Das Midas-Kartell - Simon Mockler - E-Book

Das Midas-Kartell E-Book

Simon Mockler

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Beschreibung

Auf der Spur dubioser Finanzgeschäfte wird ein ahnungsloser Reporter zur Zielscheibe erbarmungsloser Verfolger.

Während der Überprüfung einer angesehenen Londoner Bank kommt Daniel Wiseman dubiosen Geldtransaktionen auf die Spur. Als der Mitarbeiter einer Wirtschaftskanzlei die Wahrheit ans Licht bringen will, wird er gefeuert. Doch Daniel recherchiert auf eigene Faust weiter, sammelt Beweise und schickt diese an einen alten Freund, bevor er verschleppt wird. Als Daniels Paket bei Markus Cartright ankommt, sind auch ihm Auftragskiller auf den Fersen. Der Journalist macht sich auf die Suche nach Daniel und der tödlichen Wahrheit …

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Buch

Während der Überprüfung der angesehenen Londoner Bank Wittgenstein entdeckt Daniel Wiseman, Mitarbeiter einer Wirtschaftskanzlei, dubiose Geldgeschäfte. Als er die Wahrheit ans Licht bringen will, wird er gefeuert. Doch Daniel gibt nicht auf: Er verfolgt die Spur bis nach Guatemala und recherchiert dort auf eigene Faust weiter – ein gefährliches Unterfangen, denn bald sind skrupellose Verfolger hinter ihm her. Kurz entschlossen zieht Daniel die verdächtigen Gelder von den Konten der Bank ab. Das gesammelte Beweismaterial kann er gerade noch per Paket an einen alten Freund schicken, bevor er verschleppt wird.

Als Daniels Sendung bei Markus Cartright in London eintrifft, sind auch ihm die Auftragskiller bereits dicht auf den Fersen. In letzter Sekunde gelingt dem Fotojournalisten samt dem Paket die Flucht. Zunächst ergeben Daniels rätselhafte Hinweise wenig Sinn für Markus, doch er macht sich trotz der Gefahren auf die Suche nach Daniel und kommt den dunklen Machenschaften eines weltumspannenden Kartells auf die Spur, das nun auch ihn um jeden Preis aus dem Weg räumen will …

Weitere Informationen zu Simon Mocklersowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.

Simon Mockler

DasMidas-Kartell

Thriller

Aus dem Englischenvon Kristiana Dorn-Ruhl

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Juli 2013Copyright © der Originalausgabe by Simon MocklerCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Copyright © Getty Images/Michael Blann; FinePic, MünchenRedaktion: Alexander GroßKS · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-09966-4V002www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Prolog

Royal College Boarding School1987

Daniel Wiseman wickelte sich enger in die raue Wolldecke, um sich gegen den Wind zu schützen, der an den hölzernen Fensterrahmen rüttelte. Er fror, er war einsam, und er hatte Heimweh. Nichts in den bisherigen zwölf Jahren seines Lebens hatte ahnen lassen, dass es ihm einmal so elend ergehen könnte. Zu Hause in Connecticut hatte er ein warmes Bett mit Spiderman-Decke gehabt. Die Haushälterin hatte Haferkekse für ihn gebacken, die in der Küche zum Abkühlen auf einem Drahtgitter lagen. Er hatte Modellboote gebaut und auf dem See hinter dem Schindelhaus seiner Eltern fahren lassen, und wenn der Wind die Segel blähte, hatten seine Freunde und er ihr Taschengeld darauf verwettet, welches davon am weitesten kommen würde.

Im Royal College gab es keinen See, keine Kekse und keine Freunde. Hier gab es nur schwammigen Pudding und fettige Pommes; es gab Ballspiele mit idiotischen Regeln, die man im knietiefen Matsch spielte. Im Unterricht langweilte er sich entweder zu Tode, oder er wurde von glatzköpfigen Männern schikaniert, weil er die lateinischen Verben nicht konjugieren konnte und Baseball viel logischer fand als Kricket. Bis in den Abend hinein gab es Hausaufgaben zu erledigen; fernsehen, Cartoons oder Comics zu lesen war verboten. Daniel hasste alles an diesem Internat, und zwar von den Kuppen seiner knubbeligen Finger bis in die Spitzen seiner widerspenstigen blonden Haare. Das Schlimmste aber war, dass sein eigener Vater ihn in diesem abgeschiedenen Teil der Galaxie namens England ausgesetzt hatte.

Daniel drehte sich auf den Rücken und stützte sich auf die Ellbogen. Er hatte etwas gehört. Ein Rascheln. Vielleicht eine Maus oder eine Ratte. In diesem Dreckloch wäre das jedenfalls nicht überraschend. Zwinkernd gewöhnte er seine Augen an die Dunkelheit. Eine Bodendiele knarrte. Gestalten bewegten sich durch den Schlafsaal, tintenschwarze Schatten ergossen sich über den Boden. Ein hämisches Kichern ertönte, dann schienen alle den Atem anzuhalten. Daniel riss die Augen auf. Da waren Menschen im Raum, die ihn beobachteten. Dunkle Konturen mit bleichen Mondgesichtern. Maskierte Gestalten, die aus dem Finstern auftauchten. Irgendetwas Schreckliches würde gleich geschehen.

Durch das dicke Sackleinen konnte Daniel nichts sehen, aber hören konnte er – flüsternde Stimmen, unbestimmte Geräusche von allen Seiten. Er schlotterte, die Kälte schnitt durch seinen dünnen Pyjama, aber er zitterte auch vor Angst. Die älteren Jungen hatten ihn aus dem Bett gezerrt, ihn mit einem Paar Sportsocken geknebelt, bis er fast erstickt war, und ihm die Haube über den Kopf gezogen. Es ging über das Kricketfeld und hinter den alten Pavillon. Um das leere Schwimmbecken hatte sich eine Gruppe Schaulustiger versammelt, um sich die Show anzusehen.

Einer riss ihm den Sack vom Kopf. Drei Gesichter schwebten drohend über ihm, drei ausgebeulte, grinsende Winston-Churchill-Masken.

»Mitbürger, Freunde und Römer, hört mich an«, wandte sich der größte der drei Churchills an das Publikum. »Wir haben den Neuen, und wir haben seinen kostbarsten Besitz. Möge die Zeremonie beginnen.«

Daniel musste zusehen, wie sein Koffer geöffnet und der Inhalt in den Morast gekippt wurde. Alles, was ihm seine Mutter eingepackt hatte, damit das Heimweh nicht so schlimm wurde. Die Menge johlte.

»Gegenstand Nummer eins«, sagte Churchill und hielt ein Modellboot hoch. Daniels J-Klasse-Jacht, die schnellste in seiner Sammlung.

»Weg damit!«, krakeelte die Menge. Das Boot fiel zu Boden, ein Fuß stampfte auf den Mast, zertrümmerte den Rumpf und stieß die Reste in die im Schwimmbecken verbliebene Wasserpfütze. Die Umstehenden johlten.

»Der nächste!« Ein Superman-Heft wurde hochgehalten, Daniels Lieblingscomic. Es folgte die gleiche hirnlose Prozedur. Das Heft wurde zerfetzt. Die Tränen, die Daniel bislang hatte zurückhalten können, begannen zu quellen.

»Was haben wir denn da?«, verkündete der dritte Churchill und hielt einen ramponierten Teddybär in die Luft. Ein Kichern ging durch die Menge.

»Wie heißt er?«, fragte er.

Statt zu antworten, überlegte Daniel ernsthaft, ob er sich in den leeren Pool stürzen sollte. Wenn er sich den Kopf aufschlug, würden sie einen Krankenwagen holen, das müssten sie tun, und dann wären sie schuld, und er könnte hier endlich weg. Ein Stoß in den Rücken, und er fiel mit den Knien in den Schlamm.

»Antworte. Wie heißt er?«

Daniel bekam kein Wort heraus. Stattdessen stand er mit bebenden Schultern langsam auf. Auf seiner Pyjamahose wuchs ein dunkler Fleck, und um seine Füße bildete sich eine kleine Pfütze.

Durch die Menge ging Bewegung. Ein großer Junge bahnte sich einen Weg hindurch nach vorn. Markus Cartright hatte genug gesehen. Normalerweise nahm er an diesen kindischen Ritualen nicht teil, und jetzt wusste er auch wieder, warum. »Verdammt noch mal«, murmelte er und packte das Plüschtier, um es dem Kleinen zurückzugeben.

»Das reicht«, sagte er laut.

In der eintretenden Stille sah Daniel den Jungen an, der eingegriffen hatte. Jeder in der Schule wusste, wer er war. Daniel hatte seine Klassenkameraden über ihn reden hören und wusste: Cartright ist einer, der immer Ärger macht; er besäuft sich im Pub und zettelt Prügeleien an. Sein Vater ist irgendeine Art von Gangster. Dass der noch nicht im Knast sitzt, liegt einzig und allein daran, dass er die Polizei besticht.

»Alles klar bei dir?«, erkundigte sich Markus an Daniel gewandt. Daniel nickte. Markus’ Augen schimmerten sonderbar grünlich.

»Das hättest du nicht tun dürfen, Cartright.« Die drei Churchills traten näher.

»Du weißt doch, welche Strafe …« Ehe Churchill eins den Satz beenden konnte, hatte Markus ihm die Maske vom Gesicht gerissen, ihn an den Haaren gepackt und ihm seine Zigarette auf der Wange ausgedrückt. Ein scharfer Schrei erfüllte die Luft. Markus verdrehte dem Jungen den Arm hinter dem Rücken und stieß ihn mit dem Kopf voran in das tiefe Ende des Pools, wo er mit einem dumpfen Schlag aufkam und erstickt aufschluchzte. Die beiden anderen wichen zurück und zogen ihre Masken ab. »Komm schon, Markus«, versuchten sie, ihn zu beschwichtigen, »das ist doch nur ein Spiel. Wir machen das jedes Jahr.« Rasche, gezielte Hiebe in Gesicht und Nieren folgten, dann lagen beide am Boden. Mit seltsam konzentrierter Miene trat Markus zu, immer und immer wieder.

Daniel wollte wegsehen, konnte aber nicht. Es bereitete ihm beinahe selbst ein schlechtes Gewissen, wie Markus die beiden attackierte. Irgendwann drehte sich sein Retter zu ihm um und hielt mitten im Treten inne, als er Daniels Blick auffing. Mit einem tiefen Atemzug stemmte er die Hände in die Hüften.

»Ach, was soll’s? Ist sowieso Kraftverschwendung«, sagte er und spuckte auf den Boden. Dann bückte er sich und hob das zerrissene Comic-Heft auf, wischte es ab und reichte es Daniel. Auf dem durchnässten Cover kämpfte Superman gegen Lex Luthor. Ob Markus zu den Guten oder zu den Bösen gehörte, war schwer zu sagen. Es konnte durchaus sein, dass er sich nur eingemischt hatte, weil er sich prügeln wollte.

»Wenn du wieder mal in Schwierigkeiten steckst, kommst du gleich zu mir, okay?«, sagte Markus im Vorbeigehen.

Daniel Wiseman nickte, den Blick auf die beiden Jungen am Boden gerichtet. Es sollten achtzehn Jahre vergehen, bevor er auf das Angebot zurückkam.

1

Guatemala CityJuli 2005

Die Straßenlaternen flackerten, während mitsamt der tief stehenden Sonne das letzte Tageslicht aus der Stadt verschwand. Die Glockentürme des alten Kolonialviertels hoben sich gegen das Porzellanblau des Himmels ab, ein Blau, wie man es nur in Städten hoch über dem Meeresspiegel zu sehen bekam. Danny Wiseman wandte den Blick vom Schlafzimmerfenster ab und betrachtete sich in dem verschmierten Spiegel über der Spüle. Sein dreißigster Geburtstag. Allein, hier in dieser Stadt. Er schüttelte den Kopf. Es fühlte sich mehr wie der fünfzigste an. Ausgemergelte Züge mit grauen Tränensäcken unter geröteten Augen blickten ihm entgegen. Schwere, müde Glieder. Den Babyspeck, der ihn durch seine Schulzeit begleitet hatte, hatte er mit nächtlichen Überstunden und durch frühmorgendliches Training im Fitnessstudio längst weggearbeitet. Außerdem hatte ihm seine Karriere wenig Zeit für gemütliche Restaurantbesuche gelassen.

Er kehrte zum Schreibtisch zurück und schob sich auf dem glatten Deckel der Gideon-Bibel eine Kokain-Line zurecht, die dritte an diesem Abend. Den Kopf über dem Buch sog er das weiße Pulver durch eine zusammengerollte Fünfzigdollarnote ein. Ein Stich, gefolgt von Schwindel, durchfuhr ihn, als die Droge durch seine Synapsen schoss. Er warf die Bibel auf das Bett. Gott wäre deswegen sicher nicht beleidigt. Die Droge nahm er nicht aus Gewohnheit, sondern aus Notwendigkeit. Zu viel Arbeit, zu wenig Zeit. Der Laptop-Bildschirm schimmerte bläulich im Dunkeln. Die Zahlen darauf wurden klarer und größer. Codezeilen standen stramm und sprangen wie von selbst in die richtige Aufstellung. Ungeduldig wischte er mit bebenden Fingern den roten Tropfen weg, der ihm aus der Nase lief, und begann wie wild zu tippen. Nicht mehr lange. Der Coup stand kurz bevor.

Seit vier Monaten versteckte er sich jetzt hier in Guatemala City. Das Bett hatte er kaum gebraucht, jede verfügbare Oberfläche in seiner Bude war mit Ausdrucken übersät, überall stapelten sich Unterlagen, im Flur, in der Küche, im Bad. Auf dem Fußboden verstreut lagen Polaroids von den Opfern, die er hatte aufspüren können.

Das Chaos um ihn herum spiegelte seinen Geisteszustand wider. Seine Welt sah aus wie von Franz Marc gemalt, zerbrochene Formen, voller Halbwahrheiten und Geheimnisse. Irgendwie gelang es ihm, sie und sich selbst aufrechtzuerhalten. Tief in ihrem Innern gehorchte sie einer Logik, einer bestimmten Ordnung. An diesen Gedanken klammerte er sich, während er sich durch die Codes arbeitete, Passwörter knackte und Gelder auf Offshore-Konten transferierte: sieben verschiedene Konten unter sieben verschiedenen Namen. Die Zahlen flackerten vor seinen Augen, als er die Daten überprüfte.

Schließlich hob er das Gesicht vom Bildschirm und blinzelte ein paarmal. Sein Blick fiel auf das Foto, das am anderen Ende des Schreibtischs im Halbdunkel stand. Emily, die in ihre Kaffeetasse lachte, in einem Café in Venedig, am Canale Grande, im Hintergrund Palazzi im Schein der tief stehenden Herbstsonne. Der Moment, kurz bevor sie ihm sagte, dass sie ihn liebte, die Augen voller Verheißung.

Danny wandte sich ab. Er hätte das Bild längst wegwerfen sollen, zusammen mit dem ganzen anderen Zeug. Emily war genau wie alle anderen, wie sein Chef, seine Freunde und sein statusbesessener Vater. Sie weigerten sich, ihm zuzuhören, und erklärten ihm stattdessen, er hätte den Verstand verloren. Sie wollten nichts wissen von seinen Entdeckungen, den verästelten Buchungssystemen der Banken und deren Geheimnissen. Du solltest mal Urlaub machen. Du solltest zum Arzt gehen. Ehrlich, Daniel, weißt du eigentlich, dass du paranoid klingst? Wie ein Psychopath? Er hörte förmlich die herrische Stimme seines Vaters durch das Zimmer hallen. Ohne Beweise kann man niemanden anklagen. So läuft das nicht. So kann man einen Fall nicht vorbringen oder gar gewinnen.

Sein Vater Edward Wiseman, der vernunftgelenkte Staatsmann, der stets das passende Argument parat hatte. Er hatte immer noch gute Verbindungen, kannte Leute bei der Inneren Sicherheit – oder besser gesagt, bei den privaten Sicherheitsdiensten, die das Ministerium für die Drecksarbeit benutzte. Es wurmte Danny, dass der Alte seine Kontakte nicht nutzen wollte, um ihm zu helfen. Wiseman senior war so besorgt um sein politisches Vermächtnis, dass er dem Instinkt seines Sohnes nicht traute. Was, wenn der auf etwas stieß, was seinen Ruf schädigte? Wobei Danny bezweifelte, dass sein Vater tatsächlich so viel Vertrauen in ihn hatte. Wahrscheinlich hatte er vor allem Angst, sich durch irgendeine absurde Verschwörungstheorie lächerlich zu machen.

Danny schob die Gedanken beiseite. Einen Menschen gab es noch, an den er sich wenden konnte. Eine letzte Chance. Hoffentlich würde er auf diesen Kontakt nicht zurückgreifen müssen.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren.

»Was ist? Was wollen Sie?«, fragte er mit panischer Fistelstimme und sprang auf die Füße.

»Abendessen. Ich bringe Ihnen Ihr Abendessen.« Es war die Wirtin. Nur die Wirtin.

Er sperrte die beiden Schlösser der Eingangstür auf, schob den Riegel zurück und zog sie einen Spaltbreit auf. Draußen im Flur stand Margarita mit einem Teller Chili.

Sie spähte vorsichtig auf das Durcheinander hinter ihm. Der Amerikaner war mit zwei schwer aussehenden Taschen und einem nervösen Grinsen auf seinem verschwitzten Gesicht angekommen und hatte für sechs Monate im Voraus bezahlt. Sein einziger Wunsch war gewesen, dass die Wohnung Sicht zur Straße bot.

Beim Anblick dieses Chaos – maskierte Figuren, mit dickem Stift an die Wand gekritzelt, daneben unleserliche Sudeleien, zum Teil dick und schwarz durchgestrichen – fragte sie sich, ob sie ihn nicht bitten sollte, wieder auszuziehen. Die Summe, die er bezahlt hatte, würde für eine vollständige Renovierung mehr als genügen, doch allmählich begann es in der Wohnung zu stinken, nicht nur durch das schmutzige Geschirr, das sich in der Spüle stapelte. Wenn er sie nicht bald sauber machen ließ, würden die Ratten kommen.

»Gracias«, sagte er und griff gierig nach dem Teller. Er stieß die Tür mit dem Fuß zu und schob sich einen Löffel voll von dem heißen, scharfen Rindfleisch in den Mund. Kauend betrachtete er die Wände des Zimmers. Sein System. So passte alles zusammen. Eine große Karte mit Nadeln und Bändern, die die verschiedenen Zielpunkte in der Stadt miteinander verbanden, jeweils mit Notizen versehen.

Danny fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Draußen war es inzwischen dunkel. Ein paar räudige Köter schnüffelten am Laternenpfahl. Die Straßen, die tagsüber voller Menschen waren, lagen verlassen da. Auf der gegenüberliegenden Seite des breiten Boulevards parkte ein verrosteter, verbeulter Dodge Pick-up. Danny dachte sich nichts dabei. Die alte Karre stand schon da, seit er hier wohnte, ein fester Bestandteil des Straßenbilds. Er nahm Baseballkappe und Jacke und ging die Wendeltreppe nach unten. Er brauchte Luft. Er brauchte Dope; irgendetwas, das ihn durch die kommenden paar Tage brachte und seinen Verstand wachhielt – und den Totalzusammenbruch hinausschob, dem er sich unausweichlich näherte.

2

Gloria Ferrovia überprüfte ihren Lippenstift im Rückspiegel des Dodge. Sie zog einen Schmollmund und rückte ihren BH zurecht. Die vereinzelten grauen Strähnen in ihrem dunklen Haar waren in diesem Licht nicht zu erkennen. Sie nahm ihren Mascara aus der Handtasche und tuschte sich die Wimpern nach, dann hob sie ihr Halskettchen an den Mund und küsste den Anhänger.

Der Amerikaner erschien im Eingang des Mietshauses, blickte rasch rechts und links die Straße entlang und hastete dann los, an seinen Füßen wie immer die unvermeidlichen Converse, deren weiche Sohlen auf dem Pflaster keinen Laut erzeugten. Normalerweise hatten Fremde stets mit der Luft in der Stadt zu kämpfen, die durch die Höhe dünn und außerdem mit Abgasen geschwängert war.

Gloria griff zum Mobiltelefon. »Er verlässt das Haus.«

»Bleiben Sie dran.« Die Stimme am anderen Ende klang schroff und ungeduldig.

Gloria stieg aus dem Wagen und zupfte unbeholfen mit einer Hand an ihrem engen Rock, der ihr über die Schenkel hochgerutscht war, während sie in der anderen das Handy hielt. Sie hatten ihr gesagt, sie solle so gut wie möglich aussehen, aber auf keinen Fall wie eine Nutte. Sie sollte Klasse ausstrahlen, aber auch, dass sie noch zu haben war. Als ob die wüssten, was Klasse bedeutete.

Der Amerikaner wirkte noch konfuser als sonst und blieb ständig stehen, um über die Schulter zu blicken. Doch sie kannte alle Seitengässchen und Eingänge, in die man sich ducken konnte – das alte Kolonialviertel von Guatemala City war voller Schatten; der überladene spanische Barock mit seinen imposanten Säulen und wuchernden Arabesken spaltete das orangegelbe Licht der Straßenlaternen in zerrissene Formen auf. Heute nehmen Sie Kontakt auf, hatten sie ihr gesagt. Sprechen Sie ihn an und führen Sie ihn zur alten Kirche Santa Maria, in die Straße dahinter. Da wird ein roter Transporter stehen. Sie bringen ihn dorthin, und dann verschwinden Sie so schnell wie möglich.

Sie hatte nicht weiter nachgefragt. Sie hatte nicht wissen wollen, wer dieser Amerikaner war. Sie hatte nur das Geld genommen. Wenn er dadurch mit bösen Menschen zu tun bekam, dann war es eben so. Man hatte ihr fünfhundert Dollar im Voraus gegeben, und fünfzig weitere bekam sie für jede Nacht, die sie im Dodge saß. Zwei Wochen lang dasitzen und beobachten: Das war der einfachste Job, den sie je gehabt hatte. Viel besser jedenfalls, als in den Cafés der Zona Viva zu bedienen, wo man unablässig den grapschenden Fingern der Touristen und ausländischen Geschäftsmänner ausweichen musste.

Der Amerikaner verschwand am Ende der Straße in einer Bar. Gloria blieb stehen und überprüfte im Schaufenster einer Apotheke noch einmal ihr Äußeres. Dann ging sie ein paar Schritte weiter, ehe sie ihre Turnschuhe auszog und in die Handtasche steckte. Es war Zeit für die High Heels. Sie wartete noch zwei Minuten, dann stieß sie die Tür zur Bar auf und trat ein.

»Me gustaría la especialidad de la casa«, sagte Danny. Ich möchte die Spezialität des Hauses. Der Barmann musterte die geröteten Adern um seine Nasenlöcher und die geweiteten Pupillen und bedeutete ihm mit einem Nicken, ins Hinterzimmer durchzugehen. Die Bar war leer. Es war Montagabend. Danny ging an den billigen Chromstühlen vorbei und wartete vor der Hintertür. Als er hörte, wie der Türöffner summte, trat er hindurch. Vor ihm erschien eine weitere Tür mit einer Klappe, die sich sofort öffnete. Er legte zwanzig Dollar auf das kleine Bord darunter. Die Klappe ging zu, und als sie sich erneut öffnete, lag auf dem Bord ein Plastiktütchen mit drei Gramm Kokain. »Gracias«, murmelte er. Persönlich war der Service hier nicht gerade.

Danny kehrte in die Bar zurück. Inzwischen war noch jemand gekommen, eine Frau, die mit dem Barmann sprach.

»Kommen Sie, trinken Sie noch was, bevor Sie gehen«, sagte der Barmann. Danny warf einen raschen Blick auf die Frau, die einen Minirock und hohe Absätze trug. Doch sie ignorierte ihn. Gut so. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Bordsteinschwalbe, die ihn belästigte. Normalerweise endete das immer damit, dass er die Frau bezahlte, damit sie ihn in Ruhe ließ. Normalerweise.

»No, gracias«, lehnte er mit nervösem Lächeln ab.

»Kommen Sie schon. Geht aufs Haus.«

Danny wusste nicht recht, was er tun sollte. Wenn das Kokain etwas taugte, würde er wiederkommen müssen. »Okay«, sagte er schließlich, nahm das angebotene Bier und setzte es an die Lippen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, murmelte er und leerte das Glas, ohne abzusetzen.

»Du hast Geburtstag?«, sagte die Frau. »¡Feliz cumpleaños!« Sie hob mit feierlicher Geste ihr Glas, und ein Lächeln erhellte ihre Züge, die ihm zunehmend attraktiver erschienen.

»Danke«, erwiderte er, überrascht von ihrem Blick und der stummen Aufforderung, die er darin las.

Gloria wandte sich an den Barmann. »Noch eins«, sagte sie und deutete auf ihr leeres Glas. »Und du?«, fragte sie Danny, der erst murmelte, dass er nach Hause müsse, weil dort Arbeit auf ihn warte, dann aber doch nickte.

Das dürfte wohl ein Kinderspiel werden, dachte Gloria. Umso besser. Umso einfacher wurde dieser Job. Sie überlegte, wie lange sie ihn wohl beschwatzen müsste, bis sie ihn so weit hatte, dass er mit ihr kam.

»Du bist Amerikaner, nicht wahr? Das höre ich an deinem Akzent. Bist du hier im Urlaub?«

Danny wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Haut prickelte. Er sollte das nicht tun. Er sollte mit niemandem reden. »Irgendwie schon. Ich mache Recherchen und wollte mal weg. Ist so eine Art Arbeitsurlaub.« Halt die Klappe, Danny, beschwor er sich. Doch die Worte überschlugen sich förmlich, so eilig hatten sie es, seinen Mund zu verlassen. Es war so lange her, dass er mit einem anderen Menschen gesprochen hatte. Er blickte wieder Gloria an. Mit einer Frau.

»Tja, dann sind Sie hier genau richtig«, erklärte der Barmann, der mit einem von Schmutz befleckten Geschirrtuch ein Glas polierte. »In dieser Stadt kann man sich verlieren. Was machen Sie denn beruflich?«

»Ich bin Wirtschaftsprüfer«, entgegnete er rasch.

Der Barmann hob die Augenbrauen. Die Frau sah aus, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden.

»Wirtschaftsprüfer?«, wiederholte sie. Der Mann schien nicht zu hören, fingerte unsicher an seiner Stirn herum und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Gloria und der Barmann tauschten einen skeptischen Blick.

»Alles okay mit Ihnen? Vielleicht sollten wir ein Taxi für Sie rufen«, sagte der Barmann. »Wo wohnen Sie denn?«

Danny blickte auf. Was hatte der Typ gesagt? Warum wollte der wissen, wo er wohnte? »Das ist alles ein Irrtum. Ich sollte gar nicht hier sein. Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt gehen.«

Er schob sich an der Frau vorbei, stolperte über einen niedrigen Tisch, fand sein Gleichgewicht wieder und stieß die Tür auf. Nichts wie raus. Er drehte seinen Kopf hin und her, um die Straße hinauf- und hinabzublicken. Da war niemand. Vielleicht fing er schon an zu halluzinieren. Vielleicht aber auch nicht. Er joggte zu seiner Wohnung zurück.

»Mierda«, sagte Gloria leise und trat von der Bar weg, um nach draußen zu gehen, wo sie sich eine Zigarette anzündete und ihr Telefon herausholte. »Er ist weg.«

»Wohin?«

»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich zurück in seine Wohnung. Ein Spinner.« Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.

»Führen Sie uns zu der Adresse. Danach brauchen wir Sie nicht mehr«, sagte die Stimme dann.

»He, ich kann nichts dafür«, protestierte sie. »Sie schulden mir noch Geld für die letzten beiden Nächte …«

Doch die Leitung war bereits tot.

3

Unter schwerem, hektischem Atmen öffnete Danny die Tür zu seiner Wohnung. Er besprengte über der Küchenspüle sein Gesicht mit Wasser und steckte dann den Kopf unter den Wasserhahn. So war es schon besser. Er spürte, wie sein Gehirn wieder zu arbeiten begann und sein Herzschlag sich beruhigte. Es war ein Fehler gewesen, sich auf ein Gespräch einzulassen. Aber es war so lange her, dass er zuletzt mit jemandem geredet hatte. Und dann diese Frau … Voller Wut auf sich selbst griff er zu einem Handtuch und rubbelte sich energisch den Kopf. Schluss damit. Zurück an die Arbeit.

Als er auf dem Weg ins Schlafzimmer aus dem Küchenfenster blickte, fiel ihm ein roter Transporter auf, der hinter dem alten Dodge hielt, auf den Vordersitzen drei dunkle Gestalten. Er blieb stehen und sah einen Moment zu. Niemand stieg aus, doch dann ging jemand auf das Fahrzeug zu. Die Frau aus der Bar. Sie winkte den Männern im Transporter zu und deutete auf sein Haus.

Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, was als Nächstes geschehen würde.

Danny packte in aller Eile sämtliche Unterlagen, Notizen, Zeichnungen und Fotos zusammen und stopfte sie in eine Plastiktüte. Mit klopfendem Herzen eilte er die Treppe hinunter zur Wohnung seiner Wirtin und klopfte an die Tür.

»Margarita! Margarita, bitte! Hier ist Danny. Ich brauche Ihre Hilfe. Bitte, Margarita!« Keine Antwort. Er klopfte erneut.

»Was soll das werden? Wollen Sie die Toten auferwecken?« Margaritas Mann öffnete in Hemdsärmeln und Hosenträgern, sein großer Bauch hing ihm über den Hosenbund. Im Hintergrund lärmte ein Fernseher.

»Bitte, nehmen Sie das und schicken Sie es an folgende Adresse …« Er reichte dem Mann die Tüte voller Papiere, die bereits an mehreren Stellen zu reißen drohte, und kritzelte Namen und Adresse seines alten Schulkameraden Markus Cartright auf einen Zettel. Freund wäre zu viel gesagt gewesen – heutzutage hatte Markus sowieso nur noch Zeit für seine Arbeit und seinen Suff. Als Danny zuletzt in London gewesen war und sich telefonisch bei ihm gemeldet hatte, hatte er nicht einmal zurückgerufen. Danny zögerte kurz, ehe er den Zettel mitsamt einem Fünfzigdollarschein übergab. Hoffentlich musste er diese Entscheidung nicht irgendwann bereuen.

»Wer ist da?«, ertönte Margaritas Stimme über das Dröhnen des Fernsehers.

»El loco de arriba«, rief ihr Mann zurück. Der Spinner von oben. »Er will, dass wir etwas für ihn bei der Post aufgeben.«

»Ja, ja«, kam die Erwiderung in ungeduldigem Ton. Um diese Tageszeit schaute sie Mi Pecado, ihre Lieblingsseifenoper. Da ließ sie sich von nichts und niemandem stören.

»Ja, ja«, wiederholte ihr Mann und nahm die Tüte entgegen.

Drei Stufen auf einmal nehmend stürmte Danny in seine Wohnung zurück. Er zerlegte seinen Laptop mit einem Brotmesser und zertrat die Festplatte. Die restlichen Papiere übergoss er mit Feuerzeugbenzin und zündete sie an. Dann setzte er sich vor das Feuer und sah zu, wie die Zeichnungen an der Wand im flackernden Schein tanzten.

4

Flood Street, London, zwei Wochen später

Die Straße war auf die Seite gekippt, und trotzdem blieben die Reifen des Wagens irgendwie an der vertikalen Fläche haften. Markus Cartrights whiskygetränktes Hirn verstand nicht recht, warum sie nicht alle abrutschten und mit lautem Platschen in die Themse fielen.

»Noch so eine Nummer wie diese, und Sie sind wegen Beamtenbeleidigung dran«, sagte die Stimme über ihm.

Markus zuckte zusammen, als sich das Knie des Mannes in seinen Rücken bohrte und seine Wange gegen die raue Oberfläche der Straße drückte.

»Schon gut, schon gut. Um Himmels willen«, erwiderte er. »Was immer sie Ihnen auch erzählt hat – es ist immer noch mein Haus. Und zwar ganz und nicht nur zur Hälfte.«

»Ist das so?« Der Polizist drehte den Kopf von ihm weg in Richtung Tür, in der die Frau stand. Ihre schmale Silhouette hob sich gegen das Licht ab, das aus dem Haus drang.

Markus spürte, wie der Druck in seinem Rücken nachließ.

»Nun ja, juristisch gesehen, mag das stimmen, aber …«

Die Frau wurde von einer zweiten Stimme unterbrochen. »Hören Sie, Officer, darum geht es hier nicht«, sagte ein Mann in überheblichem Ton. »Tatsache ist, dass er hier aufgetaucht ist und meine Partnerin sich bedroht fühlte. Schauen Sie sich doch an, in welchem Zustand er ist.«

Partnerin? Partnerin?! Das Wort hallte dröhnend in Markus’ Schädel wider. Es war kaum einen Monat her, dass er ausgezogen war, und schon nannte dieses anmaßende kleine Arschloch Natalie seine Partnerin.

»Ich habe niemanden bedroht. Ich habe nur darum gebeten, mein Haus betreten zu dürfen.«

Der Polizist nahm sein Knie von dem Mann im dunklen Anzug. Verdammte häusliche Gewalt. Es war immer das Gleiche, ob in einem Wohnblock in Hackney oder einer Nobeladresse wie dieser hier in Chelsea.

»Sie machen bitte keine Schwierigkeiten, wenn ich Sie jetzt aufstehen lasse, Sir«, sagte er betont langsam zu Markus.

»Glauben Sie mir, ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem Schwierigkeiten zu machen.« Der Polizist trat mit steifen Schritten zurück und sah misstrauisch zu, wie der Mann im Anzug aufstand.

»Außer vielleicht diesem Arschgesicht da drüben«, fügte er mit einem angedeuteten Lächeln seelenruhig hinzu, während er sich den Anzug abklopfte.

Der Polizist fand das nicht sonderlich lustig und machte drohend einen Schritt auf ihn zu.

»He«, sagte Markus und hob die Hände. »War nur ein Witz.«

»Sehe ich aus, als hätte ich Humor?« Der Polizist fixierte ihn streng. Er war kräftig gebaut, fast so groß wie Markus, und seine schweren, rohen Züge sahen aus, als hätte ein Kind sie aus Knete geformt – ein Kind, das ebenfalls keinen Sinn für Humor hatte.

»Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte er das Paar im Türrahmen. Im Grunde gab es gar keinen Anlass. Vielleicht wäre es später noch zu einer Eskalation gekommen, wenn er nicht dazwischengegangen wäre. Beide antworteten gleichzeitig, die Frau mit Nein und der Mann mit Ja. Dem Polizisten war der Kerl alles andere als sympathisch.

»Also, was ist jetzt?«, hakte er ungeduldig nach.

»Nein«, sagte der Mann schließlich. »Wir belassen es diesmal dabei.«

Markus musste sich sehr zusammenreißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Bei was? Er hatte überhaupt nichts getan. Okay, vielleicht hatte er ein wenig länger an die Tür geklopft als nötig, vielleicht war er ein bisschen zu laut geworden und hatte ein oder zwei Bemerkungen über die Beischlafgewohnheiten von Natalies neuem Lover gemacht – aber getan hatte er nichts. Andernfalls könnte er nämlich nicht mehr sprechen, der arrogante Schnösel, geschweige denn Anzeige erstatten.

»Ich werde jetzt Ihre Personalien aufnehmen und eine Verwarnung aussprechen, verstehen Sie das?«

Markus nickte und atmete tief durch.

»Kommen Sie mit«, sagte der Beamte und führte ihn ein Stück weiter die Straße hinunter, um unter einer Laterne stehen zu bleiben. »Sie müssen sich erst mal beruhigen. Machen Sie einen Spaziergang. Wie heißen Sie?«

»Markus Cartright.« Der Polizist wich einen Schritt zurück und musterte ihn.

»Cartright?«, wiederholte er, als wäre der Name ein Lied, an dessen Interpreten er sich nicht erinnern konnte.

Markus nickte. Ob der Mann seinen Vater kannte? Solche Dinge hatte er schon öfter erlebt; einmal, als er wegen zu schnellen Fahrens auf der Waterloo Bridge angehalten worden war, und ein anderes Mal, als man ihn auf die Polizeiwache in Marylebone geschleppt hatte, weil er einen Polizisten fotografiert hatte, der auf einen aggressiven Betrunkenen losging. Es waren immer die älteren Bullen, denen Ivan Cartright noch ein Begriff war, diejenigen, denen sein Fahndungsfoto ein vertrautes Bild war und die einst lange Nächte vor seinen Klubs ausgeharrt hatten. Monatelang war damals gegen seinen Vater ermittelt worden; am Ende war er wegen Hehlerei und schwerer Körperverletzung angeklagt worden, doch beide Verfahren waren eingestellt worden, nachdem die Zeugen verschwunden waren. Markus war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten: die gleichen scharfen Augen, hohe Wangenknochen und eigentümlich abwärts gebogene Mundwinkel, die ihm stets den Anschein gaben, als hätte er sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse verzogen.

»Mein Vater«, sagte Markus. »Ivan Cartright war mein Vater.«

Der Polizist hob seine schwere Hand und kratzte sich an der Wange. Dann drehte er sich um und spuckte einen Schleimklumpen neben Markus’ Schuh auf die Straße.

»Verstehe«, erwiderte er. »Dann haben Sie jetzt seine Geschäfte übernommen?«

»Die gibt es nicht mehr. Ich habe seine Betriebe nach seinem Tod geschlossen. Ich bin Journalist, Fotojournalist.«

Der Polizist sah ihn ungläubig an. Genauso hätte er ihm erzählen können, er hätte sich den Pfadfinderinnen angeschlossen.

»War es schlimm?«

»Was?«

»Sein Tod.«

Markus zuckte die Achseln. »Ich bezweifle, dass er überhaupt viel davon mitbekommen hat.«

»Ein Jammer«, seufzte der Polizist. »Ihre Personalien bitte.«

Markus musste einen Augenblick nachdenken, ehe er sagen konnte, wo er wohnte. Es war ungewohnt, sein Fotostudio in Brixton als Heimatadresse zu nennen – andererseits lebte er seit zwei Wochen wirklich dort. Er konnte sein Zeug da am besten unterbringen; das meiste stapelte sich in Kartons zwischen der Studioausrüstung und leeren Fastfood-Behältern.

»Kann ich jetzt gehen?«

Der Polizist war unentschlossen. Der Ton dieses Typs gefiel ihm nicht. Ebenso wie der Ausdruck auf seinem Gesicht. Die gleiche Arroganz, die gleiche Mir-kann-niemand-was-anhaben-Mentalität wie bei dem Alten. Wenn er vorher gewusst hätte, wer der Kerl war, hätte er ihn gleich einkassiert, in eine Zelle gesteckt und ein paar Kollegen gebeten, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Die Ähnlichkeit war frappierend. Und jeder kannte die Gerüchte über den alten Cartright. Was er mit Leuten gemacht hatte, die ihm in die Quere gekommen waren.

Er zog eine Grimasse. »Machen Sie schon, dass Sie wegkommen«, sagte er schließlich widerstrebend.

Markus wandte sich ab und steuerte auf die King’s Road zu. Es war vierzehn Jahre her, dass sein Vater im eigenen Pool ertrunken war, und doch machte es Markus jedes Mal fertig, wenn er daran dachte. Ivan Cartright war gut darin gewesen, andere fertigzumachen, er hatte geradezu ein besonderes Talent dafür gehabt, und das war ihm beim Aufbau seines Klub-Imperiums in Soho – Spielhöllen, Striplokale, ein bisschen Schutzgelderpressung nebenbei – äußerst nützlich gewesen. Nicht schlecht für den kleinen Rotzlöffel aus der Tschechoslowakei, was?, pflegte er mit einem Glitzern in den Augen zu sagen, wenn er Gästen sein Haus in Hampstead zeigte. Das Haus hatte er zu derselben Zeit gekauft, als er seinen Namen änderte: von Javanovic in Cartright. Mit einem englisch klingenden Nachnamen ließen sich im London der Siebzigerjahre wesentlich einfacher Geschäfte machen.

Markus sah sich nach einem Taxi um. Einerseits hätte er am liebsten das Werk vollendet, das er mit der halben Flasche Whisky begonnen hatte, und sich einen Vollrausch angesoffen. Halb betrunken zu sein war irgendwie Zeitverschwendung. Es war wie das schlechte Remake eines alten Filmklassikers – die gleiche Story, aber die falsche Atmosphäre. Andererseits war er immer noch so erbost über den Anblick von Natalie und ihrem neuen Kerl, dass er am liebsten Löcher in eine Steinmauer gehackt hätte. Er winkte ein Taxi heran, das auf der Straße wendete. Die hellen Lichter der Cafés und Bars malten Muster wie aus flüssigem Neon auf die schwarzen Hochglanztüren.

»Wohin?« Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster.

»Eastend, Southampton Row 115.«

5

Markus stützte sich mit geschlossenen Augen auf die Ellbogen. Schon zum zweiten Mal an diesem Abend lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Nur dass diesmal kein Polizist über ihm war, der ihm das Knie in den Rücken stemmte, sondern jemand, der ihn auszählte. Drei, vier, fünf. Er schüttelte den Kopf, und Schweiß spritzte auf den Ringboden. Sechs, sieben. Noch gab er sich nicht geschlagen. Als er sich aufrichtete, protestierte seine Rückenmuskulatur heftig, aber die Seile halfen beim Aufstehen. Das Zählen hatte aufgehört. Der Gegner war eine verschwommene Gestalt, die vor ihm herumtänzelte, ein Grinsen unter dem Kopfschutz.

»Komm schon, Marky-Boy, gib auf, lass uns lieber einen trinken gehen«, rief Steve fröhlich mit breitestem Cockney-Akzent und schlug ungeduldig die Boxhandschuhe aneinander. Markus war etwas aus der Übung – als sie noch jünger waren, hätte Steve ihn nie so leicht mit einem linken Haken erwischt.

»Eine Minute hab ich noch«, keuchte Markus. »Um dir zu zeigen, wie ein Profi verliert.«

»Das könnte dir so passen.« Steve lachte und duckte sich unter Markus’ schnellem linkem Aufwärtshaken weg.

Markus hatte seit den Zeiten, als sie zusammen trainiert hatten, zwar ein paar Pfund zugelegt, aber er war immer noch leichtfüßig und stark. Steve zuckte zusammen, als ihn ein Körperschlag traf, und tänzelte nach links, wo er mehrere Jabs auf die Gürtellinie einsteckte. In dem Moment, als die Ringglocke ertönte, landete Markus einen schweren Haken auf seinem Kinn, dem ein Schlag in den Magen folgte, bei dem er sich nur noch einkrümmen konnte.

»Verdammt noch mal«, sagte Steve und rang um Atem, »bist du auf deine alten Tage taub geworden? Die Glocke ging schon vor einer halben Stunde.«

Markus wandte sich ab und zog sich in seine Ecke zurück, ohne seinen alten Freund anzusehen. In ihm kochte immer noch die Wut. Er spuckte den Zahnschutz aus und riss mit den Zähnen an den Schnüren seiner Handschuhe.

»Also?«, fragte Steve.

»Wie wäre es mit einem Bier? Geht auf mich«, erwiderte Markus. Mehr Entschuldigung war von ihm nicht zu erwarten.

Sie gingen um die Ecke ins King’s Head, ein schäbiges Pub mit wackeligen Stühlen, aber vernünftigem Ale. An der Bar reihten sich mit ernsten Mienen die Stammgäste auf, deren Hocker im Lauf der Jahre die Form ihrer Hintern angenommen hatten.

»Sagst du mir jetzt, was du hast, oder müssen wir uns noch mal gegenseitig auf die Mütze hauen?«, fragte Steve. Seit der Beerdigung des alten Cartright hatte er Markus nicht mehr so gesehen, mit finsterem Blick und saurem Whisky-Atem.

»Du meinst, ich bin nicht nur wegen deiner angenehmen Gesellschaft hier?«, entgegnete Markus und bezahlte das Bier.

Steve hob sein Glas und leerte es zur Hälfe. »Tu mir einen Gefallen und quatsch keinen Unsinn. Du kommst praktisch gar nicht mehr in diesen Teil der Stadt. Also, was ist los?«

Markus nahm den Whisky, den er zum Nachspülen bestellt hatte. Er hatte noch niemandem von der Trennung erzählt, weil er sie selbst noch nicht so ganz begriffen hatte.

»Erinnerst du dich an Natalie?«, setzte er schließlich an und bedeutete dem Barmann, eine weitere Runde zu bringen. »Es läuft nicht besonders gut.« Er fuhr sich mit der Hand durch das kurzgeschorene Haar. »Wobei das noch ziemlich untertrieben ist. In den letzten Monaten war es offener Krieg. Ich muss beruflich oft ins Ausland. Das findet sie gar nicht gut. Sie will, dass ich damit aufhöre.«

»Dann hör damit auf«, riet Steve knapp. »Du kannst mir nicht erzählen, dass du es immer noch toll findest, mit einer halben Tonne Fotoausrüstung auf dem Rücken durch beschissene Sümpfe und Wüsten zu kriechen. Ich dachte, du hättest dich zur Ruhe gesetzt?«

Markus zuckte die Achseln. »Das dachte ich auch.« Er drehte das leere Whiskyglas auf dem Tisch.

»Hat sie dir ein Ultimatum gestellt?«

»Mehrere. Am Ende sind wir immer bei Mila.«

»Wie alt ist sie jetzt?«

Markus musste einen Moment überlegen. »Drei. Ihr Geburtstag war kurz vor Weihnachten.«

»Und? Wurde groß gefeiert?«

»Ja. Ich konnte aber nicht dabei sein, weil ich einen Auftrag in Bagdad hatte.« Er fing Steves Blick auf, in dem er so etwas wie Missbilligung zu erkennen glaubte.

»Ich bin selbstständig. So eine Gelegenheit lässt man sich doch nicht entgehen«, versuchte er sich zu rechtfertigen.

»Du meinst, du lässt dir so etwas nicht entgehen«, erwiderte Steve. »Hör zu, wenn es um das Kind geht, darfst du es nicht vermasseln. Wenn sie meint, dass du nicht oft genug da bist, wird sie sich jemand anders suchen.«

»Das hat sie schon«, sagte Markus. »Verdammt, das hat sie schon.«

Jetzt war es raus. Die Frau, mit der er fünf Jahre zusammen gewesen war, hatte ihn abserviert, sie hatte Markus Cartright für einen Fernsehproduzenten abserviert. Sein Ego lag immer noch auf der Straße vor seinem ehemaligen Zuhause.

»Ohne Scheiß«, sagte Steve nach einer angemessenen Pause.

»Ohne Scheiß. Ich bin letzten Monat ausgezogen.«

Steve nahm einen Bierdeckel in die Hand und fing an, an den Ecken zu zupfen. »Wer ist es? Soll ich ihm zeigen, wo es langgeht?«

Markus musste beinahe lachen, doch dann sah er, dass Steve es ernst meinte. »Nein, aber danke für das Angebot. Es ist jemand, mit dem sie zusammenarbeitet. Ein Typ Ende zwanzig. Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Hab ihn, um ehrlich zu sein, für schwul gehalten. Außerdem sieht er aus wie zwölf.«

»Willst du nicht versuchen, es wieder hinzubiegen – für das Kind?«

Markus schluckte. Er hatte darüber nachgedacht. Aber er konnte ihr nicht verzeihen. Es ging einfach nicht. »Vielleicht kommt irgendwann eine Zeit, in der ich nicht jedes Mal, wenn ich sie sehe, einen Stein gegen eine Wand schleudern will. Aber im Moment muss ich mich von ihr fernhalten.«

Um 00:15 Uhr wankte Markus an der U-Bahn-Station Liverpool Street über die Rolltreppe nach unten und bestieg den Zug der Central Line. Stevie war ein Kumpel, ein richtig guter Kumpel. Er sollte ihn viel öfter besuchen. Er hätte es auch in den zurückliegenden Jahren viel öfter tun sollen. Das Problem war, dass Natalie so snobistisch war. Sie mochte es nicht, wenn er sich mit seinen alten Freunden aus dem Boxgym traf. Schon gar nicht in ihrem gemeinsamen Haus. »Woher kennst du diese Leute überhaupt?«, hatte sie entsetzt ausgerufen, als er eines Abends mit einem blauen Auge und blutigen Fingerknöcheln heimgekommen war.

Er hatte versucht, es ihr zu erklären. Steve war der Sohn des Chauffeurs seines Vaters gewesen. Sie waren zusammen aufgewachsen. Zumindest so lange, bis Markus ins Internat kam. Steve war ein guter Kerl, er war zuverlässig und außerdem ein guter Boxer. »Also, ich will gar nicht wissen, was das für Primatenhirne sind, die ihre Zeit damit verbringen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen«, hatte Natalie in provozierend affektiertem Ton entgegnet. Lass es gut sein, beschwichtigte er sich selbst und schloss die Augen. Es hatte keinen Sinn, immer wieder an die alten Streitereien zurückzudenken. Er war kurz davor einzuschlafen, als er seine Station erkannte: Oxford Circus. Er hievte sich müde aus dem Sitz und wartete, bis sich die Türen öffneten. Jetzt umsteigen in die Victoria Line. Der Weg zum Fotostudio war ihm alles andere als vertraut. Die meisten seiner Sachen waren noch unter dem Feldbett verstaut … nein, das stimmte gar nicht. Die meisten seiner Sachen hatte sich Natalie unter den Nagel gerissen, bevor sie die Türschlösser auswechseln ließ.

Mit unsicheren Schritten überquerte er die Brixton Road, die trotz der späten Stunde voller Autos und Busse war, die Fußgänger anhupten, und kehrte taumelnd in sein Studio zurück. Die Treppe des alten Lagerhauses hochgehen, den Schlüssel ins Schloss fädeln, das klappte alles noch ganz gut. Doch die Tür schwang von allein auf – so ging das normalerweise nicht. Normalerweise musste man vorher den Schlüssel drehen. Er trat über die Schwelle. Das Holz um das Sicherheitsschloss war gesplittert. Auch das war nicht so, wie es sein sollte.

Sein vom Alkohol benebeltes Gehirn brauchte einen Augenblick, um zu reagieren, nicht mit Angst, Entsetzen oder Panik, nein, mit Verärgerung. Es müsste jemand kommen, um das zu reparieren. Er griff zum Handy. Was machte man, wenn man die Nummer eines Schlüsseldienstes brauchte, sich aber nicht einmal auf die Tasten konzentrieren konnte? Ihm fiel keine Lösung ein. Er stolperte im Raum herum. Auf den ersten Blick schien nichts entwendet worden zu sein, jedenfalls keine seiner Kameras. Andererseits war es schwer zu sagen, so chaotisch wie es hier aussah. Er schob ein paar schwere Umzugskisten vor die Tür, damit sie nicht aufging. Ich muss mich bloß kurz ausruhen, dachte er, einfach hier auf dem Fußboden. Dann ruf ich die Polizei und den Schlüsseldienst. Nur für einen Moment die Augen zumachen. Das Zimmer drehte sich um ihn und wirbelte ihn auf Wolken aus Whiskydämpfen in den Schlaf.

Doch lange schlief er nicht. Der kalte Luftzug, der durch die Tür drang, strich unangenehm über seinen Nacken und ließ ihn immer wieder aufschrecken. Er dämmerte weg, zuckte halb wach zusammen und fiel dann erneut in unruhigen Schlaf. Aus der Dunkelkammer am Ende des Flurs drang ein dumpfer Schlag. Instinktiv tastete er nach Natalie. Doch da war niemand, natürlich nicht. Er lag auf dem Boden in seinem Studio. Allein. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Kehle fühlte sich an wie ein Staubsaugerbeutel, und der Raum drehte sich immer noch um ihn. Wasser – das war es, was er jetzt brauchte. Mühsam hievte er sich auf die Beine und zog sich an der Arbeitsplatte entlang. Das Mikrowellengerät zeigte in roten Ziffern 01:00 Uhr an. Mehr als ein paar Minuten hatte er also nicht geschlafen. Er griff zum Wasserhahn und nahm ein Glas vom Abtropfgitter. Und dann sah er ihn. Am Ende des Flurs. Ein Schatten, der sich aus dem Dunkeln löste, mit jeder Sekunde größer wurde, immer näher kam und sich auf ihn stürzte.

6

Pincanno Ranch, 50 km außerhalb von Guatemala City

Danny Wiseman öffnete die Augen, aber dadurch änderte sich nichts, alles blieb schwarz. Also schloss er sie wieder. Das Wasser stand ihm bis zum Hals. Den Boden konnte er mit den Füßen nicht erreichen, und seine Schultern schmerzten, weil er die Arme gegen die Seiten des Tanks pressen musste, um nicht unterzugehen. Sein Körper trug die Spuren ihres Verhörs. Abgerissene Fingernägel, mindestens drei gebrochene Rippen, die sich in seine Lunge bohrten, die Haut auf der Innenseite seiner Schenkel wund und rot von Elektroschocks.

Als sie ihn holten, hatten die Flammen bereits alles verzehrt, nur die Asche seiner Unterlagen glomm noch zu seinen Füßen. Sie traten nicht die Tür ein oder fuchtelten hektisch mit ihren Waffen herum, nein. Es waren Profis, die ihren Kunden gegenüber verantwortlich waren, und keine Gelegenheitsverbrecher. Er hörte ein leises Klicken, als sie das Schloss knackten, und beobachtete ihre Schatten in dem schmalen Lichtspalt unter der Tür. Es gab keine Möglichkeit für ihn, sich zu verstecken, und zum Wegrennen war er nicht geschaffen. Er hob die Hände über den Kopf.

»Hier, ich bin hier. Nicht schießen«, sagte er mit hoher Stimme. Sie waren zu dritt. Zwei davon sahen aus wie Einheimische, stämmig, muskulös, mit schläfrigem Blick, als würde sie die routinierte Brutalität ihrer Arbeit langweilen. Hinter ihnen folgte ein großer, schlaksiger Typ, lässig gekleidet in grauem T-Shirt, Jeans und ausgetretenen Nikes an den Füßen. Danny schätzte ihn auf Anfang vierzig. Seine Wangen waren voller Aknenarben, und seine Haut schimmerte rötlich, als würde er sich viel draußen aufhalten, ohne sich um Sonnenschutz zu scheren.

»Mr Wiseman?«, fragte er leise, mit einem Akzent, zu dem gut ein Stetson gepasst hätte, ein Südstaaten-Slang, der so stark war, dass man ihn sogar aus zwei fast geflüsterten Worten heraushörte. Danny nickte. Die Hände in die Seiten gestützt, ging der Mann langsam im Raum herum und betrachtete die Wände. Dann schaltete er das Licht ein. Wer auch immer er war, er schien es nicht eilig zu haben, und es war ihm offenkundig egal, ob die Leute auf der Straße sehen konnten, was er tat.

»Ich muss sagen, Ihre Kunstwerke gefallen mir, Danny. Ich habe früher selbst gern Comics gelesen, in meiner Kindheit natürlich. Das hier, der Typ in dem Umhang, erinnert mich an die frühen Sachen von Jack Kirby, Captain America und so weiter.« Er zeigte auf die Zeichnungen an der Wand und atmete tief durch. »Sie wissen, warum wir hier sind?«

»Ja«, antwortete Danny.

»Gut«, sagte der Texaner und setzte sich Danny gegenüber auf den Boden. Er verschränkte seine langen Beine, zog ein Butterflymesser aus der Hosentasche, klappte es auf und stocherte in der glimmenden Papierasche herum. »Es vereinfacht die Sache, wenn wir uns einig sind. Dann können wir nett und höflich bleiben. Sie wissen, dass Sie ein paar mächtige Leute sehr, sehr wütend gemacht haben, Danny, nicht wahr? Das geht nicht ohne Konsequenzen. Haben Sie das verstanden?«, fragte er lächelnd. Er klang, als plaudere er über das letzte Spiel eines Highschool-Footballteams.

Danny zuckte die Achseln.

Die Stimme des Mannes war zwar leise, schien aber dennoch den Raum bis in den letzten Winkel auszufüllen. »Ich frage noch einmal: Haben Sie das verstanden?« Er ließ das Messer beiläufig auf den Boden fallen, mit der Spitze voran. Der Griff schwang hin und her, als sich die Schneide tief in die Holzdielen bohrte.

»Ja, ich glaube schon.«

»Ich bin nicht wütend. Die bezahlen mich nicht dafür, wütend zu sein. Die bezahlen mich dafür, dass ich die Beherrschung nicht verliere. Mir ist völlig gleichgültig, was Sie getan haben. Ich will nur Informationen.« Der Texaner stand auf, trat ans Fenster und blickte über die Straße. »Ich bin sehr geduldig, Danny, sehr, sehr geduldig.« Er bückte sich und zog das Messer aus dem Boden. »Wo ist das Geld, mein Sohn? Wo ist es?«

Daniel Wiseman antwortete nicht.

Der Texaner schüttelte seufzend den Kopf und kniete sich dann hinter ihn. »Wenn Sie mir jetzt eine Antwort geben, wird es nicht einmal wehtun.« Er sah auf die Uhr und beobachtete, wie der Sekundenzeiger in lähmender Langsamkeit und doch unerbittlichem Takt vorrückte.

Dreißig Sekunden konnten eine lange Zeit sein, wenn man wartete. Er legte Danny einen Arm auf die Schulter. Er hörte den Mann kurz und flach atmen und spürte, wie sein Körper zitterte. Mit einem Griff in die Tasche förderte er seine Betäubungspistole zutage und sah noch einmal auf die Uhr. Die dreißig Sekunden waren verstrichen. So viel gab er ihnen immer. Dreißig Sekunden waren mehr als genug Zeit.

Er hielt Danny fest, als er sich zu wehren versuchte, und schoss ihm ins Genick. Die Beine zappelten noch einen Moment, dann lag er reglos da.

»Packt alles ein, was in der Wohnung ist. Wir müssen alles mitnehmen. Ich werde der Wirtin noch ein paar Fragen stellen.«

Über eine Woche lang hatten sie ihn gefoltert, und Danny hatte ein bemerkenswertes Durchhaltevermögen an den Tag gelegt, das seinen Peinigern zu schaffen machte. Nach acht langen Tagen und noch längeren Nächten ohne Ergebnis hatten sie beschlossen, eine andere Methode zu versuchen: den Wassertank. Der Entzug jeglicher Sinnesreize, um ihm die Orientierungsfähigkeit zu nehmen, in Kombination mit einem Cocktail halluzinogener Drogen, um seinen Verstand auszuschalten.

Um das Zeitgefühl nicht zu verlieren, zählte er. Manchmal ließ er sich treiben, wenn die Arme den konstanten Druck nicht mehr aufbrachten, sein Körper nach Erlösung schrie und in die Tiefe sinken wollte. Aber das ließen sie nicht zu. Sie zerrten ihn nach draußen in das gleißende Licht der Mittagssonne, brachten ihn mit Schlägen wieder zu Bewusstsein und warfen ihn erneut in das dunkle Wasser. In seinen Träumen sah er das Gesicht des Mannes vor sich, der seine Qualen inszenierte: kantiges Kinn, Sonnenbrille, Baseballkappe. Seine Befehle erteilte er flüsternd an maskierte Gestalten, die im Dunkeln über ihm schwebten.

Sie würden ihn nicht töten. Dessen war er sich sicher. An den Gedanken klammerte er sich, während sein Verstand allmählich schwand. Sie brauchten Informationen. Sie wollten wissen, wie er es gemacht hatte. Sie wussten, das Geld konnte nicht einfach so verschwunden sein, nicht eine solche Summe. Es musste irgendwo versteckt sein, in einem Labyrinth aus Decknamen, Offshore-Holdinggesellschaften und Nummernkonten. Aber von ihm würden sie es nicht erfahren. Ganz gleich, wie sehr sie versuchten, ihn zu verwirren, ihn an den Rand seines Verstandes zu bringen und sein Gehirn in Millionen kleine Teile zu zerlegen, um sich die Wahrheit als Puzzle zusammenzufügen.

Er hatte es weggezaubert, das Geld. Aus Rache für ihre bösen Taten. Er war der Richter. Ihre Bestrafung lag in seiner Hand. Er würde niemals aufgeben, er durfte niemals aufgeben. Dazu stand viel zu viel auf dem Spiel.

7

Hotel Ritz, Piccadilly, London, 06:00 Uhr

Isaiah Schenkel hörte ein Summen, das vom Nachttisch kam, die Vibrationen seines Pagers, die auf dem Holz hörbar waren, und zog sich das Kissen über den Kopf. Als das Summen trotzdem nicht verstummte, tastete er blind nach dem Gerät und entzifferte mit vor Müdigkeit trüben Augen die Nachricht. Offizier C ist nicht erschienen. Zum Ort zurückkehren und überprüfen.

Er warf den Apparat auf das Bett, streckte seine langen Glieder und kratzte sich die Haare am Bauch. Offizier C, das war Charlie Paige. Er war gestern Abend nicht aufgetaucht, obwohl er zu ihrer kleinen Party im Hotel hätte stoßen sollen, nachdem er den Umschlag in dem Fotoatelier abgeholt hatte. Doch Isaiah machte sich keine Gedanken. Charlie war früher Captain bei den Special Forces gewesen, bis ihm irgendwann klar wurde – früher als allen anderen –, dass man bei privaten Sicherheitsdiensten weniger gefährlich lebte und trotzdem mehr Geld verdiente. Vielleicht hatte er einfach beschlossen, sich woanders zu amüsieren.

Isaiah sah sich im Zimmer um. Auf dem Fußboden lagen leere Champagnerflaschen verstreut, an einem Lampenschirm hingen kunstvoll verzierte Dessous, und im Bett schlief eine halb nackte Blondine, deren Hintern von einem Laken mehr reizvoll in Szene gesetzt als verhüllt wurde. Er ließ den Blick über ihren Körper wandern. Wenn mehr Zeit wäre, hätte er nichts gegen eine weitere Nummer einzuwenden.

Er versetzte dem Typ, der vor dem Fernseher schlief, einen Tritt. Jacob Enderman, drittes Mitglied ihres Teams, hatte sich auf dem Boden eingerollt.