szenerie war trügerisch. Es war in der Tat sehr ruhig, doch das bedeutete nur, dass sich keine anderen Menschen in der Nähe aufhielten.
»Hallo?«, rief Clay. »Hallooo!«
Die Möwen flogen davon.
»Irgendjemand?«
Niemand antwortete.
Erschöpft ließ sich Clay wieder nach hinten in den Sand fallen. Er starrte zum wolkenlosen Himmel empor, an dem die Sonne prangte und gelassen Licht und Wärme spendete.
»Ich bin schuld … oder etwa nicht?«
Es waren die Worte des Nova, die den Gestrandeten beinahe zur Verzweiflung brachten. Jener Nova, der vor Clays Ohnmacht auf der Lucky Banshee erschienen war, hatte gesagt, dass jemand über die Vernichtung der Novae nachgedacht hatte – und aus diesem Grund war das Schiff zerstört worden.
Für Clay gab es keinen Zweifel, dass er selbst die Schuld an dem Tod der Seefahrer und Passagiere trug, denn immerhin war er es gewesen, der über die Novae und deren Taten in Utopia gegrübelt hatte. Dass der blonde Astrum eines der wenigen Wesen war, dessen Gedanken nicht von den mächtigen Novae gelesen werden konnten, erfuhr er erst viel später.
»Gedankenlesen … und Blitze schleudern.«
Die Fähigkeiten der Novae beeindruckten Clay. Dennoch wurde seine Abneigung gegen diese silberhaarigen Übeltäter nur noch größer, und von diesem Tag an begann er sie zu verabscheuen. Er fragte sich, wie viele unschuldige Menschen ihr Leben hatten lassen müssen, nur weil er, nichts weiter als ein unerfahrener Jugendlicher, über die Mächte der Novae sinniert hatte.
»Das werden sie büßen.«
Clay beendete seine wirren Selbstgespräche und stand auf. Zunächst gab sein linkes Knie nach, doch bereits beim zweiten Versuch fand er einen sicheren Halt.
Bevor er sich von dem Strand zurückzog, untersuchte er die Umgebung. Er entdeckte keine Menschen, weder lebende noch tote, trotz der gründlichen Suche zwischen den Überresten des Schiffes. Obwohl er damit rechnete, jederzeit einen Seefahrer mit von einem Holzstück in der Größe eines ausgewachsenen Hirtenhundes durchbohrter Brust zu Gesicht zu bekommen, sah er nur eine menschenleere und trostlose Landschaft. Schließlich stapfte er landeinwärts, ziellos und niedergeschlagen.
Der junge Abenteurer befand sich in einem ziemlich erbärmlichen Zustand. Sein helles Haar war zerzaust, sein fahles Gesicht war von Kraftlosigkeit gezeichnet, und sein gesamter Körper schmerzte. Die nackten Füße verbrannten beinahe aufgrund des heißen Sandes, und sowohl Hunger als auch Durst plagten ihn. Das helle Hemd und die dunklen Hosen, die Clay getragen hatte, waren nun nichts weiter als zerschlissene und schmutzige Lumpen. Dennoch; Clay war mehr als froh, dass er lebte.
Allmählich verschwand der Sand, und an seine Stelle trat trockener Erdboden. Mit jedem Schritt kam Clay einer saftig grünen Wiese näher, und schließlich befand er sich am Rand einer weiten Ebene.
Das Grasland erstreckte sich bis an den Horizont. Überall gab es merkwürdige Pflanzen zu bestaunen, die Clay nie zuvor gesehen hatte. Die Bäume trugen ihm unbekannte Früchte in verschiedenen Farben, und der Wind war kühl und angenehm.
Trotz der Tatsache, dass man weit und breit kein Anzeichen von Leben erkennen konnte, schöpfte der junge Astrum neuen Mut. Er setzte seinen Marsch mit etwas aufgeheiterter Laune fort und ging in die Richtung, in die seine Füße ihn trugen, wie ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat.
Eine ganze Weile wanderte Clay über die ruhige Ebene. Inzwischen waren Hunger und Durst verflogen, denn er hatte von den fremden Früchten genascht. Obwohl er sich zunächst ängstlich gefragt hatte, ob jene Früchte giftig seien, hatte er schließlich seinem knurrenden Magen nachgegeben und sie verzehrt. Das wilde Verlangen nach Flüssigkeit hatte Clay mit Wasser aus einem kleinen Bach gestillt – und ebenjenem Bach folgte er nun.
Das Gewässer bahnte sich seinen Weg durch die idyllische Landschaft. Auf der rechten Seite des Baches erstreckte sich ein weitläufiger Wald aus Laubbäumen, deren Blätter sich trotz der warmen Jahreszeit schon leicht rötlich gefärbt hatten. Gegenüber befand sich ein tiefes Tal, das reich an natürlichen Rohstoffen zu sein schien; dennoch gab es keinerlei Anzeichen von Zivilisation. Nur vereinzelt herumirrende Insekten und einige plötzlich auftauchende Vogelgruppen waren Beweis, dass sich zumindest die Tierwelt hier angesiedelt hatte.
Nach etlichen weiteren Schritten gelangte Clay an eine große Schlucht, die seinen Weg kreuzte. Es schien, als ob sich vor vielen Jahren ein Spalt im Erdboden aufgetan hatte. Das Wasser des Baches verschwand zwischen einigen Felsbrocken, und Clay vermutete, dass es unterirdisch weiterfloss. Man hatte eine schmale einfache Brücke aus Stein errichtet, um die Schlucht sicher überqueren zu können.
Ein hölzernes Schild in der Nähe der Brücke weckte Clays Aufmerksamkeit. Er trat näher heran und las, was auf dem Schild eingeritzt worden war.
»›Pandra – Rukastatt in dieser Richtung.‹«