Das Monster - Madame Nielsen - E-Book

Das Monster E-Book

Madame Nielsen

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Beschreibung

Ein junger Europäer kommt nach New York, um der neue Willem Dafoe zu werden und das amerikanische Imperium zu Fall zu bringen. Winter 1993. Ein junger Europäer landet in New York und sucht die legendäre Performancetruppe The Wooster Group auf. Er will die Bühne erobern und der neue Willem Dafoe, der neue Messias werden, auch ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf. Alles, was er hat, ist eine mysteriöse Telefonliste. Auf gut Glück wählt er eine Nummer und betritt eine ganz mit Velours ausgekleidete Parallelwelt aus bizarren Ritualen, Wahnsinn und Warhol-Werken. Was ist echt und was ist Schein, wo beginnt der Albtraum und wo die Realität? »Niemand hat eine so unverwechselbare und elegante sprachliche Handschrift wie Madame Nielsen. Ihre Art zu schreiben ist so rücksichtslos selbstenthüllend wie radikal.« Weekendavisen

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Seitenzahl: 238

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Madame Nielsen

Das Monster

Roman

Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Madame Nielsen

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoSagen wir Herbst 1993, ...
zurück

*

At the bottom of the Darkness

There is a hole

That’s where the Darkness comes in

And that is the only way

Out

*

zurück

 

 

 

 

 

 

 

Sagen wir Herbst 1993, die Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in irgendeiner europäischen Großstadt, Brüssel oder Wien, vielleicht Paris, bekommt er zufällig eine Freikarte für eine Vorstellung der in Avantgarde-Kreisen bereits legendären New Yorker Performancetruppe The Wooster Group, und nach der »show«, die aus zwei Teilen besteht, der Fish Story, einer Wiederverwertung von verworfenem Material und Szenen einer dekonstruierten Version von Tschechows Drei Schwestern, und Emperor Jones, in dem sich zwei weiße Performer, die Gesichter mit den als (postmoderne) Zitate fungierenden und jetzt nach der Jahrtausendwende nicht nur unmöglichen, sondern politisch unkorrekten und für einen weißen Performer direkt lebensgefährlichen »Blackface«-Masken zugeschmiert, mit je einem Mikrofon und vor je einer Kamera unten vor der Bühne, die keine Bühne ist, sondern nur eine Art flache Stahlkonstruktion, wie eine Indoor-Bohrplattform, die mithilfe einer bestimmt irrsinnig teuren Maschinerie plötzlich in Bewegung versetzt werden und unter langsamem Dröhnen ihre vorkopernikanische Welt und ihre Performer die schiefe Ebene hinunter auf das Publikum zu- oder hintüber aus seinem Gesichtsfeld kippen kann, leise, wie in einer Late-Night-Show (man sieht ihre Gesichter mit grafischen Strukturen verschwimmend auf wechselnden, jeweils in schwarzen Kästen über die sonst nackte Bühne verteilten Bildschirmen, als würden sie sich unter Wasser bewegen) durch Eugene O’Neills Stück aus der Mitte der 30er Jahre nuscheln, geht er gegen den Strom der den Saal verlassenden Europäer, steigt auf die Bühnenplattform, überquert sie und fragt nach der Regisseurin. Am nächsten Tag hat er seine fünfzehn Minuten mit ihr in einem Café, sie trinkt bestimmt einen au Lait, er fragt sofort, ob sie nicht einen charismatischen, jungen, europäischen Performer gebrauchen könne. Wen?, fragt sie. Ein Sekundenbruchteil Stille, dann lachen sie beide, und einen Monat oder zwei, vielleicht nur ein paar Wochen später, landet er am JFK. Was danach geschieht, stelle ich mir vor oder bilde mir ein, dass ich mich daran erinnere, ich habe nicht mit der Regisseurin Elizabeth LeCompte oder einem ihrer Performer gesprochen und schon gar nicht mit dem Star der Gruppe, dem »Erlöser« Willem Dafoe, oder einem der Schatten, die er in und unter New York warf, nur einem freundlichen alten, aber exzentrischen und bestimmt komplett unzuverlässigen Joseph London (nein, nicht Jack, Joseph, das stimmt schon), der behauptet, er habe einige Wochen, vermutlich die letzten, in denen er noch unter den Menschen auf Erden wandelte, bei ihm gewohnt, auf dem Sofa im Wohnzimmer seines, also Mr. Londons, Zweizimmer-Apartments in einem Betonblock an der Upper West Side.

Vom Flughafen nahm er die Subway nach Manhattan, stieg an der Canal Street aus und ging direkt weiter nach Soho und fragte nach dem Weg zur Wooster Street und The Performing Garage, wo die Theatergruppe probte. Hier empfing man ihn mit freundlicher, gleichgültiger Verwunderung, anscheinend hatte keiner von ihm gehört, oder gewusst, dass er kommen würde. Es ist mit Elizabeth LeCompte abgesprochen, sagte er, »oh, Liz«, sagten sie, »she’s not here, she’ll be back in an hour.« Als sie zurückkam, sah sie ihn auch erst verwundert an, dann begriff sie, »oh, you«, sagte sie, »hi, come on in!«, und nahm ihn mit in den schwarz gestrichenen Probensaal, eine voll ausgestattete Black Box mit Zuschauertribüne, zwanzig, dreißig Reihen schwarze Plastikstühle bis runter an die monströse, motorisierte Plattform, die sie über den Atlantik und in halb Westeuropa mit dabeigehabt hatten, präsentierte ihn dem Ensemble als »our new volunteer from Europe« und begann direkt mit den Proben, nicht an einem neuen Stück, es war immer noch die eine der beiden »Shows« ihrer Europatournee, Fish Story, die anscheinend nicht fertig war oder vielleicht nie fertig werden, sondern sie einfach in Bewegung halten sollte, wie ein Perpetuum mobile, in dem sie als Kollektiv mit einer dreigeteilten Hierarchie leben konnten, ganz oben »the members« und darunter »the associates« und ganz unten »the volunteers«, die wiederum, ohne dass es je ausgesprochen wurde, ganz selbstverständlich, einander untergeordnet waren, mit dem letzten Neuzugang zuunterst. Doch davon wusste er noch nichts, er war gerade erst gelandet, vom Flugzeug wie von einem Metallstorch über den Atlantik getragen und für ein neues Leben in der Neuen Welt abgesetzt, im Jetlagrausch sah er die kleinste Bewegung, das geringste Zeichen auf der Bühne und wusste sofort, was nicht stimmte oder noch besser gemacht werden könnte, er sah sich als den Erlöser, the missing link zwischen der Avantgarde und den Massen, der mit seiner messianischen Wiederkunft als Star in the U. S. das Unmögliche bewirken würde, ganz selbstverständlich ging er davon aus, dass seine europäische Meinungsfreiheit auch over here galt, »maybe you should try to …«, sagte er, oder »why not let Willem look more directly into the camera«, und mit amerikanisch oberflächlicher Gastfreundlichkeit und »hi, how are you« ließen sich »the associates« und auch »the group members« und sogar die sonst so eisige Königin LeCompte hier am ersten Tag nichts anmerken und überhörten seine Einwürfe bloß so vielsagend wie möglich und machten weiter, als hätte er nichts gesagt, nur die Untersten in der Hierarchie der »volunteers« sahen ihn erst irritiert, dann ärgerlich kopfschüttelnd und schließlich hasserfüllt an, ohne dass er es bemerkte (er sah das Licht nicht, er war es). Ein paar Wochen oder Monate bevor er die Gruppe in Europa erlebt hatte, hatte er genauso zufällig ihren männlichen Star, Willem Dafoe, in dem Film The Last Temptation of Christ gesehen, und gleich als er (Dafoe) das erste Mal allein in die Wüste ging, hatte er gesehen, doch erst viel später – als der an sich banale und hoffnungslos amerikanische Film fast oder schon ganz zu Ende war, vielleicht erst Wochen später oder immer noch nicht – verstanden, dass Willem Dafoe nicht Jesus spielte. Er war Jesus, und es hatte nie einen Jesus gegeben. Vor ihm.

Gegen halb sechs, als die Proben des Tages vorbei waren, packten alle ihren Kram und ihre Taschen und gingen einer nach dem anderen oder, wenn sie denselben Weg hatten, in kleinen Grüppchen die Treppe hinunter, »bye, see you tomorrow«, sagten sie, auch zu ihm, weder LeCompte noch einer ihrer »group members« oder »associates« kam auf die Idee, jemand könnte von Europa hierherfliegen, ohne eine Unterkunft oder wenigstens einen Schlafplatz für die Nacht zu haben. Er hatte so gut wie kein Geld und würde versuchen, es so viele Wochen oder Monate zu strecken wie nötig, bis der Augenblick gekommen wäre, an Dafoes Stelle zu treten und die beiden Propheten in einen zu verschmelzen, unten im Bühnengraben und später auf den Leinwänden Hollywoods oder vielleicht an einem ganz anderen Ort (in einer völlig anderen Wüste), von dem er selbst noch nicht ahnte, wo genau der wäre, der sich ihm aber, so seine Zuversicht, wie eine Tür in der Geschichte vor ihm auftun würde, just wenn es für ihn an der Zeit wäre, einzutreten und zu sagen oder zu tun, was nötig wäre, um die Massen in Bewegung zu versetzen, er hatte auf dieser Seite des Atlantiks noch nichts zu essen bekommen, darum sagte auch er, nachdem er die letzte Gruppe von »associates« und »volunteers« unten auf der Straße ein paar Schritte begleitet hatte, »bye« und »see you tomorrow« und ging in das Nachbargebäude, The Orange Garage oder The Gourmet Garage, eine ehemalige, in einen Gourmetmarkt umgewandelte Fabrikhalle, und kaufte für nur einen Dollar eines der übrig gebliebenen Sandwiches des Tages und ging damit hinaus in das klare, kalte Dezemberdunkel. Er ließ sich einige Stunden durch die schmalen Straßen von Soho treiben, überquerte den Broadway, kam am Astor Place, an The Strand vorbei, ließ sich euphorisch jetlagmüde von dem Licht und der Massenbewegung von Menschen und Autos durchströmen, erkannte die brutalen, gleichsam digital abgehackten Sirenen der Krankenwagen und Polizeiautos aus unzähligen Filmen wieder und blieb an einer Telefonzelle an der East 12th Street stehen und verwendete noch einen Dollar darauf, Nummern aus einem kleinen, kopierten A5-Heftchen anzurufen, das er von einer Dame bekommen hatte, die er irgendwo in Europa kennengelernt und die ihm erzählt hatte, es enthalte alle Mitglieder einer zwar nicht heimlichen, jedoch sehr diskreten Organisation gastfreundlicher Menschen in den USA, sogenannte »hosts«, von denen außer Name, Telefonnummer und Adresse ihre besonderen Vorlieben sowie die Anzahl der Nächte oder Wochen vermerkt waren, die sie jeden neuen Fremdling maximal beherbergen konnten. Als von ihr (sie war, sagte sie, der lokale oder europäische »coordinator/facilitator«) empfohlener »guest« brauche er nur vorher anzurufen oder zu schreiben, und war der betreffende »host« zu Hause, könne er bei ihm oder ihr eine im Voraus vereinbarte Anzahl von Tagen und Nächten wohnen, die, so die Frau, oft noch verhandelbar sei, »our hosts are all very hospitable«. Das Einzige, wozu man sich als Gast verpflichte, sei, dem »host« Gesellschaft zu leisten und sich für seine oder ihre »spheres of interest« aufgeschlossen zu zeigen, was immer sie auch sein mochten. Bei den ersten drei Nummern, die er probierte, ging keiner ans Telefon, und er fing an, sich Gedanken zu machen, ob die ihm bisher unbekannte weltweite Organisation gastfreundlicher Menschen nicht bloß diskret (wie ein Geheimdienst), sondern schlicht fiktiv war, ob das schlecht und anscheinend mit einem Faxgerät kopierte zwanzigseitige Heftchen, das er in der Hand hielt, keine Verbindung zur Wirklichkeit hatte, sondern das ganz eigene kleine Konzeptkunstwerk der Frau oder ihr Traum einer Parallelwelt durch und durch guter Menschen, ihr amerikanischer Traum war, als sich unter der fünften Nummer plötzlich eine Stimme meldete, die »hi« sagte, eine hysterische oder karikaturhaft hohe Männerstimme, nur »hi«, sonst nichts, aber das reichte schon, oh nein, dachte er, bitte kein Schwuler, stellte sich als von dem europäischen »coordinator/facilitator« empfohlener »guest« vor und fragte, ob er eine Nacht oder drei auf dem Sofa oder auch nur auf einer Matratze auf dem Boden schlafen könne. »Oh!«, sagte die karikaturhaft feminine Männerstimme, und dann noch mal, »oh!«, und er dachte, dass dieser Typ klang wie eine Parodie von Andy Warhol, der wohl auch nur eine Parodie seiner selbst, des Künstlers und des amerikanischen Traums gewesen war, und dass das Heftchen in seiner Hand vielleicht tatsächlich eine Fiktion war, eine Liste mit sehr New-York-haften Namen, Adressen und Telefonnummern und nicht zuletzt »Vorlieben«, die in direkter und äußerst lebendiger Verbindung mit dem wirklichen New York standen, das wohl seinerseits nur eine Parodie davon war, wie Europäer sich New York vorstellten. »Oh!«, sagte die Stimme zum dritten Mal, »you mean now, like in ›now‹?« Ja, sagte er. »Like tonight?« Ja, ja, sagte er, nein, dachte er, nicht »like«, er war mehrere Stunden in den Straßen umhergestreift und hatte mindestens eine Viertelstunde in dieser Gefrierbox gestanden und Nummern getippt, die Finger seiner rechten Hand waren taub, er fror auf ganz und gar nicht -hafte Art, er brauchte einen Platz zum Schlafen, und zwar nichts -haftes, sondern eine ganz gewöhnliche, wirkliche Matratze mit Federn oder Schaumgummi- oder altmodischer Strohfüllung. »Yes, tonight«, sagte er. »Oh!«, sagte der andere, »but we are not really here tonight.« Wir, dachte er, die sind anscheinend mehrere, vielleicht eine ganze kleine Factory, die nicht wirklich hier ist. »Maybe tomorrow«, sagte die Stimme, »but …« »Okay, tomorrow«, sagte er rasch, »I’ll come tomorrow, when do you want me to show up, seven thirty p. m.?« »Oh!«, kreischte die Stimme, »so early?!« »Well, then ten or eleven or twelve«, sagte er. »Okay, twelve, maybe twelve, but just for one night, okay?« »Okay«, sagte er und legte den Hörer auf.

Den Rest des Abends und der Nacht ging er einfach in den Straßen umher, hastig und zielstrebig, mit dem einzigen Ziel, warm zu bleiben. Er hatte zwei Tage lang nicht geschlafen und nichts gegessen außer dem Pilzsandwich, das er sich um sechs in The Gourmet Garage gegönnt hatte, aber seine Erschöpfung wurde paradoxerweise von dem Hunger und dem Jetlag aufgewogen, die ihn immer schwereloser werden ließen, als wäre auch er nur -haftig und »not really here«. Die Straßen südlich des Central Park schwirrten vor Licht und Leben, zu keiner Zeit während der Nacht fühlte er sich wie einer der Letzten, ein Nachtschwärmer oder ein Fremder, in jeder Straße gab es Bars, Läden und Fast-Food-Lokale, die offen waren, aber gleichzeitig hatte das Leben etwas Inszeniertes oder Kulissenhaftes, als könnten die leibhaftigen New Yorker darin jeden Augenblick in Musicalgesang ausbrechen und irgendeine Sinatra-artige Person auf einem roten Teppich anspaziert kommen und »I want to wake up in a city that doesn’t sleep« singen, während die Obdachlosen, die in ihren klischeehaften Pappkartonhöhlen und Pappkartonstudios und Pappkartonlofts unter Gerüsten und in dunkelsten Seitenstraßen parat lagen (oder diskret und höchst realistisch mit etwas herumhantierten) und natürlich fast alle Schwarze waren, von ihrem Kulissenleben aufspringen und zu tanzen anfangen würden, nicht Breakdance oder Electric Boogie, sondern guten alten Broadwaymusicalnegertanz. Alle fünfzehn oder dreißig Minuten ging er in einen Kiosk oder Tattooshop oder Buchladen oder einen der vielen kleinen Pizza-Slice- oder Bagelshops, um sich aufzuwärmen, und schaute ein bisschen in die Regale, die Speisekarte oder auf die Tafel über der Ladentheke, bis einer der Angestellten ihn fragte, was er wünsche, »oh!«, sagte er, »maybe, just like … nothing«, und lächelte, als wäre er bekifft oder auf sonst irgendeinem Trip, und ging wieder auf die Straße. Irgendwie passte es ihm sehr gut, dass er hier, in seiner ersten Nacht in New York und der Neuen Welt, nirgendwo hinkonnte, das erlaubte ihm, einfach nur zu gehen. Eine Sache, die ihn bei seinem ersten Besuch einer Millionenstadt interessierte, war just die Möglichkeit, sich zu verlieren, plötzlich nicht zu wissen, wo in aller Welt er war (und wie er je zurückfinden sollte), von einer Architektur und einer Ordnung umgeben, die über seinen Verstand ging und wo die Menschen sich auf eine Art und nach Regeln bewegten, die sich ihm nicht unmittelbar erschlossen, sodass jeder Schritt, jede Bewegung, jeder Anflug von menschlichem Kontakt in gewissem Sinn das Leben galt und es kosten konnte, die Möglichkeit, dass die Begegnung, dieser clash of civilizations zwischen ihm und dem unmittelbar Unbegreiflichen, die Tür sein könnte, durch die er in eine ganz neue Art, die Welt und die Menschen, das Leben zu denken, hinaustreten könnte. Deshalb irritierte es ihn, dass Manhattan so überschaubar war, nicht im Geringsten fraktal oder chaotisch, das schlichtest denkbare Muster von Straßen, die dazu noch nummeriert oder alphabetisch geordnet und nicht kyrillisch oder in einer für ihn auf den ersten Blick unbegreiflichen Sprache beschildert waren, sondern leicht zu lesen wie ein Mickymaus-Heft, jede Sekunde während der Nacht wusste er genau, wo er war, er fühlte sich nicht das geringste bisschen fremd, im Gegenteil, er fühlte sich noch scheußlicher zu Hause als je zuvor. Nur der Broadway, der ansonsten aussah wie eine Kopie des echten Broadway, der sich bestimmt im Disneyland Paris befand, konnte ihn einen Augenblick lang überraschen. Als anscheinend einzige Straße nördlich der Houston Street und so weit oben in Manhattan, wie er in dieser ersten Nacht kam, lag er nicht linealgerade in Nord-Süd- oder Ost-West-Richtung, sondern schlängelte sich in seinem mittleren Teil fast ganz natürlich wie ein Fluss hoch durch das Straßennetz und tauchte jedes Mal an einer leicht anderen Stelle auf, als er gedacht hatte, doch ohne dass er einen Augenblick gemeint hätte, sich verirrt zu haben, oder sich fremd vorgekommen wäre, im Gegenteil, in gewisser Weise fühlte er sich dadurch noch mehr zu Hause, als liefe er durch sein Kindheitsviertel und spielte mit seinem besten Freund Verstecken, der dann und wann hinter einer Ecke hervorgesprungen kam und »Ich bin hier!« rief.

Während seiner Zeit in Moskau, beinahe täglich, auch nachdem er schon mehrere Monate lang in der Stadt gelebt und sie durchstreift hatte, und selbst an Orten, an denen er schon viele Male gewesen war – in der Metro, im kolossalen ВДНХ-Park, in dem jede Wissenschaft und jeder materialistische Produktionssektor einen eigenen Pavillon in stalinbarockem Betonklassizismus hatte, mit monströsen Säulen und Friesen und Statuen übermenschlich muskulöser Frauen und Männer mit für die betreffende Wissenschaft oder Industrie symbolischen Instrumenten oder Werkzeugen in den Händen, und innen Autoausstellungen, Modekleidung, Toshiba und Rank Xerox, oder draußen in einer der Vorstädte, Ясенево zum Beispiel, wo in den Lücken zwischen den zwanzig oder dreißig Etagen hohen Betonblöcken noch Wald stand, durch den sich die nunmehr ehemaligen Vertreter der Gattung Homo sovieticus wie Steinzeitmenschen auf per Zufall und prähistorischer Intuition getrampelten Pfaden umherbewegten –, befand er sich plötzlich mitten in einem Gedränge oder Menschenauflauf um etwas herum, ein Ereignis, eine Begebenheit, einen Konflikt, den er bisweilen nicht einmal lokalisieren konnte, irgendetwas ging definitiv vor sich, aber er verstand nicht, was, eine heftige Spannung, die die Menschen anzog und von der auch er sich nicht losreißen konnte, plötzlich und ohne es zu wollen war er völlig versunken, in einem Zustand intensiver Unaufmerksamkeit, in dem jemand (plötzlich) leise mit ihm sprach, ohne ihn anzusehen, bis ihm allmählich dämmerte, dass er von Männern … nicht umringt, sondern nur diskret umgeben war, junge und ältere, sie mochten alles von zwölf bis sechzig sein, und sie waren keine Zivilpolizisten oder eine andere Art von Staatsmacht, sondern gewissermaßen ganz gewöhnliche Männer wie jeder andere, die ihn, ohne dass andere es bemerkt hatten oder davon Anschein gaben, aus der Menge gelöst hatten und irgendetwas von ihm wollten, er verstand bloß nicht, was, nur, dass es das Leben galt und dass alles, was er bisher in seinem Leben gelernt und gedacht und eingeübt hatte, in dieser Situation und diesem Jetzt nichts taugte; wenn er hier lebend davonkommen wollte, musste er etwas tun, was weder sie noch er vorhersagen konnten. So eine Chance würde sich ihm hier nie bieten, so ein Riss im Jetzt, so eine Öffnung hin zu etwas Unbegreiflichem war in New York undenkbar. Sogar als er auf der anderen Seite von Chelsea herauskam, in der West Street und auf der Eleventh Avenue, wo es so gut wie kein Leben gab, hauptsächlich Lagerhallen und geschlossene Werkstätten, hier und da eine »bodega« oder ein Diner, die vielleicht, vielleicht nicht geöffnet hatten, und gegenüber der rohe Betonkai zum Hudson River und der eisige Westwind, gab es keine Überraschungen, selbst hier draußen in einem ihrer Outskirts, der etwas heruntergekommen sein sollte, kam ihm die Stadt banal vor, wie eine Show, die seit drei oder fünf Jahrzehnten vor ausverkauftem Haus läuft, während die Kulissen immer mehr verlottern und die Stars der Erstbesetzung nach und nach von neuen Generationen immer schlechterer B-Schauspieler ersetzt werden. Sicher, man kann ohne Grund (oder Motiv) überfallen und niedergestochen werden, dachte er, nur wäre nichts Mystisches oder Rätselhaftes dabei. Seine Strategie hier in dem neuen Imperium konnte also nicht bloße Wiederholung dessen sein, was er in der Alten Welt getan hatte, es brauchte unbedingt etwas anderes, eine neue Art, sich zu bewegen, zu handeln und aufzutreten, aber welche?

 

Es war gegen halb fünf, er folgte der West Street nach Norden, links auf einer viereckigen Industrieinsel, die vom Kai in den Hudson ragte, standen zwei große Kräne, die gereckten Hälse über die sechsspurige Straße ins Mondlicht gedreht, das sie wie Skelette leuchten ließ und ihre Dinosaurierschatten auf die obersten Stockwerke eines der fast rußschwarz-roten, wuchtigen und sehr manhattanhaften Industriegebäude mit zickzackförmigen Feuertreppen vom Anfang des Jahrhunderts warf, die ein paar Blocks weiter drinnen im Viertel standen, von Zeit zu Zeit kam ein dunkler Wagen oder ein gelbes Taxi eine der sechs Spuren entlanggedröhnt, dann war alles wieder verlassen; er ging an Lagerhallen mit geschlossenen Toren vorbei, einem Diner mit dem Namen »Diner« mit einem älteren Mann ohne Kellnerbekleidung unter der Leuchtstoffröhre hinter dem Tresen und niemand an den vier Tischen, die einzeln nebeneinander an der verbeulten Plexiglasscheibe zur Straße hin standen, mit je einem Ständer mit Pfeffer, Salz, Tabascosauce und Heinz’ Ketchup auf den rot-weiß karierten Plastiktischtüchern; hundert Meter weiter nördlich stand eine Eisentür offen, aus der im Vorübergehen ein schmaler Streifen Licht an ihm hochstieg, jemand rief ihm etwas hinterher, und er drehte den Kopf und sah ein Häufchen junger schwarzer Typen, die im Halbdunkel vor der Tür standen. Aus dem fensterlosen Gebäude, sicher eine Art Club, drang schon zutiefst traditionelle House-Musik, der typische »Gangsta«-Rap und quadratisch-behäbige Beat, der alles, wie virtuos oder groovy der Rapper es auch runterleierte, auf eine Wiederholung von Sachen reduzierte, die schon Hunderttausende andere vor ihm gerappt hatten, er sah die Typen an, und sie ihn, und einer von ihren rief, »whatdefuckyadinkyalookinatman«, und er dachte, dass er laut Skript nicht antworten brauchte, noch nicht, weil er der Weiße und damit Wertvollste war und der Einzige von ernsthaftem Interesse, also ging er weiter die Straße entlang, und die sechs oder sieben Typen folgten ihm und nahmen ihre Plätze in dieser Performance ein, drei, vier seitlich gehend rechts von ihm, einer links, zwei dicht hinter ihm und ein einzelner nicht sonderlich elegant rückwärts stolpernd vor ihm. Ihre Kostüme waren billige Kopien der ihrerseits nicht sehr originalen Gangsta-Rapper in dem Musikvideo zu der Nummer, die langsam hinter ihnen auf der mondbeschienenen Straße verhallte – schwarze »caps« oder Strickmützen mit einem kitschgotischen »Body Count« oder »Task Force« auf der Stirn, schwarze, stramm sitzende Tanktops, glänzende Polyesterjacken mit weißen Schulterstreifen und so gut wie alle mit Sonnenbrillen und einer dicken silber-haften Kette mit einer kleinen Silberpistole oder einem Dollarzeichen um den Hals, die ihnen vor der Brust baumelte, als sie sich ihm halbblind stolpernd zuwendeten –, eine Art nur seinetwegen aus Harlem oder The Bronx oder von drüben aus New Jersey geholter »volunteers«, eine fragwürdige Szene, die garantiert rausgeschnitten werden würde. Einer der Typen rechts von ihm hatte ein Messer, mit dem er hantierte, damit er es sehen sollte, vergaß dabei aber, die Klinge im Mondlicht blitzen zu lassen, und der Kerl zu seiner Linken hatte eine Ausbeulung in der Jackentasche, die wohl eine Pistole darstellen sollte und sicher auch eine war, »whatdefuckyadinkyalookinatman«, sagte er, und er dachte, dass jetzt vielleicht der Moment war zu antworten. »Haven’t I seen you guys before?«, sagte er. »Whatayamean«, sagte ein anderer, »where?« und »whatafuckyatalkinaboutman?« Einer der Typen hinter ihm knuffte gegen seinen Rucksack, der kein Backpacker-Rucksack war, bloß eine kleine Rückentasche, in die man ein Handtuch, ein Paar extra Shorts, ein Buch und eine Tube Sonnencreme wirft, wenn man an den Strand geht, »whattayagotinthabagman?« »My life«, sagte er. »Whattayameanlife?«, sagte einer der anderen. »A notebook, some pens, but no eraser, toothbrush, toothpaste, a pair of jeans, two panties, a T-shirt and an extra sweater, you want it?« Keiner antwortete, aber ein paar von ihnen nickten langsam, als versuchten sie zu verstehen, was das bedeuten sollte. »An’ downtherman?«, sagte der Kerl mit dem Messer und ließ es von seinem Schritt höher über die Jacke streifen. »My guts«, sagte er, »my passport and maybe a hundred and fifty dollars, but I guess you guys are worth more than that, ain’t you?« Er drehte den Kopf und sah die zwei an, die hinter ihm gingen, erst den einen, dann den anderen, dann die drei rechts von ihm, dann den, der noch immer und jetzt ein wenig eleganter – er war anscheinend dabei, sich an die Rolle zu gewöhnen – rückwärts vor ihm herging, und dann den zur Linken, sah ihnen in die Augen, und sie sahen ihm in die Augen. Dann stolperte der Kerl vor ihm, der nächste neben ihm packte ihn am Arm, sie kamen kurz aus dem Tritt und blieben alle miteinander stehen, während er weiter die West Street entlangging, jenseits der Grenze ihres Reviers. Die ganze Szene hatte nur ein paar Häuserblocks gedauert, zwei unbedeutende Nummern im »grid« der Stadt, zu keiner Zeit hatte er seine Schritte beschleunigt oder verlangsamt, es war rein gar nichts geschehen, das nicht bereits geschehen war.

 

Als die ersten »associates« und »volunteers« gegen halb zehn mit je ihrem Take-away-Coffee vom Kiosk an der Ecke von der Canal die Wooster Street entlangkamen, stand er schon an The Performing Garage vor der Tür. »Oh, you’re back?«, sagte einer der »volunteers«, »yeah«, sagte er und kam mit hoch. Keiner fragte ihn etwas oder bat ihn, etwas zu tun, er sah sich ein bisschen im Büro um, blätterte in einem Buch über die Arbeit der Gruppe seit 1975 und der neuesten Nummer von BOMB Magazine, las ein Gedicht mit dem Titel American Noise und der Zeile »casual traffic and nothing at all« und ging in den Saal und die Tribüne hoch zu den Technikern, die dicht unter der Decke die Köpfe über ihre Pulte beugten. Der Tontechniker checkte gerade das Arsenal und die möglichen Kompositionen von Klängen für die Proben des Tages, darunter kein einziger Klang von Musikinstrumenten, weder physischen noch elektronischen, aber auch keine Geräusche von außen, es war das Geräusch der Garage selbst, des Lebens in ihr (das kein Leben war, sondern Proben für etwas, von dem er nicht wusste, was es war: Schritte, Husten, Gemurmel, Regen auf das Garagendach, Knistern der Elektronik, eine Tür, die ins Schloss fällt, ein Reißverschluss, der aufgezogen wird), das – ohne in irgendeiner Weise bearbeitet oder verzerrt zu werden, allein in dem Muster, das die Geräusche mit der Zeit zusammen hervorbrachten (und nicht schon jetzt, erst, wenn das Muster entstand oder sich gleichzeitig mit dem Leben auf der Bühne entfaltete, das keine eigentliche Vorstellung war, denn es stellte nichts dar) – ihn schon während der ersten Show in Europa etwas hatte hören lassen, das er nie im Leben zuvor gehört hatte und von dem er wusste, es war der Klang einer anderen Welt. Er stieg die Tribüne hinunter und probierte eine Reihe von Klappstühlen aus, die alle vollkommen gleich waren, um den genau richtigen mit dem idealen Abstand und Winkel im Verhältnis zum Bühnenpodest zu finden, bis er einsah, dass es völlig egal war, wo er sich hinsetzte, jeder Stuhl war der verkehrte und völlig ideale, er konnte genauso gut stehen bleiben oder einfach umhergehen, aber das hatte er ja schon die ganze Nacht lang getan, also setzte er sich hin. Die nächsten Stunden saß er nur da und betrachtete die Bühnenplattform, auf der sich noch keine »show« oder eine Probe zu einer solchen abspielte, aber dennoch die ganze Zeit irgendetwas geschah, das nicht wert war, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Hin und wieder ging ein Techniker über die Bühne, kniete sich hin und verband ein Kabel mit einem der vielen schwarzen Videomonitore, der Schirm »flimmerte«, schwarz-weißer »Schnee« oder Bilder von einigen der abwesenden Performer, die eine Art Synchrontanz in ihren merkwürdigen Kostümen vollführten, die ihrerseits nichts darstellten und wohl überhaupt keine Kostüme und auch keine Kleider waren, sondern einfach »etwas«, Fragmente oder neue Kombinationen von »dem«, was sie vielleicht in früheren Shows angehabt hatten: eine Art knielange Schürzen aus schwarzem Gummi und darüber Schichten von Mänteln oder Tüchern und an den Füßen weiche schwarze Schnürstiefel, die ein bisschen an Boxerstiefel erinnerten, aber ganz sicher keine waren, und mit den Gummischürzen mit je einer Schnur verbunden waren, was keine praktische Funktion erfüllte und auch nicht interessant oder schön oder abgeschmackt aussah, es lenkte einfach nur ab, die Performer ebenso wie ihn, der sie (oder genauer gesagt die schlechte Schwarz-Weiß-Videoaufnahme von ihnen) auf dem Monitor ansah, der im Verhältnis zur Größe von Bühne und Saal offensichtlich viel zu klein war, sofern beabsichtigt war, dass man sehen können sollte, was auf ihm vorging, aber das war’s wohl nicht, oder wie?

Erst am Nachmittag kamen drei der Performer, zwei weibliche, beide »group members«, und ein gleichaltriger männlicher, der bloß »associate« war. Alle drei hatten in der Fish Story, die er in Europa gesehen oder erlebt hatte, auf der Bühne gestanden, doch hier drüben auf der anderen Seite des Atlantiks und etliche Wochen oder Monate später waren sie natürlich nicht mehr dieselben. Die jüngste der Frauen hieß laut Programm (einfach nur eine A4-Kopie mit den Namen der Show, der Gruppe und ihrer »members« und »associates« und »supporters«) Kate Valk, und am Tag zuvor hatte er sie Kate Falk wie in »falcon« genannt, ohne dass jemand Einwand erhoben hatte, doch beim Hinausgehen hatte einer der »volunteers« von ihr als »Kate Walk« gesprochen, mit »w« und flachem, sehr amerikanischem »a«, und als sie nun den Saal betrat, schloss er die Augen und sagte »Kate Walk«, was wirklich viel besser klang als »Folk«, doch statt ihrer sah er nur das Wort vor sich: »Valk«. Ein wenig später kam die Regisseurin Liz LeCompte zusammen mit ihrem und Willem Dafoes Sohn, Jack, einem zehn-, elfjährigen, etwas pummeligen Jungen, der niemandem Hallo sagte, sondern sich einfach neben sie setzte und anfing, ein Buch von Martin Heidegger zu lesen, nicht das deutsche Original, sondern die englische Übersetzung, Being and Time.