Das Ministerium für besondere Fälle - Nathan Englander - E-Book

Das Ministerium für besondere Fälle E-Book

Nathan Englander

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Beschreibung

Buenos Aires um 1970: Kaddisch Poznan, Jude und Sohn einer Hure, hat es im Leben zu nichts Rechtem gebracht. Sein Sohn Pato verachtet ihn, und seine Frau Lillian verdient in einer Versicherungsagentur das Geld für die Familie. Eines Tages wird Kaddischs Sohn verhaftet, und binnen kürzester Zeit verliert sich Patos Spur in der anonymen Apparatur der argentinischen Militärdiktatur. Immer wieder werden Kaddisch und seine Frau im „Ministerium für besondere Fälle“ vorstellig, doch niemand fühlt sich zuständig, niemand will ihnen weiterhelfen …

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Nathan Englander

Das Ministerium für besondere Fälle

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Michael Mundhenk

Luchterhand

Inhaltsverzeichnis

CopyrightWidmungTeil eins
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16
Teil zwei
Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30 Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34
Teil drei
Kapitel 35 Kapitel 36 Kapitel 37 Kapitel 38 Kapitel 39 Kapitel 40 Kapitel 41 Kapitel 42 Kapitel 43 Kapitel 44 Kapitel 45 Kapitel 46 Kapitel 47 Kapitel 48 Kapitel 49
Danksagung

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel The Ministry of Special Casesbei Alfred A. Knopf, New York.

1. Auflage Copyright © der originalausgabe 2007 Nathan Englander Copyright © der deutschsprachigen ausgabe 2008 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Greiner & Reichel, Köln

eISBN 978-3-641-18782-8

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.randomhouse.de

Für H. Daniel und Melissa H.

FRAU: Komm, lass mich sogleich den Weihrauch anzünden gehnAls Dank, mein Kind wieder sicher daheim zu sehn.

Hermippus

Der Arzt und der Totengräber, das sind Kompagnons.

Jiddisches Sprichwort

Teil eins

1

Die Juden bestatten sich so, wie sie leben: Noch im Tod hocken sie aufeinander und nehmen sich gegenseitig den Platz weg. Die Grabsteine standen dicht an dicht, die Toten darunter lagen Ellbogen an Ellbogen und Kopf an Fuß. Kaddisch führte Pato auf der Seite des Wohltätigen Ich über buckligen Boden, zwischen schiefen Reihen hindurch. Um das Licht zu dämpfen, hielt er die Hand über das Auge der Taschenlampe. Seine Finger glühten orange, in den Zwischenräumen rot, während er mit der Faust über die Stirnseite eines Steins fuhr.

Die beiden waren auf der Suche nach Hezzi Doppelklinges Grab, und es dauerte nicht lange, bis sie es fanden. Seine Grabstelle stieg steil an. Sein Stein neigte sich nach hinten. Es kam Kaddisch vor, als hätte der alte Knabe versucht, sich in die Freiheit zu wühlen. Außerdem sah es so aus, als hätte Doppelklinges Tochter, hätte sie nur noch einen Winter gewartet, Kaddisch Poznan überhaupt nicht anheuern müssen.

In Marmor, hatte Kaddisch herausgefunden, meißelt man nicht, weil er hart, sondern weil er weich ist. So wie die übrigen Marmorsteine auf dem Friedhof der »Gesellschaft des Wohltätigen Ich« hatte auch Hezzis Grabstein Krater und Risse, und die Buchstaben verblassten zunehmend. Die meisten anderen Steine waren aus Granit gehauen. Wurden sie nicht durch Witterung und Umweltverschmutzung in Mitleidenschaft gezogen, dann von den örtlichen Rowdys. Schon oft hatte Kaddisch Hakenkreuze weggeschrubbt und zerbrochene Steine wieder zusammengefügt. Er prüfte, wie stabil der Stein auf Doppelklinges Grab war. »Als wenn man gegen einen losen Zahn schlägt«, sagte Kaddisch. »Ich weiß gar nicht, warum wir uns überhaupt damit abgeben – dauert nicht mehr lange, dann ist davon nichts mehr übrig.«

Doch Kaddisch und Pato wussten ganz genau, warum sie sich damit abgaben. Sie begriffen sehr gut, warum die Familien sich jetzt mit solcher Dringlichkeit an sie wandten. Man schrieb das Jahr 1976 in Argentinien. Unsicherheit und drohendes Chaos bestimmten das Leben. Entführungen und Erpressungen waren in Buenos Aires schon lange an der Tagesordnung. Überall herrschte Terror, ständig wuchs die Zahl der Morde. Niemand wollte auffallen, weder Gojim noch Juden. Und die Juden hatten nahezu ausnahmslos das Gefühl, sich durch ihr Jüdischsein schon mehr als genug von den anderen zu unterscheiden.

Kaddischs Kunden waren diejenigen, die etwas zu verlieren hatten: der angesehene, erfolgreiche Teil der jüdischen Gemeinschaft, dessen Familien keine so ehrenhafte Vergangenheit vorzuweisen hatten. In ruhigeren Zeiten hatte es gereicht, diese zu ignorieren und zu leugnen. Als der Letzte der Generation des Wohltätigen Ich verstummt war, als alle Grabstellen auf ihrer Seite belegt waren, hatten die Nachkommen dieser unanständigen Sippe eine ihrer Meinung nach anständige Frist verstreichen lassen und den Friedhof für immer dichtgemacht.

Als er das Grab seiner Mutter besuchen wollte und das Tor verschlossen fand, bat Kaddisch die anderen Kinder des Wohltätigen Ich um den Schlüssel. Sie stritten jegliche Verstrickung ab. Sie waren überrascht, von der Existenz des Friedhofs zu erfahren. Und als Kaddisch sie darauf hinwies, dass ihre Eltern dort begraben lägen, erwiesen sie sich als genauso außerstande, sich an die Namen ihrer eigenen Eltern zu erinnern.

So hart diese Haltung auch war, geboren wurde sie aus einer entsetzlichen Scham.

Die Gesellschaft des Wohltätigen Ich war nicht nur in Buenos Aires ein Skandal, zu ihrer Glanzzeit in den zwanziger Jahren war sie für jeden argentinischen Juden eine Schande sondergleichen gewesen. Wer von ihren Verleumdern freute sich nicht, wenn seine Morgenzeitung ein gutes Bild von einem Alphonse in Handschellen brachte, von einem Kaftan-Mitglied bei einer polizeilichen Gegenüberstellung; wer hatte nicht das Gefühl, seine Schmähreden seien gerechtfertigt, wenn er die berühmten jüdischen Zuhälter von Buenos Aires zusammen mit ihren schmolllippigen jüdischen Huren sah. Doch das war 1950, als Kaddisch plötzlich ausgesperrt vor dem Tor stand, längst vorbei. Als jüdisches Geschäft war dieses furchtbare Gewerbe damals schon zwanzig Jahre stillgelegt. Die Gebäude, die der Gesellschaft des Wohltätigen Ich gehörten, waren schon lange verkauft, die Schul der Zuhälter verlassen. Nur ein Teil der Liegenschaft würde nie und nimmer unter mangelnder Nutzung leiden. Unter Baufälligkeit schon. Und auch unter Verwahrlosung. Doch – so die Rätselfrage – was ist das Einzige, was von Menschenhand gebaut und garantiert immerfort benutzt wird? Die Toten benutzen einen Friedhof ewig.

Außerdem war jener Friedhof die einzige von den Zuhältern und Huren von Buenos Aires gegründete Einrichtung, die mit Zustimmung der aufrechten Juden gebaut worden war. Hartherzig, wie jene Juden waren, wenn es um das Wohltätige Ich ging, im Tod konnten sie sich nicht abwenden. Der Vorstand der in den Kinderschuhen steckenden Vereinigten Jüdischen Gemeinden von Argentinien kam zusammen und geriet in eine Sackgasse. Kein Jude sollte, so helfe ihnen Gott, als Goi begraben werden müssen. Andererseits sollten die feinen Juden von Buenos Aires aber auch nicht unter Huren liegen müssen. Sie besprachen ihr Dilemma mit Talmud-Harry, der, als Oberhaupt des Wohltätigen Ich, seinem eigenen Vorstand vorsaß. »Ihr liegt bei ihnen, wenn sie leben«, sagte Harry, »wieso solltet ihr euch dann nicht auch zusammenkuscheln, wenn sie tot sind?«

Schließlich einigte man sich. Im hinteren Teil würde eine zur Friedhofsumfassung passende Mauer errichtet werden, wodurch ein zweiter Friedhof entstand, der im Prinzip zum ersten dazugehörte – technisch, aber nicht halachisch gesehen. Genau auf diese Art und Weise lösen Juden jedes Problem, mit dem sie konfrontiert werden.

Die bestehende Mauer war bescheidene zwei Meter hoch, eine zweckmäßige Barriere zur Abgrenzung eines heiligen Ortes. Die Gründung eines jüdischen Friedhofs in einer von ihren Toten besessenen Stadt hatte ein Maß an Akzeptanz signalisiert, von dem die Vereinigten Gemeinden nur träumen konnten. Seine Gestaltung hatte ihre Unbefangenheit zeigen sollen.

Doch an einem Tag akzeptiert zu werden heißt noch lange nicht, dass man auch noch am nächsten willkommen ist – die Juden von Buenos Aires konnten der Versuchung nicht widerstehen, für dunkle Zeiten vorauszuplanen. Und so war auf jener bescheidenen Mauer noch ein weiterer, zwei Meter hoher schmiedeeiserner Zaun angebracht worden, dessen Stangen oben je eine bourbonische Lilie trugen. Diese vielen Spitzen und Zacken in vier Meter Höhe vermittelten einen abweisenden, unbezwingbaren Eindruck; eine Mauer, deren schierer Anblick einem bereits die Hosen zerriss. Einen Anflug von Größe gestatteten sich die Vereinigten Gemeinden aber doch, und zwar in Form eines überkuppelten Säuleneingangs. Dies war, ehe unter den Juden selbst irgendein Kompromiss gefunden wurde, der Kompromiss, den sie mit der Außenwelt geschlossen hatten.

Die beiden Vorstände standen dabei und sahen zu, wie die neue Mauer errichtet wurde. Der verwestlichte Rabbiner von der Befreier-Schul hatte es abgelehnt zu kommen. Es war der junge Rabbiner aus der alten Heimat, der, nervös auf und ab gehend, darauf achtete, dass bestimmte Normen eingehalten wurden, und entsetzt feststellen musste, dass er plötzlich die Aufsicht führte.

Als der Mörtel getrocknet war, kamen die Vorsitzenden der Vereinigten Gemeinden für die Errichtung des Zaunes zurück. Sie waren überrascht, die Zuhälter auf ihrer Seite versammelt zu finden – ein Anblick, den jene aufrechten Juden gehofft hatten, nie wieder sehen zu müssen. Vor ihnen stand eine Reihe der berühmten Haudegen des Wohltätigen Ich, einschließlich des noch immer robusten Hezzi Doppelklinge, Kokosnuss Burstein und Hayim-Moshe »Einauge« Weiss. Über Talmud-Harry ragte der sehr große, sehr legendäre Schlomo die Stecknadel empor.

»Die Mauer ist allemal hoch genug«, sagte Talmud-Harry. »Ein Zaun ist eine unnötige Beleidigung.« Die Juden der Vereinigten Gemeinden hingegen hielten ihn nicht für eine Beleidigung; ihrer Meinung nach passte er gut zu den anderen Einzäunungen in der Gegend. Eine Reihe von üblen Drohungen lagen bereits in der Luft. Harry brauchte nichts groß hinzuzufügen. Er zeigte auf die Mauer und sagte nur: »Noch mehr wird hier nicht abgetrennt.«

Sie machten lange Gesichter und wandten sich an den Rabbiner, der nichts zu ihrer Unterstützung beizutragen hatte. Eine solide, zwei Meter hohe Mauer war, egal, welche Maßstäbe man anlegte, eine Abtrennung. Sie würde für eine Mehitza oder Suckah ausreichen und auch, um einen wild gewordenen Ochsen einzusperren. Noch während die Feinheiten erörtert wurden, gab Talmud-Harry grünes Licht. Ein kribbeliger Doppelklinge griff bereits an die Hüfte, und Schlomo die Stecknadel ballte die Finger seiner rechten Hand zu einer keulenähnlichen Faust. Feigenblum, der erste Präsident der Vereinigten Gemeinden und Vater des zweiten, sah es aus dem Augenwinkel. Er hielt dies für einen ausgezeichneten Moment, das Wort des jungen Rabbiners als verbindlich zu erklären, worauf ein schneller Aufbruch erfolgte.

Die Zuhälter wollten genauso wenig zweitklassig sein wie ihre Brüder, die den Bau einer Trennmauer verlangt hatten. Als sie die Fassade ihres Friedhofs errichteten, gaben sie eine – allerdings einen Meter höhere – Nachbildung des großen Kuppeleingangs in Auftrag, der die Trauernden auf der Seite der Vereinigten Gemeinden willkommen hieß.

Nochmals sei Gott gedankt, dass alles geregelt war. So konnte Talmud-Harry in Frieden sterben, und ihm blieb der Anblick seiner eigenen Söhne erspart, wie sie, beides Rechtsanwälte, Kaddisch in den Wohnzimmern ihrer Villen gegenüberstanden und ihre Herkunft leugneten. Das Gleiche geschah bei dem Treffen mit Einauges Tochter und dem Sohn von Henja der Stummen. Alles, was diese Kinder hatten, war nach Art des Wohltätigen Ich erkämpft und bezahlt worden.

Es war Lila Finkel – deren Mutter, Brina die Vagina, wie es hieß, ein helles Köpfchen sowie eine Fotze aus reinem Gold hatte –, die es auf sich nahm, die Dinge für Kaddisch ins rechte Licht zu rücken. »Hol mal tief Luft«, sagte sie. Kaddisch tat, wie ihm befohlen. »Riechst du es?«, fragte sie. Vielleicht, dachte Kaddisch. »Glück, Poznan, so riecht Glück. Dies ist für uns die Zeit des Wohlstands, und der hat sich bisher noch nie hierherverirrt.«

Es war die Glanzzeit Evitas, ihrer befreiten und ihrer hemdlosen Arbeiter. Unter Perón schossen Fabriken aus dem Boden, und Lila entwarf für Kaddisch ein Bild vom damit einhergehenden Aufstieg der Mittelschicht, der auch für die Juden Platz schaffte. Sie bitte ihn lediglich, sich gemeinsam mit ihnen auf die Zukunft zu freuen. Kein Grund, in hässlichen, bald vergessenen Erinnerungen zu verweilen. Kaddisch war nicht überzeugt, und Lilas Geduld begann zu schwinden. »Überleg doch mal«, sagte sie und tippte sich einmal kräftig an die Schläfe. »Wer ist besser dran« – noch eine Rätselfrage –, »ein Mensch ohne Zukunft oder ein Mensch ohne Vergangenheit? Deshalb wurde doch die Mauer gebaut. Damit die Juden eines Tages alle beisammen sein können, damit wir auf dem Friedhof der Vereinigten Gemeinden nicht in Trauer, sondern in Freude stehen und alle zusammen beim Anblick dieser Mauer vergessen können, was sich auf der anderen Seite befindet.«

Nur dass für Kaddisch Poznan die Zukunft nicht heller aussah als die Vergangenheit. Er hatte Lillian noch nicht kennengelernt und geheiratet; sein Sohn war noch nicht geboren. Da er das Grab seiner Mutter Favorita nicht besuchen konnte, hatte Kaddisch überhaupt niemanden.

»Na und?«, sagte Lila. »In der Geschichte eines jeden Volkes gibt es Zeiten, die sollten am besten vergessen werden. Das hier ist unsere, Poznan. Lass sie los.«

Unter den Kindern, die die Existenz ihrer Eltern nicht zur Kenntnis nehmen wollten, gab es außer Lila noch jemanden, den Kaddischs Worte kopfscheu gemacht hatten. Als er zum Friedhof zurückging, beseelt von dem Willen hineinzukommen, sah Kaddisch, dass das Tor mit einer zusätzlichen Kette gesichert und schludrig zugeschweißt worden war, und obendrein waren auch noch die Schlüssellöcher beider Schlösser mit Teer verklebt. Er versetzte ihm einen Stoß, der durch die Kuppel hallte und eine Taube herabschießen ließ. Kaddisch dachte daran, was Lila gesagt hatte, und ging zur Seite der Vereinigten Gemeinden herum. Er trat durch deren stets geöffnetes Tor, durchquerte die gepflegte Anlage, und als er sie erreichte und die Hände danach ausstreckte – als er die Hände nach oben streckte und sich auf die Mauer hochzog, zerschrammte sich Kaddisch die Schuhe an den Backsteinen. Wie er dort thronte und den Blick über das Wohltätige Ich schweifen ließ, fragte sich Kaddisch, ob wohl jemals eine Mauer gebaut worden war, die niemand hatte überqueren können. Diese hier stellte keine große Herausforderung dar. Sie sollte schließlich nicht die Lebenden zurückhalten, sondern die Toten trennen.

Als Lösung war dies für Kaddisch und, als sich die Nachricht verbreitete, auch für den Rest der jüdischen Gemeinde auf beiden Seiten der Mauer akzeptabel. Gelegentlich wurde Kaddisch dabei beobachtet, wie er zum Wohltätigen Ich hinüberkletterte oder sich wieder zwischen die Gräber der Vereinigten Gemeinden herunterließ. Niemand räumte öffentlich ein, dass er dorthin ging. Wenn es möglich war, jeden einzelnen der auf jenem Friedhof begrabenen Gauner aus dem Gedächtnis zu streichen, war es nicht schwer, noch einen weiteren Namen zu vergessen. Von da an war es, als gäbe es ihn nicht. Die Juden vergaßen auch Kaddisch Poznan.

Und so blieb es für lange Zeit. So wurde Kaddisch behandelt, als er sich in Lillian verliebte, die seine Liebe, Gott segne sie, sofort erwiderte. Die Juden von Buenos Aires machten in ihrem Vergessen Platz für sie – keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass ihre Familie sich der Seite der Vereinigten Gemeinden angeschlossen hatte. (Auch die Eltern sind zu bedauern. Was soll man mit einer Tochter machen, die darauf besteht, einen hijo de puta zu heiraten? Warum musste sich Lillian den einzigen Juden suchen, der stolz darauf war, der Sohn einer Hure zu sein?) So blieb es für die beiden, als zwei Jahre später Evita starb, und auch als fünf Jahre später Perón vertrieben wurde. Nach Patos Geburt wurden Kaddischs Besuche beim Grab seiner Mutter immer häufiger. Seine Mutter war die einzige ununterbrochene Verbindung der Familie mit einer Vergangenheit.

Nicht einmal Kaddischs Name stammte von der Familie; der junge Rabbiner hatte ihn ausgesucht, nicht mehr als ein halbherziger Akt der Freundlichkeit und alles, wozu sich die aufrechten Juden je durchringen konnten. Kränklich, schwächlich und sich ans Leben klammernd, überlebte Kaddisch nur knapp die erste Woche. Seine Mutter – eine gläubige Frau – bat darum, dass der Rabbiner zu Talmud-Harry gerufen wurde, damit er ihn errette. Der Rabbiner weigerte sich, über die Schwelle zu treten. Im Sonnenlicht auf der Cashewnussstraße lugte er in den Vorraum auf den Säugling in Favoritas Armen. Im Nu sprach er sein Urteil. »Sein Name soll Kaddisch sein, damit der Engel des Todes ferngehalten werde. Ein Trick und ein Segen. Dieses Kind soll trauern, statt betrauert zu werden.« Da, außer beim körperlichen (und geschäftlichen) Akt, niemand die Vaterstelle einnahm, gab der Rabbiner Kaddisch den Nachnamen, der mit der Legende einhergeht – dass der Nachkomme, den ein Mann mit einer Prostituierten zeugt, ein böses Ende nehmen wird, das wissen wir aus Poznan. Favorita wiederholte den Namen: Kaddisch Poznan. Sie hielt Kaddisch vor sich in die Höhe und drehte ihn einmal ganz herum, als überlegte sie, ob er wohl passen würde. Der Rabbiner lächelte nicht, und er verabschiedete sich auch nicht. Er trat einfach in die Gosse hinaus, mit dem Gefühl, das Richtige für das Kind getan zu haben. Sollte der Name Kaddisch ihn retten. Aus der anderen Sache sollte der Junge, falls er rechtschaffen war, allein herauskommen.

Hätte Kaddisch die Ursprünge seines Namens gekannt, er hätte sich nicht verflucht gefühlt. Er war glücklich mit seiner Familie. Er war überzeugt, seinem Sohn stünde eine leuchtende Zukunft bevor. Und sosehr seine Knie auch knackten, als er jene Mauer erklomm, sosehr er auch sanft und ohne großen Schwung zu landen versuchte, sich selbst hatte er auch noch nicht aufgegeben. Hätte sie ihn in den letzten fünfundzwanzig Jahren zur Kenntnis genommen, hätte Kaddisch Lila Finkel gesagt, dass sie zum Teil recht gehabt hatte. So schwer das Leben auch war, irgendwie war es auch nicht schlecht, mit ein wenig Hoffnung zu leben. Vielleicht war das der Grund, weshalb Kaddisch die anderen Juden genauso wenig brauchte wie sie ihn.

Dies war das Gleichgewicht, das durch die Montoneros und die ERP und nach dem Sturz von Onganía aufrechterhalten wurde. Während jener zwei Jahrzehnte wurde die Gemeinschaft wohlhabend und erlangte einen gewissen Status. Und Kaddisch war überzeugt, dass er, hätte nur einer seiner Pläne funktioniert, von allen am wohlhabendsten geworden wäre.

Als Perón wieder an die Macht kam, verspürten die Juden kein großes Bedürfnis, Bilanz zu ziehen. Und schon gar nicht kam es ihnen in den Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, wie Kaddisch Poznan die ganzen Jahre über behandelt worden war. Als während der Feier zu Peróns Rückkehr unter der ihm zujubelnden Menschenmenge ein kleines Massaker angerichtet wurde, ging ein leichtes kollektives Zucken durch die Gemeinschaft. In Once und Villa Crespo gab es einige, die während Peróns kurzer Herrschaft nervös mit den Knien wippten, und nach seinem Tod begannen zwei Brüder in zwei Villen in Palermo, ernsthaft an den Nägeln zu kauen.

Perón hatte seinem Land als Nachfolgerin im Rosa Haus eine Tänzerin hinterlassen, der es nicht gelang, den Laden am Laufen zu halten. Während jener Zeit der großen Unsicherheit und tödlichen Gerüchte fürchteten einige der Glücklichen, dass die Neidischen und Böswilligen eventuell einen Blick in die Vergangenheit werfen könnten. Die Zahl der Toten nahm zu, von den Beerdigungen aber wollte man noch nichts wissen. Das Interesse in dieser Zeit richtete sich eher auf das, was ausgegraben wurde. In Buenos Aires wurden damals derart viele Geheimnisse zutage gefördert, dass jeder rein zufällig auf eins stoßen konnte. Da erst räumten die Kinder des Wohltätigen Ich ein, was Kaddisch schon immer gewusst hatte: Die Mauer, die jene beiden Friedhöfe voneinander trennte, war gar nicht so hoch. So verzweifelt waren sie damals bestrebt, nicht mit dem Wohltätigen Ich in Verbindung gebracht zu werden, dass sie sich an den einzigen Menschen wandten, der nicht davon lassen konnte: Sie heuerten Kaddisch Poznan an, die Mauer zu überqueren. Sie zahlten ihm gutes Geld, damit er die Namen auslöschte.

Pato kauerte sich hinter Hezzis Grabstein. Er stemmte die Knie in die Erde und drückte mit der Schulter gegen den Stein, packte ihn an beiden Kanten, wappnete sich und wartete auf Kaddischs ersten Schlag. Er hielt dagegen. »Das Einzige, was du gut kannst«, hatte Kaddisch gesagt. »Dann sollten wir das auch ausnutzen.«

Es war eine heikle Arbeit. Kaddisch wollte den Stein nicht umstoßen. Und Pato war einigermaßen zufrieden damit, sich, egal wie, vor seinem Vater in Sicherheit bringen zu können. Er wollte nicht hier sein. Er wollte nicht den Friedhof der Vereinigten Gemeinden durchqueren, wollte nicht die Werkzeugtasche tragen oder über die Mauer klettern. Er wollte mit den blödsinnigen und perversen und verqueren Plänen seines Vaters nichts zu tun haben. Pato war neunzehn Jahre alt, Student der Soziologie und Geschichte, wichtige Dinge, die nur an einer Universität gelehrt werden können. Die brutale Welt, aus der Kaddisch kam, interessierte ihn nicht.

Um mit so einem Kind irgendwie zurechtzukommen, ist es am besten, das zu tun, was Kaddisch tat, nämlich Patos Anwesenheit als ausreichende Zustimmung zu betrachten. Sehr viel mehr erwartete Kaddisch gar nicht. Für einen Jungen, der sich für abgebrüht und unabhängig halten möchte, der in der Gegenwart seines Vaters glauben möchte, dass er sich aus eigener Kraft emporgekämpft hat, sind gewisse Emotionen verwirrend und beschämend. Pato versuchte, sie tief unten zu begraben. Trotz der vielen Eigenschaften Kaddischs, die er nicht tolerieren konnte, trotz der endlosen Meinungsverschiedenheiten und der tagtäglichen Zusammenstöße mit seinem Vater war Kaddisch, in Patos tiefstem Innern und entgegen aller Logik, der Vater, den er liebte. »Schlag zu«, sagte Pato und stemmte sich gegen den Marmor. »Schlag schon zu. Bringen wir es hinter uns.«

2

So war es immer bei Kaddisch Poznan, irgendetwas ging immer schief. Er schüttelte den Kopf und spuckte, ohne sich weiter darum zu scheren, zwischen zwei Erdhügel.

»Das ist eine Leiche«, sagte Pato.

»Wir sind auf einem Friedhof. Da werden die aufbewahrt.« Da sie sich auf der Seite der Vereinigten Gemeinden befanden, stampfte Kaddisch mit dem Fuß auf. »Hier stehen wir auch auf einer drauf.«

»Die da ist anders«, sagte Pato und richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf. »Du kannst aufgrund ihrer Lage erkennen, dass sie einzigartig ist, sie liegt nämlich auf der Erde.«

»Wo?«, fragte Kaddisch. Er hob die Hand über die Augen, um im Dunkeln besser sehen zu können, und stieß Pato dabei die Taschenlampe aus der Hand. Nach zweiundfünfzig Jahren in jener Stadt war Kaddischs Blindheit genauso scharf wie sein Sehvermögen. Er hatte gelernt, keine Probleme zu sehen, die nicht zuerst ihn sahen.

Sie hatten Doppelklinges Namen abgeschlagen und den Grabstein ganz gelassen. Sie waren bereits auf der anderen Seite der Mauer und auf dem Weg nach Hause. Pato hätte nur geradeaus gehen müssen. Doch er hatte sie an einer Grabreihe entlanggeführt, an der sie sonst nie vorbeigekommen wären, und mit der Taschenlampe herumgefuchtelt. In dem Augenblick hätte Kaddisch seinen Sohn am liebsten erwürgt – und, der Himmel stehe ihm bei, bei der ersten Leiche gleich noch eine zweite zurückgelassen.

Pato hob die Lampe auf und ging zu dem Toten. Er hatte sich bereits über ihn gebeugt, als Kaddisch ihn hart am Nacken packte.

»Fasst du sie jetzt auch noch an?«, fragte Kaddisch. »Willst du überall deine Fingerabdrücke drauf haben, weil es ja so leicht zu erklären ist, was wir hier mitten in der Nacht zu suchen hatten? Ermordet – das sehe ich genauso wie du. Aber ich verspreche dir, Pato, da draußen, da ist kein Mörder. Die wären alle mehr als froh, wenn wir uns freiwillig melden.«

Das war der Grund, weshalb Kaddisch nichts sehen und nicht an der Grabreihe entlang zu der Leiche gehen wollte, denn aus der Entfernung halb hinzusehen war etwas ganz anderes, als direkt davorzustehen.

Es war die Leiche eines jungen Mannes, die mit dem Bauch nach oben und ohne Hemd dalag. Die Füße berührten die Erde auf einer Seite des Grabsteins, der Kopf auf der anderen. Die Kehle war sauber aufgeschlitzt, der Körper blutleer. Nirgends war auch nur ein einziger Tropfen zu sehen.

»Die hat jemand hierhergeschleppt«, sagte Pato.

»Meinst du etwa, die schleppen sich alleine durch die Stadt? Meinst du, die schießen wie Tulpen aus der Erde? Die Polizei bringt sie um und schmeißt sie weg, und die Zeitung erfindet dazu irgendeinen Unsinn. Es ist eine Tragödie unter vielen. Jetzt lass uns nach Hause gehen.« Kaddisch schlüpfte zwischen zwei Gräber. Pato folgte ihm nicht. »Das ist hier in ganz Buenos Aires die denkbar ungünstigste Stelle, wo man in diesem Augenblick stehen kann.«

»Ja, für uns«, erwiderte Pato. »Für diesen Jungen hier ist es die ungünstigste Stelle, wo er liegen kann.« Er hob die Taschenlampe und leuchtete auf die jüdischen Sterne und gemeißelten Hände und hebräischen Daten auf den Grabsteinen.

»Sollen wir ihn zum Auto schleifen und in Pompeya abliefern? Ist das der Plan? Glaub mir«, sagte Kaddisch, »wenn die Lust kriegen, jüdische Kehlen aufzuschlitzen, werden sie sich nicht die Mühe machen, lange nach irgendeiner Ausrede zu suchen.«

»Woher weißt du denn, dass das kein Jude ist?«

Kaddisch griff sich die Taschenlampe und hielt sie dicht an den Kopf des ermordeten Jungen. »So eine Nase wie diese hier hat Gott seit zweitausend Jahren nicht in ein jüdisches Gesicht gesetzt. Die ist ja noch kleiner als deine am Tag deiner Geburt.« Kaddisch hielt sich die Lampe unter das Kinn und beleuchtete sein Gesicht wie eine Sonnenuhr. In der Familie Poznan wussten alle (und wiesen oft darauf hin), dass Kaddischs üppiger Zinken von allen dreien der kleinste war. Es war zwar ein unwissenschaftlicher Beweis, doch Kaddisch glaubte, die Sache sei damit abgehakt. Er senkte die Taschenlampe und nahm Pato beim Arm. »Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte er. »Sollen sich doch Feigenblum und sein Vorstand um die Juden auf dieser Seite kümmern. Wir, mein hijo de hijo de puta, haben unsere eigenen Juden.«

Kaddisch hustete seinen Morgenhusten und kratzte sich an den Stellen, die gekratzt werden mussten. Er begab sich in die Küche und war überrascht, seine Frau noch dort zu finden. Auf dem kleinen Tisch lag die Zeitung ausgebreitet, und Lillian, den Lokalteil in der Hand, blickte ihn über ihre Halbbrille an.

Kaddisch küsste sie auf die Wange und setzte sich neben sie. »Heute steht’s nicht drin.«

»Woher weißt du denn, was ich suche?«, fragte Lillian.

»Wenn du nicht auf der Arbeit bist, tippe ich einzig und allein auf einen Hinterhalt.«

»Immer sind alle gegen dich.«

»Normalerweise sind sie’s auch«, sagte Kaddisch. Er tastete über die auf dem Tisch liegende Zeitung. Lillian zog den Aschenbecher darunter hervor.

»Du machst noch so lange, bis es dich erwischt«, sagte sie.

»Du bist also dagegen?«

Lillian griff noch einmal unter die Zeitung. Sie hielt Kaddisch das Feuerzeug hin, gab es aber nicht her, während sich seine Hand um ihre schloss.

»Ich mach mir um meinen Sohn Sorgen.«

»Je größer die Angst um die Zukunft, desto mehr wollen alle, dass die Namen verschwinden.«

»Irgendwann wird es zu viel.«

»Endlich bring ich mal richtig Kohle nach Hause, und jetzt willst du, dass ich aufhöre. Aber eigentlich willst du das gar nicht, noch nicht gleich, stimmt’s? Die Grenze ist noch nicht überschritten.«

»Für Pato schon.«

Pato stand in Unterwäsche im Türrahmen. »Ich will das nicht mehr machen«, sagte er.

»Und ich will auch nicht, dass er das noch weiter macht«, sagte Lillian. »Und ich will auch nicht, dass du das noch weiter machst. Diesmal habt ihr eine Leiche gefunden. Und das nächste Mal«, sagte sie, »wer weiß?«

Pato schob sich hinter seinem Vater durch und ging zum Herd hinüber. Kaddisch drehte sich um und starrte ihn an, während er sprach. »Die Polizei bringt also die Rebellen um, die sich sonst gegenseitig umbringen und uns terrorisieren würden. Das ist sicher für irgendjemanden eine Tragödie, aber doch nicht für uns.«

»Du hast ihn genauso gesehen wie ich. Das war kein Rebell«, sagte Pato. »Das war einfach irgendein Junge. Ich sag dir, die bringen wahllos Leute um. Erschießen Unschuldige.«

»Erstens war seine Kehle aufgeschlitzt. Und zweitens, wenn er wirklich unschuldig war, dann ist’s umso besser, wenn wir weitermachen. Solange wir schuldig bleiben, sind wir sicher.«

»Das ist kein Witz«, sagte Pato. Er schüttelte den leeren Kessel und hielt ihn unter den Wasserhahn. »Die Lage gerät immer mehr außer Kontrolle.«

»Mensch, die ist schon lange außer Kontrolle, was muss da eigentlich deiner Meinung nach noch passieren? Die Regierung ist dabei, hier sauber zu machen, und wenn sie fertig ist, kann sich die Lage nur bessern. Du wirst schon sehen, mehr Sicherheit, das ist die Richtung, in die sich dieses Land bewegt. Mehr Sicherheit für diejenigen – und du und deine dämlichen Freunde nehmt euch besser in Acht –, die keine Schwierigkeiten machen und ihre Riesennasen nicht in jeden Dreck stecken.«

»Du bist ein Faschist«, sagte Pato und stellte den Kessel auf die Flamme.

»Das spricht doch für mich«, erwiderte Kaddisch. Er drückte seine Zigarette aus und blies eine Rauchwolke in die Luft.

3

Jeden Tag sterben Menschen, ihre Häuser brennen um sie herum ab, sie stürzen von Leitern und Dächern, es rutschen ihnen dicke Oliven in die falsche Röhre. Und sie werden auf viele verschiedene originelle Arten ermordet. Aber von all den Menschen, die Angst vor einem blutigen, gewaltsamen, vorzeitigen Tod haben, gelingt es nur relativ wenigen, tatsächlich umgebracht zu werden. Auf diese Art wurde bei Lillian im Büro Geld verdient. Sie arbeitete im Versicherungsgewerbe. Die Leute zahlten ihnen Prämien gegen ihre schlimmsten Ängste.

Lillian fand es immer enttäuschend, wenn sie Schadenersatzforderungen bearbeiten musste. Es hatte nichts mit dem auszuzahlenden Geld zu tun, das ja nicht ihres war. Es hatte mit der unvermeidlichen Leere zu tun, die sie bei dem Versuch verspürte, Sachwerte oder menschliches Leben durch einen Firmenscheck zu ersetzen. Es war ein Taschenspielertrick, der nicht funktionierte. Jeder wusste beim Unterschreiben, was keiner je zu verstehen schien: Man bekommt nichts zurück. Das Einzige, was Feuerversicherungen je gelöscht haben, ist ein nagender Zweifel. Das Haus geht trotzdem in Flammen auf.

Sie sah sich gern als jemanden, der sich mit versicherungstechnischer Exaktheit Sorgen machte, mit nur wenig Emotion und im richtigen Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung. In letzter Zeit hatte sie sich mehr und mehr Sorgen gemacht. Und dieser Tote – das arme Kind – ging ihr einfach zu nah. Lillian spürte, dass es Zeit war, sich selbst Schutz zu verschaffen, einen richtigen, sich solide anfühlenden Schutz. Sie wollte ihre eigene Police.

Lillian ging in die Küche und nahm ein Tranchiermesser aus der Schublade. Sie zog den Kühlschrank auf und dann die Tür zum Gefrierfach – dahinter kam ein Eisblock zum Vorschein, der sich dort nur wenige Wochen, nachdem Kaddisch mit dem Kühlschrank nach Hause gekommen war, gebildet hatte. Als sie es ihm erzählt hatte, meinte er: »Kaputt heißt kein Eis. Das hier ist das Gegenteil, der funktioniert zu gut.« Und so war es seither auch geblieben.

Lillian hob das Messer und stieß es in den dicken Eisklumpen, der sich im Gefrierfach zusammengezogen hatte. Die Klinge fuhr durch eine Schicht Reif. Die Spitze blieb einen Zentimeter tief stecken, und Lillians Hand rutschte eine Spur zu tief, so dass sie sich in die Handfläche schnitt.

Mühsam zog sie das Messer heraus. Sie wickelte sich ein Handtuch um die Hand und stieß erneut zu, diesmal jedoch vorsichtiger. Sie entwickelte einen Rhythmus, sprengte Risse in den Block und zog mit steif gefrorenen Fingern die losen Stücke heraus. Die Hand, die das Messer hielt, brannte von der Reibung, die andere vor Kälte. Hier und dort trübte ein rosa Spritzer die Pfütze auf dem Fußboden.

»In einer Wohnung voller Meißel könntest du das aber besser hinkriegen«, sagte Pato.

Erschrocken stellte Lillian fest, dass er sie beobachtet hatte. Sie begutachtete ihre Fortschritte und sagte: »Hol mir das Werkzeug deines Vaters.«

Pato saß am Tisch, während sich seine Mutter über das Gefrierfach hermachte und dabei den Fussboden mit schnell schmelzenden Eisbrocken übersäte. Sie hörte nicht auf, ehe sie das, was sie suchte, freigelegt hatte. Ganz hinten in einer Ecke verborgen lag ein kleines, quadratisches, in Silberfolie eingeschlagenes Päckchen, das dort deponiert worden war, bevor sich das Eis gebildet hatte, zur gleichen Zeit wie all die anderen.

Sie ließ Wasser darüberlaufen. Dampf stieg auf. Eis knisterte und rutschte hinunter, die Folie glänzte wie poliert. Lillian zog sie ab, und eine Dose kam zum Vorschein, am Deckelrand verrostet, an den Seiten gewölbt. Sie klappte sie auf. Sie drückte fest zu, so dass sich die Dose noch mehr verbog, und zog das darin klemmende dicke Geldbündel heraus.

»Das beste Versteck auf der Welt«, sagte sie. »Selbst bevor das Gefrierfach zufror.«

Pato machte große Augen.

»Davon gibt’s noch mehr in der Wohnung«, sagte sie und zog eine Rolle Geldscheine aus der Tasche. »Die hab ich schon alle leer geräumt.«

Sie reichte das Geld ihrem Sohn.

»Ein Vermögen«, sagte Pato. Er leckte sich am Daumen und begann zu zählen.

»Eine Menge Papier. Heutzutage ist das nicht allzu viel Geld.«

Pato schien anderer Meinung zu sein.

»Ein Geheimnis«, sagte sie.

Pato legte sich eine Handvoll Geld aufs Herz.

»Früher hab ich immer davon geträumt, dir mal eine Wohnung zu kaufen«, sagte sie. »Da es dazu nie kommen wird, kann ich dir wenigstens die Tür kaufen.«

Sie standen auf einem Stück Kopfsteinpflaster, wo der Asphalt abgefahren war und das alte Buenos Aires durchstieß. An der Ecke, vor einem Geschäft mit Kronleuchtern im Fenster, luden zwei Männer türkische Teppiche aus einem Lastwagen und legten sie auf den Bürgersteig. Ansonsten war es still in der Straße, die Sicherheitsrollläden der Geschäfte waren heruntergelassen. Der Laden, den sie suchten, lag völlig verwaist da. »Man sollte meinen, dass die ’ne anständige Tür haben«, sagte Pato. Lillian hatte gedacht, sie hätten geschlossen.

Das Innere war allerdings verblüffend. Es bestand aus einem einzigen riesigen, mit Waren vollgestopften Raum. Die ganzen Wände entlang standen billigere, leichtere Türen, jeweils sechs oder sieben hintereinander, ein Stoß direkt neben dem anderen. Lillian wandte sich zum Eingang um und wusste einen Augenblick lang nicht mehr, durch welche Tür sie hereingekommen waren.

Als sie nach oben blickten, sahen Lillian und Pato, dass unter der ganzen Decke ein Raster aus Kanthölzern hing, auf dem dicht an dicht, Seite an Seite, Tür um Tür um Tür lag. Die Deckenbeleuchtung wurde von der Ware darunter verborgen, und ein kalter blauer Schein erhellte den Raum. »Das ist ein vernünftiger Laden«, sagte Lillian. »Von außen unauffällig, man will keinen Ärger, und drinnen fein säuberlich zusammengedrängt das ganze Flair.«

Pato ging zu den Luxusmodellen am hinteren Ende des Ausstellungsraumes, wo die Türen senkrecht in ihrem Rahmen standen. Lillian folgte ihm, als der Geschäftsleiter auf der Bildfläche erschien, indem er durch die Tür trat, die Pato gerade ausprobierte. Es war ein junger Mann mit glattem, schulterlangem Haar und einem hübschen Gesicht, das allerdings abgezehrt aussah, ob nun vom Trinken oder von Drogen oder einer Sorge, die so groß war, dass sie schwarze Ringe unter eingesunkenen Augen hinterließ.

»Wir gucken noch«, sagte Lillian. Der Geschäftsleiter zog sich bereits zurück, die Unaufdringlichkeit in Person.

Lillian ging durch die Reihen, musterte die Türen. Sie öffnete und schloss sie, klopfte auf Holz, schob Riegel, drehte Knäufe. Als Lillian kräftig mit der Handfläche gegen eine Kassette schlug, drehte sich der Geschäftsleiter von seinem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes zu ihr um.

»Jetzt können Sie mir helfen«, sagte sie, und er kam herüber. Lillian zeigte auf ein herrliches Kiefernmodell mit sechs in einen filigranen Rahmen gesetzten Fenstern.

»Wunderbare Wahl«, sagte er. »Elegant.«

»Mickrig«, sagte sie. »Eine Einladung. Das ist genau das, was ich nicht will.«

Pato schüttelte den Kopf. »Bei ihr hat man keine Chance«, sagte er zum Geschäftsleiter. »Egal, welche Antwort man gibt, es ist immer die falsche.«

»Ich werd’s versuchen«, sagte der Geschäftsleiter mit gespieltem Eifer.

»Dann hören Sie aufmerksam zu«, sagte Lillian. »Nichts Schönes. Ich will nichts, wo die Gestaltung aufs Ästhetische zielt, will keinen einzigen Centavo für Rundungen und Ränder oder Zierleisten ausgeben. Ich will Stabilität. Ich will eine Tür, die nicht eingeschlagen werden kann, ein Stück Holz, das nicht zersplittert. Geben Sie mir etwas, was einen Schlag verschluckt.«

»Sicherheit, gnä’ Frau. Ist es das, was Sie suchen?«

»Ich lege großes Gewicht auf Türen.«

»Sicherheit ist der letzte Schrei. Da sind Sie nicht die Einzige.« Er sagte es in ernstem Ton und zwinkerte mit einem seiner eingesunkenen Augen. »Eine Frau wie Sie muss sich sicher sein, dass sie die Männer daran hindern kann, ihr die Tür einzurennen.« Der Geschäftsleiter warf Pato einen verlegenen Blick zu.

»Ich glaube, der Mann flirtet mit dir«, sagte Pato.

»Siehst du, was man mit Geld kaufen kann?«, sagte Lillian. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, signalisierte sie flüchtig ihre Einwilligung.

Der Geschäftsleiter führte sie zu einer Tür in der hintersten Reihe. »Wie wär’s hiermit?«, fragte er. »Kein Holz, sondern Stahl.«

»Stahl?«, sagte Lillian. Daran hatte sie tatsächlich nicht gedacht.

Fächerförmig breitete er einen Stapel Karten, der an einer Kette vom Türknauf hing, vor ihr aus. »Furniere«, sagte er. »Farben und Arten. Schwarz, weiß, braun, Holzmaserung. Ihre Wahl.« Er ließ sie los.

Der Knauf war für industrielle Zwecke gefertigt und überdimensioniert. Sein Mechanismus hatte keine Federung. Er musste gedreht werden, zwei-, dreimal. Keine Schrauben. »Ein Extrariegel«, erklärte er und zog die Tür auf. Das Schloss befand sich in der Mitte der Tür, der Schlüssel steckte. Drehte man ihn um, kamen oben, unten und auf beiden Seiten Stangen heraus. Sechzehn Riegel erstreckten sich in vier Richtungen. »Vier mal vier Riegel«, sagte er, »und dazu noch der Riegel im Knauf selbst. Alles Stahl. Ein rostfreies Stahlkreuz mit einem Schloss als Herzstück.« Der Geschäftsleiter drehte den Schlüssel, und die Riegel verschwanden. Der Schlüssel war flach, hatte auf beiden Seiten Rillen und am Schaft kleine Noppen und eingefräste Kreise. Er reichte ihn Lillian. »Dafür gibt’s auf der ganzen Welt keinen Dietrich. Und geknackt werden kann dieses Schloss auch nicht. Wenn Sie einen Zweitschlüssel brauchen, macht Ihnen der Schlosser ausschließlich mit Registrierungskarte und Ausweis eine Kopie.« Er trat einen Schritt auf Lillian zu. Er wandte sich um und bewunderte gemeinsam mit ihr die Tür.

»Beeindruckend«, sagte Lillian.

Der Mann schlug mit einer Hand dagegen. Sie verschluckte das Geräusch tatsächlich.

»Sicherheit ist in diesen Zeiten nicht billig«, sagte er. »Aber« – wieder zwinkerte er ihr zu – »ich würde unter Umständen mit mir schachern lassen.«

»Gut so«, sagte Pato. Er lachte und schlug dem Geschäftsleiter auf den Rücken. »Ich glaube, Sie sind gerade mit uns ins Geschäft gekommen.«

4

Da es weder eine Leiche noch Spuren von ihr gab, war es schwer zu glauben, dass sie je existiert hatte. Kaddisch hatte sich einverstanden erklärt, auf ihrem Weg über die Mauer bei dem Jungen mit der aufgeschlitzten Kehle vorbeizusehen, wenn sie auch noch woanders haltmachen würden. Er tat es wider besseres Wissen und konnte nicht einmal genau sagen, weshalb er überhaupt verhandelt hatte, denn er hätte Pato sowieso mitgeschleppt. Die beiden standen da und starrten auf die Stelle, während Pato erneut die Taschenlampe hob, um die im Umkreis stehenden Steine besser anzustrahlen.

»Und wenn sie noch hier wäre?«, sagte Kaddisch.

»Dann würden wir sie begraben«, antwortete Pato.

Kaddisch fand, wenn sie schon dabei waren, könnten sie sich gleich noch selbst mitbegraben, beschloss jedoch, nichts zu sagen. Unnötig, sich über eine Lösung für ein Problem Gedanken zu machen, das gar nicht existierte. Ebenso wenig war es nötig, dass Pato mit hängendem Kiefer dastand und zu entscheiden versuchte, wie traurig er jetzt sein sollte. »Unser Teil bei dieser unerfreulichen Geschichte hat damit ein Ende«, erklärte Kaddisch. »Ausnahmsweise haben wir mal Glück.« Als Pato nicht antwortete, sagte Kaddisch es noch einmal, mit Nachdruck. »Glück – wie sollen wir es sonst nennen?« Es war eine kurzsichtige Betrachtungsweise. Schon bald würde Kaddisch sich nach einer Zeit zurücksehnen, wo es noch Leichen zu finden gab.

Als sie sich auf die Seite des Wohltätigen Ich hinuntergelassen hatten, gingen sie direkt zu der alten Eiche und zählten vier Reihen weiter. Kaddisch half Pato, über einen Grabstein zu steigen, und dann schubste er ihn vorwärts. Er ging hinterher, bis sie das Grab seiner Mutter erreichten. Hier lag Favorita Poznan, die sich ihren Vornamen aus dem Jiddischen herausgeschlagen und den Nachnamen von ihrem Sohn übernommen hatte. Hatte Kaddisch ihr in den neun nutzlosen Jahren, die er vor dem Tod seiner Mutter gelebt hatte, auch sonst nichts bieten können, so hatte er wenigstens einen Namen gehabt, den er ihr zurückgeben konnte. Zu Favoritas Linker lag die Puffmutter Bluma Blum begraben. Zu ihrer Rechten ruhte Einauge Weiss – obwohl das aus den Resten der Inschrift für niemanden mehr erkennbar war. Kaddisch war bereits dort gewesen.

Kaddisch erfuhr nie, welche Umstände dazu geführt hatten, dass seine Mutter bei Talmud-Harry einzog. Und Kaddisch verurteilte seine Mutter nie wegen der traurigen Arbeit, der sie nachgegangen war. Was Favoritas Vorkehrungen betraf, als eine Poznan begraben zu werden, so war Kaddisch immer davon ausgegangen, dass seine Mutter beschlossen hatte, ihre Familie vor ihrer eigenen Schande zu bewahren, lange bevor es den Kindern des Wohltätigen Ich in den Sinn gekommen war, sich für ihre Eltern zu schämen.

Doch es war kein Makel, der Favorita dazu trieb, Kaddischs Namen anzunehmen. In dem Augenblick, wo sie ein nach Buenos Aires auslaufendes Schiff betrat, war ihr klar, dass die Nachrichten von ihrem Tun und Lassen nie die Heimat erreichen würden. Und hätte ihre Familie doch zufällig von ihren Umständen erfahren, so wären ihre Angehörigen kaum überrascht gewesen. Solange das Schiff im Hafen von Odessa vertäut war, blieb Favorita unter Deck und ignorierte das letzte Signal aus dem Schiffshorn. Sie tat so, als hätte sie es nicht gehört. Das war die einzige Täuschung, die sie sich erlaubt hatte; es war die einzige, die sie brauchte, um ihren eigenen Weg zu gehen. Sie begab sich wieder an Deck, in der Absicht, von Bord zu gehen und zu ihrer Familie zurückzukehren, und kam gerade rechtzeitig hoch, um Russland langsam kleiner werden zu sehen. Favorita konnte noch die Kinder erkennen, die, glänzend wie Seehunde, von den Landebrücken ins Wasser sprangen.

Jetzt war es nicht mehr rückgängig zu machen, und sie überließ sich dem Schicksal, das sie auf der anderen Seite des Ozeans erwartete. Favorita machte sich auf den Weg zum vorderen Ende des Schiffes, zu ihrem Mann, der dort, umgeben von seinen anderen neunzehn Frauen, an der Reeling stand.

Er war ein glattzüngiger, schick gekleideter Alphonse, der mit einem mit Eheverträgen und Geldscheinen vollgestopften Tornister von Ort zu Ort gezogen war, Versprechungen gemacht und sich überall Bräute genommen hatte. In diesem Augenblick war er damit beschäftigt, alle Verträge zu zerreißen und Ketubas wie Konfetti in die ansteigenden Wellen zu streuen. So endete Favoritas Ehe, unvollzogen und gänzlich ungeweiht. Was ihren Status in Argentinien betraf, da waren bereits andere Papiere beschafft.

Mit Hilfe schneller Hände, schummrigen Lichts und zahlloser Taubenköpfe verbrachte Favorita ihre ersten Monate bei Talmud-Harry damit, Flecken auf die Laken zu machen – eine Jungfrau für alle, die zu zahlen bereit waren. Sie wollte die Männer nicht ansehen, ließ ihre Augen aber immer geöffnet. Sobald sie sie schloss, sah sie nur ihre Heimat. Am schwersten wog für Favorita die Erinnerung, wie ihre Mutter sie auf die Wangen geküsst und einer Tochter auf Wiedersehen gesagt hatte, die sich verkauft hatte, um ihre Familie zu ernähren; ihre Mutter, die sterben würde, weil sie sich so schuldig fühlte und es doch notwendig gewesen war und sie Favorita, die damals noch bei ihrem jiddischen Namen gerufen wurde, ewig vermissen würde.

Die Heimat, das war es, was Favorita bis zum Tag ihres Todes sah, wenn sie die Augen schloss; das war es, wovon sie träumte, wenn sie nach durcharbeiteter Nacht tagsüber schlief. Und genauso, wie sie nicht bereit war zu vergessen, wo sie herkam, war sie nicht bereit zu vergessen, wer sie wirklich war. Sie behielt die guten Midos bei, zu denen sie erzogen worden war. Sie blieb, ungeachtet dessen, was aus ihrem Leben geworden war, ein moralisches Mädchen. Favorita aß, so gut es ging, koscher und versäumte, solange sie nicht arbeitete, nie einen Gottesdienst in der Schul des Wohltätigen Ich. Als sie Kaddisch bekam, wünschte sie sich, was sich alle Mütter wünschen. Sie wollte, dass es ihrem Sohn besser gehe.

Und sie wollte ihm den neuen Anfang schenken, den sie selbst nicht schaffte. Für Kaddisch wurde Favorita eine Poznan. Für ihren Sohn verschwieg sie, wer sie einmal gewesen war. Denn Favorita empfand ihr Leben als eine Brücke, eine Fortsetzung dessen, was gewesen war: Es hatte einen Anfang, dann kam eine Reise, und es würde, das wusste sie immer, ein schlimmes Ende nehmen. Obwohl ihre Wahlheimat eines Tages versuchen würde, die Gegenwart von allem Vorangegangenen abzuspalten, lebt ein Mensch, der in diese Welt geworfen wird, sein Leben geradlinig von Anfang bis zum Ende. Mit einem Kind, glaubte Favorita, könne jedoch eine neue Linie begonnen werden. Der Rabbiner hatte einen Wunsch für Kaddisch, und dieser Wunsch war auch Favoritas. Sie wollte, dass seine Zukunft so grenzenlos war wie seine Vergangenheit.

Abgesehen von seiner Loyalität und seiner Liebe war dies ein weiterer Grund, weshalb Kaddisch seine Mutter niemals fallenließ. Sie war nicht nur seine Verbindung zur Vergangenheit, sie war auch ihr Anfang. Weiter als bis zu Favorita würde der Name Poznan nie zurückreichen.

Für seine Großmutter brachte Pato ein klein wenig Ehrfurcht auf. Das war wichtig für Kaddisch, und für Pato kam es einer Respektbezeugung seinem Vater gegenüber noch am nächsten. Mehr wollte Kaddisch gar nicht. Er bat nicht oft darum, und wenn er es tat, war Pato immer für ihn da. Sie suchten sich jeder einen Stein und legten ihn, wie es jüdischer Brauch ist, auf Favoritas Grabstein. Dann griff Pato, aus Rücksicht auf die westlichen Gepflogenheiten, in die Werkzeugtasche und zog frische Blumen heraus. Es war ein kleiner Strauß für das Grab seiner Großmutter, und es waren die einzigen blühenden Blumen auf dem ganzen Friedhof.

»Hammer«, sagte Kaddisch und streckte die Hand aus.

Pato sah sie an. »Das ist Grabschändung«, sagte er und tat, wie ihm geheißen.

Als er den Hammer hob, holte Kaddisch tief Luft und atmete in den Schlag hinein wieder aus. Der Meißel traf, doch die ganze Kraft wurde, wie ein Gegenschlag, nicht auf den Stein übertragen, sondern raste in seine Arme zurück. Er hatte kaum einen Kratzer hinterlassen.

»Hier schändet niemand was«, sagte Kaddisch und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. »Wir sind hier, um weiteren Schaden abzuwenden. Ich sag dir, was das für eine Arbeit ist. Es ist eine Arbeit, die getan werden muss in einer Welt, die von Scham regiert wird. Schuldgefühle hin oder her, ohne uns hätten sie hier alles in Trümmer geschlagen.«

Kaddisch hieb noch einmal auf den Stein ein, der dicker und dunkler war als die anderen um ihn herum. Er gehörte Babak »dem Sepharden« Lapidus, und der Spitzname war es auch, mit dem Kaddisch anfing. Er schlug zu, der Meißel rutschte ab, und er schrammte sich die Knöchel auf.

»Wirst langsam alt«, sagte Pato.

Kaddisch bot die Werkzeuge seinem Sohn an.

»Ich will damit nichts zu tun haben«, erklärte Pato.

»Das hast du sowieso schon. Oder hast du vielleicht eine andere Idee, wie du dich bei dreihundert Prozent Inflation ernähren und kleiden kannst?« Kaddisch schüttelte seine schmerzende Hand.

»Das ist Erpressung«, sagte Pato.

»Das nennt man Arbeit.«

»Nein«, entgegnete Pato, »nicht, wenn es unfreiwillig geschieht.«

»Arbeit geschieht immer unfreiwillig. Du bist mir vielleicht ein Marxist. Dann hör doch auf zu arbeiten. Geh und friss eins von deinen Büchern.«

»Ich hasse dich«, erwiderte Pato.

Wie so viele Unterhaltungen in letzter Zeit endete auch diese, wie sie begonnen hatte. Nichts erreicht, nichts verstanden. Vater-Sohn-Zeit, Kaddisch wusste sie zu schätzen, so oder so.

Kaddisch führte noch einen nutzlosen Schlag aus. »Dieser Stein sollte einen Schornstein abstützen. Dazu ist er besser geeignet«, sagte Kaddisch, »als hier auf dem Kopf des Sepharden rumzustehen. Er war ein guter Mensch.«

»Er war ein Zuhälter und Mörder und Dieb wie alle anderen auch.«

»Und von wem weißt du das, wenn nicht von mir?« Kaddisch schob Pato beiseite und griff sich den schwersten Hammer. Er setzte den Meißel in einem spitzen Winkel auf die Steinplatte und stellte sich breitbeinig hin. Er wollte zwar keinen zu großen Lärm machen, hob aber dennoch den Arm und schlug kräftig zu. Der Hieb riss den ganzen »Babak« herunter. Sobald der Name ab war, erfüllte Gestank die Luft, ein übler Geruch, vor dem Kaddisch den Kopf abwandte. Er war da und dann wieder weg, wie ein Knall. Kaddisch schlug erneut zu, und mit dem Splitter kam der Geruch.

»Du hast ihn wachgerüttelt«, sagte Pato.

»Unsinn«, erwiderte Kaddisch. »Der Gestank kommt von dem Stein.«

»Du hast etwas entfesselt. Du hast es endlich geschafft. Du hast den Zuhältergestank dieses Toten und seiner Taten freigesetzt.«

Das ganze Büro bestand aus zwei Räumen. Lillian und Frida teilten sich den Hauptraum, Gustavo saß hinten. In dem Hauptraum standen den beiden benutzten Schreibtischen noch zwei andere gegenüber und warteten auf die neuen Angestellten, die Gustavo nie anheuerte. Lillians und Fridas Arbeit breitete sich, was ganz natürlich war, über die beiden zusätzlichen Schreibtische aus. Bürobesucher mussten annehmen, dass Gustavo vier Angestellte beschäftigte. Niemand wurde je eines Besseren belehrt.

Lillian hatte als Gustavos Sekretärin angefangen, und im Laufe der Zeit hatte er ihr alles über das Geschäft beigebracht. Sie hatte gelernt, es in den Griff bekommen und aus Gustavo schließlich jenen Müßiggänger gemacht, der er schon immer hatte sein wollen. Er aß mit seinen Lieblingsklienten zu Mittag und warb neue Kunden, was beides nicht allzu viel Zeit in Anspruch nahm. Um sie auszufüllen, spielte er jeden Mittwoch Golf, und montagmorgens schwamm er und nahm dann ein spätes Frühstück im Reitklub ein. Vor nunmehr zehn Jahren hatte er schließlich Frida eingestellt, damit sie die Anrufe entgegennahm und das Büro leitete und Lillian sämtliche Verwaltungsarbeiten abnehmen konnte. Und wegen dieser Beförderung hatte Lillian sich in den letzten zehn Jahren auch nie unterkriegen lassen.

Gustavo strich sich über den Kopf, glättete sich immer und immer wieder die Haare. »Wir verrechnen es mit Ihrem Urlaub«, sagte er und lächelte Lillian zu. Lillian hatte tausend frühe Nachmittage angesammelt, doch als sie fragte, klang es trotzdem entschuldigend. Sie wusste, dass Gustavo sie ausnutzte und ohne sie verloren wäre. Da Gustavo dies jedoch auch wusste und ihn dieser Umstand manchmal einschüchterte, betrachtete Lillian seine Selbstsucht als einen harmlosen persönlichen Makel.

Lillian gab Frida auf dem Weg nach draußen einen Kuss und ging schnell in Richtung ihrer Wohnung. Trotz ihrer Eile blieb sie vor einem Café stehen und sah einem Straßenkünstler beim Spielen zu. An einem Tisch auf dem Bürgersteig tranken zwei Männer Bier, und der Musiker saß auf einer umgedrehten Kiste zu ihren Füßen, den Hut neben sich auf dem Boden. Er spielte wunderschön Gitarre. Lillian stellte ihre Aktentasche auf einem leeren Stuhl ab und hörte ihm mit den Männern zusammen zu, bis der Wirt herauskam und den Musiker aufforderte zu verschwinden. »Verzieh dich damit in die U-Bahn«, sagte er. »Da unten wird man dich anhimmeln.« Lillian warf ihr ganzes Kleingeld in den Hut und ging weiter. Sie war lange vor den Arbeitern, die die Tür installieren sollten, zu Hause.

Noch ehe die beiden Arbeiter überhaupt an eine Pause dachten, brachte sie ihnen Mate-Tee. Dann legte sie ihre Akten auf den Küchentisch, setzte ihre Halbbrille auf und machte sich wie an jedem anderen Tag auch an die Arbeit. Als man sie rief, zog sie sich den Rock gerade, ging hinaus und gab dem Älteren der beiden das Trinkgeld. Lillian musterte die beiden und kam zu dem Schluss, dass sie Brüder waren. Der Jüngere hob die alte Wohnungstür an, als sei sie aus Pappe, dieses mickrige Ding.

Die beiden gingen wieder, und Lillian schloss ihre neue Tür hinter ihnen ab. Sie fühlte sich sicher, und sie fühlte sich entspannt – teils, weil sie die Wohnung für sich allein hatte, und teils, weil sie, voller Gewissensbisse, wusste, dass niemand hereinkommen konnte. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie allein in einer Wohnung war, als Einzige den Schlüssel besaß.

Sie ging zu ihren Akten zurück und wartete auf das erste Klopfen. Als es so weit war, sprang sie sofort auf, bereit, Kaddisch gegenüberzutreten und zu erklären, wie und warum sie ein Vermögen ausgegeben hatte, um eine Tür für eine Wohnung zu kaufen, die ihnen nicht gehörte. Sie spähte durch den Spion auf den blasenköpfigen Mann vor der Tür. Es war ihr Nachbar Cacho von gegenüber. Es ist nie derjenige, den man erwartet.

»Na, das ist ja was«, sagte Cacho, als Lillian ihn hereinließ. Er schob die Unterlippe vor und versetzte der Tür einen spielerischen Stoß, als prüfte er einen Autoreifen. Dann fuhr er mit den Fingern am Rahmen entlang, jetzt ernster, mit zusammengezogenen Brauen. »Ich würde sagen, die wird ihren Zweck erfüllen. Sie wird jeden Eindringling mit Sicherheit auf die andere Seite des Hausflurs treiben.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf seine eigene Wohnung.

»Gott bewahre, Cacho«, sagte sie. »Das war wirklich nicht meine Absicht.«

»Ich mache natürlich nur Spaß«, erwiderte Cacho. Zum Beweis lachte er, dann wandte er die Augen ab. Lillian folgte Cachos Blick zu dem kleinen Bord mit der geschwungenen Kante, das an der Wand hinter der Tür befestigt war. Ihre Mutter hatte es aus Europa mitgebracht, das einzige Andenken, das Lillian aus ihrem alten Leben mitgenommen hatte, als sie von zu Hause ausgezogen war, um Kaddisch zu heiraten. Darauf bewahrten sie ihre Schlüssel auf. Die neuen lagen auch dort. Es waren große, eigenartige Gebilde.

»Wenn ich gewusst hätte, dass Sie sich derart viel Mühe geben würden, Ihren Besitz zu schützen, wäre ich selber eingebrochen.«

»Ja«, sagte Lillian. »Große Schätze. Und ich habe Angst, dass sich nachts jemand mit meinem Kaddisch fortmacht.« Lillian komplimentierte ihn hinaus und lehnte sich gegen die Tür, die sich jetzt doppelt so dick anfühlte.

Nachdem Cacho gegangen war, dauerte es lange, bis sie sich wieder entspannt hatte, doch dann empfand sie die Ruhe tiefer als zuvor. Sie machte sich Tee und kochte, in der Annahme, dass Kaddisch und Pato nicht da sein würden, ein Abendessen für eine Person. Dann streckte sie sich, was sonst überhaupt nicht ihre Art war, auf dem Sofa aus und sah fern. Den Ton drehte sie leise. Sie rückte die Kissen zurecht und wackelte mit den Zehen, und dann ließ sie sich, wie sie es von Kaddisch an tausenden von Abenden gesehen hatte, komplett angezogen und mit einem Fuß auf dem Boden, in den Schlaf fallen.

Kaddisch schickte Pato mit den Werkzeugen nach oben, und zum ersten Mal an jenem Abend war sein Sohn mit ihrem Arrangement zufrieden. Pato war froh, ihn los zu sein, und Kaddisch wusste, wenn er jetzt sofort in die Wohnung hochrennen würde, hätte Pato sich bereits sicher in seinem Zimmer verschanzt, die Kopfhörer aufgesetzt und die Nadel aufgelegt.

Kaddisch war durch die schmale Eingangshalle gegangen, an der Treppe und dem Fahrstuhl vorbei und durch eine weitere Tür auf einen verfallenen Patio. An einer der Gebäudewände stand eine Bank aus maurischen Kacheln, weshalb Kaddisch diese Fläche als Innenhof bezeichnete, obwohl sie für die anderen Bewohner des Gebäudes der Boden des Luftschachtes war und weiter nichts. Kaddisch lehnte sich gegen die Wand und rauchte eine Zigarette. Das war der Höhepunkt seines Tages.

Er beobachtete die wechselnden Lichter in den Wohnungen und die schaurigen Schatten, die die Wäsche über ihm warf. An der obersten Leine konnte er seine Unterwäsche trocknen sehen, darunter wehten Frau Ordóñez’ gigantische knielange Schlüpfer in der Brise, als wollte sie ihre Kapitulation kundtun. Kaddisch hatte schon zu allen Tages- und Nachtzeiten dort draußen gesessen – in dem Gebäude herrschte immer lebhaftes Treiben. Jenseits der Lichter gab es diverse Geräusche, allgemeine und besondere, das Telefongeklingel und Hundegebell, die Alptraumschreie und nächtlichen Streitereien, die ganzen Furzschwaden und das ständige Gespüle.

Kaddisch ging in die Eingangshalle zurück und verpasste knapp den Fahrstuhl. Ein Nachbar war spät nach Hause gekommen. Als er um den ersten Treppenabsatz bog, ging das Flurlicht aus, und er stand im Dunkeln. Er griff nach dem Geländer, gab sich einen Ruck und stieg die letzten Treppen im Finstern empor.

Er fischte seine Schlüssel aus der Tasche. Er streckte die Hand nach dem Schlüsselloch aus und stellte – begleitet von dem Geräusch von Metall auf Metall – fest, dass dort kein Loch zu finden war. Kaddisch fuhr mit den Fingerrücken über die Tür, fuhr mit dem Schlüssel darüber, damit er am Rand des Schlosses hängen blieb. Er tastete nach dem Knopf für das Flurlicht (der Schalter leuchtete schon lange nicht mehr). Halb geblendet blinzelte er die Treppe hinab und dann zum Dach hinauf. Kaddisch war im richtigen Stock – wie hätte er sich da nach zwanzig Jahren auch irren können? Er sah über die Schulter zu Cachos Wohnung hinüber: genau da, wo sie hingehörte. Kaddisch blickte nach vorn und ging in Kampfstellung. Dann ließ er, den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger, die Hand sinken. Kaddischs Wohnung, Kaddischs Zuhause – aber etwas war vollkommen verkehrt. Das Schloß saß, wie ein Herz, mitten in der Tür.

5

Es war in der blitzblanken Privatklinik des illustren Dr. Julio Mazursky, wo der gute Doktor, durchs Fenster blickend, als läse er den Himmel, Kaddisch Poznan ein, zwei intime Details mitteilte. Im Stehen – er war nicht gebeten worden, sich zu setzen – schrieb Kaddisch die Namen mit Kugelschreiber auf das leicht genoppte Papier, das die Untersuchungsliege abdeckte. Die Liege selbst war mit feinem Leder bezogen und gepolstert, so dass der Kugelschreiber zweimal durch das Papier stieß, als Kaddisch sich die Namen notierte. Es klopfte, und Kaddisch sprang auf die Liege. Er setzte sich ans Fußende, direkt auf die Details, einen offenen Kugelschreiber in der Hand.

ENDE DER LESEPROBE