Dunkle Ernte - Simon Mockler - E-Book

Dunkle Ernte E-Book

Simon Mockler

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Beschreibung

Er ist Versuchsperson bei einer hochgeheimen Waffentestreihe des Militärs. Doch die läuft auf fatale Weise schief ...

In Cambridge wird ein Hochsicherheitslabor überfallen, in dem eine hochgeheime Waffentestreihe des Militärs stattfinden sollte. Eine der zehn Testpersonen ist Jack Hartmann. Als Jack mitansehen muss, wie die anderen Patienten brutal abgeschlachtet werden, rennt er um sein Leben. In sich trägt er einen zellbasierten Supercomputer: die Waffe der Zukunft. Und genau diese bringt Jack in höchste Gefahr. Auf der Flucht vor skrupellosen Waffenhändlern, international agierenden Hightech-Sicherheitsfirmen und korrupten Regierungen weiß er bald nicht mehr, wem er noch trauen kann …

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In Cambridge wird ein Hochsicherheitslabor überfallen, in dem gerade eine hochgeheime Waffentestreihe des Militärs stattfindet. Eine der zehn Testpersonen ist der IT-Student Jack Hartman, der sich als Freiwilliger gemeldet hat. Als er mitansehen muss, wie die anderen Patienten brutal abgeschlachtet werden, rennt Jack um sein Leben. In sich trägt er einen zellbasierten Supercomputer: die Waffe der Zukunft. Und genau diese bringt Jack in höchste Gefahr. Auf der Flucht vor skrupellosen Waffenhändlern, international agierenden Hightech-Sicherheitsfirmen und korrupten Regierungen weiß er bald nicht mehr, wem er noch trauen kann …

Autor

Simon Mockler verdiente sich sein Geld u.a. als Künstler, Musiker und Lehrer. Zurzeit arbeitet er für die Advertising Standards Authority, eine Behörde zur Überwachung der Werbung in Großbritannien. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in London. »Dunkle Ernte« ist sein erster Roman.

Simon Mockler

Dunkle Ernte

Thriller

Aus dem Englischenvon Kristiana Dorn-Ruhl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Oktober 2012Copyright © der Originalausgabe by Simon MocklerCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagfoto: © Getty Images / Hal Bergman PhotographyRedaktion: Alexander Großmb ∙ Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-07672-6V002www.goldmann-verlag.de

1

Da war ein schmerzhaftes Rumoren in seinem Bauch, eine wirbelnde Übelkeit, wie er sie aus seiner Kindheit kannte, von wilden Achterbahnfahrten auf dem Jahrmarkt. Jack blinzelte, geblendet von gleißender Helligkeit. Wo war er? Schneller als seine Augen passten sich seine Ohren an. Neben ihm piepte es dumpf und elektronisch, gleichmäßig wie ein tropfender Wasserhahn. Er hob den Arm und sah zu, wie verschwommene Umrisse langsam die Gestalt seiner Hand annahmen, wie ein Taucher, der aus tiefem Wasser an die Oberfläche steigt. Ein Plastikclip steckte auf seinem Zeigefinger, Drähte verbanden ihn mit einem nach Krankenhaus aussehenden Apparat. Er drehte den Kopf zur Seite und sah eine schaurige grüne Linie, die bei jedem Ton über den Bildschirm jagte. Ein Herzmonitor.

Das Gewirbel in seinem Bauch nahm zu, tausend Schmetterlinge schlugen panisch mit ihren Flügeln gegen seine Magenwände. Er war in einem Krankenhaus? Wieso? Er rieb sich das Kinn und spürte, dass ihm ein Bart gewachsen war. Stoppeln dieser Länge brauchten zwei, vielleicht drei Wochen. Er hievte sich auf die Ellbogen, gegen den Widerstand von Kabeln und Schläuchen, die unangenehm einschnitten. Gegenüber standen fünf Betten mit bewusstlosen Unbekannten, drei weitere rechts von ihm und eines links. Denk nach, Jack. Denk nach.

Eine Prügelei … Er runzelte die Stirn. Auf dem Rasen vor dem King’s College. Drei Typen aus dem Rugbyteam hatten ihn aus dem Nichts überfallen.

Bruchstückhaft kehrte die Erinnerung zurück. Ein unvermittelter Schlag, feige von hinten in den Nacken, hatte ihn zu Boden gestreckt. Er war schmerzhaft auf seinem rechten Arm gelandet, hatte sich aber instinktiv sofort gedreht, um einem schweren Tritt gegen seine Rippen auszuweichen. Sobald er sich aufgerappelt hatte, ging der Kampf ausgeglichen weiter. Sie waren zu dritt, aber er war groß und kräftig und hatte sich auf den Militärbasen, wo er aufgewachsen war, wesentlich öfter geprügelt als sie in ihren noblen Privatschulen. Zwei schnelle Fausthiebe auf die Kehle und ein Tritt mit der Hacke gegen die Kniescheiben. Dann hatte er sie schmerzgekrümmt zurückgelassen. Sie würden für eine Weile kein Rugby spielen.

Aber das konnte es nicht gewesen sein. Er war mit ein paar blauen Flecken und aufgeschürften Fingerknöcheln davongekommen. Warum hatten sie ihn überhaupt angegriffen? Jack fiel das Denken schwer. Sein Rachen fühlte sich an wie Schleifpapier. Es war wohl nicht zu viel verlangt, sich ein Glas Wasser bringen zu lassen. Schwester, Schwester … Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Niemand antwortete. Schritte hallten über einen fernen Flur. Wo war die Zugschnur, der Alarmknopf? Er tastete um das Bett herum. Nichts. Was war das für ein seltsames Krankenzimmer? Zehn Patienten, aber keine einzige Schwester in der Nähe.

Jack ließ sich zurückfallen und schloss die Augen. Die Betten waren immer noch da, in seine Netzhaut gebrannt wie ein verschwommenes Fotonegativ. Fünf weiße Betten, nebeneinander aufgereiht wie Spielkarten. Das war es. Einmal im Monat hatten sie in den Gewölben der Collegekapelle Poker gespielt, Texas-Hold’em-Variante, und immer um hohe Einsätze. Er hatte gegen die reichen Söhnchen verloren. Wenn er nicht herausbekam, wie sie ihn ausgetrickst hatten, musste er seine Schulden bezahlen – geschah ihm ganz recht. Dummerweise war er mal wieder pleite … War das vielleicht der Grund für den Überfall? Hatten sie die Rugby-Prolls auf ihn gehetzt? Dass er sich zu wehren wusste, konnten sie ja nicht ahnen.

Genug jetzt, brummte er leise und zog sich Kabel und Schläuche vom Körper ab. Ich muss pinkeln. Vorsichtig rutschte er vom Bett. Der Linoleumboden fühlte sich kalt an unter seinen Füßen. Im Flur war es still, unheimlich still. Keine Betriebsamkeit, keine hin und her eilenden Ärzte. Nicht einmal Schilder, die zum Händewaschen aufforderten und die nächste Toilette anzeigten.

Er versuchte es gegenüber, blickte aber nur in einen Wandschrank. Auf dem Weg zur Tür daneben hörte er, wie draußen mit quietschenden Reifen ein Wagen zum Halten kam. Bestimmt ein Notfall. Er hielt inne und horchte auf weitere Geräusche, eine Ankündigung über Lautsprecher, einen Notruf. Doch nichts geschah. Dann tauchte plötzlich ganz am Ende des Flurs ein Mann im weißen Kittel auf.

»He, Doktor, warten Sie!«, krächzte Jack, erleichtert, einen Menschen zu sehen, der bei Bewusstsein war. Allerdings währte die Erleichterung nur kurz. Der Mann hatte ihn nicht gehört oder wollte ihn nicht hören. Im Nu war er die Treppe hinunter verschwunden. Türen schlugen. Glas splitterte. Aufgeregte Stimmen waren zu hören, dazu ein Poltern und Krachen, als würden Gegenstände zerschlagen und umgestoßen. Jack sank der Mut, doch er horchte weiter, ohne sich vom Fleck zu rühren. Der Tumult schwoll an, und klappernde Schritte näherten sich rasch.

Ohne zu überlegen, schlüpfte er in den Wandschrank und zog die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu, um hinausspähen zu können. In Situationen wie diesen ließ er sich von seinem Instinkt leiten. Er empfand durchaus Angst, doch die Neugier überwog. Er wollte der Gefahr ins Auge blicken, um sie verstehen und bezwingen zu können – eine Eigenschaft, die er von seinem Vater geerbt hatte.

Zwei Männer blieben vor dem Patientenzimmer stehen. Der eine trug einen grauen Anzug und eine Brille und sah nach Wissenschaftler aus – Jack musste unwillkürlich an seinen Informatikprofessor denken. Der andere war wie ein Boxer gebaut, mit massigen Schultern und muskulösem Nacken. Sein kantiges Kinn sah aus, als könnte es einem Ziegelstein gefährlich werden. Der Mann in Grau griff in eine Aktentasche und holte einen Laborkittel heraus. Er zog ihn an, dann betraten sie den Raum, den Jack soeben erst verlassen hatte. Jack sah nicht, was passierte, aber er konnte die Schatten auf dem Fußboden verfolgen. Fließende Silhouetten, die sich bei jeder Bewegung neu formten. Ein leises Reißen, ein gezieltes Knacken von Knochen, angestrengtes Ächzen, dann kaum hörbar ein Schuss aus einer schallgedämpften Waffe. Das Ganze wiederholte sich neun Mal. Methodisch, klinisch, ohne Eile. Dann tauchten sie wieder in seinem Blickfeld auf. Der Mann im Laborkittel wischte sich seine verschmierten Hände ab und steckte ein Bündel blutgetränkten Stoffs in seine Aktentasche, vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug. Ein rötlicher Fetzen fiel mit leisem Platschen zu Boden wie ein vollgesogenes Papiertaschentuch. Jack starrte darauf und vergaß für einen Moment seine Übelkeit.

Auf dem schwarzweißen Fliesenkaro lag ein kleiner Fötus, kaum länger als fünf Zentimeter. Sein Kopf war fast so groß wie der Rest des Körpers, seine Gliedmaßen standen als formlose Stümpfe ab. Er zuckte alle paar Sekunden, ein dunkles Herz schlug unter der durchscheinenden, von Adern durchzogenen Haut. In seinem Kopf war ein Mikrochip zu erkennen, eine miniaturisierte elektronische Schaltung mit einer Leuchtdiode, die gleichmäßig blinkte. Wenn das Ding überhaupt menschlich war, dann nur zum Teil. Der Mann im Anzug hob es auf und packte es in seine Tasche.

Jack zog die Tür zu, wich zurück, die Arme gegen den Bauch gepresst, und stolperte dabei fast über einen Wischmopp in einem Eimer. Sein Atem ging schnell und rau, sein Herz schlug wie wild. Er tastete nach der Wand, um sich abzustützen, verfehlte sie jedoch und fiel auf einen Stapel graue Decken. Staub wirbelte auf. In einem kindlichen Reflex zerrte er an dem dicken Stoff, um sich darunter zu verstecken. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Fausthieb in den Magen: Ich habe auch so ein Ding in mir – was zum Teufel ist das?

2

MI6-Zentrale, Vauxhall, London

Die großen Füße auf seinem Chippendale-Schreibtisch, blickte Sir Clive Mortimer über die Themse, die dicht am Gebäude des MI6 entlangfloss und in ihren Fluten zweifellos unzählige Geheimnisse und Verbrechen aus der Vergangenheit barg. Er liebte diesen Ausblick, und deshalb hatte er auch alles darangesetzt, um dieses Büro zu bekommen, als er von den Verdeckten Operationen zum Leiter der neu eingerichteten Abteilung für Cyber-Terrorismus befördert worden war – die Furcht vor einem koordinierten Großangriff auf Militärcomputer, IT-Systeme von Kraftwerken und Regierungsdatenbanken erfasste inzwischen sogar die, die sonst vor nichts und niemandem Angst hatten.

Um das Büro zu bekommen, hatte er ein paar Kollegen über die Klinge springen lassen müssen, aber so war das eben beim Secret Service. Sein ehemaliger Chef hatte immer gesagt, es sei schwieriger, sich intern an der Spitze zu halten als Bedrohungen von außerhalb abzuwehren. Sir Clive teilte diese Ansicht nicht. Allerdings gehörte es auch zu seinen besonderen Talenten, die Ansichten anderer nicht zu teilen.

Die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch summte.

»Sir Clive, wir haben einen Code-Rot-Ruf, Sie werden in der Operationszentrale gebraucht.«

»Danke, Charlotte.« Wie ärgerlich, dass sie ihm solche Nachrichten nicht persönlich überbrachte. Was nützte es, eine Sekretärin mit hübschen Beinen zu haben, wenn man sie nicht hin und wieder zu Gesicht bekam? Im Vorbeigehen nickte er ihr zu, aber sie sah nicht auf.

Die Operationszentrale befand sich im Herzen des Gebäudes, wo der größtmögliche Schutz gegen Angriffe gewährleistet war. Die Wände bestanden aus über einem Meter dicken Stahlbeton. Es gab ein eigenes Lüftungssystem, einen Computerkomplex, mit dem sich ein kleiner Krieg hätte organisieren und führen lassen, sowie eine Reihe von Monitoren, die kontinuierlich Satellitendaten übertrugen. Die Zeiten, in denen die Regierung das Budget klein gehalten hatte, waren lange vorüber. Seit al-Qaida zwei Flugzeuge in das World Trade Center gejagt hatte, durften die Geheimdienste ihre Schecks selbst ausstellen. Ein Recht, das sie rege nutzten.

Ein Jammer nur, dass man nicht bequemere Sitzmöbel bestellt hatte, dachte Sir Clive, während er am Kopfende des Tisches Platz nahm und versuchte, seine ausladende Körperfülle auf einem zierlichen Designerstuhl aus Chrom und Leder unterzubringen.

Mit einem Nicken grüßte er in die Runde. Da waren Dr. James Calder, Chef des Technologieforschungsprogramms, und Mary Dalkeith, seine leitende Informatikerin. Sie arbeiteten in den Labors im Keller und sahen kaum das Tageslicht. Sir Clive war sich allerdings nicht sicher, ob ihnen das überhaupt auffiel, so wie sie in ihre Aufgabe vertieft waren.

Neben ihnen saßen seine beiden dienstältesten Einsatzleiter, gute Männer, die er seit vielen Jahren kannte und denen er vertrauen konnte: Blake Edwards, ehemaliger Agent im Außendienst, der umfangreiche Erfahrung mit verdeckten Operationen in Afrika und dem Nahen Osten hatte, und Captain Ed Garner, der wie Sir Clive seine Laufbahn beim Special Air Service, der Elitetruppe der britischen Armee, begonnen hatte. Es war ein gutes Team aus klugen Köpfen und brillanten Taktikern, genau die richtige Mischung für die Abteilung Cyber-Terrorismus. Sir Clive wandte sich an Dr. Calder.

»James, Sie haben dieses Meeting einberufen, und ich schlage vor, Sie nennen uns den Grund.«

Dr. Calder räusperte sich und nippte nervös an seinem Wasserglas. »Ja, allerdings, ich danke Ihnen, Sir Clive.« Er warf einen raschen Blick zu Mary. »Heute Nachmittag um Viertel vor drei bekam ich eine E-Mail von einer wissenschaftlichen Einrichtung, die wir zusätzlich zu Cambridge nutzen. Ein Forschungslabor. Sie testen …« Er brach ab und sah sich im Raum um, unsicher, wie viele Informationen er in dieser Runde preisgeben sollte. »Sie testen etwas ganz Neues. Ein adaptives Computerprogramm, das organische Materie verwendet. Synthetische Biologie, könnte man sagen.«

Sir Clive bedeutete ihm mit einem scharfen Blick, nicht weiter ins Detail zu gehen.

»Die E-Mail bestand aus zwei Worten: ›unter Beschuss‹«, fuhr Dr. Calder fort, »das war alles. Wir haben uns in das Überwachungssystem eingeloggt.« Seine Finger huschten über die Tastatur. »Sehen Sie selbst.«

Die Monitore am anderen Ende des Raumes wurden schwarz, dann erschienen schwarzweiß gesprenkelte Bilder. Neun verschiedene Ansichten, die einzelnen Patientenzimmer, der Parkplatz, mehrere Flure und der Zugang zum Labor. Irreale, ruckende Bilder zeigten im Zeitraffer, was sich abgespielt hatte. Ein weißer Transporter hielt vor dem Eingang. Vier Männer in Schwarz stiegen aus, die Waffen im Anschlag. Es war eigenartig, die Bilder ohne Ton zu sehen. Die Männer legten an, dann sackten menschliche Silhouetten zusammen, Wände bebten, Fenster barsten zu Kaskaden von Scherben. Als sie den Weg freigeschossen hatten, sah man einen Mann mit raschen Schritten durch das Gebäude gehen. Er war elegant gekleidet und trug eine Aktentasche bei sich.

»Wer ist das?«, fragte Sir Clive, mit den Augen am Monitor klebend. »Isolieren Sie das Gesicht, und jagen Sie es durch das System.«

James Calder klapperte auf seiner Tastatur, während die anderen weiter das lautlose Gemetzel auf den Monitoren verfolgten.

»Profis«, bemerkte Sir Clive. Es lag eine sonderbare Mischung aus Abscheu und Respekt in seiner Stimme, während er zusah, wie der Mann systematisch jeden Körper öffnete und herausnahm, was er brauchte. »Wo sind die Videodateien gespeichert? Können wir von hier aus an den Server heran, um sie zu vernichten?«

»Kein Problem«, erwiderte Mary, die noch blasser aussah als sonst, falls das überhaupt möglich war. Ihre Finger schwebten über der Tastatur. »Ich kann das von hier aus erledigen, aber vorher kopiere ich sie in unser System.«

Sir Clive löste widerstrebend die Augen vom Bildschirm. »Ich brauche ein Zwei-Mann-Team«, sagte er zu Ed Garner. »Sprengstoffexperten. So schnell wie möglich. Nehmen Sie den Helikopter. Machen Sie es selbst, wenn sonst niemand verfügbar ist. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist Polizei, die im Labor herumschnüffelt. Ich will, dass alles rückstandslos verbrannt wird. Nichts darf mehr darauf hindeuten, wer dort war und was da vor sich gegangen ist. Sorgen Sie dafür, dass es wie ein Chemiebrand aussieht. Sobald dort alles klar ist, knöpfen wir uns die Kerle vor.«

Ed Garner stand bereits und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie«, sagte Sir Clive mit erhobener Hand, den Blick wieder auf die Monitore gerichtet. Die Männer, die das Gebäude überfallen hatten, waren weg, die Flure und Stationen lagen ruhig da. Doch etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

»Zurückspulen«, ordnete er an und deutete auf den letzten Monitor. Dr. Calder befolgte die Anweisung. »Da, sehen Sie?« Sir Clive wandte sich an die anderen am Tisch. »Noch mal, Dr. Calder, noch mal. Der Schatten an der Tür, am Ende des Korridors. Sehen Sie, wie er verschwindet.«

Sie blickten auf den Bildschirm. Eine dunkle Linie an der Tür, kaum wahrzunehmen, erst da, dann weg.

»Da ist jemand drin. Irgendjemand versteckt sich da«, sagte Sir Clive und bellte dann: »Vorspulen!«

Die Bilder hasteten vorwärts, fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig Minuten. Der Flur blieb leer. Bei dreißig Minuten sahen sie eine Gestalt, die zaghaft die Tür öffnete. Ein Mann, groß, sportlich. Er taumelte vorwärts, legte sich die Hände auf den Bauch und übergab sich. Im nächsten Moment rannte er völlig unerwartet und erstaunlich schnell davon.

»Zurück, zurück! Wo kam der Typ her?«

Sie suchten die Bilder ab.

»Stopp.« Sir Clive deutete auf die Bilder aus dem Patientenzimmer, auf denen zu sehen war, wie die Gestalt sich langsam aufrichtete und aus dem Bett hievte.

»Verdammt. Eines der Versuchskaninchen hat sich selbstständig gemacht.« Er wandte sich an Ed Garner, der noch an der Tür stand und darauf wartete, gehen zu dürfen. »Sobald Sie den Laden in die Luft gejagt haben, spüren Sie diesen Mann auf. Am besten noch ehe er diesen Scheißkerlen in die Hände fällt.«

3

Irritiert blinzelnd strebte Jack dem Licht entgegen. Er wusste nicht, was er hinter der Tür vorfinden würde, aber es war ihm auch egal. Alles erschien ihm unerträglich irreal. Er wollte einfach nur weg. Das Patientenzimmer war überall dunkelrot bespritzt und verschmiert gewesen und voller Leichen, deren Innerstes bestialisch nach außen gekehrt worden war – ein Anblick, bei dem es ihm den Magen umgedreht hatte. Seinem wichtigsten Instinkt gehorchend, war er geflohen, ohne zu wissen wohin, über Flure und Treppen, und dabei fast über den niedergestreckten Wissenschaftler gestolpert, der versucht hatte zu entkommen.

In der Empfangshalle fand er zwei weitere Leichen – eine Frau, die über ihrem Schreibtisch hing, und einen Lieferanten, der zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Sein lebloser Körper blockierte den Ausgang; die automatischen Glastüren versuchten beständig zu schließen und stießen rhythmisch gegen seine Brust. Jack stieg über ihn hinweg. Eine Szene wie aus einem Albtraum. Dann stand er im Freien, in der Kälte, der Winterwind zerrte an seinem offenen Krankenhauskittel und trug trockene Blätter über den Parkplatz. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er unter dem dünnen Stoff nackt war. Doch die Kälte war angenehm. Sie drang durch seine Schockstarre bis in sein Gehirn vor und riss den Nebel auf, der ihm das Denken erschwerte.

Sollte er ein Telefon suchen und die Polizei anrufen? Irgendetwas in ihm wehrte sich gegen diesen Impuls. Hau ab, du musst hier weg. Vertraue niemandem außer dir selbst. Er brauchte jetzt keine endlosen Fragen von irgendwelchen Bullen. Er brauchte Antworten.

Teure Autos parkten vor dem Gebäude, neueste Mercedes-, Jaguar-, BMW-Modelle. Die würde er nicht zum Laufen bringen. Aber hinter den Sondermülltonnen versteckte sich schamhaft ein alter Nissan Sunny. Perfekt, dachte er, wickelte sich seinen Kittel um die Faust und schlug das hintere Fenster ein.

Er öffnete die Fahrertür, stieg ein und zerrte die Kabel unter der Lenksäule hervor. Ein kurzer Kontakt genügte, und der Motor sprang stotternd an. Er lächelte. Auch eine schwierige Jugend hatte ihr Gutes. Manche Dinge verlernte man nie. Außerdem tat in dieser Situation jeder Gedanke an die Vergangenheit und vertraute Dinge gut. Er jagte den Motor hoch, riss knirschend die Gänge durch und beschleunigte in Richtung Ausfahrt. Als er mit schlitterndem Heck in die Hauptstraße einbog, sah er ein weißes Schild mit hellblauer Aufschrift: »Marcon Pharmaceuticals. Forschung und Entwicklung«. Eines stand fest, in einem Krankenhaus war er nicht gewesen.

Er schaltete das Radio ein, um ein wenig Alltäglichkeit und Normalität zu spüren. Es dämmerte, und auf der Straße herrschte Feierabendverkehr. Um diese Zeit spielten die Radio-DJs gern alte Rockklassiker, wie Queen oder Thin Lizzy. Normalerweise konnte er auf Dino-Rock gut verzichten, aber heute kamen ihm der harte Beat und die einfachen Akkorde gelegen. Die schmutzigen, schnörkellosen Headbanger-Riffs würden sein Hirn am besten auf Kurs halten.

Er fuhr an einem Hinweisschild vorbei: Cambridge, dreißig Kilometer. Offenbar befand er sich auf einer der Umgehungsstraßen um die Stadt. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn er dort ankam. So, wie er war, konnte er schlecht auf dem Campus auftauchen, in einem gestohlenen Wagen, halb nackt und mit Robinson-Crusoe-Bart. Der Oberpförtner hatte ihn ohnehin auf dem Kieker. Es würde ihm mit Sicherheit größtes Vergnügen bereiten, ihm die Einfahrt zu verweigern.

Aber einen Schlupfwinkel gab es: Amanda Marshall in der Jesus Lane. Amanda war Doktorandin und stand kurz vor dem Ende ihres klinischen Praktikums. Bis zu seinem Verschwinden waren sie ein paar Wochen lang lose zusammen gewesen. Eigentlich war sie gar nicht sein Typ. Sie war unabhängig, beängstigend klug und nahm kein Blatt vor den Mund. Aber im Bett war sie hemmungslos und sinnlich, und es faszinierte ihn, wie sie zwischen diesen beiden Seiten ihrer Persönlichkeit hin und her schaltete.

Sie waren dreimal zusammen ausgegangen und hatten zwei Nächte miteinander verbracht. Da hatte es gut geklappt zwischen ihnen. Aber das war gewesen, bevor er einfach so verschwunden war, um dann etwa drei Wochen später mit nichts am Leib außer einem Bart und einem mehr als dürftigen Krankenhauskittel wieder bei ihr aufzutauchen.

Er parkte den Nissan so nahe wie möglich am Haus. Es war halb sechs an einem späten Winternachmittag, und die Straße war fast menschenleer. Er spürte, wie sein Magen knurrte. Wie lange hatte er keine feste Nahrung mehr zu sich genommen? Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Türklingel und wartete. Schritte tappten Stufen herunter, eine gedämpfte Stimme sagte: Komme gleich. Jack begann zu zittern.

»Was ist denn …?« Amandas Mitbewohnerin öffnete. Ihre Stimme klang schrill, ihre Miene verriet Ablehnung. Sie wollte die Tür gleich wieder schließen, aber Jack schob sein Knie dazwischen. Er zog eine schmerzvolle Grimasse, als ihn die Kante traf.

»Tara, ich bin es, Jack, Jack Hartman. Amandas Freund. Ist sie da?« Seine Stimme klang immer noch fremd in seinen Ohren. Wie die Stimme eines alten Mannes, asthmatisch und gequält.

Tara blinzelte; sie war immer noch nicht bereit, die Tür für ihn zu öffnen, aber sie wirkte schon etwas entspannter. Offenbar hatte sie ihn durch seinen Bart hindurch erkannt.

»Jack? Ach ja, ich erinnere mich.« Sie zog einen Schmollmund und neigte den Kopf zur Seite. »Bist du nicht der Typ, der wochenlang nicht angerufen hat?«

Jack war zu schwach, um ihrem Sarkasmus Erklärungen entgegenzusetzen. »Kann ich bitte zu Amanda?«, bat er.

»Ich fürchte nein. Sie hat Nachtschicht im Krankenhaus. Sie darf heute mal wieder die Idioten zusammenflicken, die freitagsabends vollgesoffen in die Notaufnahme getorkelt kommen. Apropos, was um alles in der Welt hast du da an?« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Das ist hoffentlich nicht irgend so eine hirnlose Aktion, die ihr im Suff ausgeheckt habt, deine Kumpels und du.« Sie warf argwöhnische Blicke die Straße hinauf und hinunter, halb in der Erwartung, einen Haufen schwer alkoholisierter Mitstudenten von Jack in ähnlichem Aufzug zu entdecken. Jack nutzte ihren Positionswechsel, um sich an ihr vorbei in den Flur zu schieben. Sein Zittern wurde immer heftiger. Er lehnte sich schwer gegen einen Heizkörper. Tara musterte ihn jetzt genauer, registrierte den gehetzten Ausdruck in seinen Augen und dass er am ganzen Leib bebte. Endlich schien sie zu begreifen, dass sie es nicht mit einem Dummejungenstreich zu tun hatte.

»Was ist los, Jack? Alles okay?«, erkundigte sie sich besorgt.

Schon wieder nur Fragen. Jack war jetzt wirklich nicht in der Stimmung dafür. »Mir geht’s prima, ich muss mich nur mal hinlegen«, behauptete er mit heiserer Stimme und begann sich am Geländer die Treppe hochzuziehen, in Richtung von Amandas Zimmer, doch auf halbem Weg verließen ihn die Kräfte. Er stolperte über die dritte Stufe und stürzte polternd hin, der Krankenhauskittel fiel auseinander und präsentierte ihn von der Mitte abwärts nackt.

Tara ging kopfschüttelnd eine Decke holen, die sie ihm überlegte, nicht ohne einen bewundernden Blick auf seine entblößte untere Hälfte zu werfen. Jack Hartman mochte zwar ein Mistkerl sein, aber es gab zumindest einen handfesten Grund, mit ihm auszugehen.

4

Operationszentrale des MI6, Vauxhall, London

Sir Clive trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Schreibtisch. Dr. Calder hatte Mühe, eine Videoverbindung mit Ed Garner und dem Helikopter-Team herzustellen.

»Kommen Sie schon, James, die sind in zwanzig Minuten vor Ort. Ich will Livebilder sehen.« Sie hatten es binnen einer Stunde geschafft, einen Hubschrauber und einen Sprengstoffexperten aufzutreiben, aber Sir Clive hasste es, nicht zu wissen, was los war. Wenn er die Verantwortung für eine Sache übernahm, wollte er hundertprozentige Kontrolle, live dabei sein, um sofort Anweisungen geben zu können.

Die Bildschirme flackerten. Undefinierte graue Konturen bewegten sich vor schwarzem Hintergrund. Atmosphärische Störungen und das Flappen der Rotoren machten es fast unmöglich, Ed Garners Stimme zu verstehen.

»Sind auf dem Weg, Sir Clive. Voraussichtliche Ankunftszeit ist 6:30 Uhr.«

»Schalten Sie auf Nachtsicht um, Ed, wir sehen hier nichts«, sagte Sir Clive in das Mikrofon an der Kontrollkonsole.

Die Ansicht des Cockpits wechselte auf Grellgrün.

»Sie kennen die Routine. Rein, die zehn Phosphorladungen verteilen und wieder raus. Ich will nur noch Schutt und Asche sehen.«

»Roger, Sir Clive. Wir sind voll einsatzbereit.«

»Ausgezeichnet. Wir bleiben in Videoverbindung, aber bis zu Ihrer Landung schalte ich den Funk ab. Mary hat jetzt noch ein paar Infos über unseren Ausreißer.«

Mary Dalkeith reichte Sir Clive eine unscheinbare braune Papiermappe und nahm am Tisch Platz.

»Sind das die Freiwilligen?«, fragte er.

Mary nickte. »Ich habe mir die Bilder der Überwachungskameras angesehen und den wahrscheinlichsten Kandidaten markiert: Patient ›C‹. Er hat die passende Größe und Statur.«

Sir Clive überflog rasch die Details. Seine Gabe, Listen zu analysieren und im Kopf zu behalten, galt beim Secret Service als legendär.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum er aufgewacht ist. Ich dachte, sie hätten ihn so mit Sedativa vollgepumpt, dass es für einen Elefanten gereicht hätte«, sagte er, den Blick auf das Blatt geheftet.

»Menschen reagieren individuell, sie verstoffwechseln unterschiedlich schnell. Es kommt auf Körpergröße und Fitness an«, wandte Dr. Calder ein. »Ein Ausnahmeathlet braucht vielleicht eine wesentlich höhere Dosis. Auf dem Überwachungsfilm sieht er ziemlich fit aus.«

Sir Clive murrte unzufrieden. »Was ist das?«, sagte er und tippte mit einem Finger auf die Hintergrundinformationen des Patienten. »Er studiert in Cambridge? Mit einem King’s-Scholar-Stipendium?« Verärgert schlug er das Papier auf den Tisch, und seine zur Faust geballte Hand prallte hart auf die Platte. »Habe ich mich in meiner Anweisung nicht klar genug ausgedrückt? Habe ich nicht ausdrücklich erklärt, dass ich nur Außenseiter und Loser, Junkies und Penner für diesen Versuch will? Unsichtbare Bürger. Menschen, die keiner vermisst. Was haben Sie sich dabei gedacht, James? Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?«

Dr. Calder holte tief Luft und schluckte. »Wir haben die Anweisung an das Labor weitergeleitet«, entgegnete er hastig, mit nervöser Stimme. »Die Leute dort waren für die Auswahl der Teilnehmer zuständig. Ich dachte, wir hätten unsere Vorgaben ausreichend deutlich gemacht.«

Sir Clive fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, schlohweißes Haar, das er kurz geschoren trug, weil es sich anders nicht bändigen ließ. »In diesem Geschäft ist niemals jemand anders zuständig«, sagte er und stach mit seinem Finger nach Dr. Calder. »Sie sollten das wissen, James, Sie sind lange genug dabei. Ohne absolute Kontrolle bis ins winzigste Detail geht es nicht, verdammt noch mal!« Er atmete tief ein, um die Beherrschung wiederzugewinnen.

Ihn ärgerte nicht nur, dass der verschwundene Patient vermisst werden würde. Es machte ihn wütend, dass sie ausgerechnet einen Cambridge-Studenten genommen hatten. Das Land war bereits jetzt in denkbar schlechter Verfassung. Man durfte nicht auch noch die geistige Elite der Zukunft dezimieren. Er schob die Mappe von sich weg und begann rhythmisch seine Hände zu Fäusten zu schließen.

»Wie lange war die Reifungsphase des Moduls?«, fragte er. Besser, sie wandten sich wieder den Sachthemen zu.

»Nach drei Wochen im Körper kann es außerhalb des Wirts überleben. Wir wissen nicht, wie hoch seine Lebenserwartung nach dem Entfernen ist. Vielleicht nur ein paar Tage, vielleicht Monate«, erläuterte Dr. Calder. Er wusste, dass Sir Clives Wutanfälle heftig, aber von kurzer Dauer waren. Der Chef hielt sich nicht lange mit einer Sache auf. Das war auch nicht notwendig, denn wenn einer seiner Leute den gleichen Fehler ein zweites Mal machte, wurde er ohnehin sofort auf die Straße gesetzt.

In dem Helikopter, der über Marcon Pharmaceuticals in der Luft stand, überprüfte Ed Garner ein letztes Mal die Ausrüstung – Fernzünder, Sprengsätze, Munition. Es war ein einfacher Auftrag, wesentlich einfacher als gewöhnlich. Zunächst einmal waren keine Gegner auszuschalten. Sie mussten nur schnell rein und wieder raus, ohne Fehler zu machen. Der Sprengstoffexperte, den der Secret Service geschickt hatte, sah ziemlich kompetent aus, ein bärbeißiger Schotte namens Gavin McCallister. Er hatte seit dem Start kaum mehr als drei Worte gesprochen. Aber Ed war das ganz recht. Gavins Dossier war beredt genug. Der Mann hatte beide Golfkriege und die bewaffneten Konflikte im Sudan und im Tschad mitgemacht. Er war zweifellos herumgekommen.

Ed tippte dem Piloten auf die Schulter und zeigte Gavin an, dass es Zeit sei. Er klinkte seinen Gurt an die Winde und zog die Verschlusslaschen seiner Handschuhe enger. Auf geht’s, dachte er und lehnte sich rücklings in die kühle Nachtluft hinaus, bis er spürte, wie sich das Seil unter seinem Gewicht spannte. Der Helikopter schlingerte leicht unter der Gewichtsverlagerung, und der Abwind der Rotoren drückte ihm die Haare glatt an die Stirn. Ed glitt zu Boden und löste das Drahtseil. Er schwenkte zweimal seine Taschenlampe, als Signal für Gavin, die Ausrüstung abzuwerfen. Sie machte ein hohes, zischendes Geräusch, ehe sie mit einem dumpfen Aufprall landete. Dann setzte Gavin leichtfüßig auf dem Boden auf. Ein Spezialist, zweifellos. Sie winkten den Hubschrauber weg, schwangen sich die Ausrüstung auf den Rücken und nahmen kurz das Gebäude in Augenschein. Im Lichtkegel der Taschenlampen warfen die herumliegenden Leichen gespenstische, nervös zitternde Schatten an die Wände, vom irrlichternden Schein für kurze Zeit wieder zum Leben erweckt. Gavin verzog keine Miene. Wahrscheinlich hatte er schon wesentlich Schlimmeres gesehen. Sie montierten die Sprengsätze wie angewiesen, mit genug Phosphor für ein bombastisches Gala-Feuerwerk, dann rannten sie auf eines der umliegenden Felder und gingen in einem Graben in Stellung.

Ed gab Gavin die Fernzünder. »Gute Arbeit«, sagte er. »Hier, vollenden Sie das Werk.« Im Dunkeln glaubte er den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht des Schotten zu entdecken.

Gavin zog die Plastikabdeckung ab und drückte den roten Knopf. Es folgte der Moment des Zweifels, die scheinbar endlos dauernde Millisekunde, in der man nicht weiß, ob der Schlag kommt oder nicht. Dann erhellte sich der Himmel mit gleißend hellem Schein, und weißgelbe Flammen zerrissen die Nacht, gefolgt vom donnernden Krachen der Explosion. Wer jetzt auf den umliegenden Straßen unterwegs war, wurde Zeuge eines Höllenspektakels.

»Gute Arbeit«, tönte Sir Clives Stimme aus dem Ohrstöpsel.

Manchmal sehnte sich Ed nach den Zeiten zurück, in denen sie noch nicht ständig die Kommentare ihrer Vorgesetzten im Ohr gehabt hatten. Er kam sich vor wie ein Fernsehmoderator, der Anweisungen aus der Regie zu befolgen hatte.

»Danke. Wir verschwinden. Bis zur nächsten Stadt sind es ungefähr zwanzig Kilometer. Wir ziehen uns dort um und kommen dann mit dem Zug zur Nachbesprechung«, erwiderte er.

»Warten Sie, Ed. Mary hat eine Personenbeschreibung für Sie, von dem Kerl, der weggerannt ist. Ebenso seinen möglichen Aufenthaltsort.« Knackende Geräusche ertönten, als Mary ans Mikro ging.

»Hallo, Ed. Er heißt Jack Hartman und studiert am King’s College. Sie müssen so schnell wie möglich dorthin. Aber wir brauchen absolute Zurückhaltung. Observieren Sie unauffällig, in Zivil.«

Sir Clives Stimme unterbrach sie. »Melden Sie mir sofort, wenn Sie ihn gefunden haben, aber greifen Sie um Gottes willen nicht zu. Ich habe nicht die Absicht, in meiner alten Uni ein Chaos zu veranstalten.«

5

Dorchester Hotel, London, 20:00 Uhr

Dr. Ahmed Seladin kratzte energisch an seinen Fingernägeln. Blut war verdammt schwer zu entfernen. Am besten ließ man es erst gar nicht antrocknen. Was war nur aus ihm geworden? Fünf Jahre Studium an der Faculté de Médecine in Rabat, zehn Jahre Spezialisierung in Herz- und Gefäßchirurgie, dann ein einziger dummer Fehltritt, und jetzt machte er sich für einen dubiosen Wissenschaftler von ebenso zweifelhafter Moral die Hände schmutzig.

Er musterte sich im Spiegel. Seine Schläfen waren grau geworden, die Haare licht. Seine braunen Augen, die immer vor Humor gesprüht hatten, waren stumpf und leer.

Diese Augen waren es gewesen, die ihn in Schwierigkeiten gebracht hatten. Mit ihnen hatte er seine junge Patientin verführt. Padma Rabhi, siebzehn Jahre alt, schön und ungezähmt wie ein junges Pferd. Sie hatte sich ihm mit Haut und Haar hingegeben, sie war unter seiner Berührung erbebt, in seinen Armen zur Frau gereift. Eine Zeitlang hatte er sich selbst eingeredet, dass er in sie verliebt wäre, und daran gedacht, seine kinderlose Ehe für sie zu beenden. Doch dann hatte ihr Vater, ein bekannter Geschäftsmann mit politischen Verbindungen, alles herausbekommen und sich brutal gerächt.

Dass Ahmed noch am Leben war, hatte er allein seinem Geschick als Chirurg zu verdanken. Er konnte die Blutung aus den tiefen Wunden stoppen, die man ihm zugefügt hatte, und sich selbst wieder zusammenflicken. Doch Padmas Leben konnte er nicht retten. Sie war für die vermeintliche Schande, die sie über die Familie gebracht hatte, verschleppt und ermordet worden. Ahmeds Karriere war damit beendet gewesen. Padmas Vater hatte dafür gesorgt, dass er in keinem Krankenhaus je wieder Arbeit bekommen würde.

Seither blieben ihm nur noch die abseitigen Pfade. Aufträge jenseits des Gesetzes, Schönheitsoperationen in illegalen Hinterhofkliniken, Abtreibungen bei den Geliebten hochrangiger Regierungsmitglieder. Und so war er auch an diesen Job gelangt. Sein Name hatte sich in einschlägigen Kreisen herumgesprochen, bis der Kontakt zustande gekommen war. Und die Bezahlung stimmte. Damit würde er sich eine neue Identität kaufen, aus Casablanca verschwinden und vielleicht sogar irgendwo weit weg eine Praxis eröffnen können, in Südamerika vielleicht oder der Dominikanischen Republik.

Er betrachtete sein Spiegelbild. Seine Augen waren vom gleichen stumpfen Braun wie die Lehmwände des Hauses, in dem er aufgewachsen war. Eine Erinnerung daran, wie weit er gekommen und wie tief er gefallen war.

Einer der Söldner trat, ohne anzuklopfen, durch die Tür und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter. »Kommen Sie, Ahmed, Sie brauchen zum Fertigmachen länger als eine Frau«, sagte er, öffnete seinen Reißverschluss und urinierte ungeniert neben ihm in die Toilettenschüssel.

Ahmed ignorierte ihn und ließ eiskaltes Wasser in das Waschbecken laufen. Der Mann war schließlich nur ein einfacher Befehlsempfänger. Ahmed hielt den Atem an, steckte seinen Kopf ins Wasser und öffnete die Augen. Dieses Gefühl hatte er als Kind genossen, die betäubende Kälte des Quellwassers, in dem er gebadet hatte, wenn die Hitze unerträglich wurde. Zwei Tage unterwegs, zwei Tage ohne Schlaf, und jetzt ein Treffen mit dem Mann, der die ganze schauderhafte Expedition geplant hatte.

Der Söldner trat zu ihm und legte ihm seine ungewaschene Hand auf die Schulter. »Kommen Sie jetzt, Ahmed«, sagte er leise. »Sie werden erwartet.«

Ahmed spürte die Kraft in seinem Griff, seinen nachdrücklichen Blick. Er glättete seine Haare, so weit das möglich war, zog seine Krawatte fest und folgte ihm in das Wohnzimmer der Suite. Auf dem Couchtisch stand die Aktentasche. Ahmed wollte nicht über das nachdenken, was sich darin befand. Er hatte keine Ahnung, was das war, diese kleinen Dinger, die auf eine ihm vollkommen unbekannte Art lebendig waren. Ihr Innenleben war klar zu erkennen, das Zusammenwirken von Halbleitertechnik und organischer Materie, nur hatte er keine Idee, wozu sie dienen sollten.

»Dr. Seladin, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Der weltmännisch auftretende Chinese war kaum größer als ein Meter fünfzig und um die Mitte fast genauso breit. Ahmed wusste nicht recht, was er erwartet hatte, aber mit Sicherheit nicht das. Der Mann bewegte sich leichtfüßig, seine Leibesfülle schwankte von einer Seite zur anderen wie bei einem Kreisel, und er sprach mit starkem französischem Akzent. Dass ihn der Chinese mit Titel ansprach, war eindeutig als Appell an seine Eitelkeit zu verstehen. Ahmed durchschaute das durchaus, fühlte sich aber dennoch geschmeichelt.

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mr. …« Wie hieß der Mann überhaupt? Der Kontakt war über Dritte zustande gekommen, über eine Armada von Strippenziehern, Assistenten und Vermittlern.

Der Chinese hob einen Finger an die Lippen und legte die Stirn in Falten. »Monsieur Blanc«, sagte er schließlich. »Ja, das dürfte für den Moment genügen.« Ein wissendes Lächeln deutete sich auf seinem Gesicht an, das jedoch seine Augen nicht erreichte, die undurchdringlich und schwarz blieben. »Ich habe ein paar Erfrischungen bestellt.« Er deutete auf einen Teller mit Gebäck und eine Kanne Tee. »Ich weiß, es ist schon spät, aber ich kann nicht anders, ich muss immer Nachmittagstee bestellen, wenn ich in London bin. Dieses Hotel ist berühmt dafür«, fügte er hinzu, ohne dass sich an seiner kalt lächelnden Miene etwas änderte.

Ahmed nickte. Sein Magen knurrte, allerdings stand ihm der Sinn ganz und gar nicht nach Cremetörtchen.

»Ich hoffe, die Operationen, die Sie durchzuführen hatten, sind glatt verlaufen und die entnommenen Module haben keinen Schaden genommen.« Monsieur Blanc wählte mit Bedacht eine Blätterteigschnitte und goss Tee durch ein Sieb. Ahmed dachte an das eine, das ihm aus der Hand gefallen war. Er hatte es sich ans Ohr gehalten, um zu prüfen, ob das kleine Herz noch schlug.

»Erfreulicherweise hat es keine Probleme gegeben«, erwiderte er.

»Hervorragend. Selbstverständlich haben wir auch nicht erwartet, dass ein Chirurg Ihres Formats auf Schwierigkeiten stoßen könnte. Befinden sich die Module in dieser Tasche?« Monsieur Blanc deutete mit einem seiner fleischigen Finger auf die Aktenmappe auf dem Tisch. Ahmed nickte. Zwei Männer erschienen und nahmen die Tasche mit ins Schlafzimmer. Ahmed sah durch die offene Tür, wie sie den Inhalt herausnahmen.

»Ich fürchte, es wird noch einen Augenblick dauern. Sie müssen prüfen, ob alles in Ordnung ist.« Monsieur Blanc nippte an seinem Tee. »Haben Sie vor, länger hierzubleiben und sich die Stadt anzusehen? London hat so viel zu bieten, finden Sie nicht? Man kann hier selbst die ungewöhnlichsten Vorlieben befriedigen.«

Ahmed rieb sich die Augen. War das eine Anspielung auf seine Affäre mit Padma oder nur eine harmlose Bemerkung? Es hätte ihn nicht überrascht, wenn Monsieur Blanc ein Dossier über ihn zusammengestellt und seine Vergangenheit bis ins Detail durchleuchtet hätte. Er schien äußerst akkurat und bedachtsam zu sein. Aber für Ahmed spielte das keine Rolle. Er zählte die Minuten, bis sein Flug nach Hause gehen und das Geld sicher auf seinem Konto auf den Caymans angekommen sein würde.

»Nein, Monsieur Blanc, vielleicht ein andermal«, antwortete er und streckte die Hand nach einem Stück Kuchen aus. Vielleicht würde er so bald nichts mehr zu essen bekommen. Einer der Männer kam aus dem Schlafzimmer zurück, beugte sich zu Monsieur Blanc herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Doch statt den Kuchen zu nehmen, musste Ahmed mit Erstaunen verfolgen, wie das Stück vom Teller schoss, von einem schweren Stiefel quer durch den Raum gekickt. Ehe er begriff, wie ihm geschah, wurden seine Unterarme gegen die Armlehnen seines Sessels gepresst, und zwei Männer hielten ihn wie in einem Schraubstock gefangen. Raue Hände machten sich an seinem Hals zu schaffen, er hörte das Surren von Stoff und das Gelächter des Söldners.

Monsieur Blanc stand auf und wischte sich vorsichtig die Hände an einer Serviette ab. In aller Ruhe beobachtete er, wie Ahmed die Augen aus den Höhlen traten und ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach. Mit einem tiefen Seufzen trat er hinter ihn. Trotz seiner Panik fiel Ahmed ein eigenartiger Geruch auf. Ein durchdringender und unangenehmer Geruch, in den sich der süßliche Duft von Rosenwasser mischte.

»Dr. Seladin, ich bin für viele Dinge bekannt, aber nicht für Geduld. Ich werde Sie also nur einmal fragen, warum Sie nicht alle zehn Module geliefert haben. Sie haben zehn Sekunden für eine befriedigende Antwort. Andernfalls wird mein Freund hier den Gürtel um Ihren Hals zuziehen, bis Sie sich wünschen, Sie hätten mir eine befriedigende Antwort gegeben. Haben Sie das verstanden?«

Ahmed versuchte zu reagieren, doch die Worte blieben ihm in der abgeschnürten Kehle stecken.

Monsieur Blanc sah auf die Uhr. »Noch sechs Sekunden, Dr. Seladin.«

Er versuchte verzweifelt sich daran zu erinnern, was an dem Nachmittag geschehen war und in welcher Reihenfolge. Er hatte die Ereignisse erfolgreich verdrängt. Der Gürtel quetschte seinen Kehlkopf, ein bitterer Geschmack stieg aus seinem Rachen auf, als hätte er ein Stück Seife verschluckt.

»Okay«, röchelte er. Der Druck ließ nach. Im Geist zählte er die Patienten durch. Und erst in diesem Moment fiel ihm das leere Bett auf, das er damals gar nicht wahrgenommen hatte. Alles war so schnell gegangen. Normalerweise arbeitete er nicht unter solchen Umständen.

»Neun Patienten«, brachte er mühsam heraus, »nur neun Patienten.«

»Neun Patienten oder neun Betten?«, entgegnete Monsieur Blanc blitzschnell. Ahmed rief sich das Patientenzimmer ins Gedächtnis, die kraftlosen Gestalten, unschuldig in ihrem Dämmerzustand, friedlich schlafend, als die Kugel ihren Schädel zum Bersten brachte.

»Patienten«, wiederholte er, »neun Patienten.« Die Worte quälten sich mühsam aus ihm heraus. Wie hatte ihm das passieren können?

»Da war also ein leeres Bett?«, fragte Monsieur Blanc.

Ahmed nickte. Zu weiteren Erklärungen fehlte ihm die Kraft. Die Klammer um seinen Hals lockerte sich.

Monsieur Blanc entfernte sich ein paar Schritte. »Dr. Seladin, Sie bringen mich in eine heikle Lage, eine sehr heikle Lage«, fuhr er fort und fing an, auf und ab zu gehen. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde.« Er wackelte mit einem Finger in Ahmeds Richtung. »Meine Männer werden ein paar Dinge überprüfen und so viele Informationen wie möglich vom Server des Labors ziehen. Sie werden unterdessen hier warten. Sobald wir einen Namen haben, werden Sie mit meinen Männern losziehen und den Auftrag vollenden, für den Sie bezahlt wurden. Ist das klar?« Er trat auf Ahmed zu, bis sein Vollmondgesicht dessen Blickfeld ausfüllte. »Ich sagte: Ist das klar?«, zischte Monsieur Blanc und verströmte dabei seinen fauligen Atem, der nur dürftig vom Rosenwasser überdeckt wurde.

Ahmed zuckte zusammen. Vor seinem geistigen Auge erschienen offene Gräber, bestreut mit Blütenblättern. Der Gestank war widerlich. Tiere stanken so aus dem Maul, Wölfe, Schakale, Raubtiere, die sich von rohem Fleisch ernährten.

6

Jesus Lane, Samstagmorgen, 07:00 Uhr

»Jack, kannst du mich hören? Jack!«

Jack blickte auf. Seine Seite war ganz steif. Augen, blaugrün wie Sand, der durch einen klaren See schimmert, musterten ihn mit besorgter Konzentration. Eine Hand stützte seinen Nacken mit sanftem, aber festem Griff. Amanda war ihm nie schöner vorgekommen. Zwei blonde Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst, einem komplizierten Gebilde, das sie in null Komma nichts mit einem Bleistift zauberte. Sie kitzelten ihn am Hals. Er lächelte schwach.

»Entschuldige, Amanda«, flüsterte er, »ich hätte vorher anrufen sollen.«

Mit prüfendem Blick fühlte sie seinen Puls, ohne zu antworten. Okay, es war nicht Amanda, es war Dr. Marshall im Einsatz.

»Ich muss einen Krankenwagen rufen, Jack. Du musst dich untersuchen lassen.«

Er packte sie am Arm. Die Erinnerung an das Patientenzimmer und die Krankenhausbetten kam wieder hoch. »Nein, nein, Amanda. Mir geht es gut. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe und was zu essen. Und vielleicht etwas anderes zum Anziehen, oder?« Er versuchte erneut zu lächeln.

Amanda schüttelte den Kopf. Sie lächelte nicht. Entsprang ihre Besorgnis nur ihrem ärztlichen Pflichtbewusstsein? Ihre Hand tastete unter die Bettdecke und zupfte prüfend an seinem Kittel. Er hob die Augenbrauen und begann sich schon besser zu fühlen.

»Das ist kein normaler Krankenhauskittel, zumindest nicht aus den Krankenhäusern hier in der Gegend, wo ich schon gearbeitet habe«, sagte sie mit professioneller Kühle und betrachtete das Etikett. »Marcon Pharmaceuticals«, las sie und zog die Hand zurück. »Moment mal, der Name kommt mir bekannt vor. Ist das nicht ein privates Forschungslabor in der Nähe von Huntingdon?« Sie runzelte die Stirn. »Jack, hast du etwa bei einem Medikamententest mitgemacht?« In ihrer Stimme schwang Verärgerung mit. Aus ihrem Blick sprach Missbilligung. Jack zuckte die Achseln. Ehe er etwas sagen konnte, fuhr sie fort. »Dümmer geht’s wirklich nicht. Hast du so dringend Geld gebraucht?«

Jack schloss die Augen und dachte an die heimliche Pokerrunde und seine Spielschulden. Zumindest wusste er wieder, warum er in diesem Krankenhausbett gelandet war. Er hatte sich für einen zweiwöchigen klinischen Versuch zur Verfügung gestellt, um mit dem Erlös seine Schulden zu begleichen. Wie hätte er sonst auf die Schnelle viertausend Pfund zusammenbekommen sollen? Alles in allem zählte diese Aktion wahrscheinlich nicht zu seinen größten Heldentaten.

»Komm«, sagte Amanda kopfschüttelnd und half ihm auf die Beine. »Jetzt frühstückst du erst einmal. Und dann besorgen wir dir was zum Anziehen. Aber nur, wenn du brav bist«, fügte sie hinzu, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

Während Amanda Speck und Eier briet, überlegte Jack, wie viel er ihr erzählen sollte. Ihre starke Präsenz, ihre Berührung auf seiner Haut hatten seine Panik abklingen lassen. Er wusste, dass er jemandem erzählen musste, was er gesehen hatte, doch je länger er sich in ihrer Gegenwart aufhielt, desto irrealer erschien ihm alles und desto mehr fürchtete er, sie würde ihn für verrückt und unzurechnungsfähig halten.

»Hast du irgendeine Ahnung, was die mit dir gemacht haben?«, fragte Amanda und goss ein Glas Orangensaft ein, das sie ihm reichte. »Abgesehen davon, dass sie dir diesen lächerlichen Kittel angezogen haben. Du weißt, dass du das Geld zurückzahlen musst, wenn du mitten in der Studie abhaust.«

Sie sah Jack genauer an. Der gehetzte Ausdruck in seinen Augen machte ihr Angst. Sie kannte ihn als extrem selbstbewusst, vielleicht sogar ein wenig zu selbstbewusst, aber sie mochte das. Sie brauchte jemanden, der stark genug war, um neben ihr zu bestehen und es mit ihr aufzunehmen. Außerdem schien sein Selbstbewusstsein durchaus gerechtfertigt: Er war Jahrgangsbester in Informatik, einer der besten Amateurkicker beim FC Chelsea und Kapitän im Boxteam der Universität – ein Sieger- und ein Frauentyp. Dass er manchmal den Macho heraushängen ließ, machte er durch seine ungewöhnlich scharfe Intelligenz durchaus wett.

»Alles okay?«, fragte sie und reichte ihm einen Teller.

Er nickte rasch, etwas zu rasch, um überzeugend zu sein. Sein Blick wirkte noch immer gehetzt. »Alles okay, ich habe nur einen Bärenhunger. Der Speck duftet verführerisch.«

Amanda schaltete den kleinen Fernseher an, der auf der Küchentheke stand. Der eintönige Monolog des Nachrichtensprechers mischte sich in das Zischen des Specks.

»Die Feuerwehr bemüht sich immer noch, einen Brand in einer Forschungseinrichtung außerhalb von Cambridge unter Kontrolle zu bekommen. Nach Polizeiangaben wird mit den Ermittlungen begonnen, sobald das Gebäude gesichert ist. Ersten Eindrücken zufolge scheint die Ursache für den Brand eine Explosion in einem Chemikalienraum zu sein. Zum Zeitpunkt des Unglücks befanden sich vermutlich mehrere Mitglieder des Forscherteams im Gebäude, die genaue Anzahl der Opfer ist jedoch noch nicht bekannt.«

Statt dem Nachrichtenstudio war jetzt der Unglücksort zu sehen. Flammen tanzten auf den Ruinen, als wollten sie die geborstenen und verkohlten Trümmer nicht hergeben. Das Schild mit der Aufschrift »Marcon Pharmaceuticals« war schwarz vom Ruß, und die Buchstaben hatten sich in der Hitze des Feuers gelöst.

Amanda ließ fast ihren Teller fallen. »Marcon Pharmaceuticals. Jack! Hast du das gesehen?«

Er hörte nicht, was sie sagte, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Bildschirm. Mit zitternden Händen suchte er ihre Nähe. »Hör zu«, bat er in fiebriger Erregung. »Versprich mir, dass du mir zuhörst, ganz gleich wie verrückt es klingt. Ich werde dir jetzt etwas erzählen, was du ganz sicher nicht für möglich halten wirst.«

7

Trumpington Street, Cambridge

Ed Garner saß im Copper Kettle Café gegenüber dem King’s College und beobachtete den Strom der Studenten, die auf dem Weg in die erste Vorlesung des Tages waren. Mit ihren Schals und wehenden Mänteln warfen sie an diesem sonnigen, kalten Morgen längliche, unförmige Schatten. Seine Armbanduhr zeigte halb acht.

Ed hatte Gavin McCallister zu seiner Einheit zurückgeschickt. Gavin war ein erstklassiger Soldat, aber in einer zivilen Umgebung fiel er viel zu stark auf. Das lag an der Art, wie er sich hielt und dabei alle überragte, die Augen stets prüfend zum Horizont gerichtet, die Fäuste auf die Hüften gestützt. Ob er Uniform und Bärenfellmütze trug oder nicht, spielte gar keine Rolle.

Ed rührte in seinem Tee und aß ein Gebäckstück. Der Tee hatte den bitteren Tanningeschmack einer schlecht gespülten Kanne, und das Gebäck schmeckte alt. Manche Dinge änderten sich nie, dachte Ed resigniert und erinnerte sich an seine eigene Studienzeit vor über zwanzig Jahren. Er hatte die dunkelblaue Krawatte von Oxford getragen, nicht die hellblaue von Cambridge, aber das lockere Studentenleben war nichts für ihn gewesen. Das praxisferne Büffeln hatte ihn wahnsinnig gemacht, weil er viel lieber raus in die Welt und dort Spuren hinterlassen wollte. Er hatte seine ganze Energie ins Rudern und Rugbyspielen gesteckt. Auf der Strecke geblieben waren dabei Latein und Griechisch.

Trotzdem bewegte er sich in dieser Umgebung sicher genug, um selbst an den eifrigsten Pförtnern unbemerkt vorbeizukommen. Man musste nur so aussehen, als gehörte man dazu, und das fiel ihm nicht schwer. Er hatte sich sogar bei Ryder & Amies ein spießiges Tweedjackett besorgt und dazu eine grüne Cordhose und braune Halbschuhe angezogen. Eine eselsohrige Ausgabe von Ulysses, die aus seiner Jackentasche lugte, vervollständigte das Gelehrtenkostüm.

Sir Clive hatte ihm ein Foto von Jack auf sein Handy geschickt. Das Bild war zu Beginn des Medikamententests gemacht worden. Sie hatten ihm eine ganze Reihe von Varianten erstellt, mit und ohne Bart, mit rasiertem Schädel. Ed hatte eine ziemlich präzise Vorstellung von dem Gesicht, das er suchte. Später würde er den Standort wechseln und in die College Bar oder zum Pförtnerhäuschen umziehen. Für den Augenblick aber war er damit zufrieden, die Straße vor dem King’s College zu beobachten und nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau zu halten.

Geraume Zeit später fiel ihm tatsächlich etwas auf, mitten unter den Studenten, ein blonder Haarschopf, der sich gegen den Strom bewegte. Eine junge Frau, die rannte, während alle anderen gingen, und sich ungeduldig durch eine Gruppe japanischer Touristen drängte. Es gab keinen Grund, sie zu verdächtigen oder ihr zu folgen, und doch stimmte irgendetwas mit ihr nicht. Sie wollte in das College hinein, während alle anderen herauskamen, und der Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht war ein wenig zu angespannt. Das musste nichts bedeuten, vielleicht bedeutete es aber doch etwas. Und in diesem Geschäft hörte man besser auf seinen Instinkt. Er betrachtete noch einmal das Foto von Jack und holte sein Handy aus der Tasche.

»Sir Clive, hier ist Ed. Wissen wir, ob unser Mann eine Freundin hat?« Der Blondschopf näherte sich dem King’s College. Sir Clive bellte jemandem im Hintergrund einen Befehl zu.

»Mary macht eine schnelle Recherche, soziale Netzwerke, Internetforen und so weiter. Hat ganz schön viele Fotos im Netz. Sieht so aus, als wäre er bei den Damen ziemlich beliebt.«

»Ich suche eine große, schlanke Blondine. Lana-Turner-Typ.«

»Tun wir das nicht alle?«, bemerkte Sir Clive wie zu sich selbst und fügte dann laut hinzu: »Fotos sind unterwegs.«

»Danke.« Ed stand vom Tisch auf und ließ das angebissene Gebäckstück zurück. Die junge Frau durchschritt das Tor zum College. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn sie in eines der Gebäude am First Court verschwand, wäre er nicht schlauer als zuvor.

Er überquerte die Kopfsteinpflasterstraße, passierte das eindrucksvolle Sandsteintor und bahnte sich einen Weg zwischen den Studenten hindurch, die nervös an ihren selbstgedrehten Zigaretten zogen. Ein schneller Blick auf die Fotos auf seinem Display. Partyszenen. Jack, der seinen Arm selbstbewusst um diverse Mädchen gelegt hatte. Dann die Blonde von der Straße und ein ganz neuer, nervöser Ausdruck in Jacks Augen. Jemand hatte sie unbemerkt beim Händchenhalten geknipst.

Inzwischen hatte die hübsche Blondine die andere Seite des First Court erreicht und eilte im Laufschritt über den Steinweg auf den Fluss zu. Ed beschloss, sämtliche Verbotsschilder zu ignorieren und quer über den Rasen zu gehen. Zu seiner Zeit in Oxford war es nur langjährigen Mitgliedern des Lehrkörpers und hochrangigen Besuchern erlaubt gewesen, den peinlich gepflegten Collegerasen zu betreten. Egal, dachte er, solange man seine Rolle glaubwürdig verkörperte, kam man mit allem durch.

Trotzdem war die junge Frau verschwunden, ehe er auf der anderen Seite ankam. Aber sie konnte nur zwei Wege genommen haben. Der eine war zu beiden Seiten von kahlen Bäumen gesäumt, deren dicke Äste sich über ihm zu einem Dach kreuzten, und führte auf die Brücke zu, der andere nach links in Richtung der Studentenwohnheime.