Das Magnolienhaus - Flügel der Freiheit - Fabia Waldner - E-Book
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Das Magnolienhaus - Flügel der Freiheit E-Book

Fabia Waldner

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Beschreibung

Zwischen Träumen und Hoffnung.

Berlin 1912. Caroline ist der Familie entflohen und entschlossen, sich in der schillernden Reichsmetropole den Traum ihres Lebens zu erfüllen. Sie will zum Film und eine zweite Asta Nielsen werden. Zunächst sieht alles rosig für sie aus, doch dann zeigt ihr das Schicksal seine dunkle Seite und stellt sie in den Straßen Berlins vor unerwartete Herausforderungen …

Unterdessen ahnt ihre Familie am malerischen Rhein nichts von ihrem Elend. Ihre Schwester Almut hingegen scheint das große Los gezogen zu haben: Sie heiratet Edgar und genießt anfangs das Glück einer jungen Ehe. Doch schon bald zerbricht der Schein des perfekten Lebens, und der Ehefrieden wird auf eine harte Probe gestellt. Das Glück, das einst so greifbar schien, rückt für alle in weite Ferne.

Werden die Schatten der Vergangenheit und die Stürme der Gegenwart die Familie auseinanderreißen?

Während die Welt um sie herum ins Wanken gerät, entfaltet sich ein Drama von Geheimnissen und unvorhergesehenen Wendungen.

Zweiter Teil der mitreißenden Familiensaga, die jeden in ihren Bann zieht.

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Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Zwischen Träumen und Hoffnung.

Berlin 1912. Caroline ist der Familie entflohen und entschlossen, sich in der schillernden Reichsmetropole den Traum ihres Lebens zu erfüllen. Sie will zum Film und eine zweite Asta Nielsen werden. Zunächst sieht alles rosig für sie aus, doch dann zeigt ihr das Schicksal seine dunkle Seite und stellt sie in den Straßen Berlins vor unerwartete Herausforderungen …

Unterdessen ahnt ihre Familie am malerischen Rhein nichts von ihrem Elend. Ihre Schwester Almut hingegen scheint das große Los gezogen zu haben: Sie heiratet Edgar und genießt anfangs das Glück einer jungen Ehe. Doch schon bald zerbricht der Schein des perfekten Lebens, und der Ehefrieden wird auf eine harte Probe gestellt. Das Glück, das einst so greifbar schien, rückt für alle in weite Ferne.

Werden die Schatten der Vergangenheit und die Stürme der Gegenwart die Familie auseinanderreißen?

Während die Welt um sie herum ins Wanken gerät, entfaltet sich ein Drama von Geheimnissen und unvorhergesehenen Wendungen.

Zweiter Teil der mitreißenden Familiensaga, die jeden in ihren Bann zieht.

Über Fabia Waldner

Fabia Waldner steht für den deutschen Autor Michael Schulz. 1959 im rheinischen Bonn geboren, brennt er bereits früh für Literatur, Philosophie und Musik. Zunächst entscheidet er sich für die Musik. Nach einem Studium am »Mozarteum« in Salzburg führt ihn sein Weg in die Welt der Oper. Doch dann entdeckt er das Schreiben für sich. Heute lebt und schreibt der Autor im Harz bei Goslar. 

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Fabia Waldner

Das Magnolienhaus - Flügel der Freiheit

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zitat

Widmung

Prolog

Berliner Pflanze

1

2

3

4

5

Begegnungen

6

7

8

9

10

11

Der große Knall

12

13

14

15

Mit anderen Augen

16

17

18

19

20

Aussichten

21

23

24

Danksagung:

Impressum

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Familiensaga

Prolog

Bonn, Mitte Dezember 1974

Ausgerechnet heute war ein widerspenstiger Tag, dachte Caroline. Es nieselte, und der Himmel wirkte bedrohlich, wo sie doch ohnehin voller Angst und Selbstvorwürfe steckte. Dies waren falsche Gefühle, das wusste sie, und dennoch hatte sie sich davon in all den Jahren nicht freimachen können. Vielleicht war sie Frederik deshalb so bereitwillig entgegengekommen, als er ihr vorschlug, ihr Elternhaus aufzusuchen, um endlich damit aufzuräumen. Auch ihre Sorge, man könne sie erkennen, war überflüssig. Sie war über achtzig, eine alte Frau, hinter der man die lebenshungrige Caroline von einst kaum noch vermuten konnte.

Nur noch wenige Schritte. Sie warf einen Blick auf die umliegenden Häuser der Argelanderstraße, die alle ein ähnliches Schicksal verband. Die Aura von Feierlichkeit und Eleganz, die diese Straße einst umgab, war verflogen und einer Atmosphäre von Stillstand und Vergänglichkeit gewichen. Im Gegensatz zur Altstadt hatte dieser Stadtteil von Bonn zwar auch den zweiten Krieg fast unbeschadet überstanden, aber seine Zeit war vorbei. Die Fassaden waren ergraut, und über die ausgetretenen Stufen der ehemaligen Lieferanteneingänge breitete sich Moos aus.

Auch die alte Kastanie vor dem Haus stand noch. Kahl und knorrig reckte sie sich gegen den finsteren Himmel. Von ihrem Zimmer aus war dieser Baum das Erste, was sie gesehen hatte, wenn sie morgens aus dem Fenster sah. Caroline hielt inne, worauf Frederik ihre Hand drückte, um ihr Mut zu machen. Er hatte versprochen, ihr beizustehen, wenn sie plötzlich die Kräfte verlassen sollten, weil sie den Anblick nicht ertragen konnte. »Mach dir keine Sorgen«, hatte er ihr noch versichert, als sie aus seinem kleinen Käfer gestiegen waren. »Es liegt schließlich ganz in meinem Interesse, dir dabei zu helfen, dich deiner Vergangenheit zu stellen. Wie sollte ich sonst mit meinem Romanprojekt vorankommen, wenn ich dich nicht hätte?«

Sie schmunzelte. Frederik hatte ja recht, es blieb ihr nicht mehr viel Zeit, ihre Welt zu ordnen, bevor sie die Augen für immer schloss. Offenbar kannte er sich in der Südstadt gut aus und hatte den Wagen unweit vom Haus ihrer Eltern geparkt, obwohl sie ihm nie die Hausnummer verraten hatte. Oder war ihr das nur wieder entfallen? In letzter Zeit konnte sie ihrem Gedächtnis nicht mehr so recht trauen. Allerdings wusste sie noch ganz sicher, dass sie in einem ihrer Gespräche zugegeben hatte, wie sehr es ihr nach Jahrzehnten immer noch zusetzte, von der Familie ausgeschlossen zu sein und sich wie eine Verstoßene zu fühlen. Erst mit ihm könne sie frei darüber reden, ohne in Tränen auszubrechen, hatte sie Frederik eingestanden. Sie sei längst nicht so stark gewesen, wie sie es sich selbst und anderen vorgemacht habe, doch sie sei standhaft geblieben und nicht zu Kreuze gekrochen. »Deshalb fällt es mir auch so schwer, diesem Haus wieder zu begegnen, verstehst du?« Doch wie sollte er? Er hatte die Zeiten nun einmal nicht miterlebt. »Es ist ein Gefühl, als müsste ich meinem Vater persönlich gegenübertreten, um mich für mein Leben zu rechtfertigen. Aber das muss ich nicht, denn es ist mein Leben, und ich kann stolz darauf sein.«

Nun war der Moment gekommen. Caroline spürte den aufgeregten Schlag ihres Herzens. Sie hob den Blick. Das Haus ihrer Kindheit. Alles, was sie sah, entsprach noch ihrer Erinnerung. Der schmale Vorgarten, vom Bürgersteig abgegrenzt durch einen schmiedeeisernen, mit spitzen Enden bewehrten Zaun, an dem seitlich durch das Tor der Weg zum Eingang führte und vor der Haustür aus Eichenholz endete. Papa hatte die goldbraune Farbe, in der sie gebeizt war, einmal mit der von Waldhonig verglichen. Auch die doppelten Fenster waren anscheinend die von damals, im Erdgeschoss hingen sogar noch die alten Läden in ihren Angeln. Allerdings hatte der Putz stark gelitten, und die Stuckatur im obersten Stock war abgebröckelt. Im Haus schien sich niemand aufzuhalten; obwohl der Tag düster war, brannte kein Licht hinter den Gardinen.

Caroline fragte sich, ob das Haus wohl noch im Besitz der Familie war. Almut, ihre ältere Schwester, die noch darin gewohnt hatte, war inzwischen verstorben. Sie hatte es in der Zeitung gelesen, fast eine ganze Seite hatten die Beileidsbekundungen ausgefüllt. Immerhin hatte Almut es weit gebracht, sie war eine der wenigen Frauen ihrer Generation gewesen, die man als Unternehmerin anerkannt und allgemein geschätzt hatte. Wenn Caroline an sie dachte, fiel ihr allerdings zuerst die unglückliche junge Frau ein, die sich vor nichts mehr gefürchtet hatte, als ihr Leben als alte Jungfer fristen zu müssen. Und dann war für sie die überraschende Wendung gekommen ... Wahrscheinlich hatte Almut das Haus an ihre Nachfahren vererbt, oder aber ihre gemeinsamen Geschwister Marie oder Gottfried lebten noch hier. Die beiden waren ja einige Jahre jünger als sie.

Plötzlich ging hinter einem der Fenster das Licht an, im kleinen Salon gleich neben der Haustür, in dem Opa Kabänes damals Port getrunken und seine dicken Zigarren geraucht hatte, wenn er auf einen Sprung vorbeigekommen war. Bis in den Wintergarten konnte man es immer riechen, wenn er der Familie seines ältesten Sohnes einen Besuch abstattete.

Hinter der Gardine ließ sich ein Schatten erkennen. Ein Schreck durchfuhr Caroline, und sie wandte den Blick ab. Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie selbst war damals aus diesem Gefängnis geflohen, während Mutter bleiben musste. Nie würde sie den Morgen vergessen, an dem sie sich von ihr verabschiedet hatte, nicht ahnend, dass es ein Abschied für immer sein würde. Und erst viel später hatte sie erkannt, dass Mutter für sie das Äußerste getan hatte, was ihr möglich gewesen war. Carolines Lippen bebten bei dem Gedanken. Es war höchste Zeit, ihr Grab noch einmal zu besuchen. Zusammen mit Papa ruhte sie unter einer gravierten Sandsteinplatte auf dem alten Friedhof. Nur wenige Male und immer nur kurz war Caroline dort gewesen, weil sie befürchtete, dass sie, die Verstoßene, einem Mitglied der Familie begegnen könnte.

Unterdessen schnürte der Regen so fein wie die Rille einer alten Schellackplatte, und eine Melodie kam ihr in den Sinn, die sie, als sie damals diesem Haus den Rücken kehrte, niemals wieder hatte hören wollen: Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst ...

In Carolines Vorstellung stand wieder Mutter in ihrem eng geschnürten violetten Kleid an der Tür und winkte ihr mit dem Taschentuch zu. Dieses Bild hatte sich ihr damals nur wenige Sekunden aus dem Rückfenster des Mercedes geboten, und doch war es, solange sie lebte, in ihrem Gedächtnis verhaftet geblieben. An die Fahrt nach Bad Honnef konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber dass Vita sie bei der Ankunft in ihrer überschwänglichen Art in die Arme genommen und geküsst hatte. »Wenn du glaubst, es geht nicht mehr … Ich bin zwar auf dem Sprung an die türkische Ägais, mein Schatz. Aber wenn ich helfen muss, stehe ich natürlich zur Verfügung. Ich habe Freunde in Berlin, und niemand wird dich finden, wenn du es nicht willst«, hatte sie ihr noch am gleichen Abend Mut gemacht. Es klang alles so einfach, und dennoch konnte Caroline sich nicht freuen. Das schlechte Gewissen folgte ihr überallhin, sie war einem ständigen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Doch Vita erwies sich als beste Freundin. »Deine Mutter hat mir alles erzählt«, sagte sie. »Und ich bin ganz ihrer Meinung, dass du besser den Kopf freibekommen solltest, als in das nächste Missgeschick hineinzustolpern.«

»Das klingt aber gar nicht nach Mutter. Sie steht fest an Papas Seite, und wenn es nach den beiden geht, dann soll ich nach wie vor Rudi heiraten«, entgegnete sie.

»Aber was erwartest du? Natürlich muss deine Mutter so handeln, wie sie handelt. Eine gute Ehefrau steht immer zu ihrem Mann, und Mathilde nimmt ihre Pflichten sehr ernst. Ich glaube, sie hat recht, wenn sie sagt, dass Edgar nach einer Heirat so wie jeder andere Mann von dir erwarten würde, sich seinen Zielen unterzuordnen, auch wenn er zuvor ganz anders redet.«

Caroline musste ihr betreten zustimmen. Weswegen war sie schließlich hier?

Am nächsten Tag brachen sie früh auf, um in Mainz verschiedene Einkäufe zu erledigen. Karl-Heinz, Vitas schweigsamer Freund, der offenbar vollkommen damit zufrieden war, ihnen gefällig zu sein, begleitete sie überallhin und trug die vielen kleinen und größeren Pakete mit einem Lächeln. Vita war unermüdlich, immer wieder fielen ihr Sachen ein, die man unbedingt haben müsse, sonst sei man dort unten im Süden völlig aufgeschmissen. Aber auch Caroline gegenüber erwies sie sich als großzügig.

Nach dem Abendessen zogen sie sich in den großen Salon zurück, von dem aus man, wie aus fast allen Räumen in diesem herrlichen Haus, einen unbeschreiblichen Blick ins romantische Rheintal hatte. Vita ließ eine weitere Flasche ihres geliebten Champagners kommen, und Karl-Heinz öffnete den Bücherschrank, um ihm ein großes Album zu entnehmen, das er auf den kleinen runden Marmortisch legte, an dem sie Platz genommen hatten.

Caroline platzte fast vor Neugierde, doch Vita hob zuerst ihr Glas. »Bevor wir unserer kleinen Ausreißerin einen Einblick in ihre neue Welt gewähren, stoßen wir an auf die Freiheit. Für sie lohnt sich jeder Kampf.«

Die Gläser klangen, dann schlug sie die erste Seite des Albums auf. Ältere und ganz neue Fotos von Berlin und Umgebung. Eine Augenweide. Vita mit Sonnenschirm im Park von Schloss Charlottenburg, Vita untergehakt bei Freunden auf der Moltkebrücke, in Heldenpose an der Siegessäule, eingerahmt von einer Menschenmenge vor dem Brandenburger Tor … Caroline war begeistert. Sie wusste genau, dass auch sie diese Stadt lieben würde.

»Am besten versteckt man sich da, wo viele Leute sind«, sagte Vita und drückte ihre Hand. Offenbar hatte sie bemerkt, dass sie dieser Anblick nicht nur begeisterte, sondern auch einschüchterte. »Und glaub mir, auf meine Freunde ist Verlass. Ich verspreche dir, sie werden dich vergöttern und dich hüten wie ihren Augapfel.«

Vita hatte sie in den drei Tagen ihre Verzweiflung fast vergessen lassen. Erst als Caroline im Zugabteil saß und Richtung Hannover rollte, wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass sie mit nicht einmal zwanzig ganz auf sich allein gestellt war ...

Berliner Pflanze

1

Berlin, Mai 1912

»Nur nich bange machen lassen, mein Frollein«, sprach Caro jetzt ein Mann an, der als Einziger mit ihr im Abteil verblieben war. »Ihnen wird schon nüscht passieren. Der Berliner is besser als sein Ruf. Er kann sogar freundlich sein, wenn et nich anders jeht.« Worauf er schmunzelnd seinen Hut lupfte, den er eben erst aufgesetzt hatte, offenbar, um sich vorzustellen.

In dem Moment ruckelte der Zug, und die Bremsen quietschten ohrenbetäubend, sodass sie die folgenden Worte nicht verstand. Der Bahnhof Charlottenburg konnte nicht mehr weit sein.

Sicher wollte der Mann nicht unhöflich sein, dachte sie, aber anscheinend sah man ihr an, dass sie sich sorgte und die letzten Nächte kaum geschlafen hatte. Was sollten Vitas Freunde nur denken, wenn sie sich so abgespannt dort vorstellen würde? Es sollte schließlich ein Neuanfang werden. Entschlossen erhob sie sich, um nach ihrem Mantel zu greifen. Aber der Zug ruckelte wieder, und sie musste sich an der ausgestreckten Hand ihres Mitreisenden festhalten, um nicht haltlos zurück in den Sitz zu plumpsen.

»Nich so eilig! Gleich sind wa da. Eine der schönsten Ecken von Groß-Berlin. Wenn Se da unterjekommen sind, könn’ Se von Glück reden. Wo werden dit gnädige Fräulein denn residieren, wenn ick fragen darf?«

»In der Fasanenstraße«, gab sie zurück. Offenbar handelte es sich um eine recht ordentliche Adresse, denn ihr Gegenüber schien Respekt zu bekommen.

»Ui, na kiek ma eener an. Gleich so hoch hinaus. Vielleicht läuft man sich ja übern Weg. Hab dort öfter mal zu tun«, erwiderte er und nahm sie einen Moment lang schärfer in den Blick, was sie fast etwas anzüglich fand. Doch dann fragte er sie ganz höflich: »Darf ick Ihnen vielleicht mit dem Gepäck helfen?« Und da niemand sonst zur Verfügung stand, war Caro einverstanden.

Als der Zug endlich zum Stehen kam, herrschte drinnen und draußen dichtes Gedränge, und Caro war froh, dass sich jemand um sie kümmerte. Endlich konnten sie den Zug verlassen. Als erstes stellte sie fest, dass es auch auf diesem Bahnhof nach Ruß und Kohlenstaub stank, da änderte auch der berühmte Marsch vom Duft der Berliner Luft nichts daran. Als sich ihr Kavalier verabschiedet hatte, nicht ohne ihr seine Visitenkarte in die Hand gedrückt zu haben, hielt Caro Ausschau. Angeblich hatte Vita mit ihren Freunden abgesprochen, dass zumindest einer von beiden sie vom Bahnhof abholte. Aber wie sollte sie ihn erkennen, sie kannte ja nur die Namen. An dem Abend in der Villa Heymann hatte ihr Vita zwar Fotos von allen Ecken Berlins gezeigt, nur die Bilder, auf denen ihre Freunde zu sehen waren, hatte sie verlegt, und obwohl Karl-Heinz in allen Schränken und Kommoden danach gesucht hatte, waren sie nicht auffindbar gewesen.

Plötzlich stand ein Mann in kariertem Anzug und mit wilder Frisur, die man als genial oder auch einfach nur unordentlich beschreiben konnte, vor Caro. Seine Augen blitzten sie neugierig an. »Du bist bestimmt Caroline, nach der Beschreibung, die mir ein Vögelchen zugezwitschert hat«, sagte er mit einem Augenzwinkern.

Hier schien man nicht viele Sperenzchen zu machen, wenn man sich fremden Leuten vorstellte, dachte sie. Jedenfalls gefiel ihr seine lockere Art, und sie lächelte zurück.

Dass er Manieren hatte, bewies er gleich anschließend mit einem Handkuss, den er trotz des Gedränges formvollendet ausführte. »Ich bin Max, und meinen Freund Kees wirst du kennenlernen, wenn wir zu Hause sind. Er konnte nicht mitkommen, weil Seppl krank ist und Bogdan sich vermutlich angesteckt hat. Sicher hast du dafür Verständnis. Er durfte die beiden schließlich nicht allein lassen.«

»Ja, natürlich«, erwiderte Caro, allerdings wurde ihr mulmig zumute. An der ganzen Sache gab es offenbar einen Haken. Ein Vier-Männer-Haushalt und sie als einzige Frau? – Ihr schwante nichts Gutes. Sie sollten sich nur nicht einbilden, dass sie den Haushalt führte und für sie kochte. Erstens konnte sie gar nicht kochen – bestenfalls das, was sie in den Kursen für höhere Töchter gelernt und größtenteils wieder vergessen hatte. Und zweitens stand ihr keineswegs der Sinn danach, von morgens bis abends zu putzen und aufzuräumen und dafür zu sorgen, dass das Essen für vier unersättliche Mäuler rechtzeitig auf dem Tisch stand. Das fing ja gut an.

Max nahm ihr Gepäck und führte sie aus der Halle, wo sie unter freiem Himmel endlich aufatmen konnte. Im selben Moment rollte eine Limousine mit Chauffeur auf sie zu.

»Da ist er ja«, rief Max, und als der Wagen zum Stehen kam und ihre Utensilien verstaut waren, öffnete er den Schlag und forderte Caro mit einer Verbeugung auf, einzusteigen. »Es soll für dich eine Fahrt ins Glück werden«, fügte er noch mit einem strahlenden Lächeln hinzu.

Er war liebenswürdig, dieser Max, aber Caro traute ihm nicht recht über den Weg, obwohl sie sich auf Vita verlassen konnte. Sie würde doch ihre liebe kleine Freundin, wie sie sie einmal genannt hatte, nie unseriösen Händen überlassen. Und schon begann die Fahrt durch eine großzügige Allee, und Caro vergaß ihre eigenen Gedanken, hatte gar nicht genug Augen für alle Eindrücke, die sich ihren Blicken boten.

»Es gibt noch viel mehr zu sehen, und wie Vita mir am Telefon erzählt hat, bleibst du länger als ein paar Tage. Natürlich nur, wenn es dir bei uns gefällt. Dann liegt dir die ganze Stadt zu Füßen, und du kannst dir alles in Ruhe ansehen. Und ich kenne da jemanden, der sich bestens auskennt und es lieben würde, dich zu begleiten.«

»Ja, natürlich, gern ...« Wie Caro seinem Zwinkern entnehmen konnte, meinte er mit diesem Jemand sich selbst.

»Allein in der Fasanenstraße findest du allerhand, was sich anzuschauen lohnt, und ein großes Kino wird auch gebaut. Es nennt sich ›Marmorhaus‹ und ist bald fertig. Und wenn du einen Fluss vermissen solltest: Gleich um die Ecke gibt es Ersatz. Er kann sich zwar nicht mit dem Rhein messen, aber für uns Berliner ist und bleibt die Spree der schönste Fluss der Welt. Und sollte man anderer Meinung sein, was ja gestattet ist, dann lässt sich eins jedenfalls nicht abstreiten ...« Max wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wenn die Titanic ihre Jungfernfahrt auf der Spree gemacht hätte, wären bestimmt alle mit dem Leben davongekommen.«

Beide lachten sie. Aber er war noch nicht fertig mit seiner kleinen Rundschau.

»Und das ist der Kurfürstendamm. Hier investieren die besseren Damen das Vermögen ihrer schwer arbeitenden Ehemänner in Pelze, Haute Couture und Parfums. Der Berliner sagt nur Ku’damm, denn er liebt die Kürze. So wie unser Kaiser, den kennst du ja. Steigt schließlich in Bonn öfter ab, Wilhelm Zwo, unser prachtliebender Reisekaiser. Er hat aber auch gute Seiten, kann wirklich spendabel sein, so wie seine Guste. Wir hätten nur die Hälfte der Kirchen in Groß-Berlin, wenn die Kaiserin nicht wäre. Fragt sich nur, wozu es gut sein soll.« Woraufhin er ihr wieder zuzwinkerte.

Caros Gedanken kreisten allerdings eher um ihre Garderobe als um Wilhelm Zwo. Wie sollte sie nur mit den zwei, drei Kleidern zurechtkommen, die Vita ihr gekauft hatte? Doch irgendwie musste es gehen. Wie hieß es doch so schön: Jeder nach seiner Fasson. Und wenn alle Stricke reißen sollten, hatte sie eine letzte Trumpfkarte. Auch das Modell aus Paris, mit dem sie Rudi schockieren wollte, befand sich in ihrem Gepäck. Im schillernden Berlin könnte sie damit vielleicht Erfolg haben …

»Und unsere Perle Schloss Charlottenburg nicht zu vergessen. Es gibt Leute, die finden es viel charmanter als den protzigen Stadtpalast. Aber Kunststück, es ist ja auch für eine Frau gebaut worden. Und wenn du frische Luft über alles liebst, kannst du im Tiergarten stundenlang auf und ab spazieren. Apropos Tiere. Ich hoffe, dass du keine Angst vor wilden Tieren hast ... Ah, da sind wir ja schon.« Und wieder das Zwinkern.

Was dieser Max wohl im Schilde führte, fragte sich Caro. Doch näher in Augenschein genommen, passte er durchaus zum Ku’damm. Gepflegte Hände mit manikürten Fingernägeln, gehüllt in edlen Zwirn, vermutlich Maßanzug, die Schuhe aus feinstem Glanzleder – an dem ganzen Mann fand sich kein Stäubchen. Auch das passte nicht in ihr Bild. Wenn sie ein Dienstmädchen suchten, dann würde sie der Herr des Hauses wohl kaum persönlich vom Bahnhof abholen. Der Wagen hielt vor einer prachtvollen Häuserreihe. Max stieg aus und sprach mit dem Fahrer. »Danke, Söder, Sie können Pause machen. Ich brauche sie erst wieder am Nachmittag.«

Die Limousine war also kein Taxi, dachte Caro. Dieser Männerwirtschaft in der Fasanenstraße schien es offenbar an nichts zu fehlen.

Vor ihnen erhob sich die helle, reichlich verzierte Fassade eines vierstöckigen Stadthauses mit hohen Fenstern und einem beinahe herrschaftlichen, überdachten Portal. Davor ragten zwei ausladende Lindenbäume in frischem Maigrün in den Himmel.

Max setzte die beiden Reisetaschen ab und suchte in seinen Anzugtaschen, fand aber offenbar nicht, was er suchte. »Verflixt«, murmelte er, »habe wieder mal meine Schlüssel vergessen. Dann müssen wir eben klingeln. Hoffentlich macht Kees auf. Er öffnet niemandem mehr, der nicht angemeldet ist. Meistens sind es Hausierer und Schnorrer, die es so versuchen, und die wird man dann nicht mehr los. Schon gar nicht, wenn man ein so großes Herz hat wie Kees.«

Er wollte gerade den Messingknopf neben dem Namensschild Tisch & Vansanden drücken, als sich die Tür von selbst öffnete. »Typisch Max. Alles muss man ihm hinterhertragen«, ertönte eine Stimme mit weiblichem Timbre, die zu einer mittelgroßen Gestalt in buntem, exotisch wirkendem Pufferhemd und engen Hosen gehörte. Die Haare waren strahlend hellblond, das Gesicht weiß geschminkt und die Lippen glänzten, aber es war ein Mann. Er musterte Caro unverhohlen. »Du bist also das Provinzei vom Rhein, das eine Berliner Pflanze werden will. Kein ganz einfaches Unterfangen, aber nicht unmöglich. Ich bin Kees, die Nummer zwei hier in diesem Haushalt, und ich werde dir nach Kräften dabei helfen.«

Er lachte laut und herzlich, sodass Caro sich erst gar nicht von seiner Direktheit pikiert fühlte. Sie hätte ihm auch gern die Hand gegeben, doch die war besetzt. Auf seinen Armen trug er ein röchelndes, faltiges Häuflein Elend, das Ähnlichkeit mit einem Mops aufwies. Seine Schnauze glänzte feucht, und mit triefenden Augen warf er Caro einen Blick zu, als setzte er alles daran, ihr Mitleid zu erringen. »Wir werden uns später umarmen, Kleines, Seppl hat sich nämlich etwas eingefangen, und das Fieber steigt. Ich warte auf den Doktor. Hoffentlich ...« In Kees große blaue Augen schossen Tränen, und er hörte nicht auf, sein Sorgenkind zu streicheln.

Sie hatten kaum den mit reichlich Stuck ausgestatteten Hausflur betreten, da kam ihnen aus der Wohnungstür eine jüngere und schlankere Version von Seppl entgegen. Er wirkte schüchtern und schien sich erst nicht zu trauen, doch dann lief er auf Caro zu und beschnupperte neugierig ihre Schuhe. Offenbar war er begeistert, denn sein Hinterteil begann vor Begeisterung zu tanzen, und er juchzte, dass es im ganzen Treppenhaus zu hören war. »Volltreffer, Bogdan mag dich. Er gewöhnt sich nämlich nur langsam an Fremde, musst du wissen. Aber du scheinst sein Herz im Sturm erobert zu haben«, sagte Max zu Caro und drängte sie und Kees in die Wohnung, wo er zunächst das Gepäck absetzte.

»Ich soll also nicht ...«, entfuhr es ihr, als sie im blumenschmückten Entree stehen blieb.

»Was sollst du nicht?« Max sah sie verblüfft an.

Worauf Caro einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Es musste die Angst vor dem Neuen gewesen sein, die ihr diese Gedanken in den Kopf gesetzt hatten. Es stimmte zwar, dass sie in einem Vier-Männer-Haushalt gelandet war, aber völlig anders als gedacht. »Na, kochen und waschen ...«

Doch Max hatte längst begriffen. »Warum eigentlich nicht?«, trieb er seinen Schabernack mit ihr und zwinkerte diesmal Kees zu. »Wenn ich es recht bedenke, könnten wir Verstärkung in der Küche gebrauchen. – Doch komm erst mal herein und schau dich um. Ich hoffe, es gefällt dir bei uns. Die Wohnung soll auch dein Zuhause sein, solange du magst«, sagte Max, und Kees nickte beifällig. Seppl hingegen schaute sie schmerzvoll an, während aus seinem Bauch unheimliche Geräusche hervordrangen.

»Ich zeige dir dein Zimmer, und wenn du dich ausgeruht und frisch gemacht hast, dann trinken wir Tee im Salon und bereden alles, was wichtig ist«, sagte Max und hob das Gepäck wieder an.

Caros Zimmer lag am Ende eines langen Flurs. Auf zwei Salons folgten das Büro von Max und schließlich die Schlafräume. Die Küche und zwei Personalräume befanden sich einen halben Stock tiefer, sie waren über eine schmale Wendeltreppe zu erreichen.

Max öffnete die Tür und breitete die Arme aus. »Das ist nun dein Reich«, sagte er feierlich und stellte das Gepäck vor dem Kleiderschrank ab. »Ich hoffe, dass es dir gefällt und du dich wohlfühlst. Aber bitte lass nie die Tür offen stehen. Unsere kleinen Bestien sind neugierig und kennen keinen Anstand. Mit Genuss würden sie das Gepäck einer so hübschen und wohlriechenden jungen Dame durchwühlen.«

Caro erinnerte sich an Rübe, den Hund ihrer Kindheit. Mutter hatte bei Strafe verboten, dass er sich auf ihre Betten setzte, was ihn selbst allerdings kaum davon abhielt.

»Das Haus ist noch nicht so alt, weißt du, deshalb hat jedes Schlafzimmer ein Bad. Und ich habe sie bei Einzug mit Delfter Fliesen ausstatten lassen. Ich hoffe, es gefällt dir.«

Sie nickte nur.

»Na, dann bis gleich.« Und mit einem Lächeln zog sich Max zurück.

Ihr fehlten die Worte. Es war einfach nur himmlisch. Ein Traumzimmer wie für eine Lady, begeisterte sich Caro. Ausgesuchte Möbel und kostbares Interieur, an den Wänden Plakate von Kunstausstellungen und Filmpremieren. Wer wohl der große Sammler von beiden war? Kees, der selbst eine exzentrische Figur aus einem Film hätte sein können, oder Max mit der Ausstrahlung eines Intellektuellen?

Sie öffnete das breite Flügelfenster zur Straße, reckte sich und hätte am liebsten hinausgeschrien: »Ich, Caroline Eimermacher, bin jetzt da, wo ich hingehöre. Aber ich will nicht brav sein!« Stattdessen ließ sie nur ein helles, ausgelassenes Lachen erschallen, sodass eine in Nerz gehüllte Dame mit strengem Blick, die am Haus vorbeiging, stehen blieb und vom Trottoir aus verwundert zu ihr hochschaute. Dann aber lächelte auch sie und setzte ihren Weg in Richtung Ku’damm fort.

Caro wandte sich ab, öffnete die Reisetaschen und räumte die Wäsche in den Schrank. Als sie das Bad betrat, blieb ihr zum zweiten Mal die Luft weg. »Ja, ich mag das«, rutschte es ihr als verspätete Antwort auf Max’ Frage heraus. Die Wände waren bis unter die Decke mit Delfter Kacheln in blau-weiß mit Motiven aus der Seefahrt bedeckt, wie auch die Badewanne. Sie würde sich hier unbeschreiblich wohlfühlen, das wusste sie schon jetzt. Und für ein heißes Bad war bereits alles vorbereitet. Sogar Rosenblätter standen neben der Wanne in einer Glasschale bereit.

Eine Stunde später verließ Caro mit leicht geröteten Wangen ihr Zimmer und wurde bereits erwartet. Bogdan hatte vor ihrer Tür gelegen und umschwänzelte sie übermütig, als sie auf den Flur trat. Er konnte sich kaum beruhigen, bis sie sich zu ihm hinabbeugte und ihn streichelte. Da bemerkte sie den hellen Schein am anderen Ende des Flurs. »Wir sind hier, Caro!«, rief eine Stimme. »Der Tee steht bereit.«

In dem Augenblick erreichte ihre Nase ein ganz besonderes Aroma. In dieser Wohnung war einfach alles außergewöhnlich, dachte sie, und als sie den Salon betreten wollte, raubte ihr der erste Anblick fast den Atem. Allein der Kronleuchter aus rot-weißem Glas war ungewöhnlich, und erst die fantastischen Muster der Orientteppiche, die nicht wie üblich auf dem Boden lagen, sondern an den Wänden hingen. Kees, der sich umgezogen und den Stil gewechselt hatte, saß im Schneidersitz wie ein türkischer Derwisch hinter etlichem Teegeschirr auf dem Parkettboden, daneben Max, und auf einer karierten Decke, wie sie die Schotten haben, lag Seppl, der laut schnarchend seine Influenza ausschlief.

Max machte eine Geste, die als Einladung zu verstehen war, und Caro setzte sich auf ein dreieckiges Seidenkissen, worauf ihr Kees eine fast durchsichtige Tasse mit einer goldbraunen Flüssigkeit reichte. »Es ist Tee aus China, wir haben ihn aus Kanton mitgebracht, als wir vor zwei Jahren dort waren«, erklärte Max. »Er ist wunderbar aromatisch, nahezu von seidigem Geschmack, und nicht zu vergleichen mit dem, was man hier als Tee bezeichnet.« Er erhob noch einmal feierlich die Stimme: »Trinken wir diesen edlen Tropfen also auf eine unvergleichliche gemeinsame Zeit und darauf, dass Kees und ich endlich eine Frau gefunden haben, die zu uns passt.« Er prostete ihnen mit seiner Tasse zu, als wäre sie ein Glas Champagner.

»Auf uns«, erwiderte auch Kees, und Caro schloss sich mit einem Lächeln an.

2

Ende Mai desselben Jahres im Haus der Eimermachers in der Bonner Südstadt.

Ihre Familie glich einem Trümmerhaufen. Dieser Gedanke ging Mathilde immer wieder durch den Kopf, und sie selbst war nicht unschuldig an der Situation. Nicht nur, dass die Familie seit Caros Verschwinden nicht mehr vollzählig war, auch das Vertrauensverhältnis zu Jean, ihrem Mann, den sie in ihrer über zwei Jahrzehnten dauernden Ehe nie hintergangen hatte, war nun zerstört. Sie habe Caro nach all den wirren Ereignissen erlaubt, bei Vita eine kleine Auszeit zu nehmen. Wer könne denn ahnen, dass sie ohne ein Wort von der Bildfläche verschwinden würde, hatte sie sich Jean gegenüber herausgeredet. Das Gegenteil war der Fall gewesen – sie hatte es Caro zwar nicht geraten, aber nahegelegt, und ihr sogar ein paar Scheine aus der Haushaltskasse in die Hand gedrückt, die ihr dann fehlten. Später hatte sie Ausflüchte suchen müssen, um zu begründen, dass der Speiseplan recht kärglich ausgefallen war.

Sie hätte wissen müssen, dass sie damit vor allem Jean traf, und es hatte ihn sehr mitgenommen. Nachts sprach er im Traum und schwitzte oft, als schmore er in der Hölle. Natürlich erklärte sich leicht, woher das rührte. Frings war empört gewesen, als Jean ihm eröffnete, dass aus der Hochzeit zwischen Rudi und Caro nichts würde. Frings war so empört gewesen, dass er seine Contenance, wohl auch seinen Gerechtigkeitssinn verloren und Jean in einer anderen Angelegenheit vor den Kollegen in ungebührlicher Weise heruntergeputzt hatte. Die Nachfolge im Amt des Dekans konnte er nun vergessen. Das alles hatte ihn sehr verletzt und sein Ehrgefühl zutiefst gekränkt.

Rudi hingegen, der über die unselige Entwicklung offenbar von seinem Vater unterrichtet worden war, akzeptierte die endgültige Niederlage und schrieb aus Oxford einen ernüchterten, aber keinesfalls rachedurstigen Brief, der mit den Worten endete: Ich wünsche Caro, dass sie vom Leben erhält, was ihren Vorstellungen entspricht und das ich ihr offenbar nicht geben kann.

Mathilde seufzte. Sie trug zweifellos einen Teil der Schuld, aber bei Weitem nicht die ganze. Alles hatte schließlich damit begonnen, dass sich dieser Edgar bei ihnen eingenistet und die ganze Familie aufgemischt hatte. Und ihr war von Anfang an klar gewesen, dass es ihm allein darum ging, sich einzuschmeicheln, um bei nächstbester Gelegenheit Einfluss auf das Geschäft zu nehmen und nach dem Vermögen der Eimermachers zu greifen. Sie hatte Jean gewarnt, aber er war ja ganz vernarrt gewesen in diesen Habenichts mit der goldenen Stimme ...

Die Tür zum großen Salon öffnete sich, und Minchen kam in frisch gestärkter Schürze herein. »Darf ich der gnädigen Frau etwas zu trinken bringen?«, fragte sie und zeigte ihr unschuldiges Lächeln. Wie lange ihr das in dieser verdorbenen Welt wohl noch erhalten bleiben würde, fragte sich Mathilde und seufzte ein weiteres Mal. »Wie spät ist es denn, mein Kind?«

»Gleich halb fünf, gnädige Frau.«

»Na, dann ist es Zeit für einen Kaffee, und ein Glas Kirschlikör könnte auch nicht schaden.«

»Selbstverständlich, gnädige Frau.«

Die Sonne hatte sich den ganzen Nachmittag über gehalten und den Wintergarten erwärmt. Mathilde hatte ihre Mittagsruhe diesmal im großen Salon gehalten. Seit über einer Stunde war sie jetzt allein im Haus, abgesehen vom Personal natürlich. Jean war an der Uni beschäftigt, Marie und Gottfried trafen sich mit Freundinnen und Freunden, und Almut und Edgar probten im Pfarrhaus der Stiftskirche für ein neues Oratorium. Es war bemerkenswert, wie zielstrebig Almut die Gelegenheit nutzte, sich jetzt den Mann zu angeln, den sie an Caro schon verloren geglaubt hatte. Für sie hatte sich das Blatt gewendet, denn auch Edgar schien nicht abgeneigt zu sein. So schnell, wie dieser mit Caros Verschwinden fertig geworden war, sah es allerdings fast so aus, als hätte er von Anfang an ganz bewusst mit beiden geflirtet, um nicht ohne Ersatz dazustehen, wenn eine von ihnen aus irgendwelchen Gründen ausfiel, dachte Mathilde.

Für Jean war es offenbar eine Erleichterung, dass sich Edgar so ohne Weiteres mit Almut tröstete. Von der anfänglichen Freundlichkeit und väterlichen Zuneigung, die Jean seinem Neffen entgegengebracht hatte, war jedoch nichts mehr zu spüren. Mathilde schien es fast, als wäre dieses Wohlwollen einem tiefen Misstrauen gewichen, und sie hatte den Verdacht, dass Edgar etwas gegen Jean in der Hand hatte, das ihm beinahe jeden Wunsch erfüllte. Davon hatte Jean ihr allerdings nichts erzählt. Als Mathilde aus dem Fenster sah, fiel ihr Blick auf den kleinen Magnolienbaum, den Jean wie seinen Augapfel hütete. Sie erinnerte sich an eine Begebenheit mit ihrem Vater, als sie noch ein Kind gewesen war. Während eines Sonntagsspaziergangs waren sie an einem solchen Baum vorbeigekommen, über und über mit diesen herrlichen Blüten behangen. Vater war stehen geblieben und hatte ihr erklärt: »Das ist ein Seelenbaum, mein Kind. Jede gute Seele darf einmal in einer solchen Blüte wohnen als Belohnung für ihre guten Taten.«

Und immer, wenn die Magnolien blühten, fragte sich Mathilde, ob auch sie eines Tages in einer solchen Blüte wohnen würde.

*

In den letzten Tagen hatte sich Johannes abgeschlagen und ohne inneren Antrieb gefühlt. Bereits morgens beim Frühstück verspürte er keinen Appetit und begann seine Arbeit in einem Zustand der Kraftlosigkeit. Selbst seine geliebten Vorlesungen am Institut, die Mittelpunkt seines Schaffens waren und die er zumeist mit Elan und Humor gestaltete, las er trocken vom Blatt ab und war erleichtert, wenn er sie hinter sich gebracht hatte. In ihm war ein Feuer erloschen, ohne dass er diesen lähmenden Zustand ändern konnte. Johannes wusste auch um die Gründe, ja, er sah ein, dass er selbst zu dieser Situation beigetragen hatte. Sein ganzer schöner Plan war ihm aus den Händen geglitten. Hätte er darauf verzichtet, Edgar im Kreis der Familie aufzunehmen, wäre alles wie vorbestimmt abgelaufen. Caroline hätte Rudi geheiratet, und er selbst wäre Dekan geworden.

Doch Edgar, dem er aus Sympathie – und sicher auch Bewunderung – so großzügig entgegengekommen war, hatte sich als skrupelloser Machtstratege erwiesen. Die Tatsache, dass er jetzt wieder an Almut starkes Interesse zeigte, empfand selbst Johannes, der seine Karriere ebenfalls bewusst geplant hatte, als schamloses Kalkül. Edgar war die Trauer, seine Geliebte verloren zu haben, nicht anzumerken. Bereits am nächsten Tag hatte er sich wieder Almut zugewandt, als wäre die Angelegenheit mit Caroline nur ein belangloses Intermezzo gewesen. Und doch würde er nicht Nein sagen, wenn Edgar um Almuts Hand anhielt, das musste sich Johannes eingestehen.

Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Nur noch wenige Minuten, und Minchen würde zum Abendbrot läuten. Nachdem er im Arbeitszimmer seine Korrekturen beendet und die Kappe auf seinen Füllfederhalten gesteckt hatte, war er hinter dem Schreibtisch sitzen geblieben und hatte sich seinen quälenden Gedanken ergeben.

Kaum zu glauben, dass diese verheerenden Entwicklungen das Ergebnis von nur wenigen Wochen waren. Johannes empfand nahezu körperliche Schmerzen, wenn er an den Moment zurückdachte, als er dem Dekan eingestehen musste, dass seine Tochter schlichtweg von der Bildfläche verschwunden war und sich damit die Verlobung in Luft aufgelöst hatte. Frings hatte laut gelacht, als er das vernahm, und »Du machst wohl Scherze« erwidert. Doch dann war ihm der Ernst der Lage sehr wohl bewusst geworden. Und er brauchte ihm nicht näher zu erläutern, welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde. Sie hatten eine klare Vereinbarung getroffen. Rudi sollte Caroline heiraten. Im Gegenzug würde er, Johannes, Dekan werden, als berufliche Erfüllung seiner späten Jahre und verdiente Anerkennung seiner Leistungen. Stattdessen hatte er seine Ehre verloren. Sein eigenes Kind hatte ihn im Stich gelassen. Noch schlimmer war, dass sich Mathilde, sein Tildchen, offenbar an der Misere beteiligt hatte. »Und warum hast du sie ausgerechnet zu dieser Von Heymann geschickt? Du weißt doch, was ich von ihr halte. Selbst hat sie keine Kinder, mischt sich aber ungefragt in die Familienangelegenheiten anderer ein«, hatte er sich verärgert ihr gegenüber geäußert.

»Ich als Mutter, mein lieber Jean, habe die Pflicht, mich um die Gesundheit meiner Kinder zu sorgen«, war ihm Mathilde allerdings eine Entgegnung nicht schuldig geblieben. »Caro ging es in letzter Zeit nicht gut. Sie ist ja ganz mit den Nerven runter. Da habe ich eine Ortsveränderung für das Beste gehalten.«

Doch er hatte Mathilde kein Wort geglaubt und sah sich darin bestätigt, als es nach Carolines Abreise öfter Eintopf gegeben hatte, als es ihm lieb gewesen war. Entweder hatte sich seine Tochter selbst aus der Haushaltskasse bedient, dann handelte es sich um frechen Diebstahl, oder aber ihre Mutter hatte ihr etwas zugesteckt.

»Du kannst sie suchen lassen«, hatte Mathilde später versucht, die Situation zu erklären, als feststand, dass seine Tochter Reißaus genommen hatte. »Aber Berlin ist riesig. Ich bin davon überzeugt, dass sie von selbst zurückkommen wird. Das Kind ist verwirrt und braucht Abstand zu den Dingen. Bitte hab etwas Verständnis, sie ist doch noch so jung.«

Johannes hatte sich vor Wut selbst nicht wiedererkannt, als er sich das anhören musste. Nein, er hatte kein Verständnis. Das Erste, was ein anständiger Mensch in seinem Leben lernte, war, sein gegebenes Wort zu halten. Ein Mensch ohne Ehre war kein Mensch. Wieder wurde Johannes schmerzlich bewusst, dass ihn Weiberintrigen zu Fall gebracht hatten und er zudem wehrlos zusehen musste, wie ein Frechdachs namens Edgar alles an sich riss, ohne dass er selbst dagegen einschreiten konnte, wenn er nicht wollte, dass ein Skandal die ganze Familie unglücklich machte.

*

Almut hatte eine beruhigende Wirkung auf Edgar, und wenn er Caro auch vermisste, wie er keine Frau bislang vermisst hatte, so war er doch davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war, in Kürze um Almuts Hand anzuhalten. Er liebte sie nicht, und auch sein körperliches Begehren nach ihr hielt sich in Grenzen. Aber waren das nicht ohnehin Kategorien, die sich eher störend auf eine Verbindung auswirkten? Wenn er etwas aus der kurzen Liaison mit Caro gelernt hatte, dann war es, sich nicht von seinen Gefühlen hinreißen zu lassen. Auch wenn ihre Seelen zu verschmelzen schienen und ihre Körper gut zueinander gepasst hatten, so war Caros Anspruch an das Leben ein völlig anderer als der seine. Er hatte es bemerkt, als er ihr gegenüber mit Begeisterung von seinen Plänen gesprochen hatte, die Führung der Familie anzustreben, und sie, statt glücklicher zu werden, immer reservierter wirkte. Sie war nicht die Königin, die er sich an seiner Seite wünschte, und er war ihr deshalb nicht einmal böse, nein. Er bewunderte ihren Mut zu dem Schritt, den sie gewagt hatte. Es war die einzige Möglichkeit, dem Gefängnis, als das sie ihr Elternhaus empfunden hatte, zu entkommen. In Bonn wäre sie nie glücklich geworden. Er wünschte ihr, dass sie sich in Berlin – oder wo immer sie sich jetzt auch aufhielt – ihre Träume erfüllen konnte.

Immer wieder übten sie nun diese Folge von nur wenigen Takten. Zum Verrücktwerden, dachte Edgar. »Ich bewundere deine Langmut am Klavier«, sagte er in der Pause der Chorprobe zu Almut. »Mir wird es manchmal öde, immer wieder zu repetieren, bis alle ihren Part beherrschen. Geht es dir nicht ebenso?«

»Selbst wenn es so wäre, mein Schatz, darf ich es mir natürlich nicht anmerken lassen«, erwiderte sie. »Schließlich ist es meine Aufgabe, mit den Stimmen so lange zu üben, wie es nötig ist.« Almut lächelte ihn an, um ihm zu zeigen, dass sie sich über sein Kompliment freute. »Noch etwas solltest du nicht vergessen«, fügte sie hinzu. »Denk daran, dass nahezu die ganze Kirchengemeinde im Chor singt. Es gibt kaum eine bessere Gelegenheit, als bei den Proben Ausschau nach neuer Kundschaft für Eimermacher & Söhne zu halten.«