Das Mädchen vom Bethmannpark - Pete Smith - E-Book

Das Mädchen vom Bethmannpark E-Book

Pete Smith

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Beschreibung

Unweit des Frankfurter Bethmannparks entdeckt ein Anwohner eine bewusstlose junge Frau, die sich, als sie erwacht, an nichts erinnert: weder wie sie heißt noch wo sie wohnt noch was mit ihr passiert ist. Offenbar leidet sie an Amnesie. Während sich Ärzte ihrer annehmen, bemüht sich die Polizei, die Identität der mysteriösen Fremden zu ermitteln. Doch niemand scheint sie zu vermissen. Unterdessen verzweifelt Jakob, Ergotherapeut in der Neurologischen Rehaklinik Kirschwald, zusehends am Schicksal seiner Patienten. Oft erzählt er ihnen Episoden aus Biographien berühmter Persönlichkeiten und ermuntert sie, vorübergehend in deren Leben zu schlüpfen. Indem sie sich in Edgar Wallace, Albert Einstein oder Coco Chanel verwandeln, sollen sie, die durch Unfall oder Krankheit den Bezug zu sich selbst verloren haben, Hoffnung und Lebensmut schöpfen. Währenddessen fehlt es Jakob in seinem Leben selbst an Zuversicht. Seine Freizeit verbringt er weitgehend allein. Die einzig lebende Verwandte ist seine Mutter, die als Professorin für katholische Theologie in den USA lebt. Echte Freunde hat er nicht. Kontakt pflegt er nur zu einigen alten Schachspielern, die er bei schönem Wetter im Bethmannpark trifft. Als die junge Amnestikerin in die Reha verlegt wird, kreuzen sich die Wege der Protagonisten. Jakob ist von der geheimnisvollen Schönen auf Anhieb fasziniert. Umso mehr, da sie ihn an ein Mädchen erinnert, in das er als Junge unsterblich verliebt war. Bald teilt man ihm die neue Patientin zu, um sie auf ein Leben außerhalb der Rehaklinik vorzubereiten. Da sie einander näherkommen, sieht sich Jakob genötigt, sein eigenes Leben neu zu erfinden: Er gibt vor, in seiner Freizeit seltsame Apparaturen zu erfinden, wodurch er seine Patientin tatsächlich beeindrucken kann. Daneben fahndet er wie besessen nach ihrer wahren Identität. Bis ihm sein Schachkumpan Lewandowski, ein ebenso kauziger wie zwielichtiger Pole, eröffnet, dass er es war, der die Frau ohne Gedächtnis als erster entdeckt hat. Mehr noch: Lewandowski bietet ihm persönliche Dinge aus ihrem Besitz, verlangt dafür jedoch eine Gegenleistung. Was macht die Identität eines Menschen aus? Das Thema des Romans manifestiert sich in seinen Figuren: in der katholischen Feministin, dem undurchsichtigen KZ-Überlebenden, dem gestrandeten Argentinier, dem als Baby vertauschten Macho, dem schwulen Familienvater, den ihrer Identität beraubten oder entrückten Patienten und nicht zuletzt in den beiden Protagonisten: Jakob und Penelope

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Pete Smith

wurde 1960 als Sohn einer Spanierin und eines Engländers in Soest geboren. An der Universität Münster studierte er Germanistik, Philosophie und Publizistik. Nach seinem Magister-Examen arbeitete er zunächst als Kulturredakteur, bevor er sich als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main niederließ. Er schreibt Romane, Erzählungen und Essays. Für seinen Roman „Endspiel“ wurde er 2012 mit dem Robert-Gernhardt-Preis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.

Sei also das Ich deines verirrten Du Und das Du deines Ich Sei anwesend in der Abwesenheit

Mahmoud Darwish

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 15

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

EDITION GEGENWIND

1

Ein Schrei weckte sie. Er war ganz nah an ihrem Ohr. In ihrem Ohr. In ihrem Kopf? Schmerz durchzuckte sie wie ein Blitz, der wieder und wieder aufflammt. Sie zitterte. Ihr war kalt.

Als sie die Augen öffnete, sah sie ein Kind. Seine Augen waren aufgerissen, die Wangen nass.

„Ich … ich…wollte … aber … ich … bitte …!“

Warum schrie das Kind so? Was war denn los?

Waren das Tränen in seinem Gesicht?

Plötzlich sprang das Kind auf und rannte weg. Sie drehte den Kopf. Erneut stach der Schmerz in ihre Stirn. Das Kind, ein Mädchen mit einer Puppe, verschwand in einer Toreinfahrt. Rote Hose mit großen Taschen und weiße Schuhe. Der Blitz löschte das Bild. Das grelle Licht zog sich zusammen zu einem Fleck, zu einem Punkt. Dahinter Schwärze, die sie mit sich fortriss. Finsternis. Stille.

Mit einem Mal war das Mädchen wieder da. Stupste sie an, zerrte an ihr. Von fern hörte sie eine Stimme. Sie wollte nicht, wehrte sich, zwang sich aber, die Augen zu öffnen.

„Sie da, was ist denn mit Ihnen?“

Das Kind hatte sich in einen alten Mann verwandelt. Ein Weißkopf mit dunkler Haut. Er zupfte an ihrem Arm.

„Aber ich will Ihnen doch nur helfen!“

Die raue Stimme des Alten bekam einen flehenden Klang.

„Ich rufe den Notarzt. Ich bin gleich wieder da.“

Notarzt? Warum siezte er sie?

Sie verstand ihn ebenso wenig wie das Kind. Was geschah mit ihr? Was wollten die alle von ihr? Warum ließen sie sie nicht in Ruhe?

Hinter dem Alten sah sie eine dunkle Straße, parkende Autos, eine Häuserschlucht mit hellen Flecken. Wo war das? Warum war ihr so schrecklich kalt?

Der Alte hatte einen Taschenrechner in der Hand. Tippte darauf herum. Hielt ihn sich ans Ohr. Der war ja völlig übergeschnappt! Jetzt fing er auch noch an zu schreien. Rannte um sie herum. Starrte sie an, als ob sie an seiner Aufregung schuld sei.

Junge Frau …

Berger Straße …

Kommen Sie schnell!

„Die Arme braucht Hilfe!“, keuchte der Mann. „Sie blutet am Kopf. Kommen Sie schnell!“

Angst kroch ihr den Nacken hoch. Sie versuchte wegzurobben, doch der Schmerz hielt sie zurück.

Sie blutet am Kopf.

Plötzlich war sein zerfurchtes Gesicht wieder über ihr. Er roch aus dem Mund.

„Wie heißen Sie?“, brüllte er.

Sie kannte den Geruch, den Gestank, nur woher?

„Wo wohnen Sie? Soll ich jemanden benachrichtigen?“

Sie stöhnte. Sein Griff. Seine Schreie. Taten ihr weh.

„Ich habe den Notarzt verständigt, er wird gleich hier sein. Halten Sie durch!“

Sie schloss die Augen.

Berger Straße.

Sie versuchte, sich zu erinnern. Berger Straße. Blitze flammten auf und zogen sich wieder zusammen. Tränen rannen ihr über die Wange. Oder Blut? Sie kannte keine Berger Straße.

Junge Frau.

Die Arme braucht Hilfe.

Sie presste ihre Hände gegen die Schläfen. Was geschah mit ihr? Wie kam sie an diesen Ort?

Der Alte verstummte. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen. Plötzlich vernahm sie ein Flüstern in ihrem Ohr.

Padre nuestro que estás en los cielos …

In ihrem Kopf?

… santificado sea tu nombre …

Wie ein Lied, das sie kannte.

… venga a nosotros tu reino …

Nur woher?

… hágase tu voluntad …

Die Worte trugen sie fort.

… así en la tierra como en el cielo.

***

„Ihr Name…Verraten Sie mir bitte Ihren Namen?“

Auch der Alte hatte sich verwandelt. Der Mann, der jetzt vor ihr kniete, war jung. Er hatte rosige Haut, eine dicke Nase und knopfschwarze Augen. Seine orange, seltsam glitzernde Weste schien zu leuchten und blendete sie. Sein Oberkörper schwankte. Eine blonde Strähne fiel ihm ins Gesicht. Böse sah er nicht aus.

„Mein Name ist Lahm, Philipp Lahm, wie der ehemalige Fußballer. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Können Sie mich verstehen? Sie haben eine Platzwunde am Kopf. Haben Sie Schmerzen?“

Schmerzen, ja.

„Wenn ich hier anfasse, fühlen Sie das?“

Sie stöhnte, weil ihr der Schmerz vom Hinterkopf in die Stirn schoss. Er legte ihr eine Hand auf die Stirn.

„Haben Sie Medikamente eingenommen?“

Kalte Hand auf der Stirn. Auch das kannte sie.

„Wohnen Sie in der Nähe? Sollen wir jemanden verständigen?“

Um sie herum standen Menschen im Halbkreis und gafften sie an. Sie schloss die Augen.

Ihr Name … Medikamente … Wo wohnen Sie ... Jede Frage bohrte den Schmerz noch tiefer in ihre Stirn.

Wieder fühlte sie, wie es warm ihre Wange hinabrann. Vorhin … Sie blinzelte. Wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Vorhin ... da hatte sie ...

„Haben Sie keine Angst“, sagte der Mann mit dem rosigen Gesicht. „Wir bringen Sie ins Bürgerhospital, dort wird man sich um Sie kümmern.“

Sie sah an ihm vorbei auf die Ziegelsteine des nächstliegenden Hauses. Die Toreinfahrt erinnerte sie an etwas, aber sie kam nicht darauf. Was hatte er gerade gesagt? Er wollte jemanden verständigen. Nur wen? Sie kannte doch niemanden.

Hinter ihm tauchte eine Frau auf. Groß, stämmig, kurzes, schwarzes Haar. Auch sie in einer orangen Weste. Gemeinsam halfen sie ihr auf und führten sie zum Auto. Der Mann – wie hieß er nochmal? – half ihr auf ein Bett. Als er am Kopfteil ruckelte, stöhnte sie auf. Der Schmerz war so heftig, dass ihr augenblicklich schlecht wurde. Sie würgte, drehte den Kopf zur Seite und erbrach sich. Wieder fühlte sie seine kalte Hand auf ihrer Stirn. Das Bett hob sich, jemand schob es in den Wagen. Neben ihr öffnete sich eine Tür. Die Orangenfarbige kletterte in den Wagen. Kurz hintereinander krachten zwei Türen ins Schloss.

„Wie geht es Ihnen?“

Der Mann legte drei Finger auf ihren Unterarm und starrte zur Decke.

„Sie müssen keine Angst haben. Bis zum Bürgerhospital sind es nur wenige Minuten.“

Er ließ sie los, lächelte.

„Ihr Puls ist in Ordnung. Schauen Sie mich bitte an.“

Sie gehorchte. Er zog einen Füller aus seiner Hosentasche und richtete ihn gegen ihr Auge.

„Ich muss Ihnen jetzt in die Augen leuchten.“

Plötzlich zuckte ein Licht auf. Sie erschrak und kniff die Augen zusammen.

„… Reflexe … Kreislauf stabil … Arm … bitte geben Sie mir Ihren Arm …“

Was wollte er denn jetzt mit ihrem Arm? Ihr Kopf drohte zu platzen. Sie musste hier raus. Sie schob ihre Beine von der Trage. Doch der Mann hielt sie zurück.

„Sie können nicht gehen, wir wollen Ihnen doch nur helfen.“

Warum siezten sie alle? Sie war doch ein Kind!

Eine merkwürdige Leere nistete in ihrem Kopf, als ob die Blitze alle Wörter zu Asche verbrannt hätten. Der Mann tupfte auf ihrem Gesicht herum, wischte über ihre Stirn und drückte etwas Weiches gegen ihren Hinterkopf. Währenddessen redete er in einem fort, als ob er ihren leeren Kopf mit seinen Worten vollstopfen wollte. Seine Worte taumelten durch ihr Hirn und purzelten am anderen Ende wieder heraus.

Ihr Bett ruckte. Sie fuhren los. Sie presste die Augen zusammen. Ergab sich in ihr Schicksal. Spürte die Vibration. Hörte Stimmen. Versuchte sich zu erinnern.

Berger Straße.

Der alte Mann. Auch er hatte sie gesiezt. Ein Mädchen hatte geweint. Ein Mädchen mit einer Puppe.

Sie beugte den Kopf. Verwirrt. Der Mann mit der rosigen Haut redete mit der Schwarzhaarigen. Sie drehte den Kopf. Schränke. Steckdosen. Eine blau gepolsterte Bank. Kabel. Schläuche. Ein Bildschirm. Darüber eine Box mit Papiertüchern. Ein Hammer an der Wand. Ein Kanister …

Das Auto bremste. Ihr Bett ruckte vor. Ein Messer bohrte sich in ihre Stirn. Sie stöhnte, während der Wagen weiterfuhr. Sie rutschte nach vorn. Hatte das Gefühl, dass es abwärtsging. Abwärts? Als der Wagen stoppte, legte sich eine Hand auf ihren Arm.

„Wir sind da.“ Der Mann nickte ihr lächelnd zu. „Ich habe Ihnen doch versprochen, dass es schnell geht.“

Die Tür wurde aufgezogen. Die Frau mit den kurzen Haaren packte das Fußende ihres Bettes, und gemeinsam beförderten sie es nach draußen. Vor ihr eine gläserne Tür. Der Mann – Philipp Lahm, plötzlich erinnerte sie sich wieder an seinen Namen – kippte das Kopfteil nach unten. Die Glastür schwang auf. Sie rollten einen Flur entlang. An der Decke leuchtete alle paar Meter grelles Licht. Eine Tür sprang auf. Die Decke flog hoch. Um sie herum vernahm sie mit einem Mal Stimmengewirr und über allem das Geschrei eines Babys.

Sie stemmte sich hoch. Eine Halle. Philipp Lahm unterhielt sich mit einer Frau. Blonde, hochgesteckte Haare. Leute standen herum. Einige sahen herüber. Ein fetter Mann wischte sich übers Gesicht. Neben ihm saß ein kleiner Junge. Er starrte sie an. Wie das Mädchen. Das hatte geweint.

Ihre Arme begannen zu zittern. Vorsichtig glitt sie zurück. Tastete sich übers Gesicht. An ihrem Finger entdeckte sie einen Ring. Sie drehte ihre Hand. Ein grüner Stein. Sie konnte sich an keinen Ring erinnern.

Plötzlich stand die Frau mit den hochgesteckten Haaren neben ihr. Sie trug ein grünes Shirt, eine grüne Hose und grobe, weiße Schuhe. Als sie sich über sie beugte, konnte sie ihren Brustansatz sehen. Braune, knitterige Haut.

„Wir benötigen Ihre Versichertenkarte.“

Das Grün war auch ein bisschen blau. Grünblau. Turquesa. Die Frau wippte mit dem Fuß.

„Bei welcher Krankenkasse sind Sie versichert?“

Sie sah auf den Ring. Tiefgrün war sein Stein. Glatt und glänzend. Wie eine grüne Träne.

„Können Sie mich hören? Verstehen Sie, was ich sage?“

Warum wedelte sie so hektisch mit ihrer Hand? Natürlich konnte sie sie hören. Nur was sie von ihr wollte ... Versichertenkarte. Was meinte sie damit? Und wie sie sie ansah! Was hatte sie ihr denn getan?

„Versteht sie mich nicht, oder will sie mich nicht verstehen?“

Wenn sie stilllag, war der Schmerz zu ertragen. Sie hatte Durst. Der alte Mann. Seine raue Stimme an ihrem Ohr. Irgendetwas war geschehen. Kommen Sie schnell! Nur was? Vor dem Alten gab es das Mädchen. Doch vor dem Mädchengab es nichts.

Eine Hand legte sich auf ihren Arm. Der Mann mit der rosigen Haut. Philipp. Er lächelte sie an. Philipp Lahm.

„Das wird schon wieder.“ Wie er sie ansah. Lieb und traurig zugleich. „Sie werden sehen.“ Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände. „Haben Sie keine Angst. Das kommt alles zurück.“

***

Das kommt alles zurück.

Während eine Krankenschwester ihr Bett durch die Flure rollte, dachte sie über seinen Satz nach. Bevor etwas zurückkommen konnte, musste es fort sein. Aber sie vermisste doch nichts. Sie hatte bloß Schmerzen. Und was sollte das heißen – alles?

Eine Tür wurde aufgestoßen, im nächsten Moment fand sie sich in einem hell erleuchteten Raum. Die Schwester bugsierte ihr Bett in die Lücke zwischen Fenster und Wand. Sie versuchte, sich aufzurichten. Schräg gegenüber lag ein Mädchen mit Kopfhörern, das starr nach vorn sah. Als sie seinem Blick folgte, entdeckte sie einen kleinen Fernseher, in dem ein Zeichentrickfilm lief. Neben der Tür stand ein Schrank, rechts davon ein Waschbecken. Der Wasserhahn tropfte.

„Bleiben Sie bitte so lange liegen, bis der Arzt kommt“, sagte die Krankenschwester, während sie das Kopfteil ihres Bettes hochstellte. „Wenn Sie etwas benötigen, drücken Sie den roten Knopf hier.“ Sie deutete auf ein rundes Ding an der Wand. „Dort vorn befindet sich der Lichtschalter. Ich gebe dem Arzt Bescheid. Allerdings kann das etwas dauern.“

Der Schmerz stach unerwartet zu. Sie presste die Hände gegen ihren Kopf, und erst diese Geste erinnerte sie daran, dass der Schmerz schon einmal durch ihr Hirn gezuckt war. Jetzt war er zurück. War es das, was Philipp Lahm gemeint hatte? Sie konnte den Gedanken nicht festhalten, weil der Schmerz erneut zustach. Von fern hörte sie den Schrei einer Frau. Dann war alles schwarz.

Ein Irrlicht weckte sie. Als sie es wegwischte, hörte sie jemanden lachen.

„Sie sind ja wach.“

Der Brummbass passte nicht zu dem Gesicht, das sich vor das blendende Licht des Deckenfluters schob. Ein junges, von rotblonden Locken umrahmtes Antlitz, dessen hellblaue Augen wie Glasmurmeln leuchteten.

„Wie geht es Ihnen?“

Sie erinnerte sich an etwas Böses. Das hatte ihr Angst gemacht. Aber jetzt war es nicht mehr da.

„Haben Sie Schmerzen?“

Schmerzen.

Ja. Natürlich, sie erinnerte sich. Aber ihre Schmerzen waren fort. Vorsichtig bewegte sie ihren Kopf. Der Rothaarige schien das als Nein zu deuten und lächelte. Als er vom Bett zurücktrat, sah sie, dass er einen weißen Kittel trug, unter dem eine graue Hose hervorlugte.

„Wir müssen Sie über Nacht hierbehalten“, fuhr er fort. „Sie haben eine Platzwunde am Kopf, die wir besser nähen sollten. Erinnern Sie sich, was passiert ist? Sind Sie gestürzt? Hatten Sie Streit? Wurden Sie niedergeschlagen?“

Niedergeschlagen.

Sie erinnerte sich an dieses Wort. Irgendwer hatte geweint.

Gestürzt.

Vielleicht war sie tatsächlich gestürzt. Unvermittelt blitzte das Gesicht eines Kindes auf, ein Mädchen mit roter Hose und nassem Gesicht. War sie dieses Mädchen? Sie schloss die Augen. Nachdenken strengte sie an.

„Wir werden eine Reihe von Untersuchungen vornehmen, um sicherzugehen, dass Sie keine schwerwiegenderen Verletzungen davongetragen haben“, sagte der Rothaarige, dessen Stimme mit einem Mal erschöpft klang. „Haben Sie Alkohol konsumiert? Oder Medikamente? Nehmen Sie Drogen?“

Sie blinzelte.

„Also nein?“

Sie verstand nicht, was er von ihr wollte.

„Waren Sie kürzlich im Ausland? Vielleicht in den Tropen?“

Seine hellblauen Augen sahen sie an, als wüsste er etwas über sie, das niemand sonst wusste. Sie schloss erneut die Augen. Schloss ihn aus. Versuchte, wegzuhören, auch als er sie fragte, ob sie sich inzwischen ihres Namens entsinne, wenigstens ihres Vornamens, ein Name sei schließlich wichtig, damit er sie ansprechen könne. Selbst wenn sie vor ihm die Augen verschließe. Namen stellten eine Verbindung her zwischen den Menschen. Seinetwegen könne sie sich sogar einen ausdenken, Hauptsache, er müsse keine Zahl oder Nummer in seine Akte schreiben, das sei doch herzlos, ohne Namen sei man schließlich kein Mensch.

Und weil sie seine Worte auf seltsame Weise berührten, öffnete sie die Augen und gab ihm, was er wollte, einen Namen, der hinter seinem Rücken in großen Buchstaben über den Fernseher flimmerte. Ein Name wie ein Lied.

„Penelope.“

***

Passierte all das hier wirklich, oder war alles bloß ein Traum, aus dem sie erwachen würde, sobald es ihr gelänge, endlich einzuschlafen?

Da war diese junge Schwester gewesen. Sie verstand noch immer nicht, wie ihr jemand Schmerzen zufügen und sich gleichzeitig dafür entschuldigen konnte! Sie hatte ihr in den Arm gestochen und dann beteuert, dass sie doch nichts dafürkönne, schließlich brauche man ihr Blut, um festzustellen, ob sie eine Infektion habe oder gar eine Vergiftung oder was weiß denn ich, jetzt hören Sie doch endlich auf zu weinen, man könnte ja meinen, ich hätte Spaß daran, Sie zu quälen.

Die Aufnahmen von ihrem Kopf waren weniger schmerzhaft gewesen. Nur einmal war der Blitz durch ihr Hirn gezuckt, doch gleich darauf wieder erloschen.

Ein Chirurg hatte sich die Wunde angesehen und entschieden, dass man sie nicht nähen müsse. Stattdessen hatte er ein Pflaster darauf geklebt und war nach wenigen Minuten gegangen.

„Machen Sie sich keine Sorgen, da bleibt nichts zurück.“

Inzwischen war es dunkel. Sie lag im Bett und sehnte sich nach Schlaf. Wieder und wieder hörte sie Schritte im Flur, Betten, die vorüber geschoben wurden, Stimmen und Gelächter. Nebenan rief eine Patientin fortwährend nach der Schwester.

Sie beneidete das Mädchen im Bett gegenüber, das von all dem Aufruhr nichts mitzubekommen schien. Seine tiefen Atemzüge deuteten auf einen ebenso tiefen Schlaf.

Sie dagegen war hellwach. Sie musste dahinterkommen, was mit ihr geschah. Warum man sie hierhergebracht hatte. In ein Krankenhaus.

Ihr Kopf schien das Problem zu sein. Aber nicht die Wunde. Das heilt, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Ebenso wenig ihre Schmerzen. Schlucken Sie, das hilft gegen den Schmerz. Nur gegen die Leere in ihrem Gehirn schien es keine Medikamente zu geben.

Erinnern Sie sich denn wirklich an gar nichts? Noch nicht einmal an Ihre Frau Mama?

Jedes Kind hatte eine Mutter, das wusste sie. Doch sie konnte sich an ihre Frau Mama nicht erinnern. Wahrscheinlich hatte sie auch einen Herrn Papa und womöglich sogar Geschwister, aber je tiefer sie in die Höhlen ihres Gedächtnisses eintauchte, desto undurchdringlicher wurde die Finsternis um sie herum.

Vielleicht war sie eine Waise? Schon wieder so ein Wort aus dem Nichts! In Gedanken sah sie ein Mädchen, das mit seinem Kleidchen herabfallende Sterne auffing. Das Mädchen mit der Puppe hatte kein Kleidchen angehabt, sondern eine rote Hose mit großen Taschen. Es hatte geweint. Ihretwegen?

Verzweifelt versuchte sie, sich zu erinnern. Die vielen fremden Menschen, die fremde Umgebung, die Fremde in ihr, all das machte ihr Angst. Wer war sie? Was geschah mit ihr?

Wenn sie doch bloß einschlafen könnte! Um irgendwann aus diesem Albtraum endlich zu erwachen. Einschlafen. Schlafen. Aufwachen.

Schlaf, Kindlein, schlaf.

Die Melodie eilte den Worten voraus. Sie summte mit. Ließ sich von ihr davontragen.

Im Traum wusste sie, dass alles real war. Das Bett, in dem sie lag. Das Fenster mit dem Sichelmond. Die losen Wolken am dunklen Himmel. Das friedlich schlafende Mädchen im Bett gegenüber. Die Schwester im Flur.

Nur sie war es nicht. Sie, die all das träumte, war eine andere.

2

„Stellen Sie sich vor, Sie wären Schriftsteller.“

Jakob schob seine Hand unter die linke Ferse seines Patienten, hob den Fuß etwas an und begann, das Bein vorsichtig zu beugen. Der Alte sah ihn verständnislos an.

„Schriftsteller?“

„Einer, der Bücher schreibt.“

„Was für Bücher denn?“

„Zum Beispiel Krimis.“

„Krimis finde ich langweilig.“

„Und Afrika-Romane?“

Jakob legte das Bein des Alten sachte ab und nahm sich das andere vor. Sein Patient kniff die Augen zusammen. Offenbar hatte er angebissen.

„Sie haben sich aus ärmlichen Verhältnissen ganz nach oben gearbeitet“, fuhr Jakob fort. „Ihre Mutter, eine mittellose Schauspielerin, musste Sie zur Adoption freigeben. Ein Fischhändler nahm sich Ihrer an. Aufgrund der finanziellen Umstände konnten Sie noch nicht einmal Ihre Schulausbildung abschließen. Aber Sie ließen sich nicht unterkriegen. Sie begannen zu schreiben, zogen in den Krieg und wurden Kriegsberichterstatter.“

„In welchen Krieg denn?“

„In den Burenkrieg.“

„Buren ...?“

„Nach Südafrika.“

„Afrika“, murmelte der Alte und lächelte.

„Drehen Sie sich bitte auf den Bauch.“

Während sein Patient sich auf die Seite rollte und ächzend hochstemmte, um seinen vom massigen Leib begrabenen Arm zu befreien, blickte Jakob zum Fenster hinaus. Grauschwarze Wolken ballten sich über der Stadt. Schlechte Aussichten für seine Revanche.

„Nach dem Krieg arbeiteten Sie eine Zeit lang als Journalist und schrieben nebenher Ihren ersten Kriminalroman. Er erschien unter dem Titel Die vier Gerechten. Das Publikum liebte Ihr Buch, aber Sie trieb es in den Ruin.“

Der Fuß zuckte hoch.

„Ruin?“

„Pleite, Konkurs, Bankrott.“

„Aber wie ist das möglich?“

„Sie waren jung und übermütig.“

Leichte Seitwärts-Bewegungen fielen seinem Patienten einigermaßen leicht. Jakob begann mit der Massage der Waden. Seine trockenen Hände rieben über die glatte Haut des Alten. Warum Testosteronmangel bei Männern jenseits der 70 ausgerechnet die unteren Extremitäten enthaarte, während Brauen, Ohrhärchen sowie der Pelz auf Rücken und Brust dafür umso unbändiger wucherten, erschien Jakob als eines der größten Rätsel der männlichen Anatomie.

„Wahrscheinlich haben Sie den zweifellos spannenden, aber offenbar nicht raffiniert genug ausgeklügelten Plot Ihres Erstlings überschätzt“, antwortete er.

„Versteh ich nicht.“

„Die Handlung war zu durchsichtig“, erläuterte Jakob. „Großzügig, wie Sie sind, boten Sie jedem, der die Lösung Ihres Krimis erraten würde, 500 Pfund Preisgeld. Eine enorme Summe, die schon für sich genommen Ihr damaliges Konto außerordentlich belastet hätte. Unglücklicherweise kamen allzu viele Leser auf die Lösung.“

„Ich Hornochse!“, schnaufte der Alte. „Wie kann einer nur so dämlich sein?“

„Seien Sie nicht so streng mit sich“, beschwichtigte Jakob und hielt das Bein seines Patienten in der Schwebe. „Ihr kleines Malheur haben Sie dann ja mehr als wettgemacht.“ Er ließ los. „So, jetzt bitte halten!“

„Wettgemacht?“, presste der Alte hervor. „Wie denn das?“

Jakobs Blick streifte das gegenüber der Liege hängende Schaubild des menschlichen Muskelsystems und wanderte über die Schrankwand zum Schreibtisch, auf dem sich wie immer die Akten stapelten. Den Berg abzutragen, hatte er sich für den Nachmittag vorgenommen.

„Erfolg“, setzte er an, „hatten Sie zunächst mit Ihren Afrika-Romanen, auf die Sie sich nach Ihrer Pleite mit Ihrem Krimi verlegten.“

„Afrika-Romane“, japste sein Patient, bevor ihn die Kraft verließ und sein Bein auf die Liege plumpste.

„Als Kriegsreporter – Sie erinnern sich? – hielten Sie sich eine Weile in Südafrika auf.“ Jakob nahm sich erneut das linke Bein des Alten vor. „Die Eindrücke, die Sie dort sammeln durften, kamen auch Ihrer literarischen Arbeit zugute. An Die Eingeborenen vom Strom und Der Diamantenfluss begeisterten sich viele Leser. Obwohl ...“, er machte eine bedeutungsschwere Pause, „an den grandiosen Erfolg Ihrer Kriminalromane reichten sie nicht ansatzweise heran.“ Jakob seufzte. „Aber davon wollen Sie ja nichts wissen. Halten!“

„Wie bitte?“

„Mehr Spannung!“

Jakob spürte, dass der Muskeltonus seines Patienten allzu schnell erschlaffte. In Gedanken machte er sich eine Notiz.

„Wieso will ich davon nichts wissen?“

„Wenn ich Sie recht verstanden habe, finden Sie Krimis langweilig.“

„Habe ich das gesagt?“

Die Stimme des Alten zitterte inzwischen ebenso wie sein Bein. Jakob erlöste ihn, indem er ihm half, sich vom Bauch auf die Seite zu wälzen. Sein Patient seufzte erleichtert. Während Jakob eine Weile schwieg, um dem Alten eine Verschnaufpause zu gönnen und seine Imagination zu beflügeln, wanderte sein Blick hinaus, wo sich der Himmel verfinsterte und der Wind zusehends auffrischte. Mit jeder Böe bogen sich die Wipfel der Pappeln zum Fenster und schnellten wieder zurück. Blätter stoben vorbei. Er wunderte sich, dass es noch nicht regnete.

„Ihre Kriminalromane“, fuhr er mit leiser Stimme fort, die angespannte Stille im Raum genießend, „erreichten eine Millionenauflage. Theaterleute brachten sie auf die Bühne, sie wurden verfilmt und kamen in die Kinos, später sogar ins Fernsehen, was den ohnehin enormen Absatz Ihrer Bücher ins Unermessliche trieb.“ Jakob machte eine Pause und hob, als die erwartete Reaktion ausblieb, zum Finale an. „Was mich persönlich aber am meisten fasziniert, ist Ihre ungeheure Produktivität. Zwanzig Romane in einem Jahr! Verraten Sie mir, wie Sie das hinbekommen haben?“

Doch sein Patient antwortete nicht mehr.

Edgar Wallace war eingeschlafen.

***

Die Neurologische Rehaklinik Kirschwald lag in einem von Gründerzeit- und Jugendstil-Villen geprägten Viertel im Frankfurter Norden. Hier schien die Zeit buchstäblich stillzustehen. Uralte Bäume säumten die Straßen, die, breit und verkehrsberuhigt, auf einen kleinen Park führten, in dem ein possierliches Wasserschlösschen vor sich hin träumte, Sitz einer Kulturstiftung, die in regelmäßigen Abständen zu Ausstellungen, Lesungen und bildungspolitischen Vorträgen lud. Das ganze Viertel verströmte, wie Jakob fand, eine seltsame Aura aus Endzeit und Weltschmerz. Als sei man dem Fin de Siècle auf ewig verpflichtet.

Die Kirschwald-Klinik selbst passte sich in die herrschaftliche Architektur des Holzhausenviertels ein, ohne jedoch den Glanz der Epoche zu verströmen. Der Architekt hatte sich zwar bemüht, die Fassade des Gebäudes mit Jugendstilelementen auszuschmücken; wer indessen genauer hinsah, erkannte, wo der hehre Anspruch ökonomischen Zwängen zum Opfer gefallen war.

Während der große, lichte Empfangsbereich in seiner Symmetrie, den wellenhaften Linien in Decke und Boden sowie den floralen Ornamenten an Wanddekor und Tresen wie eine Schablone des Jugendstils wirkte, erinnerten die Patientenzimmer an die Unterkünfte in einem Hotel garni: nicht ungemütlich, aber von ihrer Ausstattung her eher schlicht und funktionell.

Jakob und seine Kolleginnen residierten im dritten Stock. Dorthin hatten es weder Jugendstil noch Fin de Siècle geschafft: Der graublaue Teppichboden kam ohne Muster aus, die Raufasertapete ohne Ornamente, und von der Decke flutete kaltes Neonlicht aus schmucklosen Röhren. Trotzdem fühlte sich Jakob in dieser Umgebung wohl. Von den bodentiefen Fenstern aus blickte man über das rotbraune Dach der Kastanienallee und sah an klaren Tagen sogar bis zu den neuen Siedlungen im Frankfurter Norden. Hinter zwei mächtigen Trauerweiden versteckte sich der Spielplatz, von dem nachmittags das fröhliche Geschrei der Kinder herüberwehte. Unmittelbar vor der Klinik ragten vier Pappeln in den Himmel, die sich an schönen Tagen selbstverliebt im Wind wiegten, während der Herbststürme jedoch gegen die Wände der Klinik peitschten.

Nur Kirschbäume gab es nicht. Wer die Klinik benannt hatte, entzog sich seiner Kenntnis. Ein Kollege aus der Verwaltung mutmaßte, dass die Investoren unter Anspielung auf die japanische Kirschblüte – Symbol für Schönheit, Aufbruch und Vergänglichkeit – um potente Kunden aus dem Land der aufgehenden Sonne buhlten. Doch tatsächlich waren japanische Patienten eher die Ausnahme.

Wie erwartet brach am Nachmittag ein Unwetter herein. Von Windstößen getrieben, klatschte der Regen gegen die Fenster und rann in dicken Schlieren über das Glas. Die Welt dahinter verschwamm zu einer finsteren Landschaft, über die von Zeit zu Zeit weiße Blitze zuckten, denen kurz darauf ein krachender Donner antwortete.

Seit seiner frühen Kindheit fürchtete sich Jakob vor Gewittern, war in gleichem Maße jedoch auch von ihnen fasziniert. Anstatt die Vorhänge zuzuziehen, stand er am Fenster und zählte die Sekunden zwischen Blitz und Donner, bis sich das Gewitter allmählich wieder verzog.

Seine vorletzte Patientin an diesem Tag, Frau Starke, eine Mittvierzigerin nach Schlaganfall, war so sehr in ihre Aufgaben vertieft, dass sie vom Unwetter offenbar nichts mitbekam. Vor ihr stand eine Schnabeltasse mit Pfefferminztee. Jakob hatte den Tee auf Körpertemperatur abkühlen lassen und mit einem Stück Zucker gesüßt. Jetzt ermunterte er seine Patientin, die Tasse sicher zu greifen, zum Mund zu führen und einen Schluck daraus zu probieren. Wenn alles gut lief, würde er sie hernach bitten, das Getränk zu identifizieren und zu entscheiden, ob es gesüßt war oder nicht.

„Ich weiß, dass ich das kann“, sagte Frau Starke mit verwaschener Stimme. Sie zog die Tasse ein wenig näher zu sich heran. Jakob legte seine Hand auf die Ihre. Gemeinsam hoben sie die Tasse an. Frau Starke zitterte, aber mit seiner Hilfe gelang es ihr, die Tasse zum Mund zu führen und am Tee zu nippen.

„Prima!“, lobte Jakob. „Das klappt ja schon ausgezeichnet. Und wonach schmeckt das?“

„Weiß nicht“, antwortete seine Patientin und sah ihn an wie eine Schülerin, die ihre Hausaufgaben vergessen hat.

„Könnte das Tee sein?“

„Weiß nicht. Vielleicht.“

Jakob nahm ihr die Tasse aus der Hand, schraubte den Deckel ab und hielt ihr die Flüssigkeit unter die Nase.

„Riechen Sie mal. Kommt Ihnen der Geruch bekannt vor?“

„Weiß nicht“, wiederholte Frau Starke. „Irgendwie.“ Plötzlich glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. „Hagebuttentee“, sagte sie. „Stimmt’s?“

„Beinahe.“ Jakob stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Entweder riet sie, oder sie war ganz nah dran. Im Schullandheim hatte es zum Abendbrot immer Pfefferminztee oder Hagebuttentee gegeben. Eine Erinnerung, immerhin.

„Und wie schmeckt der Tee?“, fuhr er fort. „Süß oder salzig?“

„Beides.“

„Beides geht nicht.“

„Tee mit Meerwasser aufgebrüht und viel Zucker.“

„Igitt!“ Jakob verzog das Gesicht und grinste. „Aber gut, das wäre möglich, Sie haben gewonnen.“

Er ließ Frau Starke noch einmal probieren. „Das ist Pfefferminztee“, löste er das Rätsel, „und das Wasser stammt aus der Leitung, nicht aus demMeer.“

„Wenn Sie meinen.“

Jakob ließ es dabei bewenden. Er warf einen Blick auf seinen Terminkalender. „Sie machen gute Fortschritte, Frau Starke. Wir sehen uns dann übermorgen wieder.“

„Dann gibt es Hagebuttentee, gell?“

„Mal sehen.“

Kurze Zeit später kam eine Schwester vom Hol- und Bringdienst. Sie setzte die Patientin in einen Rollstuhl und brachte sie zurück auf ihr Zimmer. Jakob schlenderte zum Schreibtisch. Sein letzter Patient war wie immer zu spät. Aber Jakob konnte ihm nicht böse sein. Für Menschen wie Einstein besaß die lineare Zeit keine Gültigkeit.

***

„Vier Staatsbürgschaften?“

„Bürgerschaften.“

„Was soll’n das sein?“

„Vier verschiedene Nationalitäten. Vier Pässe.“

„Ach so.“

„Soll ich fortfahren?“

„Momendemal. Am besten nochma von vorn.“

Sein Patient hatte sich aufgesetzt und zog ein Notizbuch aus der Tasche. Unter den Schlupflidern waren seine Augen kaum mehr zu sehen. Jakob ging um die Liege herum. Der Rücken des Mannes war stark gekrümmt. Die Hämatome an den Armen verblassten allmählich. Nur die ausrasierten Stellen am Hinterkopf erinnerten noch an seinen Fahrradunfall vor sechs Wochen.

„Also schön, zum Mitschreiben“, begann er, während er seinem Patienten die Hände auf die Schultern legte. „Sie kamen als Deutscher zur Welt – eins. Als junger Mann zogen Sie in die Schweiz, wo man Ihrem Antrag auf Erteilung der eidgenössischen Staatsangehörigkeit stattgab – zwei. Als ...“

„Nicht so schnell!“

„In Ordnung. Wir haben Zeit.“

Jakob verkniff sich ein Grinsen und wartete. Als sein Patient seinen Stift absetzte und erwartungsvoll den Kopf hob, fuhr er fort.

„Als Dozent der deutschsprachigen Prager Universität, die damals unter österreichisch-ungarischer Verwaltung stand, erlangten Sie die österreichische Staatsbürgerschaft – drei. Haben Sie das? Schließlich emigrierten Sie nach der Machtübernahme der Nazis in die USA, wo Sie nach Ihrer Strafausbürgerung durch die deutschen Behörden US-Amerikaner wurden – vier.“

„Strafausbürgerung? Warum denn Strafausbürgerung?“

„Wegen Ihres pazifistischen Engagements und Ihres jüdischen Glaubens.“

„Paziwie ...“

„Pa-zi-fis-tisch. Ihr Einsatz gegen den Krieg.“

„Ach so.“ Der Alte wandte den Kopf. „Und Jude bin ich auch? Interessant. Aber ham die Nazis die Juden nicht alle vergast?“

Einen Moment war es still. Jakob trat zur Seite und beobachtete, wie sein Patient nachdenklich das Notizbuch zuklappte und in die Hosentasche stopfte, sich rücklings auf die Liege legte und die Augen schloss. Sein rechter Mundwinkel zuckte. Möglicherweise war er zu weit gegangen. Zeit für einen Themenwechsel.

„Lassen Sie uns doch von Ihrem Annus mirabilis reden“, schlug er vor.

„Aber der Herr Doktor hat gesagt, dass mit meinem…“

„Nein, nein, nicht Ihr Anus“, unterbrach ihn Jakob, „ich meine Ihr Annus mirabilis, Annus mit Doppel-N, das Wunderjahr, in dem Ihr Genie die Welt revolutionierte.“

Er drückte seinen Patienten, der sich schon wieder halb aufgerichtet hatte und dessen Hand zur Gesäßtasche wanderte, sanft zurück auf die Liege. Aufmunternd lächelte er ihm zu.

„Das brauchen Sie jetzt nicht mitzuschreiben, glauben Sie mir. Das können Sie überall nachlesen.“

Er selbst hatte die Details gestern Abend auswendig gelernt, sodass es ihm jetzt nicht schwerfiel, die Titel jener vier Arbeiten zu referieren, die Einsteins Ruhm begründeten. Dabei ließ er nicht unerwähnt, dass Einsteins Dissertation ganze siebzehn Seiten umfasste und der Nachtrag zu seiner letzten Abhandlung im Wunderjahr die zweifellos berühmteste Formel der Welt – Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat – enthielt, womit es Jakob gelang, den Alten bis zum Ende ihrer Sitzung zu fesseln.

„Dann bin ich also berühmt?“, fragte Einstein, als er schon halb aus der Tür war.

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte Jakob. „Wenn Sie der sind, von dem wir ausgehen, sind Sie nicht nur berühmt, sondern der berühmteste, was sag ich, der bedeutendste Physiker aller Zeiten, kurz: ein Genie.“

***

Als Jakob auf die Straße trat, nieselte es. Einen Augenblick überlegte er, ob er nach Hause laufen oder doch besser die Bahn nehmen sollte. Spontan entschied er sich für einen Umweg durch die Innenstadt, wo die Geschäfte mindestens bis zehn, manche sogar bis Mitternacht geöffnet hatten. Außerdem wartete in seiner Dachwohnung niemand auf ihn.

Er nahm die U5 bis zur Konstablerwache und schlenderte über die Zeil zur Hauptwache. Vor einem Kaufhaus standen zwei Afrikaner auf Kisten und predigten das Evangelium, der eine auf Englisch, der andere auf Deutsch. Während er an ihnen vorbeiging, stellte er sich vor, dass die beiden in Wirklichkeit Schauspieler seien, die ihren einstigen Missionaren den Spiegel vorhielten: Gehet in Euch und sehet, was Ihr aus uns gemacht habt!

Bei diesem Gedanken fiel ihm seine Mutter ein. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen mal wieder bei ihr anzurufen. Seitdem sie in den USA lebte, meldete sie sich verlässlich nur noch an christlichen Feiertagen. Vor zwei Jahren war sie dem Ruf an die Saint Mary’s University of Minnesota, Winona, gefolgt, wo man ihr einen der weltweit ersten Lehrstühle für feministische Geschlechterforschung in der Theologie angeboten hatte. Womit genau sie sich befasste, blieb Jakob ein Rätsel. Aktuell beschäftigte sie sich mit den „Perspektiven für einen genderbewussten Religionsunterricht“, wie sie ihm bei ihrem letzten Telefonat verraten hatte, wobei es um die Überwindung patriarchalischer Herrschaftsstrukturen in Staat und Kirche gehe. Dass ihr Sohn einen typisch weiblichen Beruf ergriffen hatte, schien ihr zu gefallen.

In einem Imbiss aß Jakob eine Currywurst mit Brötchen und beobachtete vom Fenster aus die Passanten. Mehrfach lief eine Frau vorbei, die ihn an eine Schauspielerin erinnerte, deren Name ihm aber partout nicht einfallen wollte. Solche Streiche spielte ihm sein Gedächtnis in letzter Zeit immer öfter. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit mit seinem Kollegen Julian van Dannen darüber zu sprechen, ein Neuropsychologe, der über Déjà-vu, Illusion und Nahtoderfahrung promovierte.

Als der Himmel aufklarte, dachte Jakob kurz daran, doch noch im Bethmannpark vorbeizuschauen, wo Lewandowski wahrscheinlich gerade allein im Karree saß und eine Partie gegen sich selbst spielte. Er sah auf die Uhr. Halb acht. Nein, das lohnte sich nicht. Kurz vor acht würde der Alte seine Thermoskanne in die Plastiktüte packen und heimgehen. Die Tagesschau war ihm heilig. Wenn man die Welt schon nicht zum Guten wenden könne, solle man sich doch wenigstens ihrer bösesten Manifestationen bewusst bleiben und mit deren Opfern leiden.

Jakob zahlte und schlenderte zurück. Die Afrikaner waren fort, ihre Kisten hatten sie mitgenommen. Unschlüssig verlangsamte er seine Schritte. Der Abend in seiner Dachstube würde lang genug werden. Ob er noch einen Abstecher zur Eckkneipe machen sollte? Als er auf das Metropolis zulief, fiel ihm ein, dass heute Kinotag war. Er ging die Treppe hoch, betrachtete die Plakate und wählte kurzentschlossen einen Actionfilm mit Ryan Gosling, den er in Driver gemocht hatte. An der Popcorntheke kaufte er sich ein Bier und einen Kokosriegel und machte es sich auf einem Platz im vorderen Drittel bequem.

Wenn er später jemandem hätte erzählen sollen, worum es in dem Film ging, wäre ihm nur ein Bild eingefallen: Der Held, gestrandet in der Wüste Großstadt, wie er einem Taxi hinterher sah, dessen Fahrtwind eine Zeitung aufwirbelte.

Seine Wohnung lag im sechsten Stock eines Sichtbetonklotzes, der zwar aus den 70er Jahren stammte, allem Anschein nach aber vom Brutalismus inspiriert worden war. Die unverputzte Fassade deutete ebenso darauf hin wie die weithin sichtbaren Abdrücke der ursprünglichen Schalung. Das Mietshaus grenzte an den viel befahrenen Anlagenring. Immerhin war die Miete günstig. Da sich Jakob im Laufe der Jahre an den Lärm gewöhnt hatte, sah er sich schon lange nicht mehr nach einer neuen Bleibe um.

Als er die Wohnungstür aufschloss, war es halb zwölf. Er knipste das Licht an, zog seine Schuhe aus und hängte seinen feuchten Trenchcoat an die Garderobe. Das mittlere der drei Deckchen auf dem Esstisch im Wohnzimmer war verrutscht. Er richtete es aus, zog die Rollos hoch, öffnete beide Gaubenfenster und setzte sich auf sein neues, anthrazitfarbenes Velourssofa. Während der Wind die weißen Vorhänge aufblähte, betrachtete er den gerahmten Druck an der Wand gegenüber, eine Abstraktion der Frankfurter Skyline, die er sich zusammen mit dem Sofa gekauft hatte, ihm jedoch schon nicht mehr gefiel. Die Bücher im Regal hatte er kürzlich nach Farben sortiert. Vielleicht lag es daran.

Nachdem er eine Weile durch die Fernsehprogramme geschaltet hatte, ging er ins Bad und putzte sich die Zähne. Seine Nachtlektüre lag schon bereit. Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hofe des Dalai Lama. An dem jungen Heinrich Harrer würde Herr Gruber seine helle Freude haben. Glaubte man seiner Schwester, war Herr Gruber vor seinem schrecklichen Unfall ein passionierter Wanderer und Kletterer gewesen, der auch vor schwierigen Passagen nicht zurückschreckte. Mit Hilfe des Himmelsstürmers Harrer würde ihm Jakob vielleicht aus jener Einöde heraushelfen können, in der er seit seinem geistigen Absturz festsaß.

3

„Aufstehen, Frühstück!“

Vor ihrem Bett stand eine Frau mit zurückgekämmtem, schwarzem Haar, in dem einige silbrige Strähnen schimmerten. Sie trug einen blauen Kittel, eine blaue Hose und sah sie an, als ob sie sich kannten.

„Penelope?“

Sie rutschte hoch und setzte sich auf. Das Poster an der Wand gegenüber war ihr gestern Abend gar nicht aufgefallen. Ein Sonnenuntergang am Meer.Der Fernseher lief, aber ohne Ton. Ein Zeichentrickfilm. Sie wandte den Kopf. An das Mädchen erinnerte sie sich. Es hatte Kopfhörer auf und starrte auf den Bildschirm.

Die Blaue berührte ihren Arm.

Aufstehen, Frühstück.

Sie schlug die Decke zur Seite und schwang ihre Beine aus dem Bett. Ein jäher Schwindel ließ sie taumeln. Die Schwester fing sie auf.

„Langsam, so eilig haben wir’s nicht.“

Der Boden fühlte sich kalt an. Ihre Füße waren nackt, und sie trug ein Nachthemd. Sie sah sich um. Neben dem Bett stand ein Stuhl, über der Lehne hing eine helle, ärmellose Bluse.

„Wo sind meine Kleider?“, fragte sie und wunderte sich über den heiseren Klang ihrer Stimme.

Die Schwester ging zum Schrank und öffnete ihn. „Ihren Rock finden Sie hier.“ Sie nahm einen Bügel heraus, an dem ein bunt bedruckter Stoff hing. „Ihre Schuhe stehen dort.“ Sie wies ins Innere des Schrankes. „Und Ihre Bluse hängt über dem Stuhl.“

„Aber die Sachen gehören mir nicht.“

„Wollen Sie sie nicht trotzdem probieren? Ich finde sie recht hübsch.“

Die Schwester schloss die Schranktür und kam zurück.

„Ich sehe später wieder nach Ihnen.“ Sie lächelte ihr zu. „Wenn Sie in der Zwischenzeit etwas brauchen, drücken Sie auf den roten Knopf hinter dem Bett.“

Die Tür war noch nicht ganz zu, als ihr Tränen in die Augen schossen. Sie tastete über ihren Hinterkopf. Da sie auf das Pflaster drückte, stach der Schmerz wieder zu. Das Mädchen mit der Puppe hatte auch geweint. Dann war es weggerannt, und an seiner Stelle war der Alte plötzlich dagewesen. Der Alte, genau. Er hatte aus dem Mund gerochen und sie meine Dame genannt. Er hatte den Notarzt gerufen. Kommen Sie schnell! Dann war auch er weg gewesen und dafür der Mann mit der Weste aufgetaucht. Er hatte sie hergebracht.

Sie tastete sich an der Wand entlang zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Als sie hochsah, zuckte sie zurück. Eine junge Frau starrte sie an. Sie trat einen Schritt zurück, und die Frau tat es ihr nach. Sie öffnete den Mund. Die junge Frau bleckte ihre Zähne. Beide wichen sie einen weiteren Schritt zurück. Eine Weile stand sie ganz still. Ruhig sah die junge Frau sie an. Sie war schön. Als sie sich ins Haar griff, fühlte sie es zwischen ihren Fingern, weich und samtig. Sie trat näher und beugte sich zum Spiegel. Ihre Augen waren mandelförmig, ihr Haar dunkel, fast schwarz. Seidig fiel es ihr über die Schulter. So wie sie sie betrachtete, sah sie ein Mädchen in den Augen der Frau.

Plötzlich verschwamm ihr Blick, und ihre Beine begannen zu zittern. Unsicher tastete sie sich zurück zum Bett und hockte sich auf die Kante. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Mit einem Mal fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie wandte den Kopf. Das Mädchen vom Bett gegenüber lächelte sie an.

„Nicht heulen“, flüsterte es, „sonst fang ich gleich auch wieder an.“

Das Mädchen trug ein bauchfreies Shirt und ein winziges Höschen. Ihre kurzen blonden Haare standen nach allen Seiten ab.

„Was ist mit mir?“, flüsterte sie.

„Sie sagen, dass du einen Schlag auf den Kopf gekriegt hast“, antwortete das Mädchen. „Und dass du dein Gedächtnis verloren hast.“

„Mein Gedächtnis verloren?“

„Wenn das stimmt.“

Über den Bildschirm huschten tonlose Bilder. Felder, Wiesen, ein endloser Strom von Menschen, hohe Zäune, Männer in Uniform, ein stumm weinendes Kind.

„Wie heiße ich?“

Sie wusste, dass das die entscheidende Frage war, nur warum, wusste sie nicht.

„Penelope. Wie Penelope Cruz.“ Das Mädchen grinste. „Du weißt schon, die Piratin aus Fluch der Karibik.“

„Fluch der Karibik?“

„Jack Sparrow!“ Das Mädchen sprang auf, tänzelte durchs Zimmer, reckte den Kopf und sah sich hochnäsig nach allen Seiten um. „Schwör ich beim Henker. Ey, Fischfresse! Drinks für alle!“ Als sie sich setzte, grinste sie. „Hallo? Captain Jack Sparrow! Das glaub ich jetzt nicht! Oder willst du mich dissen? Eine Festplatte, die total gecrasht ist – cool!“

Eine Weile schwiegen sie. Währenddessen streichelte das Mädchen ihren Arm.

„Ist vielleicht gar nicht so übel, das meiste hier kannste eh vergessen! Frühstück zum Beispiel, das ist zum ...“ Das Mädchen beugte sich vor und steckte den Finger in den Mund. „Ehrlich jetzt. Gibt aber nichts anderes. Also hau rein.“

Tatsächlich entdeckte sie auf dem Tischchen neben ihrem Bett ein Tablett. Sie öffnete den Deckel. Zwei Scheiben Brot, zwei Scheiben Käse, eine Tomatenscheibe, ein Salatblatt, eine Tasse Tee sowie mehrere Tütchen und Schächtelchen. Verstohlen linste sie zum Mädchen, das sich gerade eine halbe Scheibe Brot in den Mund stopfte, eines der Tütchen aufriss, den Inhalt in die Tasse schüttete und mit dem Löffel umrührte. Sie tat es ihm nach. Das Kreisen des Löffels fühlte sich richtig an. Doch als sie die Tasse zum Mund führte und einen Schluck probierte, spuckte sie ihn angewidert wieder aus.

Das Mädchen kicherte. „Hab ich’s dir nicht gesagt?“

Der Tee schmeckte wirklich eklig. Sie nahm das leere Tütchen. Salz stand darauf und weiter unten Salt. Salt war englisch und ... Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, fragte sie sich, woher sie das wusste. Sie nahm das andere Tütchen. Zucker, Sugar. Sie riss es auf, schüttete den Inhalt in die Tasse und rührte um. Aber das machte es auch nicht besser. Das Mädchen grinste. Offensichtlich beobachtete es sie. Rasch stopfte sie sich eine Käsescheibe in den Mund und legte die andere aufs Brot. Ging doch.

Kurz darauf kam die Schwester zurück und räumte die Tabletts mit den Resten fort. Wenig später klopfte es erneut, und ein Mann im weißen Kittel trat ein. Sie erkannte ihn an seinen roten Haaren und seinen hellblauen Augen.

„Guten Morgen.“

Auch an seine tiefe, grollende Stimme erinnerte sie sich gut, die so gar nicht zu seinem jungen Gesicht passte. Er nickte dem Mädchenkurz zu und trat dann an ihr Bett.

„Wie geht es Ihnen, Penelope? Haben Sie noch Schmerzen?“

Sie schüttelte den Kopf. Keine Schmerzen. Jedenfalls im Moment nicht.

„Das CT war unauffällig“, erklärte der Rothaarige. „Auch die Laborwerte sind okay.“ Er tätschelte ihren Arm. „Können Sie sich inzwischen an irgendetwas erinnern? Nein? Nun, ich würde gern einen Kollegen hinzuziehen. Er ist Neurologe und wird Sie heute Nachmittag besuchen. Bis dahin ruhen Sie sich am besten aus.“

***

„Rauchen Sie?“

Sie schüttelte den Kopf. Vorhin hatte er dieselbe Frage schon einmal gestellt. Er schien ihr nicht zu trauen. Der stechende Blick verriet ihn. Da konnte sein schmallippiger Mund noch so oft lächeln.

„Wie lautet Ihr Nachname?“

Sie zuckte mit den Achseln.

„Wann haben Sie Geburtstag?“

Geburtstag. Das Wort klang bunt. Und fröhlich. Es schmeckte nach Kuchen. Ja. Zum Geburtstag gab es Kuchen. Eine Torte mit Kerzen, die man auspusten musste. Glücklich, dass sie sich wenigstens daran erinnerte, lächelte sie.

„Und?“

Der Neurologe strich sich über sein akkurat gescheiteltes Haar.

„Ich verstehe Ihre Frage nicht.“

„An welchem Tag Sie geboren wurden.“

„Das weiß ich nicht.“

„Und warum grinsen Sie dann?“

„Tu ich gar nicht.“

Der Arzt blätterte in seinen Unterlagen. Dabei rutschte ihm seine Brille auf die Nasenspitze. Genervt schob er das Gestell wieder hoch.

„Haben Sie ein Smartphone?“

Schon wieder so eine Frage, mit der sie nichts anfangen konnte. Sie hob die Schultern.

„Sie wissen es nicht?“

„Nein, ich weiß es nicht“, erwiderte sie eine Spur zu laut. Wie um sie ihrer vorlauten Antwort wegen zu bestrafen, zückte er einen Hammer und begann, damit auf ihr herumzuklopfen. Im ersten Moment war sie so geschockt, dass sie stillhielt. Doch als er eine Nadel aus seinem Mäppchen zog und ihr damit ins Bein stach, verpasste sie ihm eine Ohrfeige.

Einen Moment war es totenstill. Der Neurologe starrte sie verdutzt an, während sie, erschrocken über sich selbst, mit aufgerissenen Augen zurückstarrte. Wortlos schob er die Nadel zurück in sein Mäppchen, verstaute Hämmerchen und Lämpchen in seiner Ledertasche und ging, ohne Kommentar und ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.

Kaum dass die Tür ins Schloss fiel, lachte das Mädchen vom Bett gegenüber auf.

„Voll geil!“, gluckste sie. „Wie der geguckt hat – einfach nur geil! Seine Backe war voll rot! Das gibt bestimmt Ärger.“

Ärger?

Sie sprang auf und rannte zur Tür. Doch der Flur war menschenleer. Sie lauschte. Von irgendwoher drangen leise Stimmen an ihr Ohr. Unschlüssig schlich sie über den Gang. Am Ende öffnete sich eine Glastür. Eine Frau mit Blumenstrauß kam auf sie zu. Sie drehte ihr Gesicht zur Wand und wartete, bis sie vorüber war. Die Frau ging bis zur Tür ihres Zimmers, klopfte und trat ein.

Eine Weile drückte sie sich noch auf dem Gang herum, in der Hoffnung, dass der Arzt zurückkam, damit sie sich bei ihm entschuldigen konnte, aber den Gefallen tat er ihr nicht. Als wenige Meter vor ihr eine Tür aufsprang und eine alte Frau im blaugeblümten Nachthemd in den Flur trat, machte sie kehrt und huschte zu ihrem Zimmer. Bevor sie hineinging, legte sie ein Ohr an das Türblatt. Die Frau und das Mädchen lachten. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und schob die Tür auf.