Das Mauerschweinchen - Katja Ludwig - E-Book

Das Mauerschweinchen E-Book

Katja Ludwig

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Beschreibung

Es waren einmal ein Meerschweinchen und eine Mauer, die die Straße versperrte

In der Wolliner Straße 46 auf der Westseite der Mauer lebt Nora, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein praktisches kleines Haustier; in der Wolliner Straße 56 im Osten wohnt Aron, leidenschaftlicher Drachenbauer und Konstrukteur von Flugobjekten aller Art. Beide werden unverhofft zu Rettern von Bommel, einem verwaisten Rosettenmeerschweinchen: Zwei ganz unterschiedliche Geschichten aus dem Berlin der 80iger mit einer gemeinsamen Haupt»person«, zusammengefasst in einem Wendebuch. Mit zwei Covern.

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Seitenzahl: 146

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Für Charlotte, Ulrika, Zandie und Claudia

Nach dem Krieg 1945 wird Deutschland von den Siegermächten in Besatzungszonen aufgeteilt: Die englischen, französischen und amerikanischen Siegermächte einigen sich auf eine gemeinsame westliche Besatzungszone, die russischen (sowjetischen) Besatzer bestehen auf einer eigenen, der östlichen.

Aus den beiden Besatzungszonen entstehen zwei neue Länder mit unterschiedlichen Regierungsformen: Westdeutschland (= Bundesrepublik Deutschland, kurz BRD) und Ostdeutschland (= Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR).

Auch Berlin, die ehemalige Hauptstadt, wird geteilt: Ostberlin wird Hauptstadt der DDR. Westberlin gehört zu Westdeutschland und liegt jetzt wie eine Insel inmitten der DDR. Hauptstadt der Bundesrepublik wird Bonn.

Auch quer durch Berlin wird 1961 eine Grenze gezogen: die Mauer.

Weil das Leben im Westen leichter ist, ziehen viele Leute aus dem Osten nach drüben in den Westen. Um das zu verhindern, errichtet die DDR eine Grenze: mit Stacheldraht, Minen, Selbstschussanlagen und Todesstreifen.

Den Menschen aus der DDR ist es nicht erlaubt, einfach so nach Westberlin oder Westdeutschland zu fahren. Sie sind in ihrem Land gefangen. Telefonate und Post aus dem Westen werden von den DDR-Behörden überwacht.

Die Regierungen von Ost- und Westdeutschland mit ihren westlichen und östlichen Siegermächten sind sich mittlerweile spinnefeind.

Und so herrscht zwischen Osten und Westen über viele Jahre der Kalte Krieg.

Katja Ludwig

Das Mauerschweinchen

Noras Geschichte

Vignetten von Uwe Heidschötter

1. Kapitel

„Nichts auf dieser Welt wünsche ich mir mehr als ein Meerschweinchen“, verkündete Nora. Nora war klar, dass sie ihren Eltern keinen Hund zumuten konnte. Von einem Pferd ganz zu schweigen.

„Wozu willst du denn ein Meerschweinchen?“, fragte ihr Vater. „So ein Viech ist doch zu nichts nütze.“

Er schnappte sich eine Scheibe Brot. „Außer vielleicht auf einem Holzkohlengrill in Südamerika. Mmmh.“

„Sehr witzig“, sagte Nora.

„Es macht Arbeit und kostet nur, mein liebes Kind“, fügte ihre Mutter hinzu. Nora starrte auf den Kanten, der im Brotkorb übrig geblieben war, nachdem sich ihr Vater die letzte Scheibe genommen hatte. Obwohl es niemand zugab, mochte keiner in ihrer Familie die Kanten essen. Man muss ja für jedes Stück Brot dankbar sein, dachte Nora. Blabla. Aber den Kanten könnte man wirklich trocknen und dann einem Meerschweinchen zum Knabbern geben. Ein Meerschweinchen würde sich darüber freuen.

Das wollte sie aber lieber nicht laut sagen. So sagte sie stattdessen: „Susanne hat schon letztes Jahr ein Meerschweinchen zu Weihnachten gekriegt.“

„Na, dann ist doch alles gut! Dann könnt ihr doch beide zusammen mit dem Meerschweinchen spielen.“ Noras Vater schnitt zufrieden eine Gewürzgurke in gleichmäßig große Scheiben und verteilte sie auf seinem Leberwurstbrot: Scheibe neben Scheibe, exakt mit dem gleichen Abstand zueinander. Nie war ein Stückchen Gurke zu wenig oder eines übrig. Ihre Mutter nannte das Ganze Papas Leberwurstmeditation. Sie schenkte lauwarmen Pfefferminztee nach. „Aber ich möchte eines für mich alleine“, sagte Nora leise und nahm sich den Brotkanten.

„Jedes Tier ist eine große Verpflichtung. Man muss sich darum kümmern, auch wenn man keine Lust dazu hat“, belehrte ihre Mutter sie.

„Susanne kümmert sich auch ganz allein um ihr Meerschweinchen.“ Nora spürte, wie es in ihr langsam zu brodeln begann. „Du kannst ja ihre Mutter fragen!“

Wütend biss sie in den gummiharten Kanten und spürte plötzlich einen stechenden Schmerz. Es schmeckte nach Blut. Sie pfefferte das Stück Brot auf ihren Teller zurück, doch der Kanten prallte ab und landete mitten auf der Quarkschnitte ihrer Mutter. Die schrie auf. In der Mitte des Kantens steckte Noras Wackelzahn.

Rot wie Blut, weiß wie Schnee, dachte Nora und versuchte, nicht zu grinsen.

„Schluss jetzt!“ Ihr Vater schlug mit der flachen Hand auf den Kiefernholztisch. „Den ganzen Tag hat man geschuftet! Kann man denn in diesem Haus nicht mal in Frieden sein Abendbrot essen?“

Nora stand auf und verließ die Küche. Die Milchglasscheibe schepperte, als sie die Küchentür zuknallte. Ist mal wieder alles schiefgegangen! Dabei hatte sie sich doch zusammenreißen wollen! Das hatte ihr auch schon Susanne eingeschärft. „Sonst hast du bei den Erwachsenen keine Chance. Zeig ihnen deine Eins in Mathe, und dann frag sie, ob du ein Meerschweinchen zu Weihnachten kriegst.“

Die Eins in Mathe hatte Nora total vergessen. Sie hatte nur an das Meerschweinchen gedacht.

Im Zimmer war es kalt. Ihre Mutter lüftete immer vor dem Zubettgehen alle Zimmer noch einmal. Nora sah aus dem Fenster. Anstelle von anderen Häusern erhob sich auf der Straßenseite gegenüber grau und fensterlos die Mauer. Im Licht der Laternen sah man streifigen Regen. So kurz vor Weihnachten, und es hat noch kein einziges Mal in diesem Winter geschneit!

„Scheißwetter!“, brüllte sie aus dem Fenster. „Scheißweihnachten! Und Scheißmauer!“

Die Mauer mit ihrer blätternden bunten Graffitifassade blieb von ihrem Geschrei gänzlich unberührt. EDEL SEI DER MENSCH, ZWIEBACK UND GUT, hatte jemand mit krakeliger Schrift genau gegenüber von ihrem Fenster darauf gesprüht. Die Sprüche auf der Mauer erschienen hier und da immer irgendwie aus dem Nichts. Fast so als ob die Mauer selbst sie hervorbrachte. Sie war Freifläche für jeden, seine Meinung kundzutun, ein chaotischer Riesencomic. Und manche Sprüche waren echt komisch.

Noras Lieblingsspruch war: WIR WOLLEN ALLES UND DAVON MÖGLICHST VIEL.

Drüben am Grenzstreifen gingen die Lichter an, so hell, dass sie sich selbst bei ihnen im Westen noch in den Pfützen spiegelten.

„Es ist schon peinlich, dass man in diesem freien Land im Alter von fast zwölf Jahren noch um ein Meerschweinchen betteln muss“, schimpfte Nora weiter in die Nacht hinaus. „Eines, das man dann auch noch nicht mal bekommt. Wahrscheinlich haben die da drüben in der DDR alle schon mit fünf mindestens ein halbes Dutzend Meerschweinchen, Katze, Hund und Pferd. Mit Fohlen!“

2. Kapitel

Wie jeden Abend, wenn sie im Bett lag, kam ihre Mutter noch mal ins Zimmer, um ihr Gute Nacht zu sagen. Ihr Vater saß wie immer schon im Wohnzimmer und guckte die Tagesschau.

„Na, hast du dich beruhigt?“, fragte ihre Mutter. Nora merkte, wie die Wut wieder in ihr hochstieg, doch sie versuchte, sich zusammenzureißen. Aber sie konnte einfach nicht aufgeben und hielt ihrer Mutter die Mathearbeit, die sie auf den Nachttisch gelegt hatte, unter die Nase: „Eine Eins in Mathe. Ich kann mich wirklich gut auch noch um ein Meerschweinchen kümmern, Mama. Immer. Auch wenn es alt und nicht mehr so niedlich ist.“

Ihre Mutter seufzte.

„Ich würde den Käfig auch zweimal in der Woche sauber machen, damit er nicht stinkt“, versicherte Nora. „Die Sägespäne kann ich in der Tischlerei in der Brunnenstraße holen, die kriegt man da umsonst, sagt Susanne!“

„Aber…“, begann ihre Mutter.

„Und im Urlaub kümmern Susanne und ich uns gegenseitig um die Meerschweinchen. Und die Blumen in der anderen Wohnung würden wir dann auch gleich mit gießen. Das wäre doch total praktisch!“

Die Mutter strich ihr eine dunkle Locke aus dem Gesicht: „Man kann nicht immer alles haben, was man sich wünscht, mein Kind“, sagte sie.

Nora schwieg.

Ihre Mutter lächelte zärtlich. Als sie das Licht löschte und aus dem Zimmer ging, sagte sie den schlimmsten aller Sätze: „Wenn du größer bist, wirst du das verstehen.“

Die Tür ließ ihre Mutter wie immer einen Spaltbreit auf. Auf Noras Bett kreuzte sich das Flurlicht mit dem Licht der Grenzanlagen, das wie ein heller Mondschein jede Nacht von draußen durchs Fenster fiel. Die weißen Wölkchen auf ihrer hellblauen Tapete schienen dann wie von innen zu leuchten. Normalerweise mochte sie das sehr. Sie stellte sich vor, dass das Lichtkreuz auf der Bettdecke ihr magische Kräfte verlieh, wenn sie sich genau darunterlegte. Heute fand sie diesen Gedanken total kindisch. Magische Kräfte? Pfff! Sie war nichts weiter als ein armes Einzelkind ohne Haustier in einer verregneten Nacht kurz vor Weihnachten.

Wie kann Papa behaupten, dass Meerschweinchen zu nichts nütze sind?

Dabei reicht es doch schon, sie einfach nur anzugucken. Wie süß sie sind! Und überhaupt: Wenn etwas auf dieser Welt zu nichts nütze ist, dann wohl eher Papas bescheuerte Briefmarkensammlung oder seine albernen Kartentricks, dachte sie. Mit Meerschweinchen kann man wenigstens etwas Richtiges zusammen machen. Sie freuen sich, wenn man nach Hause kommt. Man kann mit ihnen spielen und sich mit anderen Kindern, die auch Meerschweinchen haben, treffen. Wie zum Beispiel mit Susanne und ihrem Micki. Meerschweinchen fressen alte Brotkanten und Möhrengrün, das man sonst wegschmeißen würde. Mit Meerschweinchenkötteln kann man Balkonblumen düngen.

Nora seufzte und blickte auf die Meerschweinchenposter über ihrem Bett. Meerschweinchen sind ganz anders als Kaninchen, die immer so ängstlich aussehen. Oder Katzen. Die wollen sowieso nur ihre Ruhe haben. Viel billiger als Pferde oder Hunde sind sie außerdem. Meerschweinchen sind eben einfach bescheidene Wesen!

Sie gähnte und kuschelte sich an ihre abgewetzte schwarze Puppe, die immer noch neben ihr im Bett lag, obwohl sie schon lange nicht mehr mit ihr spielte.

Meerschweinchen sind so schön rundlich und weich, ohne viel Tamtam, genügsam und immer fröhlich. Sie quieken vor Freude, auch wenn man mit einer Fünf oder einem Tadel nach Hause kommt.

Menschen sollten wie Meerschweinchen sein.

3. Kapitel

Nora und ihre Freundin Susanne hatten Julia aus ihrer Klasse eigentlich immer heimlich die Blöde Blonde Zimtzicke genannt. Julia war einfach die totale Angeberin. Alle Jungs fanden sie toll und die meisten Mädchen bewunderten sie. Julia hatte lange blonde Haare, immer die flippigsten neuen Sachen und eine weiße Perserkatze. Ihre Katze hatte vor Kurzem Junge bekommen, und Julia hatte daraufhin einen Klub gegründet, der sich „Mädchen mit vier Pfoten“ nannte. Plötzlich wollten alle aus der Klasse Mitglied im Klub der schönen Julia sein. Die Jungs wegen Julias langer blonder Haare und die Mädchen wegen der süßen Katzenbabys.

Streng genommen war der Klub Mädchen vorbehalten, die ein Tier mit vier Pfoten hatten, also einen Hund oder eine Katze oder ein Kaninchen zum Beispiel. Julias beste Freundin Tanja durfte ausnahmsweise mitmachen, obwohl sie nur einen altersschwachen Wellensittich namens Putzi hatte (und der gehörte eigentlich auch noch ihrer Großmutter).

Jemand wie Vito, der zwar total in Julia verknallt war, wurde trotzdem nicht aufgenommen: Er war erstens ein Junge und hatte zweitens nur eine Schachtel mit Asseln. Asselbesitzer oder Spinnensammler waren prinzipiell vom Klub ausgeschlossen. Das waren Tiere mit viel zu vielen Beinen. Man musste schon ein richtiges Haustier haben.

Susanne hatte Micki.

Sie, Nora, hatte gar nichts.

In den Pausen saßen die „Mädchen mit vier Pfoten“ jetzt meist in irgendeiner Ecke und verständigten sich mit Tierlauten. Klingt wie im Affenhaus, fand Nora. Als Erkennungszeichen trugen sie indianisch anmutende Ketten, in die sie eine Fellsträhne ihres Tieres eingeknüpft hatten. Julia trug eine besonders dicke Locke ihrer weißen Perserkatze um den Hals, weil sie die Anführerin war. Sie nannte sich „Schneeweiße Löwin“. Bei Tanja musste für die Kette Putzis letzte Schwanzfeder dran glauben. Dafür durfte sie sich dann auch „Kühner Falke“ nennen. Pickliges Suppenhuhnpasst besser, dachte Nora.

Wie kann Sanne mir das antun? Sie sah finster zu der Hecke hinüber, hinter der sich auf der Knutschbank maunzend und fiepend der Vierpfotenklub versammelt hatte. Sie hatten es mit ihrem Gejaule sogar geschafft, die Liebespärchen vom nahe gelegenen Gymnasium von der Bank zu vertreiben.

Vielleicht sollte ich auch einen Klub gründen. Die Fellfreie Zone, zum Beispiel, oder: Ohnepfoten und trotzdem glücklich. Auf jeden Fall einen Club mit einer richtigen Aufgabe, nicht nur einer, bei dem man sich unecht winselnd im Gebüsch versteckt. Ihr Blick fiel auf die beiden Mädchen, die gelangweilt neben ihr an der Schaukel rumhingen.

Wahrscheinlich wäre ich das einzige Klubmitglied, dachte sie missmutig. Nora saß jetzt in den Pausen meist mit Beate und Emine auf der Schaukel. Beide waren langweilig wie Toastbrot, fand Nora. Beate mochte keine Tiere. Angeblich hatte sie eine Tierhaarallergie. In Emines Familie war man prinzipiell gegen Tiere in der Wohnung. Ihre Eltern kamen aus der Türkei und waren der Meinung, dass Tiere in einen Stall gehörten und nicht ins Haus. Außerdem hatte Emine einen Haufen Geschwister. „Das reicht mir voll und ganz“, sagte sie. „Ich hätte viel lieber ein eigenes Zimmer als irgend so ein keimiges Haustier.“

Nora schaute sehnsüchtig hinüber zum Pfotenklub. Wie gern würde sie mit den anderen über Tiere sprechen! Sie wusste wahrscheinlich mehr über Meerschweinchen, Hunde und Katzen als sonst jemand aus der Schule. Die Gespräche mit Emine und Beate nervten sie. Die beiden sind doch total verstrahlt, dachte Nora. Wenn sie nicht über irgendwelche Fernsehserien quatschten, erzählte Emine immer nur von ihren tausend Geschwistern. Beate interessierte sich außer fürs Fernsehen eigentlich für gar nichts, höchstens vielleicht noch für ihre rhythmische Sportgymnastik, zu der sie mittwochs immer gehen musste, weil ihre Mutter das so wollte.

„Bist du jetzt nicht mehr meine Freundin?“, fragte Nora Susanne, als sie nach der Schule wie üblich den gleichen Weg nach Hause einschlugen. Nora und Susanne wohnten beide in der Wolliner Straße.

„Natürlich bin ich deine Freundin!“, meinte Susanne. „Aber es ist echt so spannend, was die anderen alles von ihren Tieren erzählen! Julias Katze Kitty ist nicht nur total süß zu ihren Katzenbabys, sondern sie ist auch unheimlich schlau, sagt Julia. Stell dir vor: Kitty hilft Julia bei den Hausaufgaben!“ Nora knurrte, aber Susanne ließ sich nicht beirren. „Julia sagt, dass Kitty sogar Bücher liest. Irre, nicht wahr? Kitty legt sich auf ein aufgeschlagenes Buch, und nach einer Weile fängt sie an, mit den Seiten zu spielen. Sie versucht echt, sie umzublättern! Und sie bleibt so lange neben Julia sitzen, bis die mit den Hausaufgaben fertig ist.“

Nora starrte ihre Freundin an, als hätte die den Verstand verloren. „Aber in Rechnen ist die Katze nicht so gut, oder?“, fauchte sie. „Sonst hätte Julia ja nicht die Mathearbeit verhauen! Sag mal deiner bescheuerten Julia, dass ihre dämliche Kitty vielleicht ein bisschen Mathenachhilfe braucht!“

„Du bist echt voll ätzend!“, schnaubte Susanne. „Was ist denn bloß los mit dir?“

Nora ließ Susanne wortlos stehen und rannte die Straße hinunter, nach Hause, in die Wolliner 46. Ecke Bernauer, im letzten Haus vor der Mauer. Sie wohnte am Ende der Welt. Alles, was sie kannte, war hier zu Ende, alles – bis auf die Wolliner Straße, die schweigend unter der Mauer hindurch tief hinein nach Ostberlin kroch.

Auf der Mauer prangte in Hellrot mal wieder ein neuer Spruch: ICH BIN ZUTIEFST GERÜHRT, SPRACH DER TEIG.

Sehr witzig, altes Betonding, dachte Nora. Aber ob sie wollte oder nicht: Nora musste grinsen.

4. Kapitel

Eigentlich hatte Nora gar keine Lust, nach Hause zu gehen. Sie hatte ihrer Mutter morgens gesagt, dass sie nach der Schule noch mit zu Susanne gehen würde. Als sie sah, dass Susanne in ihr Haus verschwunden war, ging Nora wieder zurück und bog in eine der Seitenstraßen ein. Nach ein paar Minuten stand sie vor ihrem Lieblingsgeschäft: „Bines Zooparadies“.

Auf der großen Schaufensterscheibe stand: Kartoffeln und Möhren zum Einlagern, 1 kg Adretta 80 Pfennig. Weil der Zooladen nicht so gut lief, verkaufte Bine Kruschke nebenbei noch Kartoffeln. Nora mochte Bine. Bine war ziemlich dick und trug deshalb immer nur ziemlich peinliche Kittelschürzen, je nach täglicher Stimmung klein geblümt und grau oder knallbunt. Nora war das egal. Den lieben langen Tag thronte Bine im Laden hinter ihrer Kasse. Wenn sie sich mal erheben musste, tat sie das nur unter viel Geschnaufe. In der Gegend nannten alle sie Tante Knautschke, nach dem Nilpferd im Zoo, aber Nora hatte das Gefühl, dass Bine das nicht so gerne mochte. Sie sagte deshalb lieber Tante Bine zu ihr.

Glücklicherweise kam die Kundschaft meist erst am Nachmittag in den Laden. Dann war auch noch Antonio da. Den nannten alle Tonne, obwohl er groß und hager war. Er sah auch sonst seiner Mutter nicht besonders ähnlich: Bine hatte schütteres, mausblondes Haar, seines war schwarz und voll. Tonne war nicht besonders schlau, aber er besaß etwas, was seine Mutter Bine als Tierverstand bezeichnete: Er war immer ehrlich und verstellte sich nie. Er konnte einfach nicht anders. Tonne war 16 und besuchte die Sonderschule. Lesen konnte er so halbwegs, aber Rechnen ging gar nicht. Das Einzige, was ihn interessierte, waren Tiere. Nagetiere mochte er am liebsten, vor allem Großnager. Leider hatten sie in ihrem Laden nur kleinere Nager wie zum Beispiel Mäuse, Meerschweinchen oder Kaninchen. Tonne träumte von einem eigenen südamerikanischen Wasserschwein, einem Panama-Capybara, dem größten aller Nager: Schulterhöhe 60 Zentimeter und 80 Kilo schwer. Leider war in Berlin kein Platz für Wasserschweine in Heimtierhaltung. Auch mit einem einheimischen Biber war Bine nicht einverstanden. Ihre Wohnung war außerdem nicht feucht genug. Ab und zu besuchte Tonne deshalb an sonnigen Wochenenden mit Bine und Nora die Wasserschweine im Zoo. Dann machten sie ein Picknick auf der Bank vor dem Wasserschweingehege.

Wochentags nach der Schule half Antonio seiner Mutter für gewöhnlich im Laden. Bine machte die Kasse und er den Rest.

Dass Nora später mit Antonio das Geschäft weiterführen würde, wenn Bine zu alt dafür war, stand für Nora schon lange fest. Sie würde den Laden schon schmeißen.

Als Nora die Zoohandlung betrat, saß Bine wie immer vorne am Tresen. Sie trug heute Feingeblümt in Ocker. Neben der Kasse stand ein Blecheimer mit dampfenden Futterkartoffeln. Nora seufzte. Es war also wieder einer von Bines Sorgentagen. Na super.

„Wenn ich bloß jemand Pfiffiges wie dich an meiner Seite hätte“, jammerte Bine. „Mein Tonio ist einfach zu nett für diese Welt. Alle hauen ihn immer nur übers Ohr.“

Bine hatte ihrem Sohn absichtlich einen italienischen Namen gegeben, weil sie dachte, dass er es dann im Leben leichter haben würde.

Eigentlich war sein Vater Jugoslawe. Tonne mit seinem glänzend schwarzen Haar konnte aber auch gut als Italiener durchgehen, fand Bine.

Nora tätschelte Bines schwabbelige Hand und sagte: „Mach dir keine Sorgen. Wenn ich das Tiergeschäft später übernehme, lasse ich mich garantiert von keinem übers Ohr hauen!“

Bine seufzte und nahm sich noch eine von den gekochten Kartoffeln, die eigentlich für die Kaninchen und Zwerghühner vorgesehen waren. Nora griff nach der Thermoskanne und goss Bine fürsorglich einen Kaffee ein. Sie wusste genau, wie viel Milch und wie viele Löffel Zucker an grauen Tagen da hineingehörten.