Das Netz, Die Schlinge & Der Käfig - Lilja Sigurðardóttir - E-Book

Das Netz, Die Schlinge & Der Käfig E-Book

Lilja Sigurdardóttir

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Beschreibung

Die gefeierte Spannungstrilogie aus Island – jetzt im attraktiven Sammelband! »Das Netz« Bei einer schmutzigen Scheidung verliert die junge Mutter Sonja das Sorgerecht für ihren Sohn. Verzweifelt setzt sie alles daran, ihn zurückzubekommen, kann sich aber keinen teuren Anwalt leisten. Mit dem Rücken zur Wand lässt sie sich darauf ein, Kokain nach Island zu schmuggeln. Nur bis sie genug Geld hat, um für ihren Sohn zu sorgen, sagt sie sich. Doch schon bald merkt sie, dass es keinen einfachen Ausstieg aus dem rücksichtslosen Drogengeschäft gibt. Es entspinnt sich ein komplexes Netz der Kriminalität und viel zu spät erst bemerken sie, dass jeder Versuch, sich daraus zu befreien, sie sich nur noch tiefer darin verstrickt … »Die Schlinge« Sonja glaubt, dass sie endlich dem Netz entkommen ist, in das sie von skrupellosen Drogenbaronen gelockt wurde. Doch das Glück währt nur kurz: In einem unachtsamen Moment verschwindet ihr Sohn erneut. Sonja ist sich sicher, dass ihr Ex-Mann dahintersteckt, und macht sich verzweifelt auf den Weg nach Reykjavík, zurück in die Welt der Kriminalität. Sie schwört sich: Diesmal wird sie nicht nur alles tun, um ihren Sohn zurückzubekommen, sondern sich auch an denen rächen, die ihr das Leben zur Hölle machen. Diesmal ist sie zu allem bereit. »Der Käfig« Sonja wünscht sich nichts sehnlicher, als ein normales Leben zu führen. Alle Brücken wollte sie hinter sich abbrechen und in London neu anfangen, weit weg von ihrer Vergangenheit und ihrer Heimat Reykjavík. Doch vorher muss mit langjährigen Gegnern abrechnen. Ihr ganzes Leben steht auf dem Spiel. Nach ›Die Schlinge‹ und ›Das Netz‹ folgt mit ›Der Käfig‹ das große Finale der mitreißenden Spannungstrilogie aus Island!

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Seitenzahl: 1095

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Über die Bücher

»Das Netz«

Bei einer schmutzigen Scheidung verliert die junge Mutter Sonja das Sorgerecht für ihren Sohn. Verzweifelt setzt sie alles daran, ihn zurückzubekommen, kann sich aber keinen teuren Anwalt leisten. Mit dem Rücken zur Wand lässt sie sich darauf ein, Kokain nach Island zu schmuggeln. Nur bis sie genug Geld hat, um für ihren Sohn zu sorgen, sagt sie sich. Doch schon bald merkt sie, dass es keinen einfachen Ausstieg aus dem rücksichtslosen Drogengeschäft gibt. Es entspinnt sich ein komplexes Netz der Kriminalität und viel zu spät erst bemerken sie, dass jeder Versuch, sich daraus zu befreien, sie sich nur noch tiefer darin verstrickt …

»Die Schlinge«

Sonja glaubt, dass sie endlich dem Netz entkommen ist, in das sie von skrupellosen Drogenbaronen gelockt wurde. Doch das Glück währt nur kurz: In einem unachtsamen Moment verschwindet ihr Sohn erneut. Sonja ist sich sicher, dass ihr Ex-Mann dahintersteckt, und macht sich verzweifelt auf den Weg nach Reykjavík, zurück in die Welt der Kriminalität. Sie schwört sich: Diesmal wird sie nicht nur alles tun, um ihren Sohn zurückzubekommen, sondern sich auch an denen rächen, die ihr das Leben zur Hölle machen. Diesmal ist sie zu allem bereit.

»Der Käfig«

Sonja wünscht sich nichts sehnlicher, als ein normales Leben zu führen. Alle Brücken wollte sie hinter sich abbrechen und in London neu anfangen, weit weg von ihrer Vergangenheit und ihrer Heimat Reykjavík. Doch vorher muss mit langjährigen Gegnern abrechnen. Ihr ganzes Leben steht auf dem Spiel. Nach ›Die Schlinge‹ und ›Das Netz‹ folgt mit ›Der Käfig‹ das große Finale der mitreißenden Spannungstrilogie aus Island!

Über die Autorin

© Gunnlöd

Lilja Sigurðardóttir wurde 1972 in der isländischen Kleinstadt Akranes geboren und wuchs in Mexiko, Spanien und Island auf. Bereits mehrfach ausgezeichnet für ihre Theaterstücke, wurde sie mit ihrer Island-Trilogie auch einem internationalen Publikum bekannt. Der erste Band der Reihe, ›Das Netz‹, erschien 2020 bei DuMont, gefolgt von ›Die Schlinge‹ und ›Der Käfig‹ (2021). 2022 erschien der Thriller ›Betrug‹.

Lilja Sigurðardóttir

DAS NETZ

DIE SCHLINGE

DER KÄFIG

Die gesamte Island-Trilogie in einem eBook

Aus dem Isländischen von Anika Wolff (›Das Netz‹ und ›Der Käfig‹) und Tina Flecken (›Die Schlinge‹)

Die Übersetzungen wurden finanziell unterstützt vom

Die Arbeit der Übersetzerinnen an den vorliegenden Texten ›Die Schlinge‹ und ›Der Käfig‹ wurden außerdem vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert

Vollständige eBook-Ausgabe der auf Deutsch im DuMont Buchverlag erschienenen Werke ›Das Netz‹ (© 2020), ›Die Schlinge‹ (© 2020) und ›Der Käfig‹ (© 2021)

eBook 2023

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Die isländischen Originalausgaben erschienen 2015 unter dem Titel ›Gildran‹ (© Lilja Sigurðardóttir 2015), 2016 unter dem Titel › ›Netið‹ (© Lilja Sigurðardóttir 2016) und 2017 unter dem Titel ›Búrið‹ (© Lilja Sigurðardóttir 2017) bei Forlagið, Reykjavík

This translation published by arrangement with Forlagið, Reykjavík and Arrowsmith Agency, Hamburg

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Übersetzung von ›Das Netz‹ und ›Der Käfig‹: Anika Wolff

Übersetzung von ›Die Schlinge‹: Tina Flecken

Redaktion: Friederike Arnold

Satz: Fagott, Ffm

Covergestaltung: Miriam Schneider

Coverabbildungen: Jökulsárlón, Iceland © Foto von Valeriia Bugaiova auf Unsplash

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook: 978-3-8321-6090-6

www.dumont-buchverlag.de

LiljaSigurðardóttir

DASNETZ

EIN REYKJAVÍK-KRIMI

Aus dem Isländischenvon Anika Wolff

NOVEMBER – DEZEMBER 2010

1

Der Becher war längst leer. Sonja stand an dem runden Tisch und tat so, als würde sie immer noch von ihrem Take-away-Kaffee trinken, während sie die Schlange am Check-in beobachtete. So spät am Abend ging es am Flughafen Kopenhagen-Kastrup ruhig zu, und nur noch wenige Maschinen warteten auf den Abflug. Die Broschüre von Samsonite lag vor ihr auf dem Tisch, und sie blätterte darin, obwohl das eigentlich nicht nötig war. Sie kannte sie in- und auswendig und wusste noch genau, welche Modelle sie beim letzten Mal auf diesem Flughafen markiert hatte. Noch gut zwei Stunden bis zum Abflug nach Island, doch gedanklich stellte sie sich darauf ein, nicht einzuchecken, sondern die erste Maschine am nächsten Tag zu nehmen, in der sie auch einen Platz gebucht hatte. Plan B. Man brauchte immer einen Plan B. Es war egal, ob sie mit der Abend- oder mit der Morgenmaschine flog, sie war für alles gerüstet. Sie hatte schon oft die Abreise aufgeschoben oder eine andere Route genommen, wenn etwas nicht klappte oder sie ein ungutes Gefühl hatte. Zu Hause wartete niemand auf sie, und sie war es gewohnt, in Flughafenhotels zu übernachten.

Während Sonja sich auf Plan B einstellte, sah sie die Frau den Flughafen betreten. Sie ging schnell, bis sie die lange Schlange am Check-in sah. Sonja meinte, sie förmlich aufatmen zu hören. Sie war perfekt. Groß und blond, eine typische Isländerin. Als Sonja sich hinter ihr in die Schlange einreihte, spürte sie einen Stich in der Magengrube. Diese fremde Frau hatte ihr nichts getan. Unter normalen Umständen hätten sie wahrscheinlich sogar ein bisschen miteinander geplaudert. Doch ein schlechtes Gewissen half jetzt nicht weiter. Die Frau passte einfach perfekt. Wegen des Koffers, den sie dabeihatte: ein anthrazitfarbener Samsonite-Titanium-Trolley. Und die Handtasche über ihrer Schulter ließ darauf schließen, dass sie den Koffer aufgeben wollte. Ein Glück, dass die Isländer so modebewusst waren – selbst was die Koffer anging.

Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts, und Sonja beobachtete die Frau, während die Passagiere daran erinnert wurden, ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Die Frau schien mit den Gedanken woanders zu sein, entweder hörte sie die Durchsage nicht, oder sie bezog sie nicht auf sich, denn sie warf noch nicht einmal einen kurzen Blick auf ihren Koffer, im Gegensatz zu den anderen Passagieren, die sofort nach ihrem Gepäck sahen, als die Durchsage ertönte. Gut, dass sie so entspannt war. Das vereinfachte die Sache für Sonja.

Sie musste innerlich schmunzeln, als sich hinter ihr eine Familie mit Kindern in die Schlange stellte. Das lief ja wie am Schnürchen.

»Bitte«, sagte sie. »Gehen Sie ruhig vor.«

»Wirklich?«, fragte der Vater und lenkte im selben Moment schon den Buggy um sie herum.

»Na klar, Kinder gehen vor«, sagte Sonja freundlich. »Wie alt sind sie denn?«

»Zwei und sieben«, antwortete der Vater und lächelte, wie Väter es oft taten, wenn sie von ihren Kindern sprachen. Sonja hatte schon oft versucht, die Bedeutung dieses Lächelns zu entschlüsseln, und war immer zu dem Ergebnis gekommen, dass es hauptsächlich Stolz war. Sie überlegte, ob Adam wohl immer noch so lächelte, wenn er von Tómas sprach, doch sie hatte Adam seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, höchstens aus der Ferne. Ihre gesamte Kommunikation lief über Kurznachrichten ab, in denen es ausschließlich darum ging, wann Tómas abgeholt und wieder abgeliefert werden sollte. Die Familie vor ihr schob Kinder und Gepäck im Rhythmus mit der Schlange weiter, und Sonja kam es vor, als wäre es Jahrzehnte her, dass sie und Adam mit dem kleinen Tómas verreist waren. Damals hatten sie sich oft von Kleinigkeiten stressen lassen, wussten noch nicht, wie kostbar es war, keine echten Sorgen zu haben. Die Sorgen und Nöte von damals wirkten in der Rückschau so unglaublich unbedeutend. Seit Sonja in die Falle geraten war. Wie schmerzhaft der Gedanke an die Vergangenheit noch immer war. Vor allem Kinder brachten sie leicht aus der Fassung. Der größere Junge war sieben, aber bestimmt schon genauso groß wie Tómas. Zumindest wie der Tómas, den sie zuletzt gesehen hatte. Seitdem war er sicher schon wieder gewachsen. Er schien jede Woche ein weiteres Stück in die Höhe zu schießen.

Die blonde Frau mit dem Samsonite-Trolley stand jetzt am Check-in-Schalter, und da die Familie ja vor ihr dran war, konnte Sonja sich vergewissern, dass die Frau ihren Koffer auch wirklich aufgab. Als sich der anthrazitfarbene Trolley auf dem Gepäckband in Bewegung setzte, war Sonja an der Reihe, und sie merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Anfangs hatte sie noch ein schlechtes Gewissen wegen des Herzklopfens und des Nervenkitzels und des guten Gefühls gehabt, das sich daraufhin einstellte, doch inzwischen wusste sie, dass das hier ohne eine gewisse Lust am Nervenkitzel gar nicht funktionieren würde. Wer diesen Druck nicht aushielt, begann zu zittern oder verriet sich durch nervöse Blicke. Das konnten nur Leute machen, die entspannt waren, äußerlich unauffällig, und die über eine außergewöhnlich hohe Stresstoleranz verfügten – wie Sonja. Und es schadete auch nicht, klug und vorsichtig zu sein. Vor allem vorsichtig musste man sein.

»Kein Gepäck?«, fragte die Dame am Schalter, und Sonja schüttelte lächelnd den Kopf. Sie gab der Frau ihren Pass, und als sie ihn samt Bordkarte zurückbekam, hörte sie ihren Herzschlag wie rhythmische Trommelschläge im Ohr.

2

Tómas faltete zwei T-Shirts zusammen, legte sie in seine Reisetasche und beschloss, auch den orangefarbenen Pulli mitzunehmen, den Mama ihm geschenkt hatte. Papa fand zwar, dass das eine Mädchenfarbe war, aber Mama und er sahen das anders, schließlich trug auch die holländische Fußballnationalmannschaft orange Trikots. Aber von Fußball hatte Papa keine Ahnung. Er interessierte sich nur für Golf, und ehrlich gesagt war Tómas auch froh darüber, denn nach der Trennung, als Mama nach Reykjavík gezogen war, war Papa zum ersten Mal mit zum Fußballtraining gekommen und hatte ihm vom Spielfeldrand aus dumme Bemerkungen zugeschrien, er solle auf diesen oder jenen losgehen, nicht wie ein Idiot kicken und nicht wie ein Mädchen rennen. Da ging Tómas lieber allein zum Training. Bei Turnieren entdeckte er manchmal Mama auf der Tribüne, die ihm zuwinkte und den Daumen hochstreckte, und er merkte an ihrem Lächeln, dass sie stolz auf ihn war und ihn gern über den Platz rennen sah, auch wenn er nie ein Tor schoss. Er hoffte, dass Papa Mama irgendwann erlaubte, zu den Turnieren zu kommen, damit sie nicht mehr heimlich dort auftauchen musste, um ihn wenigstens aus der Ferne zu sehen. Dann würde sie bei den anderen Müttern sitzen, mit einer Proviantbox, und ihn in der Halbzeitpause in den Arm nehmen.

Tómas holte den Kniffel-Becher und verstaute auch ihn in der Tasche. Letzten Monat hatte er Mama gefragt, ob sie Kniffel spielen wolle, und sie war ganz geknickt gewesen, dass sie keine Würfel hatte. Das wollte er jetzt ändern und die Würfel dann auch gleich dalassen. Bei Papa spielte sowieso niemand Kniffel.

»Packst du jetzt schon?« Papa klang gereizt, wie immer wenn es um Mama und die Wochenenden bei ihr ging.

»Ja, ich will damit fertig sein«, sagte Tómas und schloss die Tasche, damit Papa den Würfelbecher und den orangefarbenen Pulli nicht sah. Wenn er sich ins Packen einmischte, gab es immer Stress. Das machte Tómas dann lieber selber, und zwar rechtzeitig, sodass er, wenn Mama ihn abholte, Papa nur noch ein Küsschen geben, »bin fertig« sagen und zum Auto rennen musste.

3

Bei der Sicherheitskontrolle löste Sonja ihren Gürtel, rollte ihn auf und legte ihn zu ihrem Mantel und den Schuhen in die Wanne. Am Gürtel war das einzige Metall, das sie noch am Körper trug. Ohrringe und Ringe hatte sie bereits abgenommen und in die Manteltasche gesteckt. Sie wusste, dass das eigentlich nicht nötig war, doch sie wollte nicht riskieren, abgetastet zu werden, obwohl das Päckchen so sicher zwischen ihren Beinen verstaut war wie eine Damenbinde und die Kontrolleure sie nie bis zum Schritt abtasteten. Aber sicher war sicher. Am besten machte man alles hundertprozentig. Sie hielt den Atem an, als sie durch den Metalldetektor schritt, dabei wusste sie, dass er nicht anschlagen würde. Sie lächelte kurz den Kontrolleuren zu und nahm ihre Tasche vom Band. Darin war nichts Verdächtiges, nur ihr Portemonnaie, ihr Pass, die Bordkarte, Lippenbalsam, Puderdose und Kamm, eine angebrochene Packung Kaugummis, ein zerfleddertes Taschenbuch mit Knick in der Seite, auf der sie gerade war, und natürlich die Samsonite-Broschüre.

Vor ihr ging die Familie zur Abflughalle, und Sonja schlug schnell die entgegengesetzte Richtung zum Taschenladen ein. Im Duty-free-Bereich war wenig los, und sie bekam einen Schreck, als sie sah, wie viele Geschäfte geschlossen waren. Die Flughafenshops orientierten ihre Öffnungszeiten oft daran, wie viel Betrieb auf dem Flughafen war. Aber jetzt hatte sie sich für Plan A entschieden, und es gab kein Zurück mehr. Jetzt musste es einfach klappen. Sie ging so schnell, wie es das Päckchen im Schritt erlaubte, und atmete erleichtert auf, als sie die offene Tür des Taschenladens sah. Sonja wünschte der Verkäuferin einen guten Abend und begann schon im selben Moment, die Regale abzuscannen. Da stand er, auf dem untersten Regalbrett in der Ecke, der Samsonite-Titanium-Trolley. Sonja nahm ihn aus dem Regal und schüttelte den Kopf, als die Verkäuferin sie darauf hinwies, dass sie ein neueres Modell zu einem günstigeren Preis bekommen könne. Dieser Koffer war der richtige.

Sonja zog ihn hinter sich her zur Damentoilette und schloss sich in der großen Kabine ein, die für Mütter mit kleinen Kindern gedacht war. Dort knibbelte sie das Preisschild ab, öffnete den Koffer und verstaute ihre Handtasche darin, nachdem sie das Buch und ihr Portemonnaie samt Bordkarte und Pass herausgenommen hatte. Jetzt war nichts mehr in der Handtasche, über das man ihren Namen herausfinden konnte. Dann schob sie den engen Kostümrock hoch, zog die Strumpfhose runter, dann die Bauchweghose und nahm das schweißnasse Päckchen heraus. Sie trocknete es mit Toilettenpapier ab und schob es in das Reißverschlussfach des Trolleys. Jetzt musste sie ihn nur noch mit irgendetwas auffüllen.

Draußen hielt Sonja nach etwas Voluminösem Ausschau, um den Koffer schnell vollzukriegen, und dachte wie immer an Tómas. Sie kaufte ihm einen Teddy mit dänischer Flagge, eine große Keksdose mit der dänischen Königsfamilie darauf und eine riesige Tüte mit verschiedenen Schokolädchen für seine Geburtstagsparty. An der Kasse packte sie noch ein geringeltes T-Shirt und eine dieser Zeitschriften mit Fußballbildern zum Aufkleben dazu, die Tómas so gern mochte. Sie setzte sich auf eine Bank, und nachdem sie die Einkäufe im Koffer verstaut hatte, war er voll. Sonja stand auf und zog den Koffer zu einem Parfümstand, den sie auf dem Weg zum Taschenladen gesehen hatte, denn bei einer Frau wie ihr erwartete man zumindest eine Tüte mit Kosmetika.

Der schönste Moment auf diesen Reisen war für Sonja immer, wenn die Maschine vom Boden abhob. Vielleicht lag es an der unglaublichen Kraft des Flugzeugs, die sie spürte, wenn ihr Körper in den Sitz gepresst wurde, oder an der Gewissheit, dass sie einen Flughafen bewältigt hatte. Vor ihr lag eine entspannte Reise am hohen Himmel, außerhalb jeglicher Gerichtsbarkeit. Sie schob sich einen Kaugummistreifen in den Mund, steckte das Buch in die Sitztasche vor sich und sah auf dem Touchscreen nach, ob es neue Kinofilme gab. Doch sie hatte schon alle gesehen, erst zum Monatsende würde das Programm geändert. In der Regel machte sie zwei Touren im Monat. Auf diesem Flug würde sie lesen. Bis die Stewardessen mit ihren Wagen kamen, herrschte Ruhe in der Maschine. Sonja beugte sich leicht in den Gang und zählte alle Hände, die sich an den Lehnen festkrallten. Ein merkwürdiger Gedanke, dass auch sie mal eine Passagierin mit Flugangst gewesen war. Bevor das hier begonnen hatte.

4

Bragi zog den Krawattenknoten fest und fuhr sich einmal mit dem Kamm durchs steingraue Haar. Er fühlte sich immer erleichtert, sobald er bei der Arbeit war, als ob ihm irgendeine Last von der Seele fiele. Dass Leute Angst hatten, an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen, konnte er schwer nachvollziehen, und es nervte ihn unsäglich, wie die jungen Zollbeamten auf den Feierabend lauerten. Er genoss jede Stunde Arbeit, hier war immer etwas los, selbst die ruhigste Nachtschicht hielt Überraschungen bereit. Einfach unglaublich, was die Leute alles ins Land schmuggeln wollten. Letzte Woche hatte er einen nervösen Mann gestoppt, der Hunderte lebende Frösche in Plastikkisten in seinem Gepäck versteckt hatte, und letzten Monat eine Frau mit einem riesigen Käsestück unter der Kleidung. Der Käse war aus nicht pasteurisierter Milch, deshalb hatte Bragi ihn beschlagnahmt und ein Bußgeld verhängt, für das er sich wüste Beschimpfungen der Frau hatte anhören müssen. Aber das waren die Spinner, und die änderten sich nicht, auch wenn sich vieles andere geändert hatte in den dreißig Jahren, die er inzwischen beim Zoll war. Damals wurde vor allem Bier geschmuggelt und hin und wieder etwas Haschisch. Und Salami. Als bekämen die Isländer Heißhunger auf Salami, sobald sie die Landesgrenzen verließen.

Heute konnte man in jedem Supermarkt dänische Salami kaufen, Bier war längst legal, und statt Haschisch wurden stärkere Drogen ins Land geschmuggelt. Einen Großteil der Arbeit machte inzwischen die Zusammenarbeit mit der Polizei und dem Analyseteam des Zolls aus, das die Wege verdächtiger Personen ins Land und wieder heraus verfolgte. Doch trotz der Röntgenausstattung, des Kamerasystems, der Ionenmobilitätsspektrometer und der Hunde schien es, als wären die Schmuggler immer einen Schritt voraus. Er verstand nicht, dass viele Landsleute proaktiver Polizeiarbeit gegenüber so negativ eingestellt waren. Er selbst fand das selbstverständlich. Die Leute vom Zoll erkannten diese Typen, die ganz offensichtlich etwas im Schilde führten, doch weder sie noch die Polizei konnten sie dingfest machen. Die Drogenbranche schien sich sofort an jede Situation anzupassen. In letzter Zeit hatte er zum Beispiel das Gefühl, dass in die kleinen Drogenkuriere kein Vertrauen mehr gesetzt wurde, sondern dass sie in erster Linie als Lockvögel dienten – mit ein paar Gramm geopfert, um die Aufmerksamkeit von den großen Lieferungen abzulenken. Damit wurden keine schwitzenden Junkie-Kids losgeschickt. Das übernahmen richtige Leute. Bragi steckte seine Karte in die Stempeluhr. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn beim Klacken des Stempels. Diese Stempeluhr stammte noch vom alten Flughafen. Sie war die Konstante, während sich alles andere änderte.

Im Moment ging es auf dem Flughafen ruhig zu, und es wurden an diesem Abend auch fast nur noch Linienflüge erwartet, Amsterdam, London, Kopenhagen. Wegen der Grippe, die dieses Jahr unter den Isländern besonders heftig zu grassieren schien, war das Team unterbesetzt, und so beschloss Bragi, heute keine Stichproben zu machen. Zumal von den Analyse-Kollegen keine besonderen Hinweise gekommen waren. Dies schien ein ganz normaler Dienstagabend zu werden. Sie waren zu zweit in der Gepäckhalle, und er schickte die junge Aushilfe, deren Namen er sich beim besten Willen nicht merken konnte, zum Kaffeekochen, während er sich ans Fenster stellte und zusah, wie die Leute die Treppe herunterkamen.

Die Bewegungen der Menschenmenge waren ihm vertraut, nicht zum ersten Mal erinnerte ihn dieser Anblick der vielen Leute auf engem Raum an den Schafabtrieb. Er schaute auf den Strom, ohne sich auf einzelne Personen zu konzentrieren, sondern wartete darauf, dass jemand hervorstach. Jemand, der sich nicht im Takt mit den anderen bewegte. Jemand, der ängstlich wirkte. Am Fuß der Treppe teilte sich die Menge wie üblich, zwei Drittel gingen in den Duty-free-Shop, ein Drittel lief direkt zum Kofferband und wartete auf das Gepäck. Als die Leute ihre Koffer vom Band nahmen, versuchte er abzuschätzen, wie viel jeder Einzelne dabeihatte, doch außer bei den Leuten mit Kindern schien alles im Rahmen zu sein, und jetzt in der Krise konnte er es ihnen nicht verübeln, dass sie den Nachwuchs im Ausland ausstaffierten. Eine Familie hatte acht schwere Koffer, aber er ließ sie mit den schläfrigen Kindern ziehen. Hatte einfach keine Lust, sie aufzuhalten.

An diesem Abend stach niemand wirklich hervor. Der Großteil waren ausländische Touristen, plus ein paar Stammgäste, Leute, die beruflich regelmäßig flogen. Viele Gesichter kannte er. Die Frau des Präsidenten, der berühmte Geiger, der jede Woche nach London flog, und die schöne Frau im Mantel, die ebenfalls im Ausland zu arbeiten schien und ein paarmal im Monat flog. Sie war recht klein und zierlich, hatte aber die Eleganz eines Filmstars, und aus irgendeinem Grund musste er sie immer wie gebannt anstarren. Jedes Mal überlegte er, ob das wohl an ihrer schicken Kleidung oder an etwas anderem lag.

Alles war wie immer, und es passierte nichts Aufregendes, doch Bragi holte tief Luft und seufzte zufrieden. Er war hier am richtigen Ort, und er würde so lange bleiben, wie es ging. Dem ganzen Rentengefasel zum Trotz hatte er nicht vor, sich von hier wegzubewegen.

5

Sonjas Herzschlag beschleunigte sich sofort wieder, als sie in Keflavík von Bord ging. Der Flug war entspannt gewesen, aber jetzt hatte sie das Gefühl, ihr Brustkorb würde zerspringen. Sie hatte schon oft überlegt, wo die Polizei wohl auf sie warten würde. Auf der Gangway rechnete sie jedes Mal damit, abgefangen zu werden, aber wahrscheinlicher war, dass es erst beim Zoll passierte. Erst da betrat man ja wirklich das Land. Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich bei der Landung immer diese Gedanken machte, denn niemand wusste von ihren Reisen, sie hatte niemandem mitgeteilt, wann genau sie mit dem Stoff kam, und sie arbeitete immer allein. Ganz allein. Das war die Bedingung gewesen, die sie gestellt hatte, als sie in die Falle geraten war. Wenn man da überhaupt von Bedingung sprechen konnte. Sie war eigentlich gar nicht in der Position gewesen, Bedingungen zu stellen. Aber sie hatte ihnen gesagt, dass sie ihr freie Hand geben müssten, dass sie es so machen würde, wie sie es für richtig hielt. Und damit waren sie seit mehr als einem Jahr zufrieden. Sie kriegten ihren Stoff immer in der gewünschten Woche, es war noch nie etwas schiefgegangen. Und sie wussten, dass sie sich hundertprozentig auf sie verlassen konnten. Wegen Tómas.

Der Flughafenkorridor war wichtig. Auf dem Gang hingen Kameras, die vom Zoll überwacht wurden, daher durfte man nichts Verdächtiges tun, wie zum Beispiel direkt nach der Landung auf die Toilette zu verschwinden oder sich hinzusetzen und das Gepäck neu zu ordnen. Und auf keinen Fall durfte man sich suchend umsehen oder erkennen lassen, dass man von den Überwachungskameras wusste. Vor Abflug war Angst auf dem Flughafen normal, aber nicht nach der Landung. Genauso wenig durfte man zu straight oder eilig wirken. Am besten lief man zügig in den Korridor, gähnte ein paarmal demonstrativ, blieb vielleicht stehen, weil man einen Schuh zubinden musste, und auf jeden Fall grüßte man freudig, falls man jemandem begegnete, den man kannte.

Auf dem Flughafenkorridor schlüpfte Sonja in das Ich, das sie erschaffen hatte, und dementsprechend kam er ihr immer zu kurz vor. Sie blickte in das erste Werbefenster, an dem sie vorbeikam, nicht um sich die Reklame anzusehen, sondern ihr eigenes Spiegelbild. Begutachtete im Vorbeigehen den dunklen Rock, die weiße Bluse und den Wollmantel. Sie war eine Businessfrau, war Teil des Geschäftslebens, reiste beruflich. Sie bückte sich und zupfte die Ferse ihrer Nylonstrumpfhose zurecht, die verrutscht war, als sie im Flieger ihre Schuhe wieder angezogen hatte. Italienische Lederschuhe, elegant, aber nicht zu sexy. Schuhe, die eine typische Businessfrau bei der Arbeit tragen würde. Sie lief weiter und vergegenwärtigte sich noch einmal ihre Story: Sie führte ihr eigenes Softwareunternehmen, S.G. Software, es war zwar eine kleine Firma, aber recht erfolgreich. Sie war sowohl in Island als auch im Ausland tätig. Arbeitete vor allem in beratender Funktion, kümmerte sich aber auch um die Wartung von Computersystemen – die wichtigsten Infos waren auf der Website des Unternehmens zu finden. An guten Tagen glaubte sie beinahe selbst daran; an schlechten war die Versuchung groß, am Ende des Korridors stehen zu bleiben und ihrem wahren, verwerflichen Ich in die Augen zu blicken, der Frau, die nie in einem Business gewesen war, der Frau, die Leute dafür bezahlt hatte, dass sie ihr eine Fakeseite für ein erfundenes Unternehmen bauten, der Frau, die in Wirklichkeit nichts konnte.

An diesem Abend aber war Sonja gut drauf und spürte förmlich, wie sie vor Selbstbewusstsein strotzte. Am Ende des Korridors beschleunigte sie ihre Schritte, damit sie die blonde Frau im Blick behielt, und jubelte innerlich, als diese tatsächlich auf den Duty-free-Shop zusteuerte. Sonja hingegen stellte sich ganz hinten ans Gepäckband. Binnen kürzester Zeit würden sich Menschen, Kofferwagen und Gepäck zwischen sie und das Kontrollfenster des Zolls schieben. Und tatsächlich kam der anthrazitfarbene Samsonite-Koffer der blonden Frau auch erst, als sich die Leute am Band drängten und alle damit beschäftigt waren, ihr Gepäck zu finden. Sonja nahm den Koffer, stellte ihn neben ihren und betrachtete eine Weile die beiden identischen Trolleys, als überlegte sie, welcher wohl der richtige war, und legte schließlich ihren eigenen aufs Band. Dann ging sie in den Duty-free-Shop, griff sich irgendetwas aus dem Regal und reihte sich in die Schlange ein, ein Stück hinter der blonden Frau, die sich mit Süßigkeiten für das gesamte Jahr einzudecken schien.

Während Sonja bezahlte, nahm die Frau ihren Koffer vom Band und ging damit selbstbewusst durch den Zoll, völlig ahnungslos, was sie da im Gepäck hatte. Sonja folgte ihr, ruhig und genauso selbstsicher, mit dem harmlosen Gepäck. Die Ankunftshalle war völlig überfüllt, wie immer zu dieser Tageszeit. Bei Reisen über den Atlantik wurde es immer beliebter, in Island Zwischenstopp zu machen und eine oder zwei Nächte zu bleiben.

Sonja konnte die blonde Frau nirgends entdecken und kämpfte sich durch das Gedränge zum Ausgang in Richtung Parkplätze. Den linken Ausgang schien die Frau nicht genommen zu haben, daher rannte Sonja, so schnell es ihre Schuhe erlaubten, am Gebäude entlang zum rechten Ausgang, und da sah sie sie, in Begleitung eines Mannes, der offenbar gekommen war, um sie abzuholen.

»Entschuldigen Sie!«, rief Sonja. »Entschuldigung. Ich glaube, wir haben unsere Koffer vertauscht.« Die Frau drehte sich verdutzt um und musterte den Koffer, den der Mann für sie zog.

»Bitte?«, sagte sie und schien nicht ganz zu begreifen, was Sonja da sagte.

»Ich befürchte, ich habe Ihren Koffer vom Band genommen und Sie meinen«, antwortete Sonja mit einem freundlichen Lächeln.

»Oh mein Gott«, rief die Frau. »Entschuldigen Sie!« Sie nahm ihren eigenen Trolley entgegen und erklärte hektisch, sie habe gar nicht nachgedacht, als sie den Koffer vom Band genommen habe. Ihr Begleiter hingegen kontrollierte das Namensschild, ehe er Sonja ihren Trolley zurückgab. Genau wie ich, dachte Sonja, der will sich sicher sein. Erleichtert winkte sie ihnen nach und machte sich auf den Weg zum Langzeitparkplatz, wo ihr Auto stand, nach vier Tagen von einer dünnen Schicht Aschestaub bedeckt.

6

Tómas weinte leise unter der Bettdecke. Komisch, dass er Mama immer doller vermisste, je näher ihr Wiedersehen rückte. Das Warten fiel ihm so schwer. Jetzt waren es nur noch zwei Tage bis Freitag, doch die kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Alles war bereit. Die Tasche lag gepackt unter dem Bett. Er hatte sogar schon den Reisepass aus dem Wohnzimmerschrank geholt und unter den doppelten Boden der Tasche geschoben, wie Mama es ihm beigebracht hatte. Das war ihr Geheimnis. Er wusste nicht, warum Mama wollte, dass er seinen Pass dabeihatte, sie sagte bloß, dass es sicherer sei.

»Gute Nacht, Tómas!«, rief Papa durch den Türspalt, und Tómas murmelte unter der Decke eine Antwort, hoffte, dass Papa ihm nichts anmerkte. Doch er setzte sich auf Tómas’ Bett und zog ihm die Decke vom Kopf.

»Weinst du, mein Junge?«, fragte er. »Was ist los?«

»Nichts«, sagte Tómas und rieb sich die Nase.

»Ist irgendetwas in der Schule?«

»Nein.«

»Beim Fußball? War jemand gemein zu dir?«

»Nein.« Tómas schüttelte den Kopf und starrte an Papa vorbei an die Wand, in der Hoffnung, dass er ihn in Ruhe ließ. Er sollte aufhören, so nachzubohren, denn die wirkliche Antwort wollte er sicher nicht hören. Papa würde sich nicht freuen, wenn Tómas antwortete, dass er Mama vermisste und immer bei ihr sein wollte. Papa schob seine Hand unter die Decke, streichelte Tómas’ Bein und murmelte, dass alles gut werde und er nur müde sei, er solle versuchen zu schlafen, morgen früh sehe alles wieder viel besser aus. Papa gab sein Bestes. Er tat alles, was Väter tun sollten. Doch selbst wenn er ihm manchmal das Bein streichelte, gelang es ihm doch nie, ihn wirklich zu berühren.

7

Als Sonja vor dem Haus hielt, nach vielen Umwegen, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte, stand dort Aglas Wagen. Sie hatte ein besonderes Talent dafür, in den ungünstigsten Momenten aufzutauchen. Agla stieg sofort aus, als sie Sonja entdeckte, und sie trafen sich an der Eingangstreppe.

»Ich hab dich vermisst«, sagte Agla und küsste sie. Sonja roch, dass sie ordentlich einen sitzen hatte. Kein Wunder, nüchtern kam sie nie.

»Bist du betrunken gefahren?«

»Nach der Arbeit habe ich mir einen Drink gegönnt, und dann überkam mich plötzlich die Sehnsucht nach dir.«

»So wie du riechst, war das mehr als nur ein Drink«, sagte Sonja und steckte den Schlüssel ins Schloss. Agla folgte ihr hinein, zog ihren Mantel aus und warf ihn noch in der Diele auf den Boden.

»Komm her …« Sie zog Sonja an sich, schob ihre Hände unter Sonjas Bluse.

»Lass mich doch erst mal ankommen …«, protestierte Sonja, doch Agla fiel ihr ins Wort.

»Hör auf damit«, sagte sie. »Küss mich.« Sonja wandte den Blick ab, und für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, von der Routine abzuweichen und den Koffer einfach in der Wohnung zu lassen. Jetzt mit Agla ins Bett zu gehen und den Koffer erst morgen wegzuräumen. Ihre in Stein gemeißelten Sicherheitsvorkehrungen waren ja wahrscheinlich wirklich etwas übertrieben und dienten definitiv mehr ihrem persönlichen Sicherheitsgefühl, als dass sie tatsächlich das Risiko minimierten, gefasst zu werden. Zum Beispiel wechselte sie regelmäßig das Auto. Änderte regelmäßig die Einfuhrmethode. Deponierte möglichst nichts bei sich zu Hause und ging unter die Dusche und zog frische Sachen an, sobald sie den Stoff verpackt hatte. Sie hatte sich geschworen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um nicht aufzufliegen, und jetzt aus einer leidenschaftlichen Anwandlung heraus nachlässig zu sein, kam nicht infrage. Sie hatte sich schon einmal die Finger verbrannt. Und zwar heftig.

»Geh schon mal ins Bett, und warte dort auf mich«, sagte sie und schob Agla von sich. »Ich gehe noch kurz duschen.« Als Agla im Schlafzimmer verschwunden war, nahm Sonja den Schlüssel und öffnete leise die Wohnungstür. Lautlos trug sie den Samsonite-Trolley die teppichbezogene Treppe hinunter und schlich sich zu den Abstellräumen. An ihrem eigenen Abstellraum ging sie vorbei, lief weiter bis zu dem der Eheleute aus dem zweiten Stock, die ein Jahr in Spanien verbrachten. Sie suchte den kleinsten Schlüssel am Bund heraus und öffnete das Vorhängeschloss. Dann schob sie den Koffer in den vollgestopften Verschlag und verschloss die Tür. Dies war eine der kleinen Sicherheitsvorkehrungen, an die sie sich hielt, um das Risiko zu senken. Sollte die Polizei diese Nacht kommen, war kein Koffer in ihrer Wohnung und auch nicht in ihrem Abstellraum. Es hatte sich gut gefügt, dass die Eheleute ihre Wohnung ohne Abstellraum vermietet hatten, solange sie im Ausland waren. Sonja hatte das Schloss aufgeschnitten und durch ein neues ersetzt und somit einen sicheren Ort geschaffen, den niemand betrat und der auch nicht mit ihr verknüpft war.

Leise rannte sie die Treppe hinauf, schlüpfte in ihre Wohnung und machte vorsichtig die Tür zu. Zog sich im Badezimmer aus und sprang unter die Dusche. Als sie ins Bett krabbelte, lag Agla leise schnarchend auf der Seite. Sonja schmiegte sich an ihren warmen Rücken und schloss die Augen. Das war das Schönste auf der Welt. So dicht bei ihr zu liegen und den Duft ihrer Haare zu einzuatmen.

8

Am nächsten Morgen schreckte Sonja aus dem Schlaf, als Agla versuchte, aus dem Bett zu kriechen, ohne sie zu wecken.

»Wohin gedachtest du zu gehen?«, sagte sie, nahm ihre Hand und zog sie zurück ins Bett. So leicht wollte sie Agla nicht entkommen lassen. Das gelang ihr viel zu oft. Kam abends betrunken und voll Leidenschaft, um am nächsten Morgen ohne Verabschiedung zu verschwinden. Aglas Haar stand in alle Richtungen, und Sonja nahm zärtlich ihren Kopf und strich es glatt. Es fühlte sich rau an, ganz anders als ihr eigenes Haar, und Sonja überlegte, ob das schon immer so gewesen war oder ob es daran lag, dass Agla ihre Haare blondierte. Sie stritt es zwar ab, dass sie gefärbt waren, doch am Ansatz schimmerte das Grau etwas durch. Aber Sonja hatte keine Lust, mit Agla zu streiten, sie zu dem Geständnis zu nötigen, dass sie in Wirklichkeit doch eine andere Haarfarbe hatte. Es gab Wichtigeres, das Agla ihr mal gestehen sollte, zum Beispiel ihre Gefühle.

Denn irgendwelche Gefühle musste sie doch für Sonja hegen, auch wenn sie nie darüber sprach. Sonst würde sie nicht immer wieder kommen und zu ihr ins Bett kriechen, ihr ständig Geschenke machen und nachts anrufen, um herauszufinden, wo sie war. Andererseits gab es einiges, was darauf hindeutete, dass es ihr doch nicht so ernst war. Ihr ausweichender Blick am Morgen, die Tage, an denen sie nichts von sich hören ließ, das verächtliche Schnauben, wenn Sonja andeutete, dass Agla möglicherweise auch lesbisch war. Sonja war sehr unzufrieden damit, wie ihre Beziehung lief, doch solange sie in der Falle saß, konnte sie nichts daran ändern. Andererseits passte es ihr auch ganz gut, dass Agla sich zu nichts verpflichten und das zwischen ihnen nicht als Liebesbeziehung anerkennen wollte, und sie war froh, dass sie neben dem Wohl ihres Sohnes nicht noch für das weiterer Personen verantwortlich war. Schon allein seinetwegen stand sie unter enormem Druck, da musste nicht auch Agla noch mit reingezogen werden.

Sonja wälzte sich auf den Rücken und zog Agla auf sich. Es fühlte sich gut an, wenn die größere und schwerere Agla sie mit ihrem Gewicht in die Matratze drückte.

»Warte kurz«, sagte Agla, richtete sich halb auf und zog den Vorhang ganz zu, damit kein Tageslicht mehr hereinfiel. Sie wollte nie Licht im Schlafzimmer haben, sondern immer im Dunkeln mit ihr schlafen. Einmal hatte Sonja eine brennende Kerze auf den Nachttisch gestellt, woraufhin Agla jeglichen Blickkontakt verweigert hatte. Seitdem hatte Sonja sich mit der Dunkelheit abgefunden. Die Dunkelheit bot Schutz. Schutz vor der Scham, die Agla quälte. Schutz vor der Angst, die sie selbst quälte.

9

Bragi genoss den Gang durch die kühle Morgenluft. Eine seltene Stille lag über dem Reykjavíker Viertel Vesturbær, und er wünschte, Valdís könnte sie mit ihm genießen. In ihren letzten gemeinsamen Jahren waren sie viel spazieren gegangen, auch noch als sie sich schon nicht mehr so gut zurechtfand. Da hatte er sie an der Hand genommen und auf Details aufmerksam gemacht, die er unterwegs entdeckte. Eine hübsch anzusehende moosbewachsene Wand, eine Katze, die sich unter einem Auto versteckte, rostrotes Laub, das an einem windigen Herbsttag über den Gehweg wehte. Heute könnte er zweimal zu ihr gehen. Wenn er früh genug dran war, würde es niemandem auffallen, wenn er am Nachmittag noch einmal kam, dann hatte es einen Schichtwechsel gegeben, und keiner würde ihn mitleidig ansehen und sagen: »Sie müssen nicht mehrmals am Tag kommen«, oder: »Sie müssen nicht so oft hier sein.« Er wusste, dass er das nicht musste, aber er wollte es. Er wollte entweder bei der Arbeit sein oder bei ihr. Allein zu Hause hielt er es nicht aus.

Sie saß am Frühstückstisch, als er kam, und er holte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich zu ihr.

»Hallo, Liebling«, sagte er. Sie blickte kurz auf und murmelte ein »Hallo«. Bei einem normalen Ehepaar hätte das beinahe als normale Kommunikation durchgehen können. Die möglicherweise ein wenig spröde Kommunikation eines spröden Paars, aber bei ihnen war das nie so gewesen. Nie hätte sie ihn ohne ein Lächeln begrüßt, ohne eine persönliche Ansprache, Liebling, mein Guter oder Liebster. So hatte sie ihn all die Jahre genannt.

Bragi nahm das Breischälchen und fütterte sie, einen Löffel nach dem anderen, und sie sah ihn an, eine Art Dankbarkeit lag in ihrem Blick, und er hoffte, dass sie tief in ihrem Inneren doch noch irgendetwas für ihn fühlte. Er hoffte, dass sie spürte, wie sehr sie ihm am Herzen lag, auch wenn sie ihn nicht mehr erkannte. Sie aß das Schälchen leer, und Bragi fragte nicht, ob sie noch mehr wollte, denn er wusste, dass sie jegliches Hunger- und Sättigungsgefühl verloren hatte und aß, was man ihr vorsetzte, egal, ob viel oder wenig. Vorsichtig wischte er ihr über den Mund und nahm ihr das Lätzchen ab, das ihn wahnsinnig störte. Mit grinsenden Elefantenbabys bedruckt sah es wie ein Kinderlätzchen aus, und obwohl es natürlich allein dem Schutz ihrer Kleidung diente, war er der Meinung, dass man einen anderen Weg finden könnte, als erwachsenen Menschen solche Babylätzchen umzubinden. Vieles an dieser Einrichtung missfiel ihm – was milde ausgedrückt war, nachdem er die blauen Flecken entdeckt hatte, doch er konnte seinen Ärger nicht zeigen. Er sollte einfach nur dankbar sein, dass sie an einem sicheren Ort war, wo sie beaufsichtigt und versorgt wurde. Seine Sehnsucht war nicht das Problem des Gesundheitssystems.

»Jetzt machen wir einen Spaziergang«, sagte er und half ihr auf die Beine. Gehorsam tippelte sie los, ohne jeglichen Ausdruck von Freude oder Angst. Sie war sehr umgänglich geworden, und in mancherlei Hinsicht war es leichter für ihn, seit sie ganz in den geistigen Nebel abgetaucht war, nicht mehr weinte, wenn er ging, nicht mehr enttäuscht war über ihr eigenes Unvermögen, keine Wutanfälle mehr bekam. Wenn auch um den Preis, dass sie ihn nicht mehr erkannte. Sie fuhren mit dem Lift nach unten und gingen in den Garten. Er legte ihr seine Jacke über die Schultern, und sie liefen einige Runden. Außerhalb des Gartens mit ihr spazieren zu gehen, traute er sich nicht mehr. Das brachte ihr nichts, und man konnte nie wissen, wann ihre Kräfte schwanden. Also drehten sie Runde um Runde im Garten. Sie machte drei kleine Schritte, wenn er einen machte, und obwohl keiner von beiden etwas sagte, fühlte er sich weniger einsam, wenn er bei ihr war. Sie mussten nicht reden, es gab nichts Ungesagtes zwischen ihnen, einzig diese Berührung zählte, ihre warme Hand an seinem Arm. Das war das Einzige, was geblieben war. Das Einzige, von dem er nie genug bekam.

10

Eilig durchwühlte Agla ihre Handtasche nach Schminke, unter der sie ihr knallrotes Gesicht verstecken konnte. Sie kam damit einfach nicht klar. Allein der Gedanke daran, was gerade eben im Bett vor sich gegangen war, trieb ihr die Röte ins Gesicht und ließ ihr Herz pochen. Das Schamgefühl, unter dem sie als Kind so gelitten hatte und dem sie eigentlich entwachsen war, hatte sich nach der Bekanntschaft mit Sonja wieder in ihrem Leben eingenistet wie ein ungebetener Gast. Anfangs hatte sie noch keine Scham verspürt, sondern nur diese intensive Spannung, die sie im Unterleib wahrnahm, sobald sie an Sonja dachte, und die ihren ganzen Körper durchströmte, sobald sie sich sahen. Eine erregende Spannung, die zu leidenschaftlichen Liebkosungen und nicht enden wollenden Küssen führte, zu Berührungen, die noch zu spüren waren, nachdem sie sich schon längst getrennt hatten. Doch als Adam, Sonjas Ehemann, sie in flagranti erwischt hatte, den kleinen Tómas im Schlepptau, war die Realität auf Agla eingestürzt wie ein Eimer Dreckwasser, und seitdem fühlte sie sich schmutzig. Alles zwischen ihr und Sonja war von diesem einen Moment verseucht. Vom Staunen des Kindes, der Panik im Gesicht des Ehemanns, der Ratlosigkeit in den Augen von Sonja, der unmittelbar nach dem Orgasmus klar wurde, dass ihr Leben nie mehr dasselbe sein würde.

»Willst du Toast?«, rief Sonja aus der Küche.

Agla räusperte sich. »Nein danke.«

»Aber Kaffee? Einen Kaffee trinkst du doch sicher, oder?«

»Nein, vielleicht später.«

»Komm her, und trink einen Kaffee. So eilig hast du es nicht. Ich bin mir sicher, dass du es nicht eilig hast.«

Zögerlich kam Agla in die Küche, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Sofort machte ihr Herz einen Sprung, wie immer, wenn sie sich in die Augen sahen. Doch er wurde von einem Stechen in der Magengrube begleitet, den nagenden Gewissensbissen, der Scham, die alles überschattete. Unglaublich, wie schnell Sonja immer in den Alltagsmodus switchen konnte. Kurz nachdem sie sich noch stöhnend mit Agla durchs nass geschwitzte Bett gewälzt hatte, mampfte sie Toast und las in der Zeitung, als gäbe es nichts Interessanteres.

»Der ist so ein Arsch«, sagte sie und klopfte mit dem Finger auf ein großes Porträt von Húni Þór Gunnarsson, einem jungen Mann, der dank dem guten Ruf seines Vaters, selbst jahrzehntelang Abgeordneter, ins Parlament gerutscht war.

»Ach ja?«, sagte Agla abwesend. Ihr Gesicht glühte immer noch.

»Ja, er und Adam, mein Ex, sind befreundet, daher weiß ich, was für ein Typ das ist.« Wenn irgendetwas Aglas Unwohlsein in diesem Moment noch steigern konnte, war es ein Gespräch über Adam. Und dass Sonja dann auch noch mein Ex hinzufügen musste, als wüsste Agla nicht, um wen es ging. Sie kannte Adam gut. Schon lange bevor er sie im Bett überrascht hatte. Sie hatte einige Jahre mit ihm in der Bank gearbeitet, und jetzt nach dem Crash hatte sie dasselbe Schicksal ereilt, weil sie beide die Nachforschungen des staatlichen Sonderermittlers über sich ergehen lassen mussten. Und es war Adam gewesen, der sie mit Sonja bekannt gemacht hatte.

11

Er bestimmte immer den Ort, sie die Zeit. Sie hatte kaum das Prepaid-Handy eingeschaltet, als er auch schon anrief und eine bestimmte Lichtung in der Heiðmörk vorschlug, einem Naturschutzgebiet am Rande der Stadt. An diesem Ort hatten sie sich schon mal getroffen, daher wusste Sonja, dass sie nicht lange brauchen würde, um sich zu orientieren.

»Zwei Uhr«, sagte sie. Das verschaffte ihr vier Stunden Zeit, um den Stoff zu strecken und im Gebüsch an der Lichtung ein gutes Versteck für den Koffer zu finden.

»Abgemacht, Schätzchen«, verabschiedete er sich schleimig. Allein beim Klang seiner Stimme lief Sonja ein kalter Schauer über den Rücken. Sie hätte so gern einen freien Tag gehabt, doch erst wenn sie den Koffer losgeworden war, konnte sie sich entspannen. Nach der Übergabe war sie immer erleichtert. Bis dahin saß sie wie auf glühenden Kohlen.

Sie schlüpfte in Jeans und T-Shirt und drehte das Haar zu einem Knoten. Sie hatte keine Lust, es zu kämmen. Sie war gestern Abend mit nassen Haaren eingeschlafen, und Agla hatte vorhin auch nicht gerade dazu beigetragen, sie zu entwirren. Beim Gedanken daran strahlte Sonja übers ganze Gesicht, und sie schwor sich, Agla öfter dazu zu zwingen, nüchtern mit ihr zu schlafen. Das gab dem Ganzen etwas Ernsthafteres. Ein bisschen so wie am Anfang. Bevor alles anders geworden war. Leise trat sie ins Treppenhaus und lief direkt der Nachbarin in die Arme, die dort im Bademantel stand.

»Jetzt muss ich Sie schon wieder behelligen«, sagte sie in diesem bekümmerten Ton, in dem sie immer von ihrem Computer sprach.

»Ich schätze, es geht um Ihren Computer?« Sonja lächelte freundlich und hoffte, dass ihre Ausführungen diesmal nicht ganz so ausführlich würden.

»Jetzt schuckelt er nur noch rum.«

»Er schuckelt rum?« Sonja konnte sich beim besten Willen keinen rumschuckelnden Computer vorstellen.

»Ja. Egal, auf welche Taste ich drücke, es tut sich nichts. Ich kann ihn noch nicht mal mehr ausschalten.«

»Okay, ich schaue ihn mir an.« Aus bitterer Erfahrung wusste Sonja, dass es nichts half, wenn sie der Frau erklärte, dass sie keine Computerreparaturen anbot. Da war es weniger zeitraubend, den Computer einfach mitzunehmen und eine Weile zu behalten, ein bisschen daran herumzufummeln und ihn ihr dann wieder zurückzugeben. Meist musste man ihn einfach nur neu starten. Sie hatte keine Ahnung, wie die Frau die Internetseite zu ihrer gefakten Softwarefirma gefunden hatte, denn Sonja hatte sie bei keiner Suchmaschine angemeldet. Doch aufgrund ihrer Website war die Nachbarin der festen Überzeugung, dass Sonja alles über Computer wusste.

»Sie sind ein Engel!«, rief die Frau, als sie mit dem Computer zurück auf den Flur eilte. »Wenn doch alle Computerleute so hilfsbereit wären wie Sie.« Im Rückwärtsgang schlüpfte Sonja zurück in ihre Wohnung und schloss die Tür, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass die Nachbarin ihr gefolgt war in der Hoffnung, mit hinein zu dürfen. Unter normalen Umständen hätte es durchaus nett sein können, dass eine mitteilsame Nachbarin auf einen Kaffee vorbeikam, und Sonja konnte sich auch vorstellen, irgendwann ein warmherziger Menschenfreund zu werden, der die Leute zu sich einlud. Aber nicht jetzt. Jetzt musste sie den Stoff zu seinem Eigentümer schaffen, und vorher war noch einiges zu tun.

12

Die Aufzugtür öffnete sich, und Agla lief zielstrebig am Empfang vorbei direkt in ihr Büro und schloss die Tür. Sie war so was von verkatert. Sonja hatte recht, sie kippte ganz schön viel, aber es fiel ihr eben schwer, ohne einen Schluck einzuschlafen. Seit dem Crash hatte sie das Gefühl, in der Luft zu hängen, während sie auf irgendein Ergebnis wartete, von dem sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie es ausfallen würde. Sie hatte ihren Job behalten, war in die neue Bank umgezogen, die auf den Ruinen der alten errichtet worden war, aber sie hatte nichts zu tun. Niemand vertraute ihr, sie arbeitete alles nur ab, wie am Fließband, Kreditversicherungen für kleine Unternehmen. Weitere Aufgaben bekam sie nicht. Nichts Herausforderndes. Keine für sie angemessene Arbeit. Nichts, was sie auch nur einen Funken interessierte. Alle warteten nur auf das Ergebnis des Sonderermittlers. Doch aus einem eigenartigen Trotz heraus fand sie es dennoch besser, jeden Tag in der Bank zu erscheinen und die misstrauischen Blicke der Kollegen zu ertragen, als einfach zu kündigen und nicht mehr zu kommen.

Agla hängte ihren Mantel auf, bemerkte, dass er ganz zerknittert war, und fragte sich, ob den Leuten am Empfang wohl aufgefallen war, dass sie noch dasselbe trug wie am Vortag. Sie setzte sich an den Schreibtisch, startete den Computer und sah sich ihre Mails an. Nachdem sie die allgemeinen Info-Mails von der Bank, alle Spam- und Werbe-Mails gelöscht hatte, waren noch drei Nachrichten übrig. So wenige, dass sie keine Lust hatte, sich damit zu beschäftigen. Vor dem Crash war sie mit den Mails kaum hinterhergekommen, in den letzten Jahren hatte sie sogar eine Sekretärin gehabt, damit sie ihre eigentliche Arbeit erledigen konnte. Sie öffnete die Schreibtischschublade und nahm die Jägermeisterflasche heraus, schraubte den Deckel ab und trank einen Schluck. Die scharfe Flüssigkeit brannte sich ihren Weg durch die Speiseröhre in den Magen und wärmte angenehm von innen. Nachdem sie dieses Gefühl einen Moment genossen hatte, war sie bereit, ihr Büro zu verlassen und den Blicken der Kollegen zu begegnen.

Auf dem WC nahm Agla ihren Lippenstift heraus und trug ihn auf. Was es aber auch nicht wirklich besser machte. Sie sah einfach mitgenommen aus. Die letzten Jahre hatten einen hohen Tribut gefordert. Der viele Alkohol tat ihr nicht gut, aber sie brauchte ihn zum Runterkommen. Wegen der unerträglichen Atmosphäre in der Bank, der Angst vor den Ergebnissen des Sonderermittlers und wegen Sonja. Sonja, die ihr den Verstand raubte.

Als sie aus dem WC kam, standen Gummi und Palli, die Typen vom Abwicklungsausschuss, am Kaffeeautomaten. Sie ähnelten sich so sehr, dass Agla fast ein Jahr gebraucht hatte, um sie auseinanderzuhalten, und immer noch konnte sie kaum glauben, dass sie nicht miteinander verwandt waren. Als wäre es nicht so schon kompliziert genug, kleideten sie sich auch noch genau gleich. Heute zum Beispiel trugen sie dünne Strickjacken in Pastelltönen über ihren Hemden mit offenem Kragen. Das war eines der belanglosen Details, die sich nach dem Bankencrash geändert hatten: Vor dem Crash kamen alle Männer mit Krawatte; jetzt trugen sie ihre Hemden offen. Gummi stellte einen Pappbecher in die Maschine und drückte auf Latte. Diese Kaffeemaschine produzierte einen absolut untrinkbaren Caffè Latte, aus Instantkaffee mit Milchpulver, aufgelöst in allenfalls pisswarmem Wasser. Ein weiterer Beleg für die Einbußen in puncto Lebensqualität in diesem Haus. Vor dem Crash hatte die oberste Etage ihren eigenen Barista gehabt, der den Milchschaum mit kleinen Herzen und Laubblättern verzierte.

»Hast du das von Jóhann gehört?«, fragte Palli und hielt ihr die neueste Ausgabe der Tageszeitung Fréttablaðið unter die Nase. Das lächelnde Gesicht von Jóhann blickte ihr entgegen, dem ehemaligen Direktor der alten Bank, und darunter stand: In den Untersuchungen des Sonderermittlers hat Jóhann Jóhannsson nun offiziell den Status eines Beschuldigten. Die Schlinge zog sich langsam zu.

13

Sonja legte das Päckchen auf den Küchentisch und öffnete es vorsichtig. Es war mit drei Schichten Plastik umwickelt, die äußerste sorgfältig mit Klebeband befestigt, darunter zwei Vakuumschichten. Mit dem großen Küchenmesser öffnete sie eine Schicht nach der anderen, dann füllte sie den Inhalt mit einem Löffel in eine Tupperdose um. Sie achtete darauf, dass nichts zurückblieb, fuhr zuletzt noch mit einem Pinsel über die Folie, um auch noch den letzten Rest zu erwischen. Sie stellte die Tupperdose auf die Küchenwaage: ein Kilo und hundertzwanzig Gramm. Die Box wog genau hundertachtzig Gramm, das zog sie ab. Ein knappes Kilo. Fünfzig Gramm konnte sie also ruhig nehmen. Sie füllte die Menge in einen kleinen Plastikbeutel ab, den sie im Gefrierfach deponierte, bis sie damit zum Bankschließfach gehen würde. Anschließend gab sie Backnatron in die Tupperdose, bis es genau ein Kilo war, und vermengte es gründlich mit dem Koks, aber vorsichtig, damit es nicht aufwirbelte und sie keinen Niesanfall bekam oder gar high wurde. Erstaunlicherweise hatte sie durch den Kokainschmuggel jegliches Interesse daran verloren, sich zuzudröhnen. Hin und wieder trank sie ein Glas Weißwein mit Agla, aber das kam nur selten vor; Kokain geschnupft hatte sie schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr. Seit sie in diese Falle geraten war, war es ihr wichtig, dass sie die volle Kontrolle über sich behielt und bei klarem Verstand war. Mit so viel Kokain in den Händen wurde man besser nicht abhängig, und das Gefühl, nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein, war dem Schmuggeln auch nicht gerade zuträglich. Daran hatte sich schon manch einer die Finger verbrannt. Sonja schloss die Tupperdose, umwickelte sie zusätzlich mit breitem Klebeband, legte sie in den Samsonite-Trolley und füllte den Koffer mit Zeitungen auf, die sich während ihrer Abwesenheit im Briefkasten angesammelt hatten.

Um kurz nach zwölf erreichte sie die Heiðmörk. Ein bisschen später zwar als geplant, doch zum Glück schien außer ihr niemand sonst dort zu sein. Sie ließ ihren Wagen etwa einen Kilometer vor dem Treffpunkt stehen und marschierte zügig mit dem Trolley los. Als sie sich der Lichtung näherte, bog sie in einen schmalen Trampelpfad, der neben dem Hauptweg verlief, und ging im Schutz der Bäume weiter, bis die Lichtung zu sehen war. Sie schob den Koffer unter einen Busch und knotete ein rotes Band an einen Ast. Dann ging sie mit großen Schritten auf die Lichtung zu und zählte. Nach zweiunddreißig Schritten hatte sie die Lichtung erreicht. Diesmal nahm sie den offiziellen Weg und lief schnell zurück zu ihrem Wagen, fuhr auf die Lichtung und wartete.

Das Warten war immer das Schlimmste. Trotzdem traute sie sich nie, erst kurz vorher zu kommen. Es fühlte sich einfach sicherer an, wenn sie als Erste vor Ort war und den Stoff schon versteckt hatte. Das gab ihr wenigstens ein bisschen das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben. Nur das Warten fiel ihr schwer. Obwohl sie diese Situation im vergangenen Jahr unzählige Male erlebt hatte, konnte sie sich einfach nicht daran gewöhnen. Vor allem mit Ríkharður hatte sie ein Problem. Mehrmals schon hatte sie Þorgeir vorgeschlagen, dass sie den Stoff jemand anderem übergeben oder ihn irgendwo deponieren könne, doch er ließ nicht mit sich reden. Aus irgendeinem Grund bestand er darauf, dass sie es Ríkharður gab. Vielleicht wollten sie ihr damit unter die Nase reiben, welche Stellung sie hatte. Sie an ihre Ohnmacht erinnern. Zumal Ríkharður sich jedes Mal große Mühe gab, sie fertigzumachen und ihr Angst einzujagen. Nach ihren ersten Begegnungen hatte sie sich übergeben müssen, doch inzwischen biss sie die Zähne zusammen und schwor sich im Stillen Rache. Auf keinen Fall sollte er ihr die Angst anmerken, diese Macht wollte sie ihm nicht zugestehen.

Um vier Minuten vor zwei fuhr der Wagen auf die Lichtung. Eines musste man dem Scheißkerl lassen: Er war pünktlich. Sonja holte tief Luft, stieg aus dem Auto und ging ein paar Schritte auf Ríkharður und seinen Zinnsoldaten zu. Jedes Mal hatte er jemand anders dabei, und trotzdem waren diese Typen irgendwie alle gleich. Jung, muskulös, nervös und für ihr Alter ein bisschen zu schick gekleidet.

»Na schön, Süße«, sagte Ríkharður und musterte Sonja seelenruhig von Kopf bis Fuß, wie eine Raubkatze ihre Beute, über die sie im nächsten Moment herfallen würde.

»Guten Tag«, antwortete Sonja trocken und förmlich. Jetzt hieß es standhaft bleiben und unbeirrt den Blickkontakt halten. Sich nicht angreifbar machen. Keine Schwäche zeigen. Den Zinnsoldaten ignorierte sie, als wäre er gar nicht da.

»Und? Hast du was Feines für uns?«, fragte Ríkharður und leckte sich mit der Zunge über die dicken Lippen. Dieser Auftritt war so überzogen, so übertrieben und lächerlich, dass Sonja laut losgeprustet und sich vor Lachen in die Hose gemacht hätte, wenn ihr nicht gleichzeitig angst und bange gewesen wäre. Er war ein Verbrecher, wie er im Buche stand, so typisch, dass sie schon der Gedanke beschlichen hatte, dass er in Wirklichkeit ein Schauspieler war, der ihr Angst einjagen sollte. Er hatte einen kahl rasierten Kopf, einen dicken Hals und Tattoos auf den Fingerknöcheln, und die Augen lagen so tief in den Höhlen, dass man kaum das Weiße darin sah. Das Gesicht war übersät mit Narben und der Körper so muskelbepackt, dass er breitbeinig stehen musste.

Sonja verzog keine Miene, sondern seufzte nur, um ihr Missfallen zum Ausdruck zu bringen, und sagte: »Dreißig Schritte geradeaus in diese Richtung. Rotes Band am Baum.«

»Immer diese Spielchen«, schnaubte Ríkharður. »Ist dir mal in den Sinn gekommen, mir einfach den verdammten Stoff zu geben und bitte schön zu sagen?«

»Nein«, antwortete Sonja. »Das ist mir nie in den Sinn gekommen.«

»Und mir als Zugabe einen zu blasen wohl auch nicht? Einige Mädchen machen das.«

»Nein, auch das nicht«, sagte Sonja, und ihr Blick wanderte unwillkürlich zu seiner Hand, mit der er sich in den Schritt fasste. Er grinste dreckig, und ihr lief ein kalter Schweißtropfen über den Rücken. Kalter Schweiß war etwas, das sie erst kennengelernt hatte, seit sie in dieser Falle steckte.

»Los, hol das Zeug, Kleiner«, befahl Ríkharður seinem Begleiter, der sofort ins Unterholz sprang und nach kurzer Zeit mit dem Samsonite-Trolley zurückkam.

»Ruf Þorgeir an«, sagte Sonja und blickte Ríkharður unverwandt in die Augen.

»Vielleicht sollte ich den Stoff erst testen«, erwiderte er und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.

»Die werden begeistert sein, wenn du deine Nase in das Zeug steckst, sobald du es in die Finger kriegst.« Sonja rang sich ein spöttisches Lächeln ab.

Ríkharður holte sein Handy raus, tippte in aller Ruhe die Nummer ein und hielt sich das Gerät ans Ohr.

»Hi«, sagte er. »Sie hat geliefert, alles okay.«

Im selben Moment machte Sonja auf dem Absatz kehrt und lief zu ihrem Auto, zwang sich, langsam zu gehen, setzte sich in den Wagen und fuhr davon. Erst als sie das Einkaufsviertel Skeifan erreichte, beruhigte sich langsam ihr Herzschlag.

14

In Vesturbær betrat Bragi den Lebensmittelladen Melabúð und nahm sich einen der großen Einkaufskörbe auf Rollen, obwohl es ein Ding der Unmöglichkeit war, ihn durch den engen Laden zu manövrieren. Er kam einmal die Woche her und kaufte, was auf seiner Einkaufsliste stand. Die Liste war immer dieselbe. Als Valdís’ Zustand sich immer weiter verschlechtert hatte, war ihm klar geworden, dass er lernen musste, für sich zu kochen, wenn er nicht verhungern wollte. Also hatte er sechs Gerichte gelernt. Montags gab es gekochten Fisch mit Kartoffeln, dienstags paniertes Kotelett, mittwochs gesengten Lammkopf, den er aber meist fertig zubereitet kaufte, donnerstags Lachs aus der Pfanne, freitags Eibrot und Tee und samstags Lammsteak, von dem er sonntags den Rest aß. Wenn er Nachtschicht hatte, kochte er abends, und wenn er tagsüber arbeitete, nahm er entweder einen Rest vom Vortag mit oder kaufte sich vor Ort etwas. Wobei ihn das Angebot am Flughafen nicht sonderlich überzeugte. Am liebsten kaufte er alles bei seinem Wocheneinkauf und holte zwischendurch nur noch frischen Fisch oder Milch für den Kaffee, wenn sie ihm ausgegangen war.

Die Schafsköpfe lagen kochend heiß in der Wärmetheke, direkt aus dem Topf. Bragi lief das Wasser im Mund zusammen. Er packte noch frisches Steckrübenmus dazu und arbeitete dann seine Liste ab. Irgendwie war es immer nett, hier einzukaufen, er kannte das Personal, und der Laden war eines der wenigen Geschäfte in Reykjavík, die noch an die alten Selbstbedienungsläden von früher erinnerten. Weil an der Kasse zwei Leute vor ihm waren, griff er sich eine Zeitschrift und blätterte darin. Er fand es immer erstaunlich, dass es in diesem kleinen Land offenbar einen unerschöpflichen Markt für solche Hochglanzzeitschriften gab, die ihm alle mehr oder weniger identisch vorkamen. Ohne sich groß auf den Inhalt zu konzentrieren, blätterte er die Zeitschrift durch, bis er an der Reihe war. Gewissenhaft verstaute er die Einkäufe in einer Tüte und das warme Essen in einer zweiten, etwas kleineren.

Er war erst wenige Schritte gegangen, als ihm plötzlich ein merkwürdiger Gedanke kam. Kein bewusster Gedanke, sondern vielmehr ein Gefühl oder eine Ahnung, ein Konglomerat aus ungeordneten Details, die sich auf einmal zusammenfügten. Er kehrte zum Laden zurück und kaufte die Zeitschrift. Auf dem Gehweg vor dem Geschäft stellte er die Tüten ab, setzte sich auf eine Bank und blätterte die Zeitschrift noch einmal durch. Da war es. How to dress for business and pleasure this winter, hieß der Artikel. Doch nicht der Artikel hatte sein Interesse geweckt, sondern die dazugehörigen Fotos. Darauf waren bildhübsche Models zu sehen, wie üblich in solchen Zeitschriften, die laut Artikel alle so gekleidet waren, dass sie sich direkt von der Arbeit ins Vergnügen stürzen konnten, und augenscheinlich war Büroarbeit gemeint, denn zu anderer Arbeit taugte diese Kleidung sicher nicht. Bragi sah sich ein Foto nach dem anderen an, immer wieder, und ganz allmählich kristallisierte sich in seinem Kopf ein Gedanke heraus. Die schöne Frau im Mantel, die ihm immer wie ein Filmstar vorkam und so oft den Flughafen passierte, war exakt wie diese Frauen gekleidet, als diente ihr dieser Artikel als Anleitung, der sie bis ins Detail folgte. Genau solche Hosen, genau solche Schuhe, dazu ein grauer oder brauner Mantel. Manchmal einen Kaschmirschal locker über den Arm gelegt. Natürlich hatten manche Frauen so einen Kleidungsstil, aber das Komische war, dass die Frau vom Flughafen nie davon abwich. Sie hatte nie etwas dabei, was andere Leute auf Reisen mithatten. Ein zerknittertes Halstuch, einen alten, ausgeleierten, aber bequemen Pullover, Schuhe, in denen es sich mit geschwollenen Füßen angenehmer durch die langen Flughafenkorridore laufen ließ. Sie sah immer perfekt aus, als wäre sie auf dem Weg zu einem Fotoshooting für eine dieser Zeitschriften, oder, wie es im Artikel hieß, als wollte sie gleich nach der Arbeit ausgehen. Aber in Wirklichkeit war niemand so perfekt, daher musste das eine Tarnung sein. Ein Kostüm, das ein bestimmtes Bild erwecken sollte. Wenn sein Verdacht stimmte, war ihr das ziemlich gut gelungen.

15

Nur äußerlich sah Jóhann unverändert aus. Innerlich war er ein völlig anderer Mensch. Er war schon immer beleibt gewesen, doch jetzt wirkte sein Körper erschlafft, das Hemd spannte über dem schwabbeligen Fleisch. Auch sein Haar war deutlich dünner geworden, auf dem Kopf waren nur noch vereinzelte Strähnen übrig, und auch um die Ohren sah es schütter aus. Doch er trug immer noch eine Krawatte zum Hemd, und als Agla ihn umarmte, nahm sie den guten, alten Rasierwasserduft wahr.

»So ein Mist«, sagte Agla und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Er hatte einen Lunch an einem ruhigen Ort im Reykjavíker Zentrum vorgeschlagen und einen Tisch in der hintersten Ecke gefunden, halb verborgen hinter einer großen Pflanze. Er, der früher auf jeder Party getanzt hatte, war auf einmal menschenscheu. Sicher eine Begleiterscheinung der Tatsache, dass er zu den Gesichtern des Wirtschaftskollapses gehörte. Agla machte drei Kreuze, dass nicht sie in dieser Situation war. Die schiefen Blicke und das distanzierte Verhalten der Kollegen in der Bank waren nichts im Vergleich dazu, sich auf der Straße anspucken zu lassen.

»Tja, ja, verdammter Mist«, seufzte Jóhann. »Schlimm für meine Kinder, ich auf den Titelseiten. Aber für mich ist das gar nicht so von Nachteil. Jetzt kann ich mich weigern, Fragen zu beantworten.«

»Stimmt, das wurde mir bei der letzten Vernehmung auch gesagt: Ich kann nur die Antwort verweigern, wenn ich den Status einer Beschuldigten habe.«

»Jeder Job hat seine Vorteile.« Jóhann hob sein Glas.

»Wie bitte? Willst du gar nicht anständig mit mir anstoßen?«, fragte sie, als sie sah, dass er nur Wasser trank, und winkte dem Kellner.

»Nein«, sagte Jóhann mit einem entschuldigenden Lächeln. »Meine Gesundheit ist zu angekratzt für Alkohol.«

»Meine nicht«, sagte Agla und bestellte ein großes Bier und einen Schnaps dazu. Beide entschieden sich für das Fischgericht des Tages, und während des Essens erkundigte Agla sich nach den Kindern und Jóhann nach Neuigkeiten aus der Bank. Während der Kellner die Teller abräumte, schwieg Jóhann.

»Wir müssen uns abstimmen«, sagte Jóhann leise, als der Kellner gegangen war. Agla nickte.

»Aber im rechten Maß«, sagte sie. »Sich zu viel abzustimmen, ist auch nicht gut. Das schürt nur Verdacht.«

»Aber wir dürfen keine unterschiedlichen Geschichten erzählen und nicht gegeneinander aussagen.«

»Für mich ist alles klar«, sagte Agla und hoffte, dass ihre Stimme scharf klang. Sie hatte den Eindruck, Jóhann wollte sie abchecken. »Von meiner Seite aus hat sich nichts geändert«, fügte sie in etwas milderem Ton hinzu und lächelte.

»Ja, natürlich«, brummte Jóhann entschuldigend. »Man kann einfach nicht vorsichtig genug sein.«