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Märchen sind wie Träume. Wer meint, er könne eins deuten, sollte zunächst sagen, wer es geträumt hat. Märchen sind gleichzeitig Unterhaltung und Genuss, beliebter Gesprächspartner und weiser Ratgeber. Sie sind Teil der Welt, eines der Wunder des Lebens. Die Menschen begannen hinter den Märchen einen verborgenen Sinn zu suchen. Entsprechend der eigenen Vorstellung gab und gibt es verschiedene Deutungen. Niemand soll sagen, er wüsste die Richtige.
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Seitenzahl: 104
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Es sollte einmal ein armer Junge hinaus zum Waldsee gehen und Fische angeln. Als er nun so am Ufer saß und das Wasser betrachtete, in dem sich die Sonne spiegelte, merkte er, dass etwas am Haken hängt. Und es geschah, dass kein Fisch daran hing, sondern ein goldener Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müsse ein Schloss sein; tauchte seine Angel wieder ins Wasser und es dauerte nicht lange, da hing eine eiserne Truhe an seiner Angel.
Ei, dachte er, wenn der Schlüssel nur passt, denn gewiss waren wunderbare und köstliche Sachen darin. Er suchte, aber er fand kein Schlüsselloch. Endlich fand er doch noch ein ganz kleines, und probierte, und der Schlüssel passte. Da drehte er ihn einmal herum.
Und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen hat. Dann werden wir sehen, was für märchenhafte Schätze in dem Kästchen liegen:
Vorwort
Die Vögel der Fürstin
Das Märchen von Tausendschön
Wie der Diener Graf ward
Das Märchen von Friedmut
Dornenröslein
Samtmützchen und Graukopf
Die Mär vom ewiglichen Strom
Froschkönigin und Froschkönig
Der Ritter und Prinzessin Honigsüß
Rotkäppchen und der Wolf
Wie der Teufel an den Königshof kam
Der Lindwurmfänger
Der Hirte mit dem goldenen Kalb
Dieses Büchlein ist ein Gemeinschaftswerk, daher geht mein besonderer Dank an die begnadeten Lektorinnen Elke Staamann und Gabrielle Zähler-Mielke, die Gott sei Dank der Sache bis zum Start den gewissen Schub verliehen haben. Für den computermäßigen Support und Software bedanke ich mich sehr bei Hartmut Köster.
Ganz grundsätzliche, wegweisende Inspirationen für Kunstmärchen und Kurzgeschichten verdanke ich dem 2016 von uns gegangenen Dichter Frank Kminkowski, der mir Gelegenheit gab, seine Bücher zu illustrieren.
Die Texte stammen aus den Jahren 2015 bis 2023. An den „Märchenvariationen“ lässt sich einsehen, wie wandelbar Märchen sind und wie sich Märchen interpretieren lassen (und schon von je her und in ganz Europa interpretiert wurden). Manchen Leser, der gern zur Feder greift, wird es zu eigenen Versuchen der Abwandlung ermuntern.
Märchen sind wie Träume. Wer meint, er könne eins deuten, sollte zunächst sagen, wer es geträumt hat. Märchen sind gleichzeitig Unterhaltung und Genuss, beliebter Gesprächspartner und weiser Ratgeber. Sie sind Teil der Welt, eines der Wunder des Lebens.
Die Menschen begannen hinter den Märchen einen verborgenen Sinn zu suchen. Entsprechend der eigenen Vorstellung gab und gibt es verschiedene Deutungen. Niemand soll sagen, er wüsste die Richtige.
Man sagt auch, Märchen seien in der Literatur das, was die Primzahlen in der Mathematik sind - rätselhaft. Jenen dürften sicher alle etwas abgewinnen, also auch Erwachsene, die noch das Kind in sich bewahrt haben.
Birkenwerder, Januar 2024
Es war einmal eine junge Fürstin, deren Mann früh verstorben war. Das Schloss, in dem sie wohnte, lag in einem Zauberwald, worin verwunschene Tiere hausten.
Die Fürstin träumte, eines der Vögel im Walde müsse ein verzauberter Prinz sein. Also holte sie mit ihrem Diener aus der Waldung Vögel zu sich. Sogar einen Waldrapp mit bronzenem Schnabel fingen sie ein.
Wäre eines von ihnen der verzauberte Prinz, würde er mit ihr zu seinem Schlosse reiten und sie bestimmt zum Weibe nehmen, nachdem er sich zurückverwandelt hätte, dachte die Fürstin. Nichts konnte sie von dieser Idee abbringen.
Da die Fürstin meinte, weidlich Waldtiere beisammen zu haben, fragte sie bei jedem nach, ob er der verwunschene Prinz sei.
Sodann stellte die Fürstin sich vor ihren goldenen Käfig, in dem sie die Vögel gefangen hielt. Darin waren neben dem Waldrapp eine Eule, die wie ein Drache Feuer spie; ein bunter Prachtfink; ein Rebhuhn mit silbern Krallen und einer goldenen Schwanzfeder; eine Taube mit Perlen im Gefieder, deren Schatten wie ein Hase aussah. Zudem besaß sie zwei Elstern in weiß und smaragdgrün schillerndem Federkleid nebst einigen Geschöpfen mehr.
Zuerst befragte die Fürstin das Rebhuhn. Das konnte brummen wie ein Bär.
„Oh, du hast Silberkrallen liebes Rebhuhn, du hast eine Goldfeder, du warst bestimmt ein Prinz?“
„Brumm, brumm, ich? Nein! Brumm, die Krallen sind von meinen Ahnen. Sie hatten auch alle silberne“; beteuerte es, „was ich heut nicht bin, werd ich nie sein. Lass mich endlich hier raus!“
Dem Rebhuhn schenkte die Fürstin Glauben und entließ es in Freiheit.
Dann kam die graue Eule an die Reihe, die wie ein Drache Feuer spie: „Sage mir an Eule, bist du ein Königssohn, der verzaubert ward?“
„Nie und nimmer“, versicherte diese. Dabei stieß sie eine hellrote Flamme aus, dass die Luft von dichtem, beißendem Rauch erfüllet war. „Nie und nimmer, ich bin und bleibe ein Tier.“
Hernach war der Schwarzstorch mit Augen wie Smaragde dran. Des Nachts leuchteten seine Augen wie Feuer und wenn er mit seinen Flügeln schlug, hörte es sich wie Glockenschlag an.
„Klapp, klapp“, versetzte der Nämliche, „was denkst du von mir. So wie itzo werde ich immerdar bleiben.“
Nächsthin befragte die Fürstin den pechschwarzen Raben; der trug einen violetten Saphir in den Krallen. Wo er ihn fallen ließ, entstand ein Brunnen: „Krah, krah! Ei was“, antwortete der, „darob hab ich keine Kunde; lass mich wieder zu den Meinen.“
Darauf den Specht, der wie ein Luchs fauchen konnte: „Specht, sprich, bist du ein verwunschener Prinz?“
Sprach der bunte, zitternde Vogel: „Potztausend, Prinz! Hat man sowas schon gehört? Mir war es noch nie vergönnt, etwas anderes zu sein“, schlug mit den Flügeln, pickte kreischend nach ihrem Finger und wetzte seinen perlmuttschillernden Schnabel am Balken, auf dem er saß.
* * *
Da geschah es, dass ein Königssohn auf seinem Schimmel durch das Land ritt. Bevor er in den Zauberwald geriet, traf er am Feldrand auf Ackerbauern bei der Ernte, die ihn warnten: „Es heißt, allda sei es nicht geheuer. Geh er nicht in den Wald hinein; in ihm hausen verzauberte Kreaturen und fauchende Lindwürmer mit funkelnden grünen Augen, die feurig durch die finstere Nacht brausen. Sogar zottige Geister gibt es, die den Wanderer in Moorgründe und die Waldeinsamkeit führen, von wo er in die Irre geleitet, nimmer heimkehrt. Keiner von uns waget sich da hinein.“
Dazu erklärten sie, darin stünde ein verwunschen Schloss, in dem eine edle, schöne Frau wohne.
„Nun, wohlan! Das werden wir ja sehen, wer sich vor wem ängstiget“, sprach er, gab seinem Pferd die Sporen und ritt, der Gefahr spottend, wacker fürbass dem Walde zu.
Kühl und schattig war es darin. Ihn empfing Summen am Waldesrand. Ein knorriger, hoher Lindenbaum, dessen falber Stamm oben im Abendrot aufleuchtete, wiegte sich in den Lüften. Der Königssohn schaute zum Baum hinauf. Bienen hatten ihn als Festung ausgebaut. In dessen Krone saugten Zauberruten aus den Zweigen Saft.
Am Boden pickte ein Taubenpärchen, das, als er sich mit seinem Rosse näherte, aufflog. Er hörte Brummen und Fauchen, wiewohl sich nirgends ein Bär oder ein Luchs zwischen den Sträuchern zeigte. Dann kam er an einem Brunnen vorbei. Über ihm zog – von den Lüften gen Himmel getragen – ein Adler seine Kreise. Möglich, dass die höchste Baumkrone den Host des Adlers beherbergt, dachte der Prinz.
Bäume – nur wenige darunter, um die seine Arme gereicht hätten – beschatteten das Zauberreich. Wenige Sonnenstrahlen vermochten noch durch das dichte Blätterdach der Bäume den morastigen Boden zu wärmen, so als hingen Gardinen zwischen mächtigen Baumstämmen. Unten war die Borke mit Moos überzogen. Auf deren starken Ästen hatte sich gleichfalls das Moos angesiedelt. Allesamt befanden die Baumriesen sich umschlungen vom Efeu, der seine armdicken Triebe wie erstarrte Schlangenleiber um sie wand. Bis in die Baumkronen schob sich der Efeu empor. Manche der Bäume waren von der Umschlingung abgestorben.
Wer weiß, was die Kletterpflanzen in dieser Wildnis alles unter sich begraben, darob sie ihr Leichentuch geworfen haben, damit sie das Darunterliegende ersticken, sagte sich der Prinz.
Lautlos schwang sich vor dem Prinz ein Uhu von einem Baum zum nächsten. Dunkler ward es; der Saum schmaler, verlor sich im tiefen Dickicht. Eine Eidechse, auf der etliche Glühwürmer ritten, huschte vorbei. Das „Krah, Krah“ von Krähen und Brummen von Bären drang zu ihm; sogar Glockenläuten war zu hören.
Er stieg vom Pferd und führte es am Halfter durchs Unterholz, allwo Kaninchen durchs Gebüsch huschten; kaum, dass er sie erblickt, waren die Langohren erst unter Wurzelwerk, dann in einer Baumhöhle verschwunden.
Seine Schritte führten ihn über Steine und durch Buschwerk tiefer in diese dunkle Wildnis. Rufe von Sperlingen sowie das Krächzen von Elstern drangen jetzt aus dem dichtbelaubten Geäst. Wind frischte auf; Blätter rauschten; Zweige bewegten sich. Hin und wieder züngelten Flammen im Geäst. Doch er fürchtete sich nicht. Geruch von Fäulnis drang ihm in die Nase. Ein überwucherter, bemooster Baumstamm, von dessen morschem Holz Baumpilze zehrten, versperrte ihm den Pfad. Ihm deuchte, hier habe ewig keine Axt eines Holzfällers ihr Werk verrichtet. Mühsam war sein Weg durch den tiefen Wald, durch Auen und Sumpf, der voll Schilf, allerlei Buschwerk, Riedgras sowie abgestorbenen Bäumen durchsetzt war. Nun musste er durch ein schwarzes Moor, aus dem verkrüppelte Zwergerlen wie düstere Schatten hervorstarrten. Nur das Holz von toten Weiden am Ufer, denen die Rinde fehlte, strahlte geheimnisvoll in stillem Glanze.
Später stolperte er über Steine, fiel über Wurzeln und zerriss sich die Kleider. Wohin er blickte: nur Moos, Steine, Spinnweben und feuchtes Gestrüpp unter den rauschenden Bäumen, zwischen denen er umherirrte. Ab und an knackte es hinter ihm, neben ihm.
* * *
Nach dem Passieren eines Wasserfalls ließ er sein Pferd am Teich, in den sich das Wasser ergoss, saufen.
Gar wundersam und merkwürdig war, was er erblickte: Als er in den Weiher schaute, trug es sich zu, dass er statt seines Spiegelbildes ein Männchen mit spitzem Barte darin erblickte.
Schließlich trat er aus der Schattenwelt des geheimnisvollen Zauberwaldes und fand sich vor dem Garten wieder, in dem das gesuchte Fürstenschloss stand.
Die Scharniere des umwucherten Eingangstores quietschten beim Öffnen. Sein Pferd band er neben dem Tore fest. Im Garten war es hell, so hell wie sonst zur Mittagsstunde. Verloren hallten seine Schritte auf den mit Unkraut bewachsenen Marmorplatten. Ihm fiel ein gemauerter Brunnen ins Auge. Indem er sich über dessen Rand beugte, schaute ihn wieder das spitzbärtige Männchen aus dem Teiche an.
Eine morsche Holzbank unter Zierbäumen säumte seinen Pfad. Ringsumher beherrschten fremdartige Gewächse, riesige exotische Bäume mit herzförmigen, dunkelroten Blättern – die höchsten im weiten Umkreise – die Szene. Bedeuteten all die unbekannten Pflanzen Sehnsucht? Aber Sehnsucht wonach? Nach der Fremde oder noch etwas weiterem?
Süßlicher Duft lag in der Luft. Stille, allerwärts Stille; kein Windhauch wehte, kein Zweiglein regte sich. Alles ohne Leben, bewegungslos, einsam, beklemmend.
Auf einer Anhöhe kam der Prinz an einem Tempel vorbei. Drei Etagen aus bläulich schimmerndem Basalt hatte der Tempel; er war von einer Laterne gekrönt und überzogen mit Moos und türkisfarbenen Flechten. Auf seinem Dach saßen reglos Tauben. Ihre Köpfchen hatten sie unter die Flügel gesteckt. Zum Tempel verliefen Stufen zu einem zweiten Eingang hinunter. Vom Sockel bis zur Spitze war der Rundbau in schwarze Marmorsäulen eingefasst. Dahinter empfing ihn ein gepflasterter Weg, auf welchem noch kein Grün Fuß gefasst. Unterbrochen ward das Pflaster von einer Holzbrücke, die ein Bächlein im Bogen überspannte. Lautlos und dunkel schlängelte sich das Bächlein durch die Wiese zu einem Teich mit Wasserspiel. Seine Fontäne: still, wie zu Eis erstarrt. Wie ein ruhend Auge widerspiegelte das Wasser den Himmel. Ebenso still und starr ruhte selbst das Wasser im Teiche, wie Eis glitzerte es am gegenüber liegenden Ufer. An den Halmen die Tautropfen – wie aus Diamant.
Unweit des Tempels stand ein Obelisk aus rotbraunem Backstein, welcher dreimal so hoch wie der Tempel war. Auf dessen Spitze ruhte ein Rabe.
Blumen suchten des Prinzen Augen vergebens. Er schaute zurück; weder vom Obelisken noch vom Eingangstor erblickte er etwas. Ihm sprang das Fürstenschloss ins Auge. Dessen Spiegelbild gewahrte er im Teiche.
Vom Fenster aus sah die Fürstin, wie der Prinz seinen Schimmel an einen rot belaubten Baum band, bevor er durch den Garten schritt.
Alle schienen zu schlafen: die Nymphen am Teiche, ein Pfau im Grase, alle Vögel im Astwerk, die Tauben auf dem Dache ebenfalls, Bienen, Libellen, Eidechsen - allesamt in Schlaf gesunken.
Dies alles wollte dem Jüngling gar wunderlich bedünken. Auf sämtlichen seiner Ausritte war ihm so etwas nicht vor die Augen gekommen. Eine goldene Birne, die eben vom Baume fallen wollte, ließ sich Zeit, viel Zeit: Bis die Birne im Grase lang, war die Sonne schon wieder ein Stück weiter gewandert.
Falls überhaupt ein Tautropfen ins Gras schwebte, währte es ebenso lange. Da zögerte die allmächtige Zeit.
Am Schlossportal, welches mit herrlichem Fries, der mit reichem Stuck, Blüten, Blattwerk und seltsamem Getier verzieret war, empfingen Diener den Prinzen.