Das Millionenkind - Gert Rothberg - E-Book

Das Millionenkind E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Die Herbstsonne spiegelte sich im dunklen Wasser des Waldsees. In den hohen Tannen ringsum rauschte der Wind. Die letzten Wasserrosen dieses Jahres blühten im sumpfigen Teil des Gewässers. Drüben auf der Lichtung leuchtete erikafarben das Heidekraut. Still und friedlich war es hier draußen. Nick, der an diesem sonnigen Nachmittag mit seinen Freunden zum Waldsee gefahren war, stellte sein Rad ab und rannte zum Ufer hinab. Die übrigen Buben und Mädchen stürmten hinter ihm drein. »Blöd, dass man nicht mehr baden kann«, maulte Fabian Schöller. »Finde ich auch«, pflichtete ein blondes Mädchen ihm bei, das wegen der kessen Sommersprossen auf dem Stupsnäschen nur »Pünktchen« genannt wurde. Pünktchen hatte vor vielen Jahren bei einem Zirkusbrand ihre Eltern verloren und lebte seither im Kinderheim Sophienlust. »Ich gehe Heidekraut pflücken«, verkündete Vicky Langenbach. »Und dann schenke ich meinen Strauß Tante Isi.« »Warte, ich helfe dir.« Angelika Langenbach lief ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester nach. Auch die Langenbach-Kinder hatten in Sophienlust Unterschlupf gefunden, nachdem ihre Eltern bei einem Lawinenunglück umgekommen waren. »Wollen wir nachsehen, ob es drüben bei der Quelle noch Brombeeren gibt?«

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Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 164 –Das Millionenkind

Gert Rothberg

Die Herbstsonne spiegelte sich im dunklen Wasser des Waldsees. In den hohen Tannen ringsum rauschte der Wind. Die letzten Wasserrosen dieses Jahres blühten im sumpfigen Teil des Gewässers. Drüben auf der Lichtung leuchtete erikafarben das Heidekraut. Still und friedlich war es hier draußen.

Nick, der an diesem sonnigen Nachmittag mit seinen Freunden zum Waldsee gefahren war, stellte sein Rad ab und rannte zum Ufer hinab. Die übrigen Buben und Mädchen stürmten hinter ihm drein.

»Blöd, dass man nicht mehr baden kann«, maulte Fabian Schöller.

»Finde ich auch«, pflichtete ein blondes Mädchen ihm bei, das wegen der kessen Sommersprossen auf dem Stupsnäschen nur »Pünktchen« genannt wurde. Pünktchen hatte vor vielen Jahren bei einem Zirkusbrand ihre Eltern verloren und lebte seither im Kinderheim Sophienlust.

»Ich gehe Heidekraut pflücken«, verkündete Vicky Langenbach. »Und dann schenke ich meinen Strauß Tante Isi.«

»Warte, ich helfe dir.« Angelika Langenbach lief ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester nach. Auch die Langenbach-Kinder hatten in Sophienlust Unterschlupf gefunden, nachdem ihre Eltern bei einem Lawinenunglück umgekommen waren.

»Wollen wir nachsehen, ob es drüben bei der Quelle noch Brombeeren gibt?«, schlug Nick vor.

Der große Junge mit dem lockigen blauschwarzen Haar und den intelligenten dunklen Augen wartete eine Antwort gar nicht ab. Er rannte los, immer am Ufer entlang. Er wusste, seine Kameraden würden schon nachkommen.

Oft gab der Waldboden unter den Füßen der Kinder beachtlich nach, doch das störte sie nicht. Sie kannten dieses Gebiet sehr genau und wussten, dass keine ernsthafte Gefahr bestand, irgendwo einzusinken.

Die Kinder waren schon fast auf der anderen Seite des Sees, als Irmela Groote keuchend ihr Tempo verminderte. »Wartet doch«, rief sie den anderen zu, »hier liegt etwas im Wasser.«

»Das ist nur ein Baumstumpf«, rief Nick zurück.

Irmela schüttelte den Kopf. Sie blieb stur stehen und beobachtete das braune Ding, das zwischen dem Schilf im seichten Wasser lag. »Der Sack bewegt sich«, stellte sie ein bisschen ängstlich fest.

»Du spinnst ja«, raunte Fabian, der gerade an ihr vorbeilaufen wollte.

»Hörst du es nicht? Da schreit auch etwas ganz komisch.« Irmela nahm dem jüngeren Kameraden seine abfällige Äußerung nicht übel. Bei den Kindern von Sophienlust ging es manchmal recht rau zu. Aber im Grunde hielten sie immer wieder zusammen.

Fabian lauschte angestrengt. »Du hast recht«, gab er schließlich zu. »Es klingt fast, als würde ein kleines Kind weinen.« Er warf die Arme hoch und fuchtelte damit wild herum. »Kommt zurück! Kommt schnell zurück!«, rief er den Kameraden zu.

Nur zögernd folgten die anderen der Aufforderung.

»Mensch, das ist ja tatsächlich ein Sack«, stellte Nick fest, als er, etwas außer Atem, neben Irmela stand.

»Was kann nur darin sein?«, überlegte das Mädchen laut.

»Wir werden nachsehen«, entschied Nick, der stets dafür war, den Dingen auf den Grund zu gehen.

»Wie willst du denn herankommen? An dieser Stelle ist das Ufer doch ganz sumpfig.« Fabian schüttelte sich.

Ganz deutlich hörten die Kinder in diesem Moment langgezogene, klagende Töne. Sie kamen zweifellos vom Wasser her.

Die Kinder schauten sich an. Furcht und Unsicherheit war in ihren Blicken.

»Wir holen die langen Bretter, mit denen der Badesteg erneuert werden soll«, schlug Nick, der eigentlich Dominik hieß, vor. »Los, helft mir!« Er rannte bereits den Weg zurück.

Wenige Minuten später schleppten die Kinder mit vereinten Kräften die schweren Bretter am Ufer entlang.

Angelika und Vicky hatten ihre Heidekrautsträuße im Stich gelassen und halfen nun ebenfalls mit.

»Was kann das nur sein?«, wisperte Vicky ängstlich. »Vielleicht ein Baby?«

Ihre Schwester Angelika tippte sich an die Stirn. »Ein Baby in einem Sack im Wasser. Das gibt es doch gar nicht.«

»Quatscht nicht lange, helft lieber«, rief Pünktchen, die von der Anstrengung ein ganz rotes Gesichtchen hatte. Nach Kräften half sie Nick, die Bretter über das sumpfige Gelände zu stoßen.

»Vicky ist am leichtesten. Sie muss den Sack holen«, entschied Nick.

»Aber wenn ich …, und wenn …«, stotterte das Mädchen erschrocken.

»Du wirst doch keine Angst haben?«, drängte Nick, der gewöhnlich in der Gruppe den Ton angab. Niemand machte ihm diese Vorrangstellung streitig. Denn einmal war der hübsche Junge, der künftige Besitzer von Sophienlust, zum anderen war er ein Kamerad, auf den man sich unbedingt verlassen konnte.

Vicky schüttelte rasch den Kopf. Auf keinen Fall wollte sie als Feigling gelten. Andererseits aber hatte sie ein ganz merkwürdiges Ziehen im Bauch.

»Es ist überhaupt nicht gefährlich«, behauptete Nick. »Der Sack ist zugebunden. Es kann nichts passieren.«

Das Mädchen mit dem glatten braunen Haar nickte, obwohl es noch lange nicht überzeugt war. Zaghaft trippelte es über die Planken, die geringfügig einsanken. Doch das Wasser erreichte nicht einmal Vickys Schuhe.

»Jetzt nimm den Stock!«, schrie Nick, als Vicky den Sack bis auf einen Meter erreicht hatte.

Das Mädchen gehorchte und konnte den Sack tatsächlich zu sich heranziehen. Wieder ertönte der langgezogene, klagende Laut. Rasch fasste Vicky zu, ergriff den nassen Sack und zerrte ihn hoch. Zu ihrer Überraschung war er nicht sonderlich schwer.

Trotzdem hastete Vicky ängstlich zurück. Sie legte den Sack vor Nicks Füße und brachte sich rasch durch entsprechenden Abstand in Sicherheit.

»Vorsicht, Nick«, warnte Pünktchen, als der große Junge mit seinem Taschenmesser die Schnur aufschnitt. »Vielleicht ist ein Tier darin, das beißt.« Heimlich bewunderte sie den Mut ihres Freundes.

Nick, der mit vielen Tieren groß geworden war, kannte keine Furcht vor ihnen. Spontan öffnete er den Sack. »Er liegt bestimmt noch nicht lange im Wasser«, murmelte er dabei, »denn er ist noch kein bisschen schlüpfrig.«

Ängstlich waren alle Kinder zurückgewichen. Doch wenn sie geglaubt hätten, das kläglich wimmernde Lebewesen würde sofort aus seinem Gefängnis fliehen, hatten sie sich getäuscht. Es geschah nichts.

»Doch ein Baby«, flüsterte Vicky und näherte sich vorsichtig. Diesmal widersprach ihr niemand.

»Schau doch mal rein«, riet Pünktchen ihrem Freund Nick. »Was siehst du?«, drängte sie, als der Junge gleich darauf ihrer Aufforderung nachkam.

Nick gab nicht gleich eine Antwort. »So eine Gemeinheit«, zischte er schließlich wütend. »Das ist eine Tierquälerei!«

Jetzt rückten die Kameraden wieder näher. Gespannt schauten sie zu, wie Nick in den Sack fasste und ein kleines, nasses Etwas hervorbrachte. Liebevoll hielt er es in den Händen.

»Was ist das?«, keuchte Vicky. Im nächsten Augenblick war es ihr selbst klar.

»Ein Kätzchen«, stöhnte Nick. »Und nicht nur eines. Es sind fünf Stück. Sie sind alle patschnass. Deshalb kann man sie kaum erkennen. Jemand wollte sie ertränken. Aber sie haben Glück gehabt und sind vom Wind ans Ufer getrieben worden.«

»Wer das getan hat, ist ein ganz böser Mensch«, schimpfte Angelika und übernahm das zweite Kätzchen. Vorsichtig trocknete sie mit ihrem Taschentuch das schwarzweiße Fell.

Fabian ballte wütend die Hände zu Fäusten.

»Wenn man nur wüsste, wer die Kätzchen in den Sack gesperrt hat. Er gehört ins Gefängnis!«

»Überlegt doch mal, wie elend diese armen Kätzchen umgekommen wären, wenn wir sie nicht zufällig gefunden hätten«, meinte Irmela. Auch sie drückte jetzt liebevoll eines der unglücklichen Geschöpfe an sich.

»Den Kerl müssen wir erwischen«, sagte Nick rachedurstig.

»Aber wie?«, piepste Vicky.

»Zunächst müssen wir uns darum kümmern, dass wir die armen Kleinen durchbringen. Sie sind halb erfroren und fast verhungert.« Pünktchen schob ihren Schützling unter den Pulli.

*

Jochen Dresel legte das Besteck weg. Aufmerksam schaute er die junge Frau, die ihm gegenübersaß, an.

»Ich gebe ja zu, das Mensa-Essen ist nicht besonders gut, aber du hast heute noch gar nicht probiert. Du sitzt nur da und starrst auf deinen Teller. Was ist los, Barbara?« Echtes Interesse sprach aus Jochens Blick.

»Ich habe keinen Appetit«, gab die junge Frau leise Auskunft. Sie trug Jeans und einen groben handgestrickten Pulli darüber. Sportlich kurzgeschnitten war ihr volles blondes Haar, ihr Gesicht war von natürlicher Frische. Barbara Schoch war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte die schlanke, zierliche Figur eines sehr jungen Mädchens.

»Probleme?«, erkundigte sich Jochen leise. Er hätte sich gern mehr um Barbara gekümmert, aber sie ließ das nicht zu. Sie sah nur den Kommilitonen in ihm, nicht mehr.

»Ich habe heute den Bescheid bekommen, dass ich in Bayern ein Praktikum absolvieren kann. Es handelt sich um das Architekturbüro Rahner in München.«

»Das ist doch kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Im Gegenteil, du solltest dich freuen. Rahner hat einen ausgezeichneten Ruf. Bei ihm wirst du viel lernen. Er baut Schulen, Theater und Kirchen, die nicht nur in Deutschland Beachtung finden. Nicht jeder angehende Architekt hat das Glück, in seinem Büro ein Praktikum absolvieren zu dürfen. Ich finde es klasse, dass sie dich genommen haben. Soviel ich weiß, haben sich eine Menge Leute beworben.«

Jochen Dresel war zwei Jahre älter als Barbara und würde im nächsten Sommer sein Staatsexamen machen. Er war ein gut aussehender junger Mann, groß und breitschultrig, mit dunklem Haar und braunen Augen. Dass seine Jeans oft ausgefranst waren und an seinen Hemden die Knöpfe fehlten, störte die Mädchen nicht. Jochen hatte beste Chancen bei ihnen. Aber er nützte sie nicht. Denn seine Zuneigung gehörte seit Langem Barbara. Allerdings wusste sie nichts davon, denn sie gab ihm nie Gelegenheit, von seinen Gefühlen zu sprechen.

»So siehst du es«, antwortete Barbara zerstreut. »Aber für mich ist die Sache nicht so einfach.«

»Wieso?«, fragte der junge Mann eindringlich.

»Ich kann Benjamin nicht allein lassen, und ich habe keinen, dem ich ihn anvertrauen könnte.«

»Benjamin?« Jochen fühlte, wie Eifersucht in ihm hochstieg. Doch dann lächelte er erleichtert. »Benjamin ist dein kleiner Sohn, nicht wahr?«

Barbara nickte. »Er ist zwei Jahre alt und hängt sehr an mir. Es gibt jeden Morgen Tränen, wenn ich ihn in die Tagesstätte bringe. Nach München kann ich Benjamin nicht mitnehmen, weil das alles viel zu umständlich wäre. Ich habe dort nur ein ganz kleines Zimmer, in das man kein Kinderbett stellen kann, und einen Platz in einer Tagesstätte würde ich auch nicht finden, da sie alle hoffnungslos überfüllt sind. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Barbara ließ den Kopf hängen. Tapfer hatte sie sich bis jetzt mit ihrem kleinen Söhnchen durchgeschlagen, hatte dafür gesorgt, dass das Kind, das ohne Vater aufwachsen musste, nichts vermisste. Wenn es um Benjamin ging, stand Barbara stets zurück. Für ihn war kein Opfer zu viel. »Ich werde wohl absagen«, meinte sie leise.

Jochen Dresel schüttelte entsetzt den Kopf. »Hör mal, eine solche Chance schlägt man nicht aus. Du könntest deinen Jungen doch für die Zeit, da du in München bist, in ein Kinderheim geben. Danach kannst du ihn ja wieder zu dir nehmen.«

»Ausgeschlossen«, antwortete Bar­bara, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen. »Ich bin selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen und weiß, wie entsetzlich allein man dort ist.«

»Es hat sich inzwischen vieles geändert, glaube mir.«

»Möglich. Die Waisenkinder tragen keine abgelegten Kleider mehr, bekommen gesunde Kost und schlafen in hellen Räumen. Trotzdem hat niemand Zeit, sich um das einzelne Kind zu kümmern, denn an Personal wird gespart. Nein, ich würde Benjamin nie in ein solches Heim geben. Er würde Tag und Nacht weinen und nach mir rufen. Vielleicht würde er sogar einen seelischen Schaden davontragen. Nein, das ist mir meine Karriere nicht wert. Ich schaffe es auch so.« Barbara presste die Lippen zusammen.

Jochen hatte seine Studienkameradin ausreden lassen. Einmal liebte er ihre Stimme, zum anderen freute er sich über ihr Pflichtbewusstsein. Unter den vielen Studentinnen, die er kannte, war keine, die ihre Pflichten als Mutter so ernst genommen hätte wie Barbara Schoch.

»Ich dachte nicht an ein staatliches Kinderheim, sondern an ein privates Haus«, erklärte Jochen ruhig. Er schob seinen Teller weg, denn inzwischen war das Essen ohnehin kalt.

»Um Gottes willen«, murmelte Barbara erschrocken, »du weißt doch, dass ich das nicht bezahlen kann. Die kleine Unterstützung, die ich bekomme, reicht gerade für die Miete und die Lebensmittel.«

»Ich glaube, das Kinderheim, an das ich denke, wäre nicht so teuer. Man hat mir erzählt, dass dort Kinder manchmal sogar kostenlos aufgenommen werden.«

»Das gibt es doch gar nicht.« Barbara schnaubte verächtlich. »Heute ist doch jeder nur auf Profit aus.«

»Ich weiß, dass du schlechte Erfahrungen gemacht hast. Aber in diesem Fall glaube ich, dass die Ausnahme die Regel bestätigt. Es handelt sich um das Kinderheim Sophienlust, das landschaftlich sehr schön liegt und auch sehr gepflegt ist. Schon viele elternlose Kinder haben dort eine Heimat gefunden. Andere hat man liebevoll aufgenommen, wenn die Angehörigen krank oder auf Reisen waren oder wenn eine Ehe auseinanderging. Du wirst es nicht glauben, aber die Kinder sind ausgesprochen gern dort. Sie haben sehr viel Freiheit und werden doch jederzeit liebevoll überwacht.«

Barbara Schoch zog die Stirn in Falten. »Sag mal, haben wir Märchenstunde?«

»Absolut nicht. Ich habe das alles selbst gesehen. Ein ehemaliger Freund nahm mich zu einem Wochenendbesuch mit. Sascha von Schoenecker. Er studiert jetzt in Heidelberg. Es wird im Moment noch von dessen Mutter verwaltet und von einer tüchtigen älteren Frau geleitet.«

»Es ist sicher ständig überbelegt.«

»Nein. Und das liegt daran, dass nicht sehr viele Leute davon wissen. Dort wäre dein Benjamin wirklich gut aufgehoben. Es gibt eine Ärztin, die alle Kinder laufend überwacht, und eine Kinderschwester. Die Seele von allem aber ist Denise von Schoenecker, eine wundervolle Frau. Du glaubst nicht, wie gut sie es versteht, mit Kindern umzugehen. Dabei ist sie nicht jener behäbige Typ, an den man dabei sofort denkt, sondern eine äußerst hübsche, sehr gepflegte Dame.«

»Du schwärmst ja geradezu von ihr«, stellte Barbara lächelnd fest.

»Nicht so, wie du denkst. Frau von Schoenecker führt eine sehr glückliche Ehe. Das weiß ich von Sascha.«

»Und du glaubst, dass auch ein kleines Kind sich dort wirklich wohlfühlen würde?«, erkundigte sich die junge Mutter zweifelnd. Sie mochte gar nicht ernsthaft an die Trennung von ihrem kleinen Liebling denken. Alles, was sie tat, galt nur Benjamins Wohlbefinden. Für ihn strebte sie einen Beruf an, in dem sie selbstständig arbeiten konnte und damit genügend Zeit für ihr Kind hatte. Für Benjamin nahm sie jede Unbequemlichkeit, jede Entbehrung auf sich.

»Es ist eine große harmonische Gemeinschaft«, erinnerte sich Jochen. »Weißt du, ich verstehe nicht viel von Kindern, aber man spürt es, ob sie zufrieden oder glücklich sind oder nicht. In Sophienlust sind mir jedenfalls nur fröhliche Kinder begegnet.«

»Meinst du …, glaubst du, dass man Benjamin für einige Wochen behalten könnte?« Unsicherheit schwang in Barbaras Stimme mit.

»Ich würde vorschlagen, dass du dich mit Frau Rennert, der Heimleiterin, oder mit Frau von Schoenecker selbst unterhältst. Wenn du möchtest, kann ich dich telefonisch anmelden. Ich glaube bestimmt, dass man sich noch an mich erinnert.«

»Und du denkst, ich könnte so einfach …« Barbara war gewohnt, dass sie als ledige Mutter sehr oft auf Ablehnung stieß. Es gab Leute, die ihr ganz offen ihre Verachtung zeigten. Würde dies nicht auch in Sophienlust so sein?

»In Sophienlust ist man sehr gastfreundschaftlich. Das wirst du noch sehen. Mach dir also keine Gedanken. Ich rufe nachher gleich an. Soll ich ein frisches Menü für dich holen? Was da vor dir steht, dürfte nicht mehr besonders schmecken.« Besorgt beugte sich Jochen etwas vor. Er wollte die hübsche Barbara so gern ein bisschen verwöhnen. Schade, dass sie überhaupt nicht darauf einging.

»Vielen Dank. Ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt etwas essen zu können. Wenn das, was du erzählt hast, stimmt und wenn es tatsächlich klappen würde, das wäre einfach klasse.« Barbaras Gedanken waren bei ihrem kleinen Söhnchen. Sie würde Benjamin so schonend wie nur möglich auf die Trennung vorbereiten. Würde das Kind sie verstehen? Würde es begreifen, dass sie es nicht abschob, sondern nur sehr ungern allein ließ?

*

Während der Busfahrt ließ Barbara den kleinen Benjamin kein einziges Mal von ihrem Schoß. Sie hatte den Arm um das Kind geschlungen, als befürchte sie, man würde es ihr gewaltsam wegnehmen.

Benjamin legte das Köpfchen an Barbaras Brust und schloss müde die Augen. Wenn er in der Nähe seiner hübschen Mama war, fühlte er sich stets geborgen, dann war er restlos zufrieden und glücklich.

Noch hatte Barbara mit ihrem Kind über die bevorstehende Trennung nicht gesprochen, da ja noch nicht feststand, ob man den Kleinen in Sophienlust aufnehmen würde. Sicher konnte sich der Zweijährige ohnehin nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn er seine Mutti längere Zeit nicht sehen würde. Bisher war er noch nie von ihr getrennt gewesen. Barbara war da, wenn er aufwachte, sie war in seiner Nähe, wenn er einschlief, sie verbrachte jede freie Minute mit ihm.

»Wir müssen aussteigen«, raunte Barbara dem Kind zu, als der Bus an der Haltestelle mit dem Hinweisschild auf Sophienlust stoppte. Drollige Holzfiguren waren es, die den Fremden den Weg zum Kinderheim zeigten.

»Schon?«, murmelte der Kleine verschlafen.

Barbara nahm ihn kurzerhand auf den Arm und verließ mit ihm das Fahrzeug. Sie ging auf ein hohes schmiedeeisernes Tor zu, betrat den gepflegten Park.

Jetzt bemerkte Benjamin den Weiher mit den Enten, den Springbrunnen und den Spielplatz mit den bunten Geräten. Eilig strebte er von Barbaras Arm. »Benjamin spielen«, erklärte er und machte Anstalten, quer über den Rasen zu laufen.