Das mysteriöse Verschwinden des Aidan S. (so wie es sein Bruder erzählt) - David Levithan - E-Book

Das mysteriöse Verschwinden des Aidan S. (so wie es sein Bruder erzählt) E-Book

David Levithan

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der zwölfjährige Aidan S. wird vermisst und niemand kann sich sein plötzliches Verschwinden erklären. Als er nach sechs Tagen wieder auftaucht, erzählt er eine unglaubliche Geschichte. Sein Bruder Lucas möchte ihm glauben, aber das ist nicht so leicht, wenn niemand sonst das Unmögliche für die Wahrheit hält. Zumal Aidan durch seine wundersame Geschichte immer mehr zum Außenseiter wird. David Levithan lässt in dieser mysteriösen Geschichte die Grenzen der Wahrnehmung verschwimmen: Was ist Realität, was ist Fantasie? Und kann das Unmögliche wirklich wahr sein? Mit diesen Fragen schickt Levithan junge Leser auf eine spannende Reise.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 203

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAVID LEVITHAN

Das MYSTERIÖSE VERSCHWINDEN des AIDAN S.

DAVID LEVITHAN

Das MYSTERIÖSE VERSCHWINDEN des AIDAN S.

(so wie es sein Bruder erzählt)

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2021

© 2021 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 bei Knopf Books for Young Readers unter dem Titel The Mysterious Disappearance of Aidan S. (as told to his brother). © 2021 by David Levithan. All rights reserved. Translation rights arranged by The Clegg Agency, Inc., USA.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Nadine Lipp

Redaktion: Sybille Beck

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: Jill De Haan

Layout: Cathy Bobak

Satz: Achim Münster, Overath

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-198-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-276-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-277-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

28

39

40

41

42

43

44

45

DANK

1

Sie suchten überall.

Im Wäldchen hinter unserem Haus. In der Schule. Im Wald hinter der Schule. Im Keller. Auf dem Dachboden. Am Teich, obwohl der Teich ziemlich weit weg war. Sie riefen die Eltern aller Mitschüler von Aidan an, auch jene, die weggezogen waren.

Wir sahen in jedem Zimmer des Hauses nach und in allen Schränken. Wir durchsuchten jeden Zwischenraum, guckten unter jedes Bett. Wir zogen alle Duschvorhänge zurück und suchten alle Teppiche nach Fußabdrücken ab. Es war wie ein Versteckspiel, das nach fünf Minuten langweilig wurde, nach einer Stunde beunruhigend und danach zu dem Unheimlichsten, was uns je passiert ist.

Aidan war nicht aufzufinden.

Sie stellten mir immer wieder die gleichen Fragen.

Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?

Ich war dabei einzuschlafen. Er war dran, das Licht auszuschalten. Ich habe gesehen, wie er aus dem Bett gestiegen und zum Lichtschalter gegangen ist. Dann habe ich gehört, wie er zurück zum Bett gegangen ist, und ich glaube, wir haben uns eine gute Nacht gewünscht.

Um wie viel Uhr war das?

Gegen zehn?

Du bist dir nicht sicher.

Um diese Uhrzeit machen wir normalerweise das Licht aus. Ich habe nicht so genau darauf geachtet, ich wollte einfach nur schlafen.

Warst du eingeschlafen, als er das Zimmer verlassen hat?

Ich glaube, ja. Ich habe die Tür nicht gehört.

Wie lange brauchst du, um einzuschlafen?

Weiß nicht.

Steht dein Bruder öfter mitten in der Nacht auf?

Nein, ich glaube nicht.

Hast du ihn jemals beim Schlafwandeln erwischt?

Nein.

Hat er dir gegenüber mal erwähnt, dass er weglaufen will?

Nein.

Glaubst du, dass er weggelaufen ist?

Nur, weil er hier nirgends ist. Aber er hatte keinen Grund wegzulaufen. Er ist zwölf.

Und du bist elf, Lucas?

Ja.

Hat er etwas Ungewöhnliches gesagt?

Nein.

War er vielleicht sauer wegen irgendwas?

Nein. Und wenn er wirklich weggelaufen wäre …

Was dann?

Dann hätte er sein Handy mitgenommen. Er hätte es nicht zurückgelassen. Dafür mag er seine Spiele zu sehr.

Gibt es einen Ort, wo dein Bruder hingegangen sein könnte? Gibt es irgendwelche Freunde, die er hätte sehen wollen?

Spät in der Nacht? Nein.

Niemanden?

Glenn ist sein bester Freund. Aber er sieht Glenn die ganze Zeit. Ich meine, tagsüber. Ich glaube nicht, dass sie sich nachts heimlich treffen würden, wenn es das ist, was Sie meinen. Aber da müssen Sie Glenn fragen.

Gibt es einen Ort, wo dein Bruder hingeht, um sich zu verstecken? Zum Beispiel, wenn ihr spielt, wo versteckt er sich dann?

Auf dem Dachboden. Aidan versteckt sich immer auf dem Dachboden.

Sie überprüften jeden Zentimeter des Dachbodens. Sie verschoben jede Kiste, sahen im alten Geschirrschrank, in der Truhe und im Kleiderschrank nach. Es gab Spuren von Aidan dort oben – Fußspuren und Fingerabdrücke im Staub. Aber es gab überall Spuren von Aidan. Es war unser Haus. Wir wohnten darin.

Sie suchten nach einer Nachricht. Sie sahen sich den Browser-Verlauf von jedem elektronischen Gerät an, das Aidan benutzte. Sie suchten rund um unser Haus und versuchten eine Spur zu finden. Und sie suchten auch nach Anzeichen dafür, dass jemand eingebrochen sein und ihn gekidnappt haben könnte.

Sie suchten so viel. Und sie konnten nichts finden.

Hast du dich mit Aidan gestritten?

Nein.

Hatte Aidan Streit mit deinen Eltern?

Nein.

Hast du ihn angeschrien?

Nein.

Haben sie ihn angeschrien?

Nein.

Hatte er einen Grund abzuhauen?

Nein.

Bist du sicher?

Ja.

Nachbarn und Fremde taten sich zusammen, um ihn zu suchen. Sie durchschritten mit einer Armeslänge Abstand Felder und Wälder, suchten den Boden nach Hinweisen ab. Sie kamen immer wieder auf den Teich zurück, obwohl ich ihnen gesagt hatte, dass wir dort nie hingingen, weil er auf Mr Magruders Grundstück lag und Mr Magruder uns gesagt hatte, wir sollten uns fernhalten. Selbst Aidan, der viel mutiger war als ich, oder vielleicht viel leichtsinniger, ging nicht in die Nähe des Teichs.

Sie hörten mir zu, aber irgendwie nicht richtig.

Ein Alarmruf wurde rausgeschickt. Es kam in den Nachrichten. Die Reporter baten die Zuschauer, die eingeblendete Nummer anzurufen, wenn sie Hinweise hatten.

Viele Leute riefen an, aber niemand hatte Hinweise.

Standet ihr euch nahe?

Ja, das dachte ich. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.

Wir haben uns schon immer ein Zimmer geteilt. Solange ich denken kann, bedeutete schlafen, dass wir dieselbe Luft einatmeten, dass sich unsere Augen an dieselbe Dunkelheit anpassten. Ich hatte mich an so ziemlich jedes seiner Geräusche gewöhnt, obwohl ich manchmal davon wach wurde, dass er Selbstgespräche führte, und war überrascht davon, was er sagte. (Einmal hörte ich ihn »Gut gemacht!« sagen und nahm an, dass er mir ein Kompliment zu meinem Schlaf machte.) Sein Schnarchen konnte donnernd sein, aber er sagte dasselbe über meine Fürze.

Ich kannte ihn. Ich kannte sein Lieblingsessen. Ich wusste, welches Baseballteam er am wenigsten mochte. Ich wusste, welche Socken er zu welchem Shirt auswählen würde und welches Grunzen er von sich gab, wenn er das Gefühl hatte, das Spiel, das er spielte, hätte ihn um einen Sieg betrogen. Wir waren ein Jahr auseinander, und meistens dachten Außenstehende, ich sei der Ältere. Ich gab auf ihn acht, aber wohl nicht gut genug, um zu wissen, ob er es auch in meinem Fall tat.

Und, klar, als meine Aufmerksamkeit am meisten gebraucht wurde, versagte ich. Ich schlief.

Gut gemacht, bravo.

Unsere Stadt war nicht sehr groß, aber sie kam einem gleich viel größer vor, wenn man daran dachte, wo überall ein Zwölfjähriger verschwinden konnte. Es gab nicht nur den Teich, sondern auch die Bäume. Nicht nur die Bäume, sondern auch die Felder. Nicht nur die Felder, sondern auch die Kanalisation. Nicht nur die Kanalisation, sondern auch die Häuser. Nicht nur die Häuser, sondern auch die Läden. Und die Mülltonnen hinter den Läden. Die nicht abgeschlossenen Autos.

Ein riesengroßes Versteckspiel.

Keiner seiner Freunde hatte ihn gesehen oder mit ihm gesprochen, niemand wusste, wo er war. Glenn und seine Eltern kamen zu uns rüber, aber alles, was sie tun konnten, war, sich neben uns hilflos zu fühlen. Die Polizei fragte Glenn, ob sie mit ihm reden könnte, so wie sie auch mich gefragt hatte. Als ob wir eine Wahl gehabt hätten. Selbstverständlich haben wir mit ihnen geredet. Selbstverständlich waren wir bereit, ihnen alles zu sagen, was wir wussten. Ich nahm an, sie stellten Glenn die gleichen Fragen, die sie mir gestellt hatten, oder fast die gleichen. Nur nicht zur gleichen Zeit. Immer, wenn eine Nachricht auf Glenns Handy einging, fragten sie, ob es Aidan war. Aber es war jedes Mal ein anderer Freund, der fragte, was los war.

Ich hatte ein Handy, aber ich sollte es nur für Notfälle benutzen. Dies war ein Notfall, aber die einzige Person, die ich deswegen hätte anrufen wollen, hatte seins nicht dabei.

Wir hielten Wache. Einer von uns war immer wach. Für den Fall, dass Aidan anrufen würde. Für den Fall, dass er an die Tür klopfen würde.

Wir stellten immer sicher, dass die Eingangstüren abgeschlossen waren, weil wir uns vor Einbrechern fürchteten. Man musste klopfen oder klingeln, um hereingelassen zu werden.

Am Ende sollte das noch wichtig werden.

Bist du sicher, dass dir sonst nichts mehr einfällt?

Aus einem Tag wurden zwei.

Aus zwei Tagen wurden drei.

Ich ging nicht zur Schule. Mom und Dad gingen nicht zur Arbeit. Mom zerriss Servietten und Pappbecher. Wenn sie damit fertig war, schaute sie so verdutzt auf ihren Schoß, als wären die Fetzen vom Himmel gefallen. Dad suchte weiter, auch wenn es dieselben Stellen waren, die schon hundertmal zuvor von hundert verschiedenen Leuten abgesucht worden waren. »Wir übersehen etwas. Ein Puzzleteilchen fehlt«, sagte er immer wieder, und schließlich brachte Mom ihn zum Schweigen, indem sie in einem scharfen Ton sagte: »Ja, Jim, es ist Aidan, der fehlt!«

Immer wieder kamen Leute vorbei. Sie hingen überall Plakate auf.

Vermisst. Immer wieder dieses Wort.

Ich wusste nicht, ob es beschrieb, was mit Aidan war oder wie wir uns fühlten.

Er galt als vermisst, und es fühlte sich an, als wäre alles, was wir taten, jedes Wort, das wir sprachen, ein Akt des Vermissens.

Denk nach, Lucas. Denk scharf nach.

Glenn fragte mich, ob ich mit zu ihm gehen wollte, um was zu spielen. Ich glaube nicht, dass er da von allein draufgekommen ist. Ich hatte keine Lust rauszugehen, aber gerade, weil ich nicht raus wollte, meinten die anderen, ich sollte mal aus dem Haus gehen.

»Es wird dich ablenken«, sagte Dad.

Was er damit meinte, war, dass es sie mal eine Weile von mir ablenken würde. Also ging ich mit. Glenn wollte all die Spiele spielen, die Aidan spielen würde, die, in denen Aidan gut war. Ich war schlecht darin, weil er mich immer schlug und ich immer aufgab. Jetzt spielte ich Aidans Spiele mit Aidans bestem Freund in dem Haus, in dem Aidans bester Freund wohnte, und das lenkte mich überhaupt nicht ab.

»Du hast keine Ahnung, wo er ist?«, fragte Glenn, während er Nazis mit einem Flammenwerfer tötete.

»Nein«, sagte ich, ohne meinen Blick vom Bildschirm zu lösen. »Du?«

Glenn schüttelte nur den Kopf und killte weiter Nazis.

Als ich zu Glenns Mutter sagte, dass ich wieder nach Hause gehen wollte, wirkte Glenn weder enttäuscht noch überrascht.

Mein Bruder war einfach die größere Spaßkanone.

Aus drei Tagen wurden vier. Aus vier Tagen wurden fünf.

Sie wollten den Teich ausbaggern. Was, wenn er hineingefallen ist? Was, wenn das der Grund war, warum sie ihn nicht finden konnten?

Mir fiel etwas auf: Sie sprachen nicht davon, Aidan zu finden. Sie sprachen davon, seine Leiche zu finden.

Meine Eltern wollten das nicht hören. Als Tante Brandi aus ihrem Urlaub in Peru anrief und meiner Mutter sagte, sie käme sofort nach Hause, weil sie sich auf das Schlimmste vorbereiten müssten, verbat Mom ihr jedes weitere Wort. Niemand spreche über Aidan so, als wäre er nicht mehr am Leben. Er wurde vermisst. Das war alles.

Ich glaubte nicht, dass er tot war. Ich hatte das Gefühl, wenn er tot gewesen wäre, hätte ich es gewusst. Genauso wie ich es gewusst hätte, wenn mir ein Arm fehlen würde oder unser Haus abgebrannt wäre. Ich sagte zu mir selbst: »Er ist nicht tot. Ich bin mir sicher, dass er nicht tot ist.« Ich passte aber auf, dass niemand in meiner Nähe war, wenn ich es tat.

Mom hatte Familienfotos in jedem Zimmer unseres Hauses aufgestellt. Ich sah mir immer wieder Aidans Gesicht auf diesen Fotos an und fragte ihn, wo er war. Ich hatte Angst, dass er für immer auf diesen Fotos eingefroren sein könnte und nie älter werden würde.

Ich schlief nicht viel. Ich lauschte, wartete auf den kleinsten Hinweis, auf ein Zeichen.

Wenn ich einschlief, fühlte ich mich schuldig.

Wenn ich aufwachte, ging es mir etwa fünf Sekunden lang gut, solange ich dachte, es sei ein normaler Morgen an einem normalen Schultag. Dann fiel mir wieder ein, was passiert war, und die Angst kam zurück.

Du bist nicht tot, sagte ich in Gedanken zu ihm.

Und wartete auf eine Antwort.

Aus dem fünften Tag wurde ein sechster. Der sechste Tag wurde zu einem sechsten Abend.

Sie erwarteten, dass ich schlafen ging. Schlaf: der Schauplatz des Verbrechens.

Unser Haus besteht aus mehreren Stockwerken: dem Erdgeschoss, einem ersten Stock und dem Dachboden. Mom, Dad und noch ein paar andere Leute saßen unten. Als ich ins Bett ging, versuchten alle, Mom zu überreden, ebenfalls schlafen zu gehen, aber sie wollte nicht. Sie war immer noch unten.

Ich war oben und konnte nicht einschlafen. Ich hatte mir so oft gewünscht, ein eigenes Zimmer zu haben und es nicht mit Aidan teilen zu müssen. Aber auf diese Art will ich es nicht bekommen, sagte ich dem Universum. Die einzige Antwort, die ich bekam, war von Bentley, Aidans altem Teddybär, den Mom aus dem Regal genommen und auf sein Bett gelegt hatte.

Bentley starrte mich an, als wolle er mir sagen: Das ist alles deine Schuld.

Dann hörte ich etwas fallen. Über mir. Auf dem Dachboden.

Ich weiß nicht, warum ich nicht nach meinen Eltern gerufen habe. Ich weiß nicht, warum ich nicht runtergerannt bin.

Ich sagte mir, es ist bestimmt der Wind. Oder ein Waschbär. Oder ein Geist.

Aber ich wollte mich vergewissern.

Also ging ich bis zum Ende des Flurs. Ich öffnete die Tür, die zum Dachboden führt und die kleiner ist als die anderen Türen im Haus, zog meinen Kopf ein wenig ein, um mich hindurchzuzwängen, und stieg die Treppe hinauf.

Am oberen Ende der Treppe zog ich an der Schnur, um das Licht einzuschalten, und in der Sekunde, in der die Glühbirne anging, sah ich ihn. Aidan. Er kauerte auf dem Boden und hatte immer noch seinen Pyjama an. Er zuckte wegen der plötzlichen Helligkeit zusammen. Sein Gesicht war auf den Boden gerichtet. Es sah so aus, als hätte ihn jemand gestoßen.

Ich sagte seinen Namen. Er sah zu mir auf, als wäre mein Erscheinen total unerwartet, und nicht seins.

»Lucas?«, fragte er.

Er stand auf. Aber anstatt sich zu mir zu drehen, blickte er zum Schrank, der ihn überragte. Die beiden Holztüren waren weit geöffnet wie ausgebreitete Arme.

»Wo ist es?«, fragte er. »Wo ist es hin?«

Ich schaute über seine Schulter in den Schrank. Normalerweise passen da hängend Dutzende Anzüge und Kleider rein. Aber jetzt …

»Er ist leer«, sagte ich.

»Nein«, sagte er. »Das kann nicht sein.«

»Aidan.«

Ich sprach seinen Namen so aus, als müsste ich ihn daran erinnern, wie er hieß. Ich sprach ihn so aus, als würde das Aussprechen seines Namens ihn endgültig zurückbringen.

Er sah aus wie immer, aber irgendwie auch anders. Ich sah einen Riss am rechten Ellbogen seines Pyjamaoberteils, und war mir sicher, dass er vor seinem Verschwinden noch nicht da gewesen war. Seine Fußsohlen waren schmutzig. In seinem Haar hatte sich ein Blatt verfangen, und er sah mich immer noch nicht an, obwohl ich mit ihm sprach.

Ich versuchte es noch einmal.

2

»Wo warst du?«, fragte ich.

Als Antwort benutzte er ein Wort, das ich noch nie zuvor gehört hatte. Er sagte: »Aveinieu.«

3

Ich dachte, ich hätte ihn nicht richtig verstanden. Oder vielleicht war er zu müde, um deutlich zu sprechen. Ich hätte ihn bitten sollen, es zu wiederholen, aber stattdessen erinnerte ich mich an die Leute, die unten saßen und an all die Leute, die nach ihm suchten.

»Wir müssen ihnen sagen, dass du wieder da bist«, sagte ich. Er antwortete nicht. Er griff in den Schrank nach etwas, das nicht da war, und drückte gegen die Rückwand. Ich drehte mich von ihm weg und schrie: »MOM! DAD! HIER OBEN!« Ich rannte die Dachbodentreppe hinunter und erreichte die kleine Türöffnung gerade, als sie im Flur ankamen. »Es ist Aidan!«, rief ich. »Er ist wieder da!«

Auf der Treppe waren sie mir auf den Fersen und rannten dann an mir vorbei, um Aidan zu umarmen, um zu weinen, um ihn noch fester zu drücken, als müssten sie sich vergewissern, dass er echt war, dass das hier echt war, dass wir alle wach waren. Dad zog mich in die Umarmung mit hinein und sagte: »Du hast ihn gefunden«, was ich zwar gelten ließ, aber es fühlte sich seltsam an, weil ich ihn ja nicht gefunden hatte – er war einfach zurückgekehrt. Aber das war nicht wichtig. Diese Fragen spielten keine Rolle, nicht jetzt. Weitere Leute kamen die Treppe hoch, sie jubelten, weinten und umarmten Aidan, als wäre er ein Organ, das sie zum Atmen brauchten. Er sagte nichts. Er weinte nicht. Er sah verloren aus, und alle meinten, es liege am Schock, an dem Schock über das, was auch immer geschehen war. Was zählt, ist, dass er wieder da ist – die Leute sagten das sofort, und sie haben es auch wirklich geglaubt. Jemand holte sein Handy heraus, um die Polizei zu informieren. Jemand anderes begann, Fotos zu machen und sagte: »Du wirst später wollen, dass dieser Moment festgehalten worden ist.« Aidan begann zu zittern, und jemand schnappte sich eine Decke, die auf dem alten Schaukelstuhl lag. Sie wickelten ihn ein und die Party verlagerte sich nach unten.

Niemand bemerkte, dass ich zurückblieb. Ich wollte noch ein paar Minuten allein auf dem Dachboden sein, bevor jemand zurückkam. Sie waren unten so laut – es war, als wäre die Stille der letzten sechs Tage aufgebrochen, und die Erleichterung war laut, weil wir uns nun keine Sorgen mehr machen mussten, einen Hilferuf zu überhören.

Ich versuchte, etwas zu finden, das nicht an seinem Platz war, einen Hinweis darauf, wie Aidan hier hochgekommen war, ohne dass es jemand von uns bemerkt hatte. Der Dachboden hatte keine Fenster und keinen Schornstein, der einzige Weg rein oder raus war durch die kleine Tür. Also musste er durch die verschlossenen Türen zurück ins Haus gekommen sein, vorbei an all den Leuten, die unten saßen, vorbei an meiner offenen Zimmertür, und dann hier hoch … bevor er auf den Boden fiel und ich dadurch auf ihn aufmerksam wurde.

Das war die einzige Erklärung. Eine andere gab es nicht.

Es war unmöglich, dass er sich die ganze Zeit über auf dem Dachboden aufgehalten hatte.

Ich ging zum Schrank und fragte mich, warum Aidan ihn mit solch einer Intensität angestarrt hatte. Er stand schon immer auf dem Dachboden, solange ich denken konnte. Er war mal voller alter Bügelbretter und Staubsaugerteile gewesen, bis Mom vor ein paar Jahren mit dem Entrümpeln angefangen und den ganzen Müll weggeworfen hatte. Seitdem war er leer, und er war ebenfalls leer gewesen, als wir in den letzten sechs Tagen mehrmals nachgesehen hatten. Genauso leer, wie er es jetzt war.

Ich sah nach. Ich sah genau hin.

Da war nichts. Absolut nichts. Nicht einmal Staub.

Ich schloss die Türen, als ich fertig war. Dad rief nach mir, ich konnte seine Stimme aus allen anderen Stimmen heraushören. Ich wusste, dass ich wieder runtergehen musste, um an dem Freudenfest teilzunehmen.

Aber bevor ich den Dachboden verließ, fiel mir etwas auf, das auf dem Boden lag.

Es war das Blatt. Es war aus Aidans Haar gefallen.

4

Es war blau. Königsblau. Und es hatte die Form eines Diamanten.

So etwas hatte ich noch nie gesehen.

5

Dad rief wieder nach mir. Ich steckte das Blatt in meine Hosentasche und zerdrückte es dabei aus Versehen.

Ich ging die Treppe hinunter.

Die Polizei kam, und mit ihr kamen Fragen. Nette Fragen. Normale Fragen. Fragen, auf die es keine Antwort gab.

Als meine Eltern Aidan fragten, wo er gewesen war, wollte er nicht antworten. Ich konnte sehen, dass ihnen das Angst machte, aber ich sah auch, dass er keine Kraft für eine Erklärung hatte. Er sah verwirrt aus, so, als hätte er gedacht, seit seinem Verschwinden sei keine Zeit vergangen.

Alle, sogar die Polizei, versuchten sich in Erklärungen. Aidan sei müde. Aidan sei erschöpft. Aidan habe viel durchgemacht, wobei niemand genau wusste, was. Er müsse unter die Dusche und dann schlafen. Es gebe nichts, was nicht bis zum nächsten Morgen warten könne, jetzt, da er in Sicherheit sei.

Ich konnte spüren, dass Mom ihn nicht aus den Augen lassen wollte. Aber Dad überzeugte sie davon, dass jetzt alles in Ordnung sei.

Er ging duschen. Und dann ins Bett. Ich wollte dort sein, wollte sichergehen, dass es ihm gut ging, aber es hieß, ich solle ihm ein bisschen Zeit lassen.

Sobald sie Aidan nicht mehr befragen konnten, war ich dran.

Woher wusstest du, dass er wieder da war?

Ich habe ein Geräusch auf dem Dachboden gehört.

Was für ein Geräusch?

Es war, als würde etwas fallen.

Hast du Schritte gehört?

Nein.

Aidan, der herumläuft? Oder vielleicht zwei Leute, die herumlaufen?

Nein.

Lucas, du weißt, dass du von unserer Seite nichts zu befürchten hast, nicht wahr? Wir versprechen dir, dass du keinen Ärger bekommst. Also sag uns ... hast du Aidan geholfen, zurück ins Haus zu kommen?

Nein.

Du hast ihn nicht irgendwann reingelassen?

Nein.

Du wusstest nicht, dass er auf dem Dachboden war?

Nein, nicht, bis ich ihn dort gesehen habe.

Und was hat er zu dir gesagt, als du ihn gefunden hast?

Ich glaube, er war nur ... verwirrt.

Wie meinst du das?

Er wirkte überrascht, auf dem Dachboden zu sein. Er starrte die ganze Zeit den Schrank an, der da oben steht. Hast du ihn gefragt, wo er gewesen ist? Ja.

Und was hat er gesagt?

Aveinieu.

6

So ähnlich wie sie mich ansahen, muss ich ihn auch angesehen haben.

In dem Moment, in dem ich es sagte, bedauerte ich es schon. Ich hatte etwas weitererzählt, was mir nicht zustand.

A-wei-niö?

Ich weiß nicht, was es bedeutet. Wie gesagt, er war sehr verwirrt.

Hast du ihn gefragt, was er meint?

Nein. Denn mir wurde klar, dass niemand außer mir wusste, dass er wieder da war. Also rief ich nach unten.

Hast du eine Ahnung, wo er gewesen ist?

Nein.

Hast du eine Ahnung, wie er auf den Dachboden gekommen ist?

Nein.

Mom fing an, unsere Verwandten anzurufen. Dad führte die Polizisten auf den Dachboden, und sie schickten ihn wieder runter, während sie sich umsahen. Die Leute, die zu Besuch waren, gingen zurück nach Hause und sagten Mom und Dad, sie würden morgen anrufen, und sie seien so froh, dass es Aidan gut gehe.

Die Polizisten waren auch froh, dass Aidan in Sicherheit war, aber sie schienen auch verwirrt zu sein. Nachdem sie den Dachboden durchsucht hatten, kamen sie runter und sagten Mom und Dad, sie kämen am Morgen wieder, um mit Aidan zu sprechen, um zu sehen, was er zu erzählen habe. Sie dachten, ich sei außer Hörweite, aber ich hörte, wie sie meinen Eltern sagten, sie müssten wissen, ob er entführt worden war, nur für den Fall, dass der Kidnapper weitere Kinder festhielt. Aber sie sagten auch, dass in solchen Fällen ein Kind, das entkommt, normalerweise sofort den Alarm auslöst. Sie fügten hinzu, dass sie fanden, Aidan wirke zwar müde, aber nicht traumatisiert. Ich fragte mich, wie sie den Unterschied erkannten. Mom und Dad fragten nicht nach.

Es war schon nach elf Uhr, als Mom und Dad bemerkten, dass ich in der Küche war, um nicht im Weg zu stehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich in meinem Zimmer schlafen sollte. Aber als Mom sagte, »Du musst jetzt ins Bett gehen«, fügte sie nicht hinzu, wo ich sonst schlafen sollte.

Ich betrat unser Zimmer sehr leise. Aber ich konnte mich nicht zurückhalten.

»Bist du wach?«, flüsterte ich.

Aidan antwortete nicht.

Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, konnte ich ihn in seinem Bett erkennen, sein Gesicht zeigte zur Wand. Ich konnte nicht sehen, ob er schlief oder nicht.

Ich hatte keine Ahnung, was er durchgemacht hatte, aber ich wusste, dass er etwas durchgemacht haben musste.

»Du musst ihnen sagen, wo du warst«, sagte ich. »Besonders, wenn noch andere Kinder in Schwierigkeiten sind.«

»Niemand sonst ist in Schwierigkeiten«, antwortete er. »Lass mich schlafen.«

»Versprich mir, dass du nicht wieder abhaust. Nicht so. Sonst werde ich immer wieder aufwachen, um nachzusehen, ob du noch da bist.«