Dinner am Mittelpunkt der Erde - Nathan Englander - E-Book

Dinner am Mittelpunkt der Erde E-Book

Nathan Englander

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Beschreibung

Was braucht es, damit endlich Frieden herrscht zwischen Israelis und Palästinensern? Der gefeierte jüdisch-amerikanische Schriftsteller Nathan Englander erzählt drei unwahrscheinliche Liebesgeschichten, die auf raffinierte Weise ineinander verschlungen sind und um diese zentrale Frage kreisen. Ein Mossadspion, der schon seit zwölf Jahren in einem geheimen Gefängnis eingekerkert ist, und sein Wärter. Ein General, der als Einziger von diesem Gefangenen weiß, aber seit Jahren im Koma liegt, und seine innigste Vertraute. Und ein Mann und eine Frau, die sich leidenschaftlich lieben, aber ebenso leidenschaftlich für ihr jeweiliges Land kämpfen – er ist Palästinenser, sie Israelin. Von Long Island über Berlin, Paris und Capri bis nach Israel und zum Gazastreifen, dem Mittelpunkt des so lange schon schwelenden Konflikts, führt dieser fesselnde und intensive Roman, der mit melancholischem Witz von Loyalität und Verrat, von Gewalt und Rache erzählt und von der schönsten aller Utopien träumt.

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Zum Buch:

Was braucht es, damit endlich Frieden herrscht zwischen Israelis und Palästinensern?

Der gefeierte jüdisch-amerikanische Schriftsteller Nathan Englander erzählt drei unwahrscheinliche Liebesgeschichten, die auf raffinierte Weise ineinander verschlungen sind und um diese zentrale Frage kreisen. Ein Mossadspion, der schon seit zwölf Jahren in einem geheimen Gefängnis eingekerkert ist, und sein Wärter. Ein General, der als Einziger von diesem Gefangenen weiß, aber seit Jahren im Koma liegt, und seine innigste Vertraute. Und ein Mann und eine Frau, die sich leidenschaftlich lieben, aber ebenso leidenschaftlich für ihr jeweiliges Land kämpfen – er ist Palästinenser, sie Israelin. Von Long Island über Berlin, Paris und Capri bis nach Israel und zum Gazastreifen, dem Mittelpunkt des so lange schon schwelenden Konflikts, führt dieser fesselnde und intensive Roman, der mit melancholischem Witz von Loyalität und Verrat, von Gewalt und Rache erzählt und von der schönsten aller Utopien träumt.

»Superb: ein Werk von psychologischer Präzision und moralischer Kraft, mit einer Unmittelbarkeit, die zeitlose menschliche Wahrheiten wie auch die Absurditäten der heutigen Zeit einfängt.« Colson Whitehead

Zum Autor:

Nathan Englander wurde 1970 in New York geboren und wuchs in einer jüdischen Gemeinde in Long Island auf. Er studierte in Jerusalem und in New York Englische Literatur und Jüdische Geschichte und lebt mit Frau und Tochter in Brooklyn. Zu seinen Werken gehören der Roman »Das Ministerium für besondere Fälle« und der Erzählband »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«, der mit dem Frank O’Connor Short Story Award ausgezeichnet wurde und auf der Shortlist des Pulitzerpreises stand.

Zum Übersetzer:

Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie und ist der Übersetzer von u. a. Nathan Hill, Hilary Mantel, Hisham Matar, Louis Sachar und Meg Wolitzer.

NATHAN ENGLANDER

Dinneram Mittelpunkt der Erde

Roman

Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Dinner at the Center of the Earth bei Alfred A. Knopf, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Das Motto stammt aus: »Vom Ende einer Geschichte« von Julian Barnes. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger © 2011, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln.

Copyright © der Originalausgabe 2017 Nathan Englander

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

Coverillustration: © Ruth Botzenhardt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24171-1V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Für Nicole Aragi

Da ist Akkumulation. Da ist Verantwortung. Und darüber hinaus herrscht Unruhe. Es herrscht große Unruhe.

JULIAN BARNES

2014 | An der Grenze des Gazastreifens, auf israelischer Seite

Es geht nie um dich. Weder beim Angriff noch beim Gegenangriff. Weder bei den drei entführten Jungen, ganz sicher tot, noch bei dem im Wald ermordeten Kind, bei lebendigem Leib verbrannt.

Du sitzt still auf einem Stuhl vor deiner gemieteten Hütte und wartest auf das Klicken des Wasserkessels, das dir sagt, dass dein Teewasser kocht. Du bewegst einen Fuß, und als sie dich sieht, nimmt die kleine Echse die Farbe des Sandes an.

Weiter im Inland wühlen sich die Soldaten durch das Hügelland im Süden von Hebron. Sie kriechen herum, suchen die Toten, drehen jeden Stein um. Und hier, hinter den Zäunen, kaufen die Bewohner des Gazastreifens die Märkte leer. Pflichtbewusst drehen sie die Wasserhähne auf, füllen Eimer und Schüsseln.

Noch ist es Tag, noch ist es hell. Und du weißt, mit Einbruch der Dunkelheit werden die Raketen aus Olivenhainen und Dachmarkisen hervorkreischen, aus Krankenhausparkplätzen und Pick-up-Ladeflächen. Die Menschen entlang der Küste ziehen an sichere Orte in immer nördlichere Städte, hinaus aus der Reichweite der Raketen.

Und du, du bleibst auf deinem Stuhl sitzen, nippst an deinem Tee und beobachtest die über dich wegziehenden feurigen Schweife. Dann kommen die Sirenen und das Krachen und Blitzen der Gegenmaßnahmen, wenn die Geschützbatterien ihre Ziele unter Beschuss nehmen. Du bist so nahe dran, dass deine einzige Sorge ihre Unfähigkeit ist – dass die Kämpfer hier oder dort zu kurz zielen. Bisher ist das Knattern und Dröhnen noch nichts anderes als der Lärm zweier Nationen, die sich in den unvermeidbaren Krieg hineinsteigern.

Dieses Mal, wie jedes Mal, wenn die Kämpfe beginnen, wird es schlimmer sein als zuvor. Der neue Kampf ist immer der schlimmste, der gewalttätigste, der ungezügeltste, es ist eine fortwährende Eskalation. Das ist die einzige Regel.

Und wenn die Invasion kommt? Niemand weiß, wie und wann oder auch nur, ob das Blutvergießen jemals ein Ende haben wird. Nur, dass beide Seiten um Gerechtigkeit kämpfen, sich im Namen der gerade Getöteten umbringen, denen zur Ehre, die starben, weil sie die Tode derer gerächt haben, die vor ihnen Rache übend starben.

Und weil das alles so ist, weißt du, dass deine Gedanken unziemlich sind. Deine Sorgen haben keine Bedeutung.

Wird dein Junge vermisst? Verbrennt er bei lebendigem Leib? Nein. Nein, er nicht. Und wenn da nicht dein Soldaten-Sohn neben seinem Panzer an der Grenze schläft oder dein maskierter Kämpfer unterlegen und ungeschützt die Kassam-Raketen abfeuert, die durch die Nacht heulen, erwarten wir von dir, dass du nicht haderst und nicht trauerst. Kümmere dich um deine täglichen Enttäuschungen, deine unbefriedigten Erwartungen und privaten Katastrophen und schäme dich dafür.

Natürlich weißt du das alles und akzeptierst es. Wenigstens sagst du dir das, als ein dir unbekannter Vogel nahe an deinem Ohr vorbeifliegt, seinen Gleitflug beendet und mit den Flügeln pumpt.

In der Stille, die der Vogel durchbricht, hörst du, wie sich im Flug Feder an Feder reibt – ein Wunder. Drehst den Kopf und folgst seinem Weg, beschattest die Augen gegen die Sonne.

Du sitzt vor deiner winzigen Hütte, blinzelst und denkst über deine stupende Dummheit, deine brutale Sturheit nach und wie sehr es dir widerstrebt, dein eigenes so einzigartiges, beständiges Sehnen aufzugeben.

Als das Wasser zu brodeln beginnt und der Kessel sein Klicken hören lässt, stehst du auf und sagst dir: Du bist nicht wichtig. Lass endlich los. Lass ihn endlich los.

Aber die Aufforderung wirkt nicht, und wie es scheint, wirst du dein wahrhaft hoffnungsloses Unternehmen weiter vorantreiben. Bis der richtige Moment da ist, bis du das geheime Zeichen deines Geliebten bekommst, wirst du angesichts der endlosen drohenden Ungewissheiten daran festhalten.

Und was das stumme Sich-in-die-Dinge-Fügen betrifft, das dieser, das jeder Krieg verlangt, so hast du beschlossen, dass es einen Verlust gibt, der zu groß ist für dich. Ein Opfer, das du nicht bringen willst. Eine persönliche Entbehrung, die du nicht erträgst und nicht länger akzeptierst. Lass die Soldaten ihr Soldatenhandwerk tun und die Zivilisten ihre Lasten tragen. Du, du machst da nicht mehr mit. Du wirst es nicht länger erdulden, dein gebrochenes Herz.

2014 | Ein geheimes Gefängnis in der Wüste Negev

Obwohl sie beide jeden Millimeter der Zelle kennen, jeden Kratzer in den Betonsteinen, jeden produktionsbedingten Fleck in den Kacheln, deutet der Wärter über seine Schulter zur über der Tür befestigten Kamera in ihrer dunklen, aufbruchsicheren Halbkugel im Casinostil, die so harmlos aussieht wie eine große Glasmurmel.

An der gegenüberliegenden Wand ist eine zweite, identische Kamera, direkt über dem Kopfende des schmalen Betts des Häftlings. Sie zielt auf die Plexiglastür von Toilette und Dusche und deckt auch das dünne Metallregal mit seinen Büchern, dem Kaugummi und den englischsprachigen Zeitschriften ab (die zu groß dafür sind). Das Regal zeigt, welche Privilegien dem Häftling über die Jahre von seinem Wärter zugestanden wurden.

Eine dritte Kamera ist über das schießschartenähnliche Fenster geschraubt und beobachtet, aus anderem Blickwinkel, die beiden anderen Kameras, die ihrerseits zu ihm hinsehen. Das Bett steht an der Wand gegenüber vom Fenster, an der als einziger kein Überwachungsinstrument hängt. Der Wärter hat schon immer das Gefühl, dass die Wand ungenutzt blieb, weil eine vierte Kamera den Overkill übertrieben hätte – allein schon die Fensterkamera mit ihrem Fischauge in Vogelperspektive erfasst jeden einzelnen Winkel der Zelle. Zusammen zeichnen die Einheiten jede Bewegung des Häftlings in dreifacher Form auf. Lediglich im Bad, dem einzigen toten Winkel der Kamera über der Tür, wird er nur zweifach aufgenommen.

Aufgenommen, mit Zeit und Datum versehen, ergänzt durch die Nummer der Kamera und den Spitznamen der Zelle, The Peach Pit, den der Wärter nur deswegen wählte, weil er gerade zu Hause war, einen Joint rauchte und die hebräischen Untertitel einer Beverly-Hills-90210-Wiederholung las, als der Anruf mit dem Jobangebot kam.

Der Wärter deutet auf die Kamera über der Tür und erklärt dem Häftling, wie es aussieht, wenn es in der Zelle stockdunkel ist und sich der Häftling wünscht, er wäre mit seinen Gedanken allein. Wenn er sich wünscht, es könnte für ihn nichts als Nacht sein, tief und rein.

Es ist ein Schock für den Häftling, da die Kameras und das, was der Wärter durch sie sieht, in ihren nun schon zwölf gemeinsamen Jahren das Einzige sind, worüber sie in ihren suchenden, tastenden, absolut endlosen Gesprächen nie geredet haben.

Der Häftling neigt den Kopf zur Seite und sieht den Wärter zweifelnd an, denn er weiß, dass der nicht ohne Grund plötzlich damit herauskommt. Und der Wärter weiß auch ein paar Dinge. Er weiß, dass er nicht so gebildet ist wie sein von sich so eingenommener verdammter Häftling und sein Talent für Metaphern vielleicht nicht das größte ist. Dennoch hat er ernsthaft versucht, eine zu verwenden, um die Dinge abzumildern, um so etwas wie Bilanz zu ziehen über ihre gemeinsame Zeit und das dann als Brücke zu den erschütternden Neuigkeiten zu nutzen – erschütternd selbst für einen verschwundenen, namenlosen Amerikaner in einer Zelle, die es nicht gibt, auf keiner Liste, nirgends.

Ja, es sind ziemlich schlechte Neuigkeiten.

Wenn er ihm mitteilt, wofür er in keiner Weise verantwortlich gemacht werden kann, wird der Wärter gezwungen sein, etwas, das er fashlot, Stümpereien, und der Häftling »mildernde Faktoren« nennen würde, hinzuzufügen, die der Geschichte eine bestimmte Einfärbung geben und ihn selbst eher schlecht dastehen lassen, ihn, den zuverlässigen, einzigen Freund des Häftlings. Vielleicht bringt es sogar ihre beiderseits geschätzte Beziehung in Gefahr – wobei ihnen der sehr Stockholm-Syndrom-artige Charakter durchaus bewusst ist –, die Häftling Z einmal als »patty-hearstisch« bezeichnet hat, was der Wärter nachschlagen musste.

Zu seiner Verteidigung, was die Komplikation angeht, die er noch nicht zugegeben hat, sagt sich der Wärter, dass er all die Jahre nur versucht hat, Häftling Z zu beschützen. Das war die eigentliche Definition seines Jobs, er, der Wärter, hatte auf den Häftling aufzupassen, und das in mancher Hinsicht, die Z gar nicht verstehen konnte.

Wie, oh, wie war es dazu gekommen! Der Wärter erinnert sich noch an das erste Mal, als er sich vor seine drei in Plastikgehäuse gehüllten Röhrenmonitore setzte, erinnert sich an ihr Leuchten, sein eigenes kleines Triptychon, um seinen Schützling zu beobachten. Die Bildschirme standen nebeneinander, die beiden äußeren eine Idee schräg, genau auf ihn ausgerichtet, und boten drei verschiedene monochrome Perspektiven auf genau das gleiche Nichts. So wie sie dort standen und er ihr blaugraues Licht auf seinem Gesicht spürte, erinnerten sie ihn daran, wie seine Mutter, am Meer sitzend, die Sonne mit einem silbernen Pappspiegel unter dem Kinn einfing, er sah sie vor sich, seine Mutter, wie sie sich in einen Liegestuhl sinken ließ und die Ärmel hochkrempelte, ihren sittsamen Rock jedoch anbehielt, dazu die fest an ihre bestrumpften Beine geschnallten Sandalen.

Es war seine Mutter, die ihm damals, 2002, den Gefallen tat, ihn in diese elende Verbindung zu locken. Er hatte ihre Anrufe auf seinem Handy ignoriert, ihr dann aber auf dem Festnetz geantwortet (dem Telefon, für das sie zahlte), als sie ihn mehrmals über den Anrufbeantworter angeschrien hatte, den sie nicht aufgeben wollte, obwohl er sie anflehte, doch stattdessen wie alle anderen die Mailbox zu benutzen.

Sie rief nicht während einer 90210-Wiederholung an, sondern mitten in einer Sendung, bei der er absolut nicht gestört werden wollte. Er spielte zu Hause bei der englischen Version von Der Schwächste fliegt! mit, worin er ziemlich gut war und immer nur bei den supereinfachen Zwischenfragen nicht weiterwusste, in denen es um eindeutig Englisches ging. Sie ließen ihn auf bittere Weise fühlen, dass Geografie keine Gerechtigkeit kannte und er, nur weil er unglücklicherweise in der Achselhöhle der Levante geboren war, am Ende unweigerlich verlieren musste.

Den gleichen Nachteil empfand er bei seiner anderen Lieblingssendung, der englischen Version von Wer wird Millionär? Da ging es nicht um eine Million Schekel, sondern um britische Pfund, einen Geldregen, von dem ein Mensch ein ganzes Leben bestreiten konnte. Aber wie sollte er die Dinge lernen, die man passiv im Alltag in sich aufnahm? Bei den einfachen Stegreiffragen ging es nicht um Wissen. Es waren kleine Geschenke, die ins Spiel gemischt wurden, Geschenke für die, die das Glück hatten, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geboren worden zu sein. Trotzdem, er bemühte sich aufzuholen.

Er hatte in der Armee viel gelesen, sich weiterzubilden und einen Weg zu finden versucht, in der großen weiten Welt nach oben zu kommen. Sein Plan war es, Israel sehr bald schon möglichst weit hinter sich zu lassen. Was war es noch, was sie damals immer gesagt hatten? »Der Letzte macht das Licht aus.« Der Wärter träumte davon, es nach London oder Manchester zu schaffen, und selbst wenn es Birmingham war, es würde ihm reichen. Dann wollte er in eine dieser Sendungen, wo sie ihn zunächst wegen seines Akzents aufziehen würden, und dann würde er sie alle überraschen, indem er ein hübsches kleines Polster für sein nagelneues englisches Leben gewann.

Als seine Mutter ihn an dem Morgen ans Telefon holte, hörte sie nicht auf zu reden, auch nicht, als der Wärter sie anflehte, doch bitte zu warten, bis die Fragen unterbrochen wurden. Dann, wenn sie wieder jemanden aus der Sendung würfen, sei er ganz Ohr.

»Du landest so oder so im Gefängnis«, sagte seine Mutter und achtete nicht weiter auf seine Einwände. »Aber wenigstens landest du so auf der richtigen Seite der Tür und kannst am Wochenende nach Hause.«

»Wir leben in Israel. Wir lassen selbst Mörder am Wochenende nach Hause. Du kannst ein Dutzend Leute umbringen, und sie lassen dich auf der Hochzeit deiner Kinder tanzen. Damit überzeugst du mich nicht.«

»Es ist ein ganz besonderer Job«, sagte sie. »Streng geheim. Du wirst ein shushuist und hast für den Rest deines Lebens eine tolle Vita. Es ist der Premierminister, der dich will. Der General, es kommt von ihm.«

»Der General will mich?«

»Dich allein. Und da kannst du dir vorstellen, dass es ein wirklicher Notfall ist, wenn er will, dass ich dich frage. Es ist etwas, mit dem er nicht nach außen gehen kann, und ich sollte eigentlich auch nicht mit dir am Telefon darüber sprechen.«

»Wenn einer dein Telefon abhört, dann er oder seine Faschisten.«

»Oder die Russen«, sagte sie. »Die Amerikaner, die Franzosen oder deine geliebten Engländer. Aber es macht nichts, wenn sie zuhören. Ich habe nichts Falsches gesagt. Rein gar nichts.«

»Du tust es wieder«, sagte er. »Du redest für ihre Protokolle. Ich hasse es, wenn du Dinge sagst, die allein für irgendwelche Spione gedacht sind.«

»Okay«, sagte sie. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich weiß. Ich habe einen sehr merkwürdigen Job.«

»Das hast du.«

»Und jetzt habe ich einen merkwürdigen Job für meinen Sohn, der gut bezahlt wird und nicht schwer sein kann.«

»Woher weißt du das?«

»Weil der General dich für einen Idioten hält. Er lächelt, wenn ich Geschichten über dich erzähle, aber ich sehe es ihm an: Er denkt, du bist ein Narr. Wenn es eine komplizierte Sache wäre, würde er nicht auf dich vertrauen. Du bist loyal und kannst den Mund halten, allein darum geht es ihm.«

»Keiner bewahrt ein Geheimnis besser.«

»Und er denkt auch nicht, dass du eine Freundin findest, der du was ins Ohr flüstern könntest, selbst wenn du es wolltest.«

»Sagt er das, oder du?«

»Wer ist ›er‹? Damit sind wir durch. Denk nicht mal mehr an seinen Namen im Zusammenhang mit dem Job, wenn dieses Gespräch beendet ist.«

»In Ordnung.«

»Versprich mir, ihn nicht mal zu denken, okay?«

»Ich lege jetzt ernsthaft auf.«

»Nur zu! Es macht nichts. Du gewinnst sowieso nichts.«

»Was?«

»Wenn du ins Fernsehen kämst, würdest du verlieren. Deshalb sehen die Leute sich das an. Zu Hause auf dem Sofa, mit einem Bier auf dem Bauch, wissen alle die Antworten. Unter Beobachtung ist es anders. Du bist keiner, der mit Druck umzugehen weiß.«

»Doch.«

»Dann beweise es. Er kann nicht lange dauern, dieser Job. Ein paar Tage, vielleicht Wochen, höchstens, und er verspricht, dich ein Jahr lang zu bezahlen. Es ist nicht schwerer, als auf ein schlafendes Kind aufzupassen. Sobald sie wissen, was sie mit ihrem Problem machen sollen, kannst du zurück vor den Fernseher. Und solltest du je aufwachen und dir in diesem Land eine Zukunft aufbauen wollen, solltest du je aus der Wohnung deiner Mutter ausziehen wollen, hast du einen hübschen, vagen Eintrag in deinem Lebenslauf und die entsprechenden Lohnabrechnungen von der Regierung, und die Leute werden komplett durchdrehen. Nach diesem Job kannst du hochkarätig einsteigen. Sie werden denken, du warst ein Top-Killer, ein Kampfschwimmer. Sie werden dich für einen Helden halten, auch wenn der General nur will, dass du einen Stuhl warm hältst. Und denke daran, es ist nicht der General, der dich bittet. Denke nie wieder an ihn, wenn ich auflege. Du hast es bereits versprochen! Lass es mich noch mal hören!«

»Ich verspreche es.«

»Was versprichst du?«

»Ich weiß es nicht mehr. So vergessen ist es schon.«

»Gut«, sagte sie.

»Gut«, sagte er. »Sag ihnen, sie sollen anrufen.«

»Das habe ich schon. Und jetzt sieh weiter fern.«

2002 | Paris

Er sollte diese Zeitung nicht anrühren, nicht schon wieder in diesem Restaurant sein. Ganz eindeutig hätte er auf seiner Seite des Flusses bleiben sollen, in der relativen Sicherheit der Rive Gauche in der Nähe seiner Wohnung.

In seinem bemitleidenswerten Zustand ist Z zu dem Schluss gekommen, dass er nie auch nur einen der vielen psychologischen Tests hätte bestehen sollen; es war schon merkwürdig, dass sie ihn überhaupt rekrutiert haben, und geradezu lächerlich, ihn ins Feld zu schicken. Er möchte immer noch glauben, dass das Institut und seine geheimen Systeme von Weisheit geleitet werden, und stellt sich vor, seine Führungsleute kannten seine Schwächen von Beginn an, sahen aber einen Vorteil, der das Risiko wert war.

Jetzt sind sie mit der Wirklichkeit ihrer dummen Entscheidung konfrontiert und werden Z unter großen Kosten neutralisieren müssen.

Seine Erdrosselung, Vergiftung oder sein Ertränken in der Seine werden in den Annalen des israelischen Geheimdienstes nicht mehr sein als das Ausbessern eines Formulars mit ein wenig Tipp-ex. Er ist ein menschlicher Tippfehler, der aus seiner Zeile getilgt werden muss.

Er untersagt sich, diesen Gedanken länger zu folgen. Offene Sorge, panische Grübeleien, all das wirkt auf die Gesichtsmuskulatur ein, lässt ihn schuldiger und verdächtiger erscheinen und könnte, in einem schwachen Moment, dazu führen, dass er sich vergisst und nervös umsieht. Hätte ihn bis dahin jemand noch nicht entdeckt, der nach einem solchen Hinweis Ausschau hält, hätte er sich sofort verraten.

Er beschließt, sich auf seine Atmung zu konzentrieren, kontrolliert sie, beruhigt sich und atmet bedächtig, natürlich ein und aus. Er bewegt sich von der so deplatziert wirkenden hebräischen Zeitung auf dem Tisch zur Kasse hinüber, hinter der, wie gewöhnlich, dieser riesige, verlotterte Kerl sitzt, der wie ein französisch-jüdischer Kosak aussieht.

Die Bedienungen hingegen sind nicht wie gewöhnlich. Es gibt eine neue Kellnerin, aus Nordafrika, würde er sagen, ebenfalls Jüdin, würde er sagen, die ihm den Rücken zukehrt, während sie sich über die Schüsseln beugt und Hummus, Tabouleh und Labneh auf einen Teller löffelt. Dazu kommt ein weiterer neuer Kellner, muskulös und groß, der ihm bei diesem Besuch die größten Sorgen bereitet.

Als Z ins Restaurant kam, sah er gleich, wie der Mann ihn registrierte, aus der Seitentür trat und etwas merkwürdig Kurzes in sein Telefon schrieb, das längst wieder in seiner Tasche steckt.

So wie der Kellner dort steht, ist für Z klar, dass er seinen neuen Job hasst, dass er womöglich Schauspieler oder Musiker ist und zudem schwul zu sein scheint. Oder vielleicht tut er auch nur so, gibt sich schwul, unglücklich und gekünstelt, um sich in die Legion gleichgesinnter Hugenotten-Kellner einzufügen, die Sänger, Maler oder Regisseure französischer Pseudokunstfilme werden wollen und allesamt die Touristen und touristischen Juden nicht mögen, die sie den ganzen Tag im Marais bedienen müssen. Es ist jetzt ihr Viertel (der Schwulen, nicht der Hugenotten), und je eher sie dieses kleine Schtetl-Museum schließen oder zusammenpacken und hinaus zum Flughafen und weiter in den Disneyland Park verfrachten können, desto besser.

Es wäre die perfekte Tarnung, wenn dieser Kellner, der kein Kellner ist, darauf gewartet hat, dass Zs Magen ihn wieder mal verrät. Alles, was er noch tun müsste, wäre, hinauszugehen und einen Sprengcode in ebenjenes Telefon einzugeben. Schon würde türkischer Salat an der Decke kleben und Z auf der Rue des Rosiers verstreut liegen, zu seiner eigenen Pastete zermörsert.

Z spürt, wie ihm der Schweiß ausbricht, und fährt zusammen, als ihn der Kosak an der Kasse freundlich fragt, ob er etwas mitnehmen oder hier essen will.

In seinem schlechten Französisch erklärt Z, dass er sich setzen möchte. Der Manager deutet auf den freien Tisch beim Fenster, den mit der Zeitung. Z nimmt Platz und betrachtet sie neugierig, als hätte er noch nie eine hebräische Zeitung gesehen, nimmt sie und legt sie auf einen der Stühle, aus seinem Blickfeld.

Wer hat sie mitgebracht? Wer hat diese zwei Tage alte Zeitung hergebracht?

Z muss an eine Geschichte denken, über die während des Trainings alle lachten. Eine Geschichte über einen wichtigen Terroristen, den Israel erfolglos zu beseitigen versuchte, wenn er ihnen auch nur knapp entkam. Die Zielperson war wie geplant vergiftet worden, hatte sich nach Wochen in einem Krankenhaus in Damaskus aber wieder erholt.

Alles, was das Opfer über seine eigene Fast-Ermordung wusste, das Einzige, was ihm die Ärzte sicher sagen konnten, war, dass er das Gift nicht über den Mund zu sich genommen, sondern über die Haut absorbiert hatte. Und er wusste auch, dass Israel ihn immer noch tot sehen wollte und ihm aktiv nachstellte.

Und Israel wusste so gut wie alles. Wo er sich in jedem Augenblick befand, mit wem er sich traf und die Hälfte dessen, was er sagte. Israel wusste alles, auch was für Schutzmaßnahmen der Mann ergriff. Wie ein armer König Midas, der Angst hatte, Gold zu machen, hörte der Mann auf, Dinge zu berühren, deren Herkunft unklar war. Bekam er einen Brief, stand der Helfer, dem er am meisten vertraute, damit im Zimmer nebenan und las ihm den Brief durch die Tür vor. Bei allen Lebensmitteln wurde sorgfältig überprüft, woher sie kamen, die Speisen wurden im Haus selbst zubereitet und vorgekostet. Toilettenartikel wurden jedes Mal in einem anderen Geschäft in wechselnden Teilen der Stadt gekauft, und wie schon beim Essen und den Briefen sprang der treue Helfer auch bei Hygiene und Deo ein, fuhr mit dem Right-Guard-Stick zunächst durch die eigene patriotische Achsel, benutzte den ersten minzigen Meter Zahnseide, bevor sein Chef danach griff. Jeden Morgen kaufte er, sein Sekretär, an einem anderen Kiosk die neue Zeitung und schlug seinem furchtlosen Führer beim Lesen die Seiten um.

Z schiebt den Stuhl mit der vergifteten Zeitung ein Stück weiter weg und spürt, wie ihm die Kehle austrocknet. Er prüft seine Fingerspitzen, mit denen er die Druckerschwärze berührt hat, und als die Kellnerin kommt, hält er sie gegen das Licht und sucht nach möglichen Rückständen.

Was Z zum fünfzehnten Mal während der fünfzehn Tage, seit sein Plan implodiert ist (durch eine Explosion) und alles, was ihm lieb und teuer war, verraten wurde, in dieses Restaurant bringt, ist sein schwacher Magen. Er ist nicht im traditionellen Sinn schwach. Die Empfindlichkeit ist eine geistige, kein Merkmal seiner Verdauung.

Unter unerträglichem Druck, im Versuch, sich von seinen selbst angelegten Fesseln zu befreien, stellte Z fest, dass er unbedingt ein paar Seelenspeisen brauchte, die ihn beruhigten und, aus dem Bauch heraus, an sein eigentliches, wahres Ich erinnerten. Wenn man den eigenen, unerwarteten Abtritt erwartet, ist es dann nicht angemessen, ein letztes Lieblingsessen zu sich zu nehmen? Bis es sich tatsächlich als solches erweist?

So bringt Z sein bereits bedrohtes Leben noch stärker in Gefahr, indem er es täglich einer Portion Hummus, etwas gehackter Leber, einem Salat mit geräucherter Aubergine, ein paar Kibbeh und einem dicken Stück salzigem Feta aussetzt. Er wird (und bringt damit die beiden Hälften seines Ichs zusammen) etwas warmes Pita-Brot und ein paar Scheiben Roggenbrot dazu essen – genau das bestellt er eben bei der Kellnerin, die alles in ihr Pad eintippt. Er betrachtet sie und gesteht sich ein, dass er, neben dem Essen, eine zweite schreckliche Schwäche hat. Allzu leicht, und hoffnungslos, verliebt er sich.

Sie ist schön, hat eine dunkle Haut und dunkle Brauen und über ihren perfekt geformten Lippen den winzigsten Hauch eines schwarzen Flaums, die Andeutung eines Bärtchens, und er findet, sie ist die vollkommenste Frau, der er je begegnet ist. Während er die französische Sprache mit seinem Versuch einer Bestellung noch gehörig verstümmelt, schüttelt sie den Kopf und antwortet auf Englisch. Wieder schmilzt er dahin.

»Mein Französisch ist fast so schlecht wie Ihres«, sagt sie mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent, der ihn völlig überwältigt. »Auf Englisch geht es besser, für uns beide.«

Und so wagt er einen Vorstoß. »Sind Sie aus Italien?«, fragt er.

»Aus Rom«, sagt sie, wischt den Tisch ab und richtet sein Besteck mit einem Hauch von Neurotik aus. Als sie den Stuhl neben ihm zurechtrückt, nimmt sie die Zeitung und hält sie in die Höhe.

»Das ist nicht meine«, sagt er.

»Wollen Sie sie?«

»Ich halte mich dieser Tage von allen Nachrichten fern. In allen Sprachen.«

»Mein Hebräisch ist noch schlechter als mein Französisch«, sagt sie und legt die Zeitung zurück auf den Stuhl.

»Sind Sie Jüdin?« Z ist eindeutig verliebt.

»Ja«, sagt sie. »Und Sie sind Amerikaner?«

»Manchmal, ja.«

»Und Jude?«

»Das hängt davon ab, wer mich fragt.«

Er geht zurück über den Fluss in die Rue Domat, seine Straße, die eine der ruhigsten im Herzen von Paris ist. Es lässt sich leicht in ihr und aus ihr verschwinden, es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Weite zu suchen (zu Fuß, mit dem Taxi, dem Bus, der Métro, dem Zug, selbst mit einem Boot), und sie ist so verschlafen und speziell, dass einem jede Abweichung gleich auffällt. Es war die perfekte Basis für einen Agenten mit einer einfachen Tarnung, der nicht auffallen wollte.

Schon bevor sich die Dinge zum Schlechten wandelten, gab dieser Ort Z ein Gefühl von Sicherheit. Hielt er da noch nach den Feinden von der Gegenseite Ausschau, so sind es heute die von der eigenen Seite.

Z wischt mit dem Schlüsselanhänger um die kleine Tastatur, hört das Klicken des Schlosses und schlüpft durchs Tor in den Bogengang des Gebäudes. Er nickt der Frau, die den Hof fegt, zu, verschwindet im linken Aufgang und nimmt immer zwei Stufen auf einmal bis zu seiner Wohnung im zweiten Stock.

Er checkt alles, was ihm in seiner Ausbildung beigebracht wurde, dazu das, was ihn seine Erfahrung und ein Leben mit amerikanischen Filmen und Fernsehserien gelehrt haben. Aus seiner Wohnung sieht er in den Hof hinunter, starrt auf das Kopftuch der Concierge, die sich mit ihrem Besen zum hinteren Durchgang vorarbeitet, läuft nach vorn und späht links und rechts die Straße hinunter. Keine Autos, keine Fahrräder, nur der Bettler auf seinem roten Koffer, wo die Straße auf die Rue des Anglais stößt.

Seit dem Tag seines Einzugs wirft Z dem Mann morgens zwei Euro in den Becher, stellt ihm gelegentlich eine Frage und gibt ihm einen Zwanzig-Euro-Schein. Er zieht ihn für den Tag heran, da er ihn als Informanten braucht.

Befriedigt, dass alles wie gewohnt aussieht, zieht sich Z bis aufs Unterzeug aus, legt sich aufs Bett und sieht hinauf zu den groben Holzbalken der Decke. Er sucht nach Mustern, wo keine Muster sind, und verliert sich in den in die Maserung eingewachsenen Astknoten.

Das ist seine Form von Unterhaltung, seit er so brutal auf die Konsequenzen dessen aufmerksam gemacht wurde, was er für Israel getan hat, für Palästina und vor allem für sich selbst. Mittlerweile sieht er sein Tun als Verbrechen aus politischer Leidenschaft, als verzweifelten Reflex, getrieben von seinem gutherzigen Wunsch, richtig zu handeln.

Als Erstes lief er danach durch die Wohnung und zog Fernseher und Radio aus der Steckdose. Ebenso verfuhr er mit dem Kabelanschluss und dem uralten Minitel, das er bei seinem Einzug vorgefunden hatte. Ohne guten Grund holte er auch die Batterie aus dem Wecker und, aus persönlicher, mörderischer Erfahrung, den Akku und die SIM-Karte aus seinem Handy.

Am nächsten Tag kam er verschwitzt und völlig nervös ins Büro, hatte eine alptraumhafte Besprechung mit seinem Chef und Führer, spürte, dass seine Paranoia kein Wahn mehr war, und verstaute seinen Laptop in einer Schublade seines Schreibtischs, wo er auch bleiben sollte.

So ist denn nichts mehr in seiner Wohnung, das ein Signal senden oder empfangen kann, und die Decke anzustarren ist das Letzte, was ihm geblieben ist. Neben einem französischen Roman, der bei seinem Einzug auf dem Nachttisch lag und den er nicht lesen kann.

Während er sich auf die Balken konzentriert und seinen Kopf zu leeren versucht, wandern seine Gedanken zum Ernst der Situation, in der er sich verfangen hat. Mittlerweile haben das Hauptquartier in Tel Aviv und verschiedene Büros rund um die Welt ein Gutteil des von ihm angerichteten Schadens erfasst, haben die Unterlagen durchkämmt, die er beiseitegeschafft, und die Operationen durchleuchtet, die er in den Sand gesetzt hat.

All die wütenden, dem französischen Büro zugeteilten katsas werden sich überschlagen, um Z foltern zu können – um herauszufinden, was er ausgeplaudert und wen er verraten hat. Ihn an den Zehen aufzuhängen und darauf zu warten, dass ihm seine Geheimnisse wie loses Wechselgeld aus den Taschen fallen, und ihm anschließend die Gründe seiner völlig haltlosen verräterischen Taten zu entwinden.

Es ist wirklich nicht nötig, etwas aus ihm herauszuprügeln (wenigstens nicht aus seiner Sicht). Z wird von sich aus umfallen. »Ich habe versucht, Unheil auf israelischem Boden zu vermeiden«, wird er sagen. »Es war die tickende Bombe, die so viel des Elends rechtfertigt, das wir entfesseln.« Natürlich wird sie das nicht befriedigen, da seine Bombe hochgegangen ist. Er könnte also auch erklären, dass er versucht hat, das Ergebnis auszugleichen. Unglücklicherweise hat er versucht, es für die Palästinenser auszugleichen. Er wollte seine Sünden wiedergutmachen. Er weiß, dass er damit nicht durchkommt. Seine Feinde zu entschädigen, nun, darum geht es in der Kunst der Spionage ganz gewiss nicht.

Trotzdem, er denkt, ihn zu entführen, nach Israel zu bringen und da zu foltern, ist das Letzte, wozu sie sich entscheiden werden. Z stellt sich vor, dass sie stattdessen darüber streiten, wer von ihnen das Vergnügen haben soll, die sehr reale Angst in seinen Augen zu sehen, wenn er denjenigen erkennt, der geschickt wurde, um ihn mit großer Brutalität zu töten oder vielleicht auch nur unbrauchbar zu machen – ihm mit einem Eispickel oder einer Ahle ins Gehirn zu stechen und ihn umherirren zu lassen, mit etwas aus dem Nasenloch rinnenden Blut, die Augen unterschiedlich hell, verloren im Parc des Buttes-Chaumont.

Was ihm jedoch noch mehr Angst macht als der tatsächliche Moment der Wahrheit, sind all die umherschleichenden Agenten, die er gar nicht sieht. Die versteckten Killer. Und die ihnen helfende Armee der sayanim, all die Pariser, die sich für die gute Sache einsetzen und ihre kleineren Rollen spielen. Die Einheimischen, die bereit sind, ein Zimmer zur Verfügung zu stellen oder einen Autoschlüssel herauszulegen, die Freiwilligen, die, wenn dazu aufgefordert, gern die Augen offen halten. Wohin immer er geht, mit jedem Schritt durch diese Stadt gibt er sich diesen nicht identifizierbaren Fremden preis, die fraglos bereits nach ihm suchen.

Dass er keine realistische Lösung sieht, keine mögliche Zukunft durch Rettung oder Flucht, bringt ihn so aus der Fassung, dass er eine Flasche billigen Supermarktsekt aus der Küche holt, in seiner Unterwäsche vorn am Fenster steht, die Rue Domat im Auge behält und ein Glas nach dem anderen hinunterstürzt, bis er betrunken ist.

In dem Versuch, sich seine Trunkenheit für einen schnellen, alptraumgetränkten Schlaf zunutze zu machen, kriecht Z zurück ins Bett. Den Schrecken der möglichen Bedrohungen vermag er jedoch nicht abzustellen und weiß sich nur mit dem Bild der wunderbaren Rückseite der sich über den Hummus beugenden und seinen Teller nachfüllenden Kellnerin zu beruhigen.

Noch bevor sie sich seinem Tisch zuwandte, hatte er sich in sie verliebt. In ihre Hautfarbe, ihre Augen, den dicken Hintern und den vagen Flaum auf ihrer Oberlippe, den sie nicht entfernte.

Z wirft sich im Bett auf die andere Seite und vergräbt das Gesicht im Kissen. Er stellt sich ein unmögliches neues Leben vor, allein sie zwei, die alles Vergangene vergessen und gemeinsam in eine helle, neue Zukunft sehen. Alles Geld, das er für einen solchen Notfall beiseitegeschafft hat, könnte er zusammenkratzen und mit der Kellnerin in eine Wohnung ziehen, hundert Stockwerke hoch. Z kann sie in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer sehen, das Dachfenster ist geöffnet, Regen weht herein. Die Augen geschlossen, sich ganz darauf konzentrierend, kann Z es sehen, kann es hören. Da ist die Kellnerin, hochschwanger, die kleinen Brüste riesig geworden. Dann hört er den fetten, übel riechenden Mops, der neben ihr auf dem Sofa schläft und durch die platte Nase schnaubt.

2014 | Ein Krankenhaus bei Tel Aviv

Lauschen wir erst den Geräuschen des dicken, ewig sterbenden Mannes. Dem Piepsen und Surren, dem Zischen, Pumpen, Zischen. Etwas wird justiert, etwas abgesaugt und gesäubert, und schon sind wir wieder vom endlosen elektrischen Rhythmus der Maschinen umgeben.

Ruthi streicht seine Decke glatt und zupft an einer Ecke, als die Nachtschwester kommt.

»Ich mag das nicht«, sagt Ruthi. »Ich mag nicht, wie er aussieht.«

Wie er aussieht? Die Nachtschwester hebt eine Braue und tritt einen Schritt zurück, um ihn zu betrachten, diesen Bär von einem Mann in seinem großen, verstellbaren Krankenhausbett. Sie kann keinerlei Unterschied dazu erkennen, wie er gestern aussah, vorgestern oder in den Wochen, Monaten und Jahren zuvor.

Sie tut ihr Bestes, um sich Ruthi gegenüber respektvoll zu zeigen, die weder Ärztin noch Pflegerin ist, nicht einmal eine Verwandte, sondern eine Art Funktionärin, die sich für den Mann auf der Höhe seiner Macht unentbehrlich gemacht hat und ihm heute noch, auf seinem Tiefststand, Ratschläge in die vom Schlaganfall tauben Ohren flüstert.

Beide Frauen sind von den Söhnen des Generals eingestellt worden, die darauf bestanden, dass ihr Vater, selbst in dieser hervorragenden Klinik, ständig jemanden an seiner Seite hat.

Unter Ruthis Blick schließt die Schwester einen Moment lang die Augen und lauscht dem gleichmäßigen Rhythmus des maschinengetriebenen Atems des Generals, legt den Handrücken an seine Wange und misst seine Temperatur, wie es nur ein wirklich Wissender kann. Keine Veränderung. Was sie Ruthi mit einem Blick mitteilt.

»Und?«, sagt Ruthi und wartet auf so etwas wie eine Diagnose.

Was kann die Schwester zum neuntausendsten Mal sagen, wenn nichts anders ist als sonst und der große General gewachst und poliert daliegt wie ein roter Delicious, wie ein aufgebahrter dicker Lenin? Ihr geliebter dahingegangener, mordlüsterner Führer, dessen Familie ihn nicht sterben lässt?

Was kann sie sagen, um diese unnachgiebige Kämpferin zu beschwichtigen, die, davon ist die Schwester überzeugt, den General Jahr um Jahr allein durch die Kraft ihrer ständigen Erklärungen, dass er gleich sterben wird, am Leben gehalten hat?

»War der Arzt hier?«, fragt die Schwester und hofft, Ruthi so zu beruhigen und aus dem Zimmer zu bekommen.

»Natürlich war er hier«, sagt Ruthi. »Heute war es Brodie, doch was sieht der alte Narr schon? Er führt die Intensivstation, als würde er von der Leichenhalle geschmiert.«

»Hat er nichts gesagt?«

»Denkst du, ich höre auf dieses wandernde Todesurteil?«

Ruthi macht ein finsteres Gesicht und nimmt das Tuch, mit dem sie dem General die Mundwinkel trocken wischt. Sie überprüft Schläuche und Zufuhren, das Hinein und Hinaus, und klopft mit dem Fingernagel auf die winzigen, leuchtenden Digitalanzeigen, als könnte sie so ihre Genauigkeit erhöhen.

Die Nachtschwester, Gott helfe ihr, hätte diese ganze Geschichte schon vor langer Zeit beendet. Sie ist sicher, dass weiter unten viele Leute auf den General warten. Im Jenseits dürfte er einige Rechnungen zu begleichen haben, und seine toten Feinde werden dort längst ihre Schwerter schärfen.

Immer noch nicht befriedigt, lehnt sich Ruthi über das Seitengitter des Betts und drückt dem General ihre Lippen auf die Stirn. »Ich sage dir, für mich fühlt er sich fiebrig an.«

»Vielleicht ist nur dir etwas kalt. Das Zimmer war heute Nacht …«

»Mit dem Zimmer ist alles in Ordnung. Mit ihm stimmt etwas nicht. Aber das soll dich nicht beunruhigen, du weißt, dass ich hier nicht weggehe.«

»Meine Schicht …«

»Vergiss deine Schicht. Geh nach Hause.«

»Hör mal, Ruthi«, sagt die Schwester, »wenn du noch länger hier herumsitzt, verpasst du den Bus nach Jerusalem. Leg dir das Telefon unters Kissen. Ich schreibe dir, sobald auch nur ein Augenlid zuckt. Acht Jahre in dem Bett. Ohne ein Wort. Ohne eine Bewegung.«

»Aber die Augen, wenn sie offen sind … und der Zeigefinger, wenn sein Sohn mit ihm spricht, oder wenn ich lese …«

»Ja, ja. Er ist fit für den Tel-Aviv-Marathon. Ich melde ihn an.«

Ruthi zieht beleidigt die Brauen zusammen. »Etwas ändert sich, und keiner sieht es. Die Ärzte sind blind dafür, du bist blind dafür.«

Es ist deutlich vom Gesicht der Schwester abzulesen, dass sie keine Veränderung entdecken kann. »Du bist müde, das sehe ich.«