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Studienarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Literaturwissenschaft - Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Zürich, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Verstehens ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Ob es darum geht, einen Gesprächspartner, einen wissenschaftlichen Aufsatz oder ein Kunstwerk zu verstehen, immer sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass hier etwas Fremdes an uns herantritt und Verständnis fordert. Ein bedeutender Begriff hierbei ist das ‚Vorverständnis‘. Das Herantreten an etwas, das es zu verstehen gilt, kann nie losgelöst von dessen Tradition und der Tradition desjenigen, der verstehen will, geschehen. Der angehende Verstehende bringt seine Vorgeschichte, sein Leben, sein Wissen und die gesamte Geistesgeschichte, von der er geprägt ist, in den Verstehensprozess mit ein. Er hat schon bevor er sich mit dem Gegenstand auseinandersetzt, gewisse Vor-stellungen und Erwartungen, die ganz und gar in seinem Verstehenshorizont verwurzelt sind. Auf der anderen Seite steht das, was es zu verstehen gilt. Dieses ist seinerseits von seinen spezifischen Traditionen geprägt und liegt vielleicht weit ausserhalb des Horizonts des Betrachters. In der Philologie hat das Problem des Verstehens weitreichende Debatten ausgelöst. Die Kernfrage ist, wie ein Schriftstück von einem Ausleger verstanden werden kann. Jeder Ausleger läuft Gefahr, dass sein Vorverständnis ihm den Blick auf die Schrift verstellt. Wie kann also mit dem Vorverständnis umgegangen werden? In dieser Arbeit soll dieser Frage nachgegangen werden. Dies geschieht anhand eines theoretischen Überblicks zur Hermeneutik, dem hermeneutischen Zirkel und dem damit verbundenen Problem des Verstehens in Anlehnung an Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode. Danach werden die theoretischen Überlegungen dreier Autoren des 20. Jahrhunderts – Martin Heidegger, Leo Spitzer und Peter Szondi – zum Thema vorgestellt und die jeweilige Umsetzung ihrer Prämissen an Deutungsbeispielen erläutert. Es wird untersucht, wie die Autoren mit dem Problem des Verstehens umgehen und ob sie ihren eigenen Vorgaben in den Deutungen treu bleiben. Die Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der Autoren und die Umsetzung ihrer theoretischen Überlegungen steht im Zentrum.
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Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Verstehens ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Ob es darum geht, einen Gesprächspartner, einen wissenschaftlichen Aufsatz oder ein Kunstwerk zu verstehen, immer sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass hier etwas Fremdes an uns herantritt und Verständnis fordert. Wie funktioniert Verstehen? Wie kommt Verständnis einer Sache zustande? Was beeinflusst den Vorgang des Verstehens? Dies sind Fragen, die Wissenschaftler aller Disziplinen und Epochen beschäftigten.
Ein bedeutender Begriff hierbei ist das ‚Vorverständnis‘. Das Herantreten an etwas, das es zu verstehen gilt, kann nie losgelöst von dessen Tradition und der Tradition desjenigen, der verstehen will, geschehen. Der angehende Verstehende bringt seine Vorgeschichte, sein Leben, sein Wissen und die gesamte Geistesgeschichte, von der er geprägt ist, in den Verstehensprozess mit ein. Es ist ihm unmöglich, ohne gewisse Vorstellungen an das zu verstehende Objekt heranzutreten. Er hat schon bevor er sich mit dem Gegenstand auseinandersetzt, gewisseVor-stellungenund Erwartungen, die ganz und gar in seinem Verstehenshorizont verwurzelt sind. Auf der anderen Seite steht das, was es zu verstehen gilt. Dieses ist seinerseits von seinen spezifischen Traditionen geprägt und liegt vielleicht weit ausserhalb des Horizonts des Betrachters. Erschwerend kommt hinzu, dass das zu verstehende Objekt ein Fremdes ist und sich dem Betrachter nicht ohne Weiteres öffnet.
In der Philologie hat das Problem des Verstehens weitreichende Debatten ausgelöst. Die Kernfrage ist, wie ein Schriftstück von einem Ausleger verstanden werden kann. Jeder Ausleger läuft Gefahr, dass sein Vorverständnis ihm den Blick auf die Schrift verstellt. Wie kann also mit dem Vorverständnis umgegangen werden? Damit verknüpft sind auch Fragen nach dem Sinn eines Textes, und ob es so etwas überhaupt gibt, nach der Autorintention, inwiefern ein Text in die Zeitgeschichte eingebunden wird und wie viel Bedeutung der biographisch-psychologischen Deutung zugemessen wird.
In dieser Arbeit soll diesen Fragen nachgegangen werden. Dies geschieht anhand eines theoretischen Überblicks zur Hermeneutik, dem hermeneutischen Zirkel und dem damit verbundenen Problem des Verstehens in Anlehnung an Hans-Georg GadamersWahrheit und Methode.Danach werden die theoretischen Überlegungen dreier bedeutender Autoren des 20. Jahrhunderts - Martin Heidegger, Leo Spitzer und Peter Szondi - zum Thema vorgestellt und
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die jeweilige Umsetzung ihrer Prämissen an Deutungsbeispielen erläutert. Es wird untersucht, wie die Autoren mit dem Problem des Verstehens umgehen und ob sie ihren eigenen Vorgaben in den Deutungen treu bleiben. Was die Arbeit nicht will, ist einen kritischen Kommentar zu den Deutungen zu liefern. Ein solches Unterfangen übersteigt das Wissen und den Anspruch der Autorin und könnte weder den Interpretationen noch den Werken gerecht werden. Die Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der Autoren und die Umsetzung ihrer theoretischen Überlegungen steht im Zentrum. Auch soll keine eigene Interpretation der Werke versucht werden, weshalb davon abgesehen wird, sie in ihrem ganzen Wortlaut wiederzugeben. Es werde bloss einzelne Stellens zitiert, um die Erläuterungen zu veranschaulichen. In einem Schlusswort werden die Ergebnisse kurz zusammengefasst und eigene Gedanken zum Thema erläutert.
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„Als Lehre vom Verstehen beschäftigt sich die Hermeneutik mit der Interpretation von literarischen Texten, aber auch mündlichen Äusserungen sowie anderen sinntragenden Konstruktionen.“1Die Geschichte der Hermeneutik geht auf die Antike zurück, in der die klassischen Homer-Interpreten zwischen der grammatisch-rhetorischen Deutung - welche nach der Autorintention fragt - und der allegorischen Deutung - die im Rahmen eines zeitgenössischen Kontextes den mehrfachen Schriftsinn sucht - unterscheiden. In der Bibelhermeneutik steht der Vergleich von Altem und Neuem Testament im Vordergrund und auch die Jurisprudenz bedient sich der Hermeneutik zur Auslegung von Gesetzesschriften. Im 18. Jahrhundert tritt dann erstmals eine literarische Hermeneutik in Erscheinung, die sich mit den Regeln der Textauslegung beschäftigt.2
Ende des 18. Jahrhunderts stellt Friedrich Schleiermacher das Subjektive an der Auslegung ins Zentrum. Ein Ausleger muss sich in den Autor hineinversetzen und so das von ihm untersuchte Werk inspiriert und vom Geist des Autors beseelt neu schöpfen und schliesslich ebenso gut wie oder besser verstehen als der Urheber selbst. Um sich der so subjektiv erreichten Deutung zu versichern, stellt Schleiermacher dem Ausleger einen Katalog von Regeln zur Seite, mit denen er seine Interpretation an einzelnen Teilen des Werks überprüfen kann. Hier kommt die Zirkelstruktur des Verstehens explizit zur Sprache: Das durch psychologisch-künstlerisches Einfühlen erratene Ganze wird an der sprachlichen Auslegung der Einzelteile rückversichert.3
Eine Erweiterung erfährt der hermeneutische Zirkel durch Wilhelm Dilthey, der neu den individuellen Standpunkt des Auslegers mit der Geistesgeschichte in Beziehung bringt. Das Verstehen eines Werkes geschieht nun auf der Basis des Miterlebens, das die Horizonte des Autors und des Interpreten zusammenbringt. Damit wird die Kluft des Zeitenabstands, die bis anhin zwischen Interpret und Urheber bestand, überwunden.4
InSein und Zeitidentifiziert Martin Heidegger das Verstehen als eine Lebensbedingung, als eine Bedingung desIn-der-Welt-Seins.Der Heidegger Schüler Hans-Georg Gadamer hat sich inWahrheit und Methodeintensiv mit Heideggers Gedanken zum Verstehen
1Jessing und Köhnen (2007), p 278. Die folgenden Seitenzahlangaben beziehen sich auf dieses Werk.
2p. 278-280
3p. 280-281
4p. 282
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auseinandergesetzt und daraufhin seine Ideen zur Hermeneutik formuliert. Auf die Arbeiten von Heidegger und Gadamer wird im Folgenden näher eingegangen.
Für Heidegger ist das Verstehen „der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber“.5Nichts im alltäglichen Leben kann ohne Erkennen und Verstehen vonstattengehen. Verstehen bezieht sich somit erst sekundär auf Texte oder Ähnliches.6Gadamer erkennt inWahrheit und Methodedie Bedeutung, die Heideggers Überlegungen für die Hermeneutik haben.
„Durch Heideggers transzendentale Interpretation des Verstehens gewinnt das Problem der Hermeneutik einen universalen Umriss, ja den Zuwachs einer neuen Dimension. Die Zugehörigkeit eines Interpreten zu seinem Gegenstande, die in der Reflexion der historischen Schule keine rechte Legitimation zu finden vermochte, erhält nun einen konkret aufweisbaren Sinn, und es ist die Aufgabe der Hermeneutik, die Aufweisung dieses Sinnes zu leisten.“7