8,99 €
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Zwischen Tradition und Freiheit.
Bonn, 1912: Caroline, die lebenshungrige Tochter eines angesehenen Professors, wird mit einer Zukunft konfrontiert, die sie sich nie gewünscht hat: Ihr Vater plant ihre Hochzeit mit dem Sohn des Dekans – eine Verbindung, die für ihn Ehre bedeutet, für Caroline jedoch wie ein Gefängnis wirkt. Als der charismatische Cousin Edgar aus Riga zu Besuch kommt, weht ein Hauch von Abenteuer in ihr erstarrtes Leben.
Während Edgar mit seiner ungezähmten Natur alle verzaubert, ahnt Familienpatriarch Heinrich, dass ein gut gehütetes Geheimnis ans Licht kommen könnte – ein Geheimnis, das nicht nur die Zukunft der Familie Eimermacher, sondern auch die Suche der vier Kinder nach Freiheit und Selbstbestimmung gefährdet.
In einer Zeit des Umbruchs müssen sie entscheiden, welchen Preis sie bereit sind, für ihr Glück zu zahlen ...
Ein fesselnder Roman über die Macht der Tradition, den Kampf um Freiheit und Geheimnisse, die alles verändern können.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2024
Zwischen Tradition und Freiheit.
Bonn, 1912: Caroline, die lebenshungrige Tochter eines angesehenen Professors, wird mit einer Zukunft konfrontiert, die sie sich nie gewünscht hat: Ihr Vater plant ihre Hochzeit mit dem Sohn des Dekans – eine Verbindung, die für ihn Ehre bedeutet, für Caroline jedoch wie ein Gefängnis wirkt. Als dann der charismatische Cousin Edgar aus Riga zu Besuch kommt, scheint ein Hauch von Abenteuer in ihr erstarrtes Leben zu wehen.
Während Edgar mit seiner ungezähmten Natur alle verzaubert, ahnt Familienpatriarch Heinrich, dass ein gut gehütetes Geheimnis ans Licht kommen könnte – ein Geheimnis, das nicht nur die Zukunft der Familie Eimermacher, sondern auch die Suche der vier Kinder nach Freiheit und Selbstbestimmung gefährdet.
In einer Zeit des Umbruchs müssen sie entscheiden, welchen Preis sie bereit sind, für ihr Glück zu zahlen.
Ein fesselnder Roman über die Macht der Tradition, den Kampf um Freiheit und die Geheimnisse, die alles verändern könnten.
Fabia Waldner steht für den deutschen Autor Michael Schulz. 1959 im rheinischen Bonn geboren, brennt er bereits früh für Literatur, Philosophie und Musik. Zunächst entscheidet er sich für die Musik. Nach einem Studium am »Mozarteum« in Salzburg führt ihn sein Weg in die Welt der Oper. Doch dann entdeckt er das Schreiben für sich. Heute lebt und schreibt der Autor im Harz bei Goslar.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlage.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Fabia Waldner
Das Magnolienhaus - Der Traum vom Morgen
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Zitat
Widmung
Prolog
Ein Brief vom Ende der Welt
1
2
3
Familiengeheimnisse
4
5
6
7
8
9
Der Herr Cousin
10
11
12
13
14
15
Das Kuckucksei 16
17
18
19
Träume
20
21
22
23
24
Danksagung
Impressum
Buchtipps, die Ihnen ebenfalls gefallen könnten!
2
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
273
274
275
276
277
278
279
280
281
282
283
284
285
286
287
288
289
290
291
Und wenn du den Eindruck hast, dass das Leben ein Theater ist, dann suche dir eine Rolle aus, die dir so richtig Spaß macht.
Shakespeare
Meinem Bonn
Rheinland, Ende September 1974
Caroline genoss die Streicheleinheiten des spätsommerlichen Windes und gab sich dem Gefühl hin, mit dem romantischen Panorama am Ufer des Flusses zu verschmelzen. Sie hatte bewusst den Dienstag für ihre Fahrt gewählt und nicht das Wochenende, an dem sich die Touristen auf den Ausflugsschiffen tummelten und einem die Plätze mit der guten Sicht vor der Nase wegschnappten. Wie immer um diese Jahreszeit unternahm sie eine Rheinfahrt, um die Harmonie aufzusaugen, die das ganze Tal verströmte. Es ging vorbei an den sich herbstlich färbenden Wäldern, dem leuchtenden Rot der Weinberge. Die Hitze des Sommers war überstanden, und die Landschaft verwandelte sich unaufhaltsam. Und wenn der Herbst einzog und sie spürte, dass die Zeitspanne, die ihr noch verblieb, immer kürzer wurde, kamen die Erinnerungen an ihr reiches Leben zurück, an die unbeschwerten Jahre ihrer Kindheit, die mit einem Mal endeten, als … Sie seufzte. Es gab vieles, das sie im Nachhinein anders gemacht hätte.
Dieses Jahr, neunzehnhundertvierundsiebzig, würde sie allerdings als ausgesprochen erfolgreich bezeichnen, auch wenn der Bundeskanzler, auf den so viele ihre Zukunftshoffnungen gesetzt hatten, wegen einer Spionageaffäre hatte den Hut nehmen müssen. Die Frauen dieser Republik waren ihren Zielen jedenfalls nähergekommen. Nicht nur das Kämpfen hatten sie gelernt – das hatten sie bereits in ihrer Jugend –, nein, jetzt begannen sie, das Siegen zu lernen. Und ganz gewiss lagen die Zeiten hinter ihnen, in denen die Männerwelt ihnen die Themen diktiert hatte. Jetzt endlich fielen die Schranken, eine nach der anderen, und Caroline war glücklich, all das noch erleben zu dürfen.
Die ›Goethe‹ legte von Königswinter ab und nahm den Weg stromaufwärts in Richtung Bad Honnef wieder auf. Kraftvoll zogen die Schaufelräder an, und das Schiff glitt gemächlich durch die Fluten. Sie liebte diesen Fluss, er war ihre Heimat, und sie nannte ihn aus vollem Herzen Vater Rhein. Denn nur er war ihr damals geblieben, als Papa sie für immer aus der Familie verstoßen hatte ...
Der Fahrtwind frischte auf, das Pochen und Zischen der Motoren war bis aufs Oberdeck zu hören. Der schwere Geruch von Öl und Schmiere, der aus dem Maschinenraum des alten Fahrgastschiffes drang, erinnerte Caroline an Gottfried, ihren kleinen Bruder. Der große Traum des Nesthäkchens der Familie war es gewesen, zur See zu fahren. Inzwischen lag es Jahrzehnte zurück, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Auch er musste längst im Ruhestand sein. Sie wusste nicht einmal, ob er noch lebte. »Eimermacher & Söhne«, das von ihrem Urgroßvater gegründete Bauunternehmen, gab es längst nicht mehr. Vor Jahren hatte es ein Düsseldorfer Konzern geschluckt. Von der Übernahme hatte man sogar in der Zeitung lesen können. Soviel Caroline wusste, war Almut, ihre ältere Schwester, als letzte Geschäftsführerin finanziell gut aus der Sache herausgekommen. Aber was war aus der kleinen Marie geworden, der jüngsten der drei Schwestern, und der Einzigen, die in die Fußstapfen ihres Vaters hatte treten wollen? Ausgerechnet sie hatte Papa für ungeeignet gehalten und sogar daran zu hindern versucht, ihre heißgeliebte Botanik zu studieren …
In der anderen Fahrrinne kam ihnen jetzt die »Mainz« entgegen, und die Begrüßungssignale der alten Flussmatadore hallten über das ganze Tal, während sie aneinander vorbeizogen. Grafenwerth und Nonnenwerth, die beiden gegenüberliegenden Inseln, waren nicht mehr weit. Caroline nahm wieder auf der Holzbank an der Reling Platz und rückte ihre Brille zurecht. Angeblich hatte Papa mehrmals mit dem Gedanken gespielt, sie in das Franziskanerinnen-Internat auf Nonnenwerth zu stecken, wenn sie über die Stränge geschlagen hatte. Aber Mutter bewahrte sie jedes Mal davor. So behauptete sie es zumindest, vielleicht auch, um ihren Einfluss auf Papa zu betonen und sich ihr gegenüber Respekt zu verschaffen. Heute glaubte Caroline, dass sich Mutter das alles nur ausgedacht hatte, um sie im Zaum zu halten, und selbst Papa hatte wohl niemals beabsichtigt, sie ins Kloster zu schicken. Dass er nicht nur streng, sondern auch grausam sein konnte, bewies er erst später ...
Der junge Mann am anderen Ende der Sitzbank zückte wieder seinen Bleistift und machte sich Notizen in ein Büchlein, das er ab und zu aus der Jackentasche zog. Was es wohl war, das er nicht vergessen wollte? Vielleicht hielt er auch Gedanken und Ideen fest, die er für eine Examensarbeit oder etwas Ähnliches brauchte. Jedenfalls wirkte er jung genug, um ein Student zu sein. Jetzt warf er einen Blick zu ihr herüber und grinste. Ein echtes Kind der Siebziger, dachte Caroline, mit Wuschelkopf, langen Koteletten und Schlaghosen. Sein Erscheinungsbild passte zu dem neuen Lied, das man jetzt überall hörte. »Abba« hieß es, oder war das der Name der Pop-Gruppe, die es auf dem Festival gesungen hatte? – Caroline seufzte. Für solche Sachen war in ihrem Gedächtnis einfach kein Platz mehr.
Offenbar hatte sie ihn zu lange angestarrt, denn der junge Mann erhob sich und kam zu ihr herüber. Wie hatte sie nur so unhöflich sein können? Aber schließlich hätte auch er wegschauen können. Was er wohl von ihr wollte? Die ältere Generation war doch angeblich ein rotes Tuch für die jungen Leute von heute. Und sie zählte bereits zur uralten Generation. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich außer ihr und dem jungen Mann niemand auf dem Vorderdeck befand. Ihr wurde beinahe etwas unheimlich zumute.
»Entschuldigen Sie, ich will Sie nicht stören. Die Gegend ist mir noch fremd, und die Beschreibung aus dem Lautsprecher versteht man kaum. Kennen Sie vielleicht die Namen der sieben Berge?«
Natürlich kannte sie die. Jedem Kind war doch zumindest einer davon geläufig, dachte Caroline. »Haben Sie tatsächlich noch nie vom Drachenfels gehört?«, ließ sie ihrer Verwunderung freien Lauf und bemerkte, dass sie etwas streng klang, obwohl ihr der junge Mann, der sensibel und keineswegs grobschlächtig wirkte, durchaus sympathisch war. Sie hatte nie in das Horn derer gestoßen, die die junge Generation zu kaum mehr fähig hielten als für die freie Liebe und den Konsum von Heroin. Das war nicht ihr Niveau. Aber auch wenn sie von den drastischen Erziehungsmethoden in ihrer Jugend nie viel gehalten hatte, fand sie jetzt, dass es doch niemandem schaden könnte, die Namen berühmter deutscher Berge auswendig zu lernen. Aber sie wollte nicht ungefällig sein, erhob sich von ihrem Platz und stellte sich wieder an die Reling, um ihm die Gegend zu erklären.
»Ich studiere Germanistik in Bonn«, begann der junge Mann zu erzählen, als sie ihre kleine Rundschau beendet hatte. »Und ich habe vor, meinen ersten Roman zu schreiben. Es soll ein historischer Roman werden, der auch im Rheinland spielt.«
»Dann ist eine Besichtigungsfahrt auf der ›Goethe‹ sicher ein vielversprechender Anfang«, erwiderte sie. Das darauf folgende Lachen des jungen Mannes wirkte frei und unbeschwert. Caroline gestand sich ein, dass ihr diese kleine Unterhaltung guttat. Eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Schwätzchen mit dem Zeitungsmann und dem Postboten.
Nachdem sie die Wäscherei aufgegeben hatte, waren auch ihre Kontakte immer weniger geworden, und den meisten trauerte sie nicht nach. Aber in letzter Zeit hatte ihr der Tod auch die Menschen genommen, an denen ihr etwas gelegen war. Letztes Jahr ihre Freundin Annegret, die sie oftmals auf Ausflügen wie diesem begleitet hatte ...
»Zeit für einen Kaffee«, holte sie die Stimme des jungen Schriftstellers aus ihren Gedanken. »Darf ich Ihnen auch eine Tasse mitbringen?«
»O ja, sehr gern.«
Mit zwei ohrenbetäubenden Signalen lief die ›Goethe‹ Bad Honnef an. Vom Vorderdeck aus konnte man bereits einzelne Badegäste in dem langgezogenen Freibad erkennen, dessen Grünflächen bis ans Ufer reichten. Offenbar gab es Hartgesottene, die bis in den Herbst hinein jeden Sonnenstrahl nutzten, um ihre Körper unter freiem Himmel zu trainieren.
Der junge Mann machte einen netten Eindruck. Obwohl sie mit ihrer Rente selbst keine großen Sprünge machen konnte, sollte sie ihm den Kaffee spendieren, dachte Caroline. Studenten waren schließlich immer knapp bei Kasse. Aber da war er bereits im Inneren des Schiffes verschwunden. Kurz darauf kam er mit einem beladenen Tablett zurück. »Nehmen Sie Zucker?«
Diese Zuvorkommenheit hätte sie nicht erwartet. Doch wie viel Zeit verschwendeten die Menschen, um einander das Leben mit Vorurteilen zu erschweren, ging ihr durch den Kopf. Und leider konnte sie sich selbst nicht ganz davon ausnehmen. »Zwei Löffel, bitte«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Es soll also ein historischer Roman werden. Und an welchen Abschnitt der Geschichte haben Sie gedacht?«, fragte sie nicht nur aus Höflichkeit. Sie begann sich wirklich zu interessieren, und ihrem Gegenüber schien das zu gefallen.
»Ich gehe nicht weit zurück, aber doch weit genug, um eine versunkene Welt ans Licht zurückzuholen, von der nur noch wenige etwas wissen wollen.«
»Jetzt machen Sie mich neugierig. Also wovon sprechen wir?«
»Von der Zeit um die Jahrhundertwende, als Deutschland noch einen Kaiser hatte.«
Eine Überraschung. Caroline stockte der Atem, und sie musste sich zusammenreißen, damit ihr freundliches Lächeln nicht in ein mitleidiges umschlug. Wie sollte dieser Grünschnabel, der sein eigenes Leben noch erkundete und nicht einmal den Drachenfels kannte, in der Lage sein, die Kaiserzeit zu verstehen? Sie selbst, die diese wechselvollen Jahre als junge Frau erlebt hatte, würde es nicht wagen, sie zu beurteilen, geschweige ein Buch darüber zu schreiben.
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten«, erklang die Stimme des jungen Mannes plötzlich besorgt.
Offenbar sah man ihr den Schreck an. »Nein, natürlich nicht ...« Aber der Schmerz war unerwartet zurückgekehrt, und Carolines Herz füllte sich mit Scham und Bedauern. Die unabänderlichen Ereignisse von damals traten so plötzlich hervor, als hätte dieser ahnungslose Student eine Tür in ihrer Seele aufgestoßen …
Bonn, Ende März 1912
Ihr Stolz hatte es nicht zugelassen, in Tränen auszubrechen. Was hätte es auch geändert? Niemals würde Papa von seinem Ziel abrücken. Der Preis, eine seiner Töchter ins Unglück zu stürzen, war ihm offenbar nicht zu hoch, um endlich Dekan zu werden. Natürlich durfte Caro es nicht aussprechen, nicht einmal ihren Geschwistern gegenüber. Schließlich war die Wahrheit in diesem Haus verpönt.
»Ich gebe zu, Rudi ist nicht gerade ein Bild von einem Mann …«, kam Papa ihr scheinbar entgegen, um dann seine unmissverständliche Meinung zu verkünden: »Aber auf Äußerlichkeiten gründet man keine Ehe. Er hat ein treues Wesen und bereits eine vielversprechende juristische Laufbahn angetreten. Ich kann mir für meine Tochter keinen besseren Ehegatten vorstellen.« Worauf er sie streng mit dem durch den Zwicker stark vergrößerten rechten Auge musterte, was bedeutete, dass er keinen Widerspruch duldete. »Und du, Caroline, solltest endlich vernünftig werden. Schon als Kind hast du deiner Mutter und mir viel Kummer bereitet, aber Schwamm drüber, du bist erwachsen geworden. Nun verhalte dich auch so, und steh deinem Glück nicht selbst im Weg! Rudolf Frings ist ein wahrer Ehrenmann. Er entstammt einer angesehenen Familie und ist deiner würdig. Wenn du zweifelst, solltest du dir das immer wieder selbst sagen. Nun geh hoch in dein Zimmer und zieh dir ein hübsches Kleid an. Deine Mutter hat Rudi zum Tee geladen. Ich selbst bin leider verhindert.«
»Aber Papa ...«
»Nein, mein Kind. Sag jetzt nichts Falsches und mach dich und deine Eltern nicht unglücklich.« Wie immer ließ er sich auf die Wange küssen und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass es in dieser Angelegenheit keinerlei Worte mehr bedurfte.
Sah so der Anfang und zugleich das Ende ihres Lebens aus? Sollte sie mit ihren gerade einmal neunzehn Jahren bereits Abschied von allen Träumen nehmen? Damit meinte sie nicht unbedingt den, einmal eine große Schauspielerin zu werden. Doch keinesfalls wollte sie ihre Zeit als braves Frauchen an der Seite eines langweiligen Rechtsanwaltes oder eines Dozenten im Wartestand auf den heißersehnten Lehrstuhl verschwenden, nur damit man sie eines Tages Frau Professor nannte wie Mutter. Nein, danke. Nie wollte sie so werden wie Mutter.
Caro schloss vorsichtig die Tür von Papas Allerheiligstem, denn er hasste das Geräusch, wenn man die Tür achtlos ins Schloss warf. Mit gesenktem Kopf eilte sie über die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Niemand sollte sie in diesem Zustand sehen. Verkauft kam sie sich vor, verhökert. Allein die Vorstellung, in der Hochzeitsnacht neben Rudi in einem Ehebett zu liegen und darauf zu warten …
»Pst, Caro. Was hat Papa gesagt?«
Almut hatte natürlich das Knarren der Holzstufen unter Carolines Füßen gehört und die Tür ihres Zimmers einen Spalt geöffnet. Wieder einmal platzte sie vor Neugierde. Aber dahinter steckte kein echtes Mitgefühl. Caroline hatte eher den Verdacht, dass sich ihre ältere Schwester damit tröstete, nicht die einzige Unglückliche in diesem Haus zu sein, wenn auch aus einem anderen Grund. Im Gegensatz zu ihr interessierte sich niemand für sie. Papa wurde sie einfach nicht los, obwohl sie doch nur zu gern einem Mann von Stand eine brave Ehefrau geworden wäre. Sie spielte Klavier, war geschickt in Handarbeiten, sanftmütig und liebenswürdig. Alles das, was eine gute Hausfrau ausmachte und Caro nicht vorweisen konnte ... Vielleicht hatte Opa Kabänes recht: Almut fehle ein bisschen der Schampus im Blut, wie er das ausdrückte. Auch hatte ihre Körperlänge von fast eins neunzig anscheinend so manchen Brautwerber abgeschreckt. Mittlerweile durfte sie nur noch hoffen, eine halbwegs akzeptable Partie abzubekommen.
»Später«, wiegelte Caro ab, aber Almut war ohnehin im Bilde. »Mutter hat gesagt, dass Rudi zum Tee kommt. Vielleicht könntest du ...« Sie sprach nicht zu Ende und wandte sich verlegen ab, aber Caro wusste, was sie sagen wollte. Natürlich würde sie ihren Namen ins Spiel bringen. Aber zu Caros eigenem Bedauern hatte Rudi bislang nicht das mindeste Interesse an Almut gezeigt.
*
Es war nicht so, dass Johannes seine Tochter nicht verstand. Natürlich konnte er nachempfinden, dass sich eine junge Frau wie Caro einen stattlicheren Ehemann als Rudi Frings wünschte. Sie selbst war eine Schönheit, hatte Temperament und Unternehmungsgeist – kein Kunststück, denn sie war nach ihrer Mutter geraten, und sein Tildchen stellte auch nach vier Kindern noch eine Augenweide dar, die ihresgleichen suchte. Im Gegensatz zu dem ruhigen Rudi, für den Witz und Charme Fremdwörter waren und dem das Lachen sichtlich schwerfiel. Hinzu kam dieser unglückselige Reitunfall, seitdem er den linken Fuß etwas nachzog. Aber im Leben gab es nun einmal so etwas wie Fügung, der man sich beugen musste. Hatten sie es nicht alle so erlebt? Nun gut, Johannes selbst gerade nicht. Er hatte mit Fortune die Frau seines Herzens geheiratet und konnte an eine glanzvolle Hochzeit zurückdenken. Aber seine Mathilde, eine geborene Von Fink, hatte sich nicht leicht damit abgefunden, dass das Schicksal ihr keinen Baron oder Grafen zugespielt hatte, sondern einen Bürgerlichen mit dem auf den ersten Eindruck, zugegeben, wenig anziehenden Namen Eimermacher. Dafür war dieser Johannes, den sie von Anfang an mit »Jean« angeredet hatte, immerhin Anwärter auf einen Lehrstuhl und der Sohn eines wohlhabenden Vaters gewesen, und in der Lage, die Schulden ihres Erzeugers von einem auf den anderen Tag aus der Welt zu schaffen.
Wenn man versucht, die Dinge zum Wohle vieler zu lösen, bleiben schmerzliche Kompromisse nicht aus, dachte Johannes. Er erhob sich von seinem ledergepolsterten Schreibtischstuhl und trat an das Fenster seines Arbeitszimmers, das auf den kleinen, aber hübsch angelegten Garten hinausging. Die Knospen an den Sträuchern und Bäumen waren bereits prall, und er freute sich erstmals auf eine möglichst üppige Blüte seiner Magnolia soulangeana, seiner Tulpenmagnolie, ein Geschenk des Kollegen Dr. Malcolm Wright aus den englischen Kolonien für die überaus fruchtbare wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität und seiner Wenigkeit, dem Leiter des botanischen Instituts. Der Setzling war gut angewachsen und hatte bereits einen kräftigen Stamm entwickelt.
Ach was, dachte Johannes, er sollte sich keine weiteren Gedanken machen. Auch ihm wäre es natürlich lieber gewesen, wenn sich Rudi für Almut erwärmen würde, statt sich auf Caroline zu versteifen. Seine Älteste war zwar einen halben Kopf größer als Rudi, passte aber charakterlich sehr gut zu ihm. Bestimmt würde sie ihn nie enttäuschen, während er da bei Caroline keineswegs sicher sein konnte ...
Schon als Kind wollte sie immer etwas anderes als das, was man ihr bot. Sie liebte das Ballett, wollte sich dabei aber so bewegen dürfen, wie ihr zumute war. Der Klavierlehrerin hatte sie einen Schrecken eingejagt, als sie mitten in einer Sonate von Clementi zu spielen aufhörte und den Klavierdeckel zuknallte, worauf Rübe, der Wolfsspitz, schmerzlich aufgeheult und sich für Stunden hinter dem Kachelofen verkrochen hatte. Nicht einmal mit einem getrockneten Schweineohr hatte er sich hervorlocken lassen, und die Klavierlehrerin war dermaßen entsetzt gewesen, dass sie es abgelehnt hatte, Caroline auch nur eine Stunde länger zu unterrichten.
Johannes hatte zunächst über den Vorfall gelacht, sich aber zunehmend Gedanken gemacht, als Caroline nicht viel später in der Schule mit seltsamen Reden auffiel. »Frauen sind dem Manne nicht untertan. Das ist ungerecht!«, sollte sie im Religionsunterricht behauptet haben.
Es sei ein gutes Zeichen, dass seine Tochter ein eigenständiges Bewusstsein entwickle, aber man dürfe es auch nicht übertreiben, hatte Dr. Raddatz, der Schulleiter, ihm am Elternabend vertraulich gesagt, und Johannes hatte Wert darauf gelegt, alle Zweifel daran auszuräumen, in seinem Haus könnte provokantes Gedankengut gepflegt werden. Schließlich waren sie überzeugte Katholiken, und jeder, der wollte, konnte des Sonntags die Familie von Professor Johannes Eimermacher vollständig im Bonner Münster zum Zehn-Uhr-Hochamt antreffen.
Einmal musste doch auch Caroline der Ernst des Lebens einholen, und dass es schmerzlich für sie werden würde, war vorauszusehen, dachte Johannes. Was er Mathilde nicht alles geraten hatte. Sie solle ihre Tochter an die Zügel nehmen, sie zu Hausarrest verdammen, wenn es nicht anders ging, und ihr so die Flausen aus dem Kopf treiben. Aber sein Tildchen war einfach zu gutmütig. Sie hatte nie eingesehen, dass Erziehung manchmal hart sein musste, um die Kinder später vor dem Schlimmsten zu bewahren.
*
Noch bis vor zwei Jahren hatte Mathilde selbst über alle Vorgänge im Haushalt die Kontrolle behalten, die Bestände an Feuerholz, Zucker und Mehl geprüft und das Silber nachgezählt. Doch mittlerweile übernahm die Köchin so manche Aufgabe. Emma war ihre rechte Hand geworden, nahm ihr einfache Entscheidungen ab und wirtschaftete tadellos. Die Einführung eines neuen Stubenmädchens übernahm Mathilde als Dame des Hauses allerdings immer noch persönlich. Auch das niedere Personal sollte schließlich wissen, dass es unmittelbar ihr verantwortlich war und für jede zerschlagene Tasse geradestehen musste. Minchen schien ein anstelliges Ding zu sein. Eine gute Bekannte, mit der sie regelmäßig im Damenkränzchen der Literaturfreunde zusammentraf, hatte ihr die Sechzehnjährige ans Herz gelegt. Sie sei eines von neun Kindern einer Bauernfamilie aus Buschhoven, und ihre Eltern wüssten nicht, wie sie die Mäuler stopfen sollten. Sie sei willig und zuverlässig. Heutzutage musste man ja derartig aufpassen, wen man in sein Haus ließ, dachte Mathilde und schaute dem neuen Stubenmädchen scharf in die Augen. »Nun gut, Minchen, so weit für heute. Melde dich bei der Köchin, ab morgen geht es für dich um halb sechs Uhr los. Mein Mann frühstückt bereits um sieben, und er schätzt Pünktlichkeit sehr.«
»Natürlich, gnädige Frau«, erwiderte Minchen halblaut mit gesenktem Blick.
So war es recht, dachte Mathilde. Lieber zuerst etwas ängstlich als dreist und vorlaut. Sogar einen Knicks brachte die Kleine zustande. Mit einem Kopfnicken deutete Mathilde an, dass Minchen gehen durfte. Sie selbst fühlte sich etwas abgespannt und ließ sich seufzend auf der Biedermeiercouch nieder, das einzige Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern von Wert. In den bald fünfundzwanzig Jahren ihrer Ehe hatte sie nur zwei Mal frisch bezogen werden müssen. Erst kürzlich hatte der Polsterer wieder Hand angelegt, und jetzt glänzte sie in einem seidigen Bleu, was den Neid so einiger Damen aus ihrem Bekanntenkreis hervorgerufen hatte.
Wenn Mathilde es recht bedachte, fehlte es ihr an nichts. Sicher, sie hatte nicht in die Familie einer derer »von und zu« eingeheiratet, wie es ihr sehnlichster Wunsch gewesen war. Schließlich konnte sie als geborene Von Fink selbst eine adlige Herkunft vorweisen, wenn auch erst ihrem Großvater der Titel vom Kaiser verliehen worden war. Letztlich hatte sie es ihrem Vater zu verdanken, der sein Vermögen verspekuliert hatte, dass ihre Möglichkeiten begrenzt ausgefallen waren. Immer wenn Mathilde daran dachte, schmerzte es sie, und ihr wurde gleichzeitig wieder bewusst, dass sie dankbar sein durfte, denn nicht der Hochadel, sondern die Eimermachers hatten sie in letzter Minute mit ihrem Geld gerettet, als ihr Vater beinahe bankrottgegangen wäre. So war es ihr Schicksal, den Namen Eimermacher mit Würde zu tragen, auch wenn es sich manchmal anfühlte wie eine Dornenkrone.
»Möchten gnädige Frau vielleicht einen Kaffee?«
Emma, die gute Seele, stand plötzlich im Salon und sah sie etwas besorgt an. »Nein, danke«, erwiderte sie. »Es kann nicht mehr lange dauern, dann kommt der junge Frings zum Tee. Ich kann nur hoffen ...« Aber Mathilde sprach nicht weiter. Es ging zu weit, ihren Kummer vor der Köchin auszubreiten, obwohl sie vermutete, dass Emma zumindest ahnte, wie sich die Situation zwischen Rudolf Frings und Caro zuspitzte. Mathilde hatte damals für ihren Jean wenigstens etwas empfunden. Er war stattlich, hatte zwar nur wenige Haare auf dem Kopf, dafür aber einen dicken Schnurrbart, wusste sich zu benehmen und brachte wenn nötig ein freundliches Lächeln zustande. Ihre vier Kinder waren nicht nur aus Pflichtübung entstanden, das konnte sie ohne Selbsttäuschung behaupten.
Und Jean hatte sich mit Beharrlichkeit und Fleiß eine Karriere aufgebaut, die ihnen einen beachtlichen Lebensstil ermöglichte. Als Familie bewohnten sie ein Haus in der Argelanderstraße inmitten der Bonner Südstadt, und alle ihrer vier Kinder genossen eine solide Ausbildung. Sie selbst wurde geachtet, als Frau Professor begegnete ihr jedermann zuvorkommend und mit Respekt. – Bis auf einen, der nicht vergessen wollte, wer die Von Finks damals aus dem Sumpf gezogen hatte, und es sie bis heute spüren ließ.
*
Nach der geschäftlichen Besprechung beim Mittagessen verblieb Heinrich Eimermacher noch rund eine Stunde für einen Besuch in der Argelanderstraße, die er bei einer Tasse Kaffee und einem Glas Port im Salon seiner Schwiegertochter Mathilde zu verbringen gedachte. Dann stand erneut eine Baubesichtigung an. Eigentlich sollte sein Sohn Will längst höhere Aufgaben übernommen haben, aber die Kunden verlangten immer noch den alten »Kabänes«, wenn es um die Bauplanung und vor allem um die Finanzierung ihrer Immobilien ging. Das kam nicht von ungefähr, schließlich hatte er, der Senior, die unverzichtbare Erfahrung. Heinrich kannte die Leute, er kannte die Kniffe. Bei nur einem Mittagessen regelte er Dinge, die andere in Wochen nicht auf die Beine stellten. Sein jüngerer Sohn Will war nicht ungeschickt, hatte auch studiert wie sein älterer Bruder und als Diplom–Ingenieur abgeschlossen. Aber um eine Firma zu führen, fehlte ihm das gewisse Etwas im Blut …
»Konrad, lot jonn!«, rief er auf rheinisch dem Kutscher zu. Der wartete, bis er es sich im Abteil bequem gemacht hatte. Dann trieb er die Pferde an, und die Fahrt in die Bonner Stadtmitte begann, eine der letzten, die er auf diese Weise absolvierte.
Es war nur noch eine Frage von Tagen, bis der neue Wagen geliefert würde, das Automobil. Ein Mercedes sollte es sein, mit gesteppten Lederpolstern. Wenn es an ihm läge, hätte er gut und gern noch eine Weile auf die neue Technik verzichtet, dachte Heinrich. Er genoss die kleinen Schaukelpartien auf den Fahrten mit der Kutsche, während der er nachdenken und seine Fäden spinnen konnte. Aber damit war es jetzt vorbei – auch er musste sich anpassen. Wie du kommst gegangen, so wirst du empfangen, das musste auch ein Kabänes Eimermacher respektieren, wenn er im Geschäft bleiben wollte. Da genügte es nicht, auf eine lange Tradition von Steinmetzen hinweisen zu können, die etwas von Qualität verstanden. Immerhin arbeitete sein Vater noch in den Steinbrüchen am Drachenfels, und seine eigenen zerschundenen Hände waren der Beweis, dass er sich selbst vor der Arbeit nicht gedrückt hatte. Worauf er stolz war. Aber die Zeiten änderten sich, und eine schnittige Motorkarosse machte eben weit mehr her als ein Gespann mit zwei in die Jahre gekommenen PS.
Mit den Pferden würde auch Konrad, sein alter Wegbegleiter, abtreten, und die zunehmende Arthrose in seinen Gelenken gemahnte Heinrich, dass die Zeit auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen war. Umso mehr beunruhigte ihn, dass sein Sohn Will bislang nicht das nötige Geschick entwickelt hatte, um »Eimermacher & Söhne« weiter auf Erfolgskurs zu halten. Wie würde es weitergehen, fragte er sich, wenn er demnächst die Radieschen von unten sähe und Will ihn nicht mehr als letzte Rettung ins Feld führen konnte?
Unweit vom Botanischen Institut, das sein ältester Sohn Johannes leitete, bogen sie in die Poppelsdorfer Allee ein. Heinrich hätte lieber seinen Ältesten in der Firma gesehen, aber »Hänschen«, wie ihn seine Mutter heute noch nannte, wollte unbedingt studieren, und auch noch ausgerechnet Pflanzenkunde. Als er es ihm damals gesagt hatte, wäre Heinrich vor Lachen fast geplatzt. Aber sein Sohn meinte es im vollen Ernst, und sie hatten deswegen viel gestritten. Am Ende ließ Heinrich ihm seinen Willen. Schließlich setzte er selbst für die Herren Professoren stattliche Villen auf die grüne Wiese.
Mit der Zeit hatte sich Heinrich an den Gedanken gewöhnt, er oder zumindest sein Sohn könnte eines Tages dieser Gesellschaft angehören, und das bewog ihn, quasi in Hänschen zu investieren und ihn in eine aussichtsreiche Stellung zu bringen. Angefangen hatte es mit dem Doktortitel. Um nichts dem Zufall zu überlassen, hatte Heinrich einen Pavillon in den Garten der Villa von Hänschens Doktorvater gesetzt, natürlich zum Vorzugspreis. Im Rennen um die Habilitation war ihm dann der finanzielle Engpass eines Beamten in der kaiserlichen Bewilligungskommission zu Pass gekommen, der sich bei seinem privaten Hausbau übernommen hatte. Die Firma Eimermacher & Söhne war eingesprungen und hatte die Arbeiten für die Hälfte des Preises fertiggestellt. So war aus seinem Sohn Hänschen Eimermacher der Leiter des Botanischen Instituts geworden: Professor Doktor rer nat Johannes Eimermacher. Sein Meisterstück!
Caro schämte sich. Anstatt sich eine kluge Strategie auszudenken, hatte sie in ihre Kissen geheult. Es war bereits nach halb vier am Nachmittag – gerade einmal eine Viertelstunde blieb ihr noch Zeit, dann würde sich Rudi Frings die Ehre geben. Dass er zur Teestunde pünktlich erscheinen würde, damit war fest zu rechnen. Nicht eine Minute seiner Gegenwart würde er ihr ersparen. Und Mutter gab natürlich die Anstandsdame. Aber nicht etwa, um darüber zu wachen, dass Rudi nicht über die Stränge schlug. Das war kaum anzunehmen. Sie würde anwesend sein, um die Konversation nicht einschlafen zu lassen, was bedeutete, dass sie selbst den überwiegenden Teil bestritt. Doch vor allem ging es Mutter darum, Rudi vor ihr zu beschützen. Und das war nicht ganz unberechtigt, denn längst schon verspürte Caro den Drang, sich unmissverständlich zu äußern. Nur um Mutter zu schonen, hatte sie sich bislang nicht dazu hinreißen lassen.
Das erneute Zusammentreffen mit Rudi Frings hatte Papa sogar bewogen, ihr ein neues Kleid zu spendieren. Das Prachtstück hing im Schrank, einem französischen Modell nachempfunden, so die Schneiderin. Ein Kleid mit Schick, oder jedenfalls dem, was sich Papa unter Schick vorstellte. Er hatte es ihr bewilligt, obwohl Almut an der Reihe gewesen wäre, und Caro hätte es ihr gern gegönnt ... Doch sie hatte nicht gewagt abzulehnen, auch wenn sie dieser Pariser Schick von gestern mindestens zehn Jahre älter und aus ihrem Dekolletee ein Schaufenster machte. Wie ein Petit Four, ein appetitliches Törtchen, sah sie darin aus, und Rudi würde das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aber sie wollte kein Törtchen sein, für niemanden – wutentbrannt setzte sie sich in ihrem Bett auf. Und wie ein Blitz kam ihr im selben Augenblick eine Idee. Was wäre, wenn sie heute nicht dieses Kleid trug, sondern ein anderes, ein ganz anderes ...
Während sich Caro umzog, war bereits das Getrappel von Pferdehufen vor dem Haus und das »Ho!« des Kutschers zu hören. Wenig später ertönte die Glocke an der großen Tür. Sie schob die Gardine ihres Fensters ein Stück beiseite. Dieser Mann war noch pünktlicher als pünktlich. Ein Grund mehr, sich nicht zu beeilen, dachte Caro. Sie war fast fertig, schlüpfte jetzt jedoch genüsslich langsam in die Stiefeletten aus weichem, schwarzem Rehleder. Sie würde sich Zeit nehmen für ihren Auftritt. Und sie stellte sich vor, wie er ablaufen könnte: Mutter und Rudi würden bereits am Tisch sitzen, wenn sie den Salon betrat … Allein bei der Vorstellung, dass ihnen bei Caros Anblick vor Schreck die Teetassen aus den Händen fielen, entfuhr ihr ein spöttisches Kichern. Etwas Sorge machte sie sich allerdings wegen Mutter. Der Schock könnte ihrem schwachen Herzen zusetzen. Aber schließlich hatte sie es nicht anders gewollt. Wie Papa war sie ihr gegenüber gnadenlos. Warum also sollte sie gnädig sein?
Es klopfte an die Zimmertür. Hoffentlich nicht Mutter, dachte Caro. Wenn sie sie jetzt sehen würde, wäre ihr schöner Plan hinüber.
»Ich bin`s, Marie«, zischte ihre kleine Schwester vom Flur aus. »Rudi ist da. Sie erwarten dich im Gartensalon, soll ich dir von Mutter ausrichten!«
Caro entspannte sich. »Komm rein«, erwiderte sie und warf erneut einen Blick in den Spiegel. Von Marie hatte sie nichts zu befürchten. Sie mochten sich, und Caro tat es gut, die Bewunderung ihrer kleinen Schwester zu spüren. In gewisser Weise ähnelten sie einander sogar. Marie war zwar zart und empfindlich – die leiseste Zugluft konnte ihr eine Bronchitis bescheren –, aber auch sie wusste, was sie wollte, und konnte sehr hartnäckig sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
»Was ist denn … das?«
Die Überraschung war gelungen. Caro hatte sich vor dem Spiegel in Pose geworfen und lachte lauthals, als Marie, die soeben die Tür hinter sich geschlossen hatte, vor Staunen erstarrte. Caro konnte es kaum erwarten, unten im Salon eine ähnliche Wirkung hervorzurufen. Dann hätte sie gewonnen. Und sie brauchte sich nicht einmal vorwerfen zu lassen, dass sie es darauf abgesehen habe, Rudi zu schockieren. Nein, auch dieses Kleid war die Kopie eines Modells aus Frankreich. Vita von Heymann, Mutters langjährige Freundin, hatte es ihr in der Garderobe auf einer ihrer Modesoireen gezeigt, und Caro hatte so lange gebettelt, bis Vita es ihr unter der Voraussetzung überlassen hatte, es keinesfalls öffentlich zu tragen. Die Zeit für diese Mode würde kommen, aber jetzt könne man noch seinen Ruf damit ruinieren.
Nach wie vor standen Caro und Marie wie gebannt vor dem Spiegel und konnten sich von dem Anblick kaum losreißen. Aber die Zeit drängte. Als Caro das Treppenhaus betrat, atmete sie noch einmal tief durch, denn sie konnte sicher sein, dem kurzen Triumph würde das unvermeidliche Donnerwetter folgen.
*
Mathilde öffnete die Haustür, und vor ihr stand Rudolf Frings, der ihr Schwiegersohn werden wollte. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie von diesem Mann noch keine rechte Vorstellung hatte. Und dabei war es längst geboten, sich zu überlegen, was sie von ihm halten sollte, schließlich würden Jean und sie ihm in Kürze ihre Tochter anvertrauen. Also betrachtete sie ihn, als wäre es das erste Mal. Rudi, der auf die dreißig zuging, bot kaum mehr als eine gepflegte Erscheinung, und sein unverbindliches Lächeln verriet nie, ob es aufgesetzt war oder echte Freundlichkeit dahintersteckte, geschweige denn, dass man ahnen konnte, ob er einen mochte oder nicht. Sein Äußeres war weder anziehend noch abstoßend, er war weder groß noch klein, dick noch dünn. Lediglich der Schmiss quer über seine linke Gesichtshälfte verlieh ihm im Profil eine gewisse grimmige Entschlossenheit.
Da er einen halben Kopf kleiner war als sie, beugte sie sich ein wenig zu ihm hinab und deutete links und rechts einen Begrüßungskuss an, worauf er selbst kaum reagierte, denn seine Hände waren nicht leer. In der einen hielt er einen großen Umschlag aus Pappmaschee, der wie eine Zeichenmappe aussah, in der anderen einen Blumenstrauß.
»Bitte erlauben Sie mir, Ihnen einen kleinen Frühlingsgruß zu überreichen, liebe Frau Eimermacher. Die Tulpen sind aus dem Garten meines Großvaters, der dort über Jahre eine bemerkenswerte Zucht aufgebaut hat«, begrüßte er sie, während die lange Narbe auf seiner linken Wange im Schein der Sonne glänzte.
»Oh, wie hübsch. Ich danke Ihnen vielmals«, erwiderte Mathilde etwas übertrieben entzückt und gab den Frühlingsstrauß an Emma weiter. »Stell die Blumen von Herrn Frings in die gute China-Vase und bring sie in den Salon, damit auch Caroline ihre Freude daran hat. Auch sie mag Tulpen ganz besonders gern.«
»Oh, wenn ich gewusst hätte ...«
»Aber wie ich sehe, haben Sie auch für Caro ein Geschenk mitgebracht.«
»Ja, es soll eine Überraschung sein.«
Er wird doch nicht etwa selbst zum Pinsel gegriffen haben?, dachte Mathilde und schalt sich sofort, solch ungehörige Gedanken zu hegen. Nein, Rudi hatte es nicht verdient, verspottet zu werden. Es wäre auch das erste Eigene, was er von sich preisgab. Das müsste man würdigen. Wenn sie recht überlegte, fand sie ihn sogar auf eine ganz eigene Weise liebenswürdig. Nur was genau sie liebenswürdig fand, hätte sie in dem Augenblick nicht in Worte fassen können. »Bitte kommen Sie doch. Heute ist das Wetter gnädig, und man kann bereits im Wintergarten sitzen, ohne zu frieren.«
Die Sonnenstrahlen tanzten über die Wände, während sie den Salon betraten, an den sich der gläserne Vorbau anschloss. Emma war ihnen vorausgeeilt, und die gefüllten weißen Tulpen schmückten bereits den runden Tisch, auf dem gleich Tee in hauchdünnem japanischen Porzellan serviert würde, ein Geschenk von Dekan Frings zu Jeans Ernennung zum Institutsleiter. Frings Junior sollte wissen, wie sehr sie schätzten, was ihnen aus dem Hause seines Vaters zuteilwurde. Mathilde ließ ihn einen Stuhl wählen und platzierte sich dann ihm gegenüber, sodass sich Caro in jedem Fall neben ihn setzen musste. Sie hob den Blick. Emma war bereit, den Tee zu servieren. Nur Caro ließ auf sich warten.
Nachdem sich Mathilde bei Rudi ausführlich nach dem werten Befinden seines Herrn Vaters erkundigt hatte, wurde sie allmählich ungeduldig. Soeben wollte sie Minchen in den oberen Stock entsenden, um Caroline auszurichten, dass sie dringend im Salon erwartet würde, als sich die Klinke der Tür langsam nach unten bewegte und jemand ins Zimmer trat, der … Aber das war ja ... und dann in dieser abscheulichen Aufmachung …
Das verflixte Kind wusste natürlich genau, was es tat. Der Blutdruck sprengte Mathilde fast den Schädel, aber sie brachte kein Wort heraus, nur den Namen ihrer Tochter stellte sie als Zeichen höchster Verwirrung in den Raum: »Caro?«
Ihre törichte Tochter schien sich nicht einmal ein bisschen zu genieren, so zügellos zu erscheinen. Dieses Oberteil, das wie zufällig um Hals und Brust geworfen wirkte und ahnen ließ, dass darunter … einfach abstoßend, so etwas. Und der Rock hing ihr wie eine Bahn Fahnenstoff einfach von den Hüften herab, ohne Korsett, ohne Form. Dazu schwarze Stiefelletten – wie eine Räuberbraut sah sie aus …
Unschwer, ihre Absicht zu durchschauen, dachte Mathilde. Dieses listige Ding hatte offenbar vor, Rudi Frings derartig vor den Kopf zu stoßen, dass er sich endgültig von ihr abwendete. Und wie es aussah, hatte sie ihr Ziel erreicht. Rudi hatte es schier aus dem Stuhl gerissen. Auch er konnte anscheinend nicht fassen, was er vor sich sah, hielt beide Hände vor den Mund, um zu verhindern, etwas Unbedachtes zu sagen. Und die Augen der Siegerin glänzten vor Schadenfreude.
Mathilde war immer noch sprachlos, ihre Gedanken flatterten hilflos hin und her. Rudi Frings hingegen legte plötzlich ein merkwürdiges Verhalten an den Tag. Er nahm die Hände vom Mund, machte einige Schritte auf Caroline zu, umrundete sie neugierig und betrachtete ihr Äußeres anscheinend mit großem Interesse.
»Fraulein Caro … Ich muss schon sagen … Ich bin überwältigt«, kam jetzt voll Ehrfurcht über seine schmalen Lippen. »Dieser Mut, anders zu sein. Ich habe bereits von der neuesten Entwicklung in der Mode gehört und gelesen. Aber ich hätte nie geglaubt, dass es jemand wagen würde ...«
Mathilde konnte kaum fassen, was sie da hörte. Offensichtlich hatte sie diesen Rudi Frings unterschätzt. Zumindest hätte sie ihm nie zugetraut, sich für Mode zu interessieren. Und Caro?
Das spöttische Grinsen im Gesicht ihrer Tochter wirkte plötzlich wie eingefroren, worauf sich der Ausdruck des Triumphs in Sekundenschnelle in ein Bild der abgrundtiefen Enttäuschung verwandelte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Plan, ihre Mutter vor dem jungen Herrn Frings zu düpieren, war somit nicht aufgegangen. Na warte, Früchtchen, dachte Mathilde, wenn ich das deinem Vater erzähle. Sie hatte Mühe, nicht aus der Rolle zu fallen. In diesem Augenblick erschien Emma im Salon und verkündete: »Herr Eimermacher Senior ist soeben eingetroffen, gnädige Frau.«
*