Das Quartett - Wolfgang Schreyer - E-Book

Das Quartett E-Book

Wolfgang Schreyer

4,8

Beschreibung

Ein verfilzter Fall für Kriminalkommissar Wendt: Mehr als zwanzig Jahre nach dem Abitur muss er gegen seine früheren Schulfreunde ermitteln. Der gewaltsame Tod des ehemaligen Zeichenlehrers hat aus dem Quartett von damals ein Trio gemacht, und jedes der Mitglieder ist auf seine Art in den Mordfall verwickelt. Kommissar Wendt wittert ein Wirtschaftsdelikt im ganz großen Stil ... LESEPROBE: Aus Stralsund trifft die Mordkommission ein, geführt von einem Hauptkommissar namens Nüßler. Sein gestutzter Störtebeker-Bart lässt die Mundpartie frei; närrischerweise nimmt das Wendt gegen ihn ein. Nüßler bringt seinen eigenen Arzt und zwei Kriminaltechniker mit, dazu den Fotografen, der auch eine Videokamera benutzt, und den Hundeführer, dessen Fährtenhund Sultan im Suchgeschirr läuft. Mit flachen Ohren wartet Sultan auf Befehle, beargwöhnt von Wedemeyers Nero; der scharrt sich ein Loch, da schießen Sandfontänen hoch. Der Hauptkommissar glüht vor Zuständigkeit. Um klarzustellen, wer hier den Hut aufhat, tadelt er das engräumige Abgrenzen des Fundorts: zu viel zertrampelte Spuren! Nüßler scheint zehn Jahre jünger zu sein als Wendt, er wirkt versiert und energisch. »Russische MC«, sagt er und tütet fachgerecht die Waffe ein. »Kaliber fünfeinhalb, wiegt kein Kilo, kriegt man vor den Kasernen ab vierhundert Mark ... Wann ist es passiert?« Sein Arzt blickt auf. »Ich schätze mal, vor drei bis vier Stunden. Er ist erst oben steif, die unteren Gelenke sind noch flexibel ... Mehr nach der Obduktion, vielleicht.« »Herr Wendt, Sie kennen den Mann?« »Er ist mal mein Lehrer gewesen. Hans Clauser aus Cumin.« »Und Selbstmord trauen Sie ihm nicht zu?« »Zumindest nicht auf die Art. Da spricht auch schon der Augenschein dagegen. So, wie er daliegt, hat man ihm die Waffe nachträglich in die Hand gedrückt.« »Nicht Ihrer Meinung. Der Täter müsste bis zum Eintritt der Totenstarre gewartet und zugedrückt haben, am Rand des Jagdablaufs! Die Nerven hat doch keiner.« Wendt spürt, der Hauptkommissar beginnt mit ihm zu streiten. Über das Opfer hinweg starren sie einander an, zwei Männer, deren Kompetenz sich überschneidet, obgleich ihr Dienstherr derselbe ist. Wendt fragt: »Wie erklärt sich dann der Klammergriff um die Waffe bei ansonsten entspannter Muskulatur?« »Ganz einfach durch den kataleptischen Effekt.« Nüßler scheint vor Bedeutung und Wichtigkeit zu beben. Meint er, man sei mit dem Latein am Ende, wenn er ein Fremdwort gebraucht?

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Impressum

Wolfgang Schreyer

Das Quartett

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-818-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1994 bei Eulenspiegel – Das Neue Berlin Verlagsgesellachaft mbH.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die Rückkehr in den Westen bedeutete auch für mich ... die Begegnung mit einem überaus vitalen und wenig erfreulichen Anachronismus. Eine Ungleichzeitigkeit. Der Rechtsstaat, freilich. Allein dieser Rechtsstaat war zugleich ein Juristenstaat.

Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf Erinnerungen, Band 2

1. Kapitel

Das Flugzeug mit dem grünen Streifen der Luftlinie »Germania« landete erst nach fünfeinhalb Stunden. Verspätet durch Gegenwind bis zur Biskaya, hatte man den Passagieren gesagt. Beim Aufsetzen sah Hans Clauser sie applaudieren, kindisch! Wie in einem Katastrophenfilm, wenn's schließlich doch noch gut gegangen ist. Er klatschte nicht mit, stellte lieber seine Uhr um jene Stunde zurück, die es hier früher war. Pfeifend zog die Boeing 737-300 zum Ende der Rollbahn und dockte an dem Metallfinger an, den die lange Halle ihr entgegenschob.

Alle drängten aus dem Käfig. Clauser wies seinen blauen DDR-Pass vor. Er hatte ihn nicht eingetauscht, und man warf auch kaum einen Blick darauf. Unbehelligt rollte er seinen Koffer durch den Zoll. Draußen wurde ihm heiß, er stopfte sein Jackett in die Reisetasche und schob das verchromte Wägelchen auf die Taxis zu.

»Buenos tardes, Los Cristianos, por favor!« Das hatte er an Bord geübt. »Edificio Cristianmar al puerto - cuanto pesetas?« Zweitausend verstand er und stieg ein. Es war der 11. November 1993, Beginn des Karnevals, und er sah sich mit seinen sechzig Jahren zum ersten Mal im westlichen Ausland, vorm Aeropuerto Tenerife Sur, auf der angeblich schönsten Insel der Kanaren. Ihm war, als meistere er die Situation. Immer rechnen und sparsam sein, wenn's bis März reichen soll ... Ringsum kahle Bergkuppen, kaum grünlich behaucht. Enttäuschend; Ödnis beiderseits der Schnellstraße. »Hablas Usted un poco alemán?« Sprechen Sie etwas deutsch?

»Un poco español, señor.«

Clauser lachte. Ein bisschen spanisch - der Mann hatte Humor. Es fing ja ganz gut an. Das Taxi kurvte unter der Autobahn weg in die sinkende Sonne hinein, fuhr abwärts zwischen Hoteltürme und hielt an der konkaven Seite eines halbrunden, fünfstöckigen Bauwerks mit einer Außentreppe, die in Doppelschwüngen zu den offenen Gängen mit den Apartments führte.

Sehr hübsch, auch schlecht für Einbrecher, der freie Blick. Es gab sogar zwei Lifts. Kein Schild an vielen Türen, doch unter der Nummer 213 stand T. PRILL, der Name seines Wohltäters. Zwei Sicherheitsschlösser, dann öffneten sich ihm die fünfzig Quadratmeter für sein Überwintern: das Wohnzimmer, der Schlafraum und ein kleines Bad ... O ja, alles gefiel ihm, das helle Mobiliar wie die krummen Wände, besonders der Balkon! Das Bild des Hafens mit seinen Jachten und dem dicken Fährschiff, das zur Nachbarinsel Gomera fuhr. Neben dem Telefon die Visitenkarte Thomas Prills, dessen Rostocker Nummer; durch die zwei Vorwahlen zu lang, als dass es ihm glücken würde, sie fehlerlos einzutasten. Wozu auch? Dass kein Licht brannte und das Wasser nicht lief, war für einen, der Hausmeister gespielt hatte, kein Problem. Eigentlich Linkshänder, hatte er eher zwei rechte Hände. Der Absperrhahn saß im Lüftungsschacht, vom Gang aus erreichbar. Und der Kühlschrank summte los, als er an den Sicherungen fingerte. Das erinnerte ihn an die nötigen Einkäufe in dem kleinen Supermarkt gleich gegenüber der Uferpromenade.

Vorm Spiegel zwei gerahmte Fotos. Das linke ein Porträt von Beatrice Moll, Prills reizender junger Freundin. Das rechte Bild war fünfunddreißig Jahre alt; es zeigte das Quartett der Erweiterten Oberschule: Tommy Prill und Jutta Fischbeck mit ihren Gitarren, Gabi am Schlagzeug und ihn selber, den jungen Lehrer, am Bass. Sie hatten ihn in die Mitte genommen. Ganz am Rande ihr Mitschüler Christian Wendt, ohne Instrument. Er spielte auch keines, machte nur den Manager der Band, das Mädchen für alles - weil er hinter der schönen Jutta hergewesen war. Auch dann noch, als Prill sie gekriegt hatte und er selber die EOS noch vor dem Abitur verlassen musste, aus irgendwelchen Gründen.

In die Erinnerung hinein läutete das Telefon, Clauser hob ab und hörte die Stimme seiner Frau. »Hans, Gott sei Dank! Ich hab's schon zweimal versucht. Alles in Ordnung bei dir?«

Wie oft, wenn Gabi ihn aus der Kanzlei anrief, sprach sie gepresst, wie in Sorge, Prill könne sie wegen des Privatgesprächs tadeln. Purer Unsinn, der war kein Geizhals. Ihre Stimme klang, als wäre sie nur vier statt viertausend Kilometer von ihm weg. »Du, es ist toll«, sagte er. »Jetzt geht die Sonne an der Mole unter, das Meer klatscht an die Terrassenmauer, kannst du ihn hören, den Ozean? Aber bei euch, da ist's doch schon finster, machst du wieder Überstunden?«

»Keine Angst, ich bin gleich weg! Ich hoffe bloß, du fühlst dich wohl.« Leiser fügte sie hinzu: »Wenn's geht wie früher, ohne Alkohol.«

»Alles bestens, Gabi. Ich komme schon zurecht mit meinen hundert Worten Spanisch.«

»Schwimm und mal ein bisschen, Hans! Dein Malzeug liegt zwischen der Bettwäsche in Zellophan ...« Nach ein paar Abschiedssätzen legte er auf, gestärkt und bedrückt. Seine Frau, immer so fähig und mit ihren einundfünfzig Jahren so adrett! Ach, er war in ihrer Schuld. Es beschämte ihn, dass er sich's im Süden Wohlsein ließ, während sie dort in ihr kleines Auto stieg, um durch den Stau und das Novembernieseln nach Cumin zu fahren, ins leere Heim.

Das Apartmenthaus Cristianmar hatte kein Schwimmbad, das Meer vor der Terrasse keinen Strand: Graues Vulkangeröll, bei Ebbe trat ein kleines Riff zutage. War aber Flut, schwamm man ohne Grundberührung schon an der Betontreppe los; das hatte Clauser vom Balkon aus beobachtet. Gleich Freitag früh, beim ersten Tageslicht, glitt er in die salzig-laue Dünung, die das Dutzend Jachten dümpeln ließ. Fantastisch. Für ihn noch unsichtbar, stieg jenseits eines Felshangs über dem Gran Hotel Arona die Sonne hoch und tauchte den Berg gegenüber, oberhalb der Stadt, in rosiges Licht. Auch dieser Gipfel war kahl, er hieß Montaña Chica, Kleiner Berg. Bis zur halben Höhe bedeckten ihn weiße Ferienhäuser, und die glühten nun auf; ein wundervolles Bild. Behutsam schwamm Clauser um die Ankerboje eines Katamarans, der Flagge nach ein Brite. Mitten im Hafenbecken wurde es jäh um ein, zwei Grad wärmer. Das weckte den Argwohn, es könnten unter ihm Abwasserrohre münden. Kam an südlichen Küsten nicht wie eh und je aller Dreck ins Meer, auch wenn der sich mit den Touristen vervielfacht hatte? Nervös kehrte er um.

Zwar, man roch nichts außer dem schwachen Hauch, der in jedem Hafen von verschüttetem Treibstoff herrührt. Die eigene Segeljolle fiel ihm ein, der schillernde Ölfleck beim Nachtanken, wenn er mal nicht aufgepasst hatte. Aber das Morgenbad war ihm vergällt. Zwischen zwei Wellen, die vom Atlantik eindrangen und hart ans Ufer klatschten, kroch er über glitschiges Gestein zurück. Auf der Terrasse gab es Duschen, fröstelnd spülte er sich das Salz von der Haut ... Närrisch! Die dumme Temperaturschwankung hatte ihn verstört. Nein, das sollte ihm den Tag nicht verderben. Auch nicht der chemische Geschmack des Kaffees. An dem war er selber schuld, hatte er doch gestern im Supermarkt das billigste Paket gewählt, eins für hundertfünfundsiebzig Pesetas. Er machte sich klar, dies waren zum Tageskurs nur zwei Mark fünfundzwanzig, was ließ sich dafür schon verlangen? Schön, auch das Leitungswasser war ungenießbar. Was man trinken wollte, musste in Plastikflaschen gekauft werden; fünf Liter für eine Mark.

Kein Problem verglichen mit der Schwierigkeit, an all den Bierbüchsen, den Wein- und Kognakflaschen vorbeizukommen, ohne auch nur eine in den Korb zu tun. Das immerhin hatte er geschafft. Es war ihm sogar geglückt, im letzten Winkel Pfefferminztee aufzuspüren, kenntlich an einer Abbildung der Pflanze. Weil ihm außer Bier sonst abends nichts bekam und er sein Versprechen unbedingt halten wollte. Zwei gefiederte Palmen im Blick verdöste Clauser den halben Tag im Liegestuhl und ließ den Reisestress abklingen. Der Vorstoß ins Hafenbecken gab ihm das Gefühl, schon tätig gewesen zu sein, hinreichend aktiv. Er hörte das Fährschiff tuten und genoss die Stille. Wie um ihn zu schützen, schoben sich oft Wolken vor die Sonne. Jetzt im November war deren Bahn so flach, dass das Stockwerk über ihm wenig Schatten warf. Von neun bis drei lag der Balkon im köstlichen Licht. Dann begann Clauser, in Sporthemd, Shorts und Turnschuhen entlang der Uferpromenade das Umfeld zu erkunden.

Rasch merkte er, dass man jedes Hotel betreten und dessen Luxus nutzen konnte, ohne dort Gast zu sein. Dies verlieh ihm eine Unbeschwertheit, das wunderbare Empfinden, mit dem Leben zu jonglieren. Die schönsten Schwimmbecken bot, im Schlenderschritt zehn Minuten südwärts, das Arona. Für hundert Pesetas - Miete für die Matte - erwarb man das Recht, sich auf einem der Liegebetten rund um die Pools den ganzen Tag zu aalen. Im Comodoro bot ein Autoverleih Kleinwagen ab dreitausend Pesetas an, ohne Aufgeld für die gefahrenen Kilometer, und das Benzin kostete kaum eine Mark. Im Strom der Touristen, älteren Menschen meist, kehrte Clauser um. Fremde Sprachen, Vogelgezwitscher und Behinderte in elektrischen Rollstühlen, für die es überall Rampen gab. Der breite Strand im Inneren der Bucht hatte sich geleert. Jetzt balgten sich dort Hunde, formten halb nackte Jünglinge aus dem klebrigen graubraunen Sand Figuren: Pferde und Nixen, auch einen riesigen Lindwurm, der die Treppe hochzukriechen schien. Es war lächerlich, aber einmal spürte er Eifersucht, als ein Paar an ihm vorbeistrich, von dem eine Art verliebter Intimität ausging. Wiederum sank die Sonne aufs Meer, und er wurde sich bewusst, einsam wie ein streunender Hund zu sein.

Ohne jeglichen Kontakt. Dumpf, wie eine schlecht vernarbte Wunde, fühlte er einen Schmerz, den man gar nicht klar erleidet, sondern wie eine vertraute Last mit sich trägt ... Ein Restaurant neben dem anderen, Speisekarten auch auf Deutsch, Wiener Schnitzel für sechshundert Pesetas. Clauser verglich die Preise - niedriger als in Cumin - und bummelte bis ans Ende des Städtchens. Doch das endete nirgends, durch einen Fußgängertunnel lief die Promenade westwärts weiter zur Playa de las Américas.

Im Slow Boat, einem Chinarestaurant hoch über dem Meer, aß er eine Frühlingsrolle nebst kandierter Ananas, die auf den Zähnen explodierte. Mehr Kellner als Gäste um diese Zeit. Vor dem Abendhimmel schwamm majestätisch die Gebirgsinsel Gomera. Er trank sein Wasser aus und lief im Schein bunter Lampen heim, vorbei an offenen Lokalen, wo Männer lärmend an der Theke hingen und tranken. Im Bett schlug er ein Buch auf, das er mitgebracht hatte: »Der Menschen Hörigkeit« von W. Somerset Maugham. Es begann mit dem Satz: »Dies ist ein umfangreicher Roman, und ich bin beschämt, ihn durch ein Vorwort noch zu verlängern.« Auf eine Art, die ihm unklar blieb, von dem folgenden Text besänftigt und getröstet, schlief er wenig später ein.

Allmählich begriff Hans Clauser, gar nicht so allein zu sein. Eine Anzahl Westdeutscher wohnte mit ihm im Cristianmar. Ihr verehrtes Haupt war offenbar eine Neunzigjährige. Und eine andere Dame, man rief sie über die Etagengänge hinweg »Hermine«, zeigte viel Tatkraft und Beweglichkeit. Zum Beispiel wusch sie ihr japanisches Auto, um Deutschaustralier, die sich auf Teneriffa angekauft hatten, vom Flugplatz abzuholen. Das aber misslang, in den Pässen fehlte das Visum: Australien war kein EU-Land. »Man wies sie glatt ab«, teilte ihm Hermine mit, als er mit ihr, einer kontaktfrohen Frau seines Alters, ins Gespräch gekommen war. »Mit dem nächsten Flug ging's zurück nach Bremen, stellen Sie sich vor! Spanische Beamte können so stur sein wie früher nur die Grenzer der DDR. Ohne Visum des Konsuls geht gar nichts, verstehen Sie?«

Gewiss; doch er folgte dem Bericht nicht sehr aufmerksam. »Ich bin von dort, aus der früheren DDR«, sagte er. »Aus Cumin, an der Ostsee.«

Das weckte ihre Neugier. Er war für die Deutschen hier wohl eine Art Exot. Sie durchforschte ihren Terminkalender und lud ihn zum nächsten Nachmittag auf ein Plauderstündchen in ihr Apartment. Die Nummer 403, zwei Etagen über ihm, blickte westwärts auf den Strand, das Getriebe des Hafens, auf die Altstadt und den platten Gipfel des Roque del Conde. Tausend Meter hoch erhob sich der Tafelberg über dem Montañpa Chica, wo die Australier Fuß gefasst hatten. »Unsere Balkons sind ihnen zu klein gewesen, deshalb nehmen sie die Kletterei in Kauf.« Hermine goss ihm Sherry ein, Kognak hatte er abgewehrt. »Noch sind sie jung, aber später? Übrigens, mit fünftausend Pesetas im Pass, statt des Visums, wären sie längst drin.«

Clauser nippte an dem Sherry. Der Schluck würde ihm nicht schaden. Völliger Verzicht hätte ihn als Alkoholiker, der trockenlag, entlarvt und den guten Eindruck getrübt, den sie von ihm wohl hatte. »Bestechung, ist das nicht riskant?«

»Nicht, wenn der Schein stimmt! Aus Ihnen spricht noch unser altdeutscher Respekt vor der Obrigkeit.«

Ihre sichere und doch schonende Redeweise gefiel ihm. Im Außendienst einer französischen Kosmetikfirma, so hörte er, hatte sie sich das Geld für diesen Wintersitz schwer verdient. Bei Lübeck zu Haus, teilte Hermine mit ihm die Freude am Segelsport. Einmal sei ihr Boot nach einem Navigationsfehler fast von der Volksmarine aufgebracht worden. Das hätte böse Verhöre und den teuren Landtransport des Boots von Wismar nach Lübeck bedeutet! »Außer der chinesischen Küste war auf der ganzen Welt keine so gefürchtet wie die der DDR«, ließ sie ihn ohne Vorwurf wissen. »Was haben denn Sie dort beruflich gemacht?«

»Eigentlich bin ich Lehrer, für Geschichte und Zeichnen.«

»Eigentlich, Hans? Üben Sie Ihr Amt denn nicht mehr aus?«

»Ich hab schon Vor Jahren aufgehört und mich als Grafiker versucht, auch Zeichenzirkel geleitet im Klubhaus von Cumin. Aber das gibt es ja nicht mehr.«

Sie sah ihn forschend an. Er merkte, das klang nach Arbeitslosigkeit oder gar Sozialhilfe. Sie mochte sich fragen, wie man so minderbemittelt zu einem Winter im Süden kam. »Herr Dr. Prill war so nett, mir sein Quartier zu überlassen. Kennen Sie ihn?«

»Kaum. Er ist ja nur selten hier.«

»Prill, Prüfer & Pragemann, die Anwaltskanzlei, dann noch das Hanseatische Seehandelskontor - da bleibt ihm wenig Zeit. Wir kennen uns ein halbes Leben! Er ist mal mein Schüler gewesen.« Von dem Sherry erwärmt, baute Clauser sich behutsam, ohne Heikles zu berühren, vor seiner grauhaarigen Gastgeberin auf. Die saß da auf ihrem hübsch bezogenen Balkonsofa, wachsam wie in einem Logenplatz, das Fernglas zur Hand, über dem Treiben von Los Cristianos und wechselte das Thema, als spüre sie sein Unbehagen. Kannte er die Geschichte des Orts, vor drei Jahrzehnten noch ein Fischernest? Sie empfahl ihm die letzte Badebucht vor dem Guaza-Felshang, steinig zwar und umringt von kleinen Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg, doch mit dem klarsten Wasser. Und den schmalen Felshafen davor, wo einst deutsche oder britische U-Boote geankert hatten, um Proviant zu ergänzen. Der Legende nach sollte es an Land sogar zu verbrüderndem Trinken gekommen sein! Das beschwingte Clausers Fantasie. Anderntags skizzierte er die düstere Schlucht, in der jetzt, unterhalb einer geheimnisvoll ummauerten Prunkvilla, piratenhaft eine Brigg verzurrt war. Sein Blatt verriet, hier schien ihm alles denkbar: menschliche Güte und jeglicher Verrat. An einem Montag fuhr Hermine ihn durch Tomaten- und Bananenpflanzungen hinauf nach Adeje. In ihren Augen war er Landschaftsmaler. Sie zeigte ihm das festungsartige Haus spanischer Grafen des 16. Jahrhunderts, die Pfarrkirche Santa Ursula und das Tor zur Höllenschlucht - Barranco del Infierno. Was für Motive; nicht wahr? Später erreichten sie, die schneebestäubte Nordflanke des Pico del Teide vor sich, in sprühendem Wolkennebel über Steilkurven ein Bergdorf, anno 1907 knapp verschont von der Lava des letzten Vulkanausbruchs. Nur war das Töpfereimuseum, Hermines Ziel, wie viele Museen montags geschlossen. Waren ihre Verpflichtungen zu zahlreich oder lag es an ihm? Sein Umgang mit ihr schlief wieder ein. Die Aussicht, vor weiteren Deutschen - ihren Freunden - als armer Bruder dazustehen, lockte Hans Clauser nicht. Lieber hing er allein seinen Erinnerungen und melancholischen Gedanken nach, auch wenn ihn das manchmal zur Verzweiflung trieb.

Am Monatsende nahm er den Bus nach Santa Cruz, der Hauptstadt am anderen Ende der Insel. Hektische Boulevards und schöne Parks voll blühender Tulpen- und Jacarandabäume. Im Museum der Schönen Künste stand er staunend vor Gemälden von Brueghel, Ribera und Van Loo. Es gab auch junge kanarische Malerei, dazu die unvermeidlichen Waffen, alten Münzen und Schiffsmodelle. Ihm war eigentümlich schwer ums Herz; von all der Historie erreichte ihn nicht viel.

Er lief zurück zur Plaza de España gleich vorm Hafen. Ein runder Platz, im Zentrum pompös das Kriegerdenkmal, ein riesiges Kreuz. Für die Toten des Bürgerkriegs, der ja von Teneriffa ausging; hier war General Franco 1936 Befehlshaber gewesen. Rings um den steinernen Sockel Bänke, Büsche und Beete.

Ein altes Weib hielt Clauser an und schob ihm freigiebig kurzstielige Rosen in die Taschen. Als er dafür zahlen wollte, pickte sie nur das kleinste Geldstück aus seiner Börse. Gerührt stieg er wieder in den Bus, der durch das steppenhafte Ödland der Ostküste über die Autobahn heimwärts fuhr, vorbei an dem Wallfahrtsort Candelaria - weiße Häuser vor dunkelgrauem Sand.

Daheim fehlten ihm drei Scheine zu zweitausend Pesetas. Vage brachte er das mit der Blumenfrau in Verbindung, schämte sich aber seines Verdachts. Er hatte das Geld wohl schon am Vortag im Lido 11 in Los Cristianos ausgegeben, einem Laden an der Calle Don Antonio. Eine Traube aus Halbedelsteinen, blasslila Amethysten, hatte er dort für Gabi gekauft.

Mit seinem Buch zog Clauser sich ins Bett zurück und langte auf Seite 270 an, wo der Held im Pariser Künstlerviertel an seinem Talent zu zweifeln beginnt. »Siehst du, in anderen Berufen«, sagt ein Freund zu ihm, »als Arzt zum Beispiel oder als Geschäftsmann, hat es nichts zu sagen, wenn man mittelmäßig ist. Man verdient seinen Unterhalt, und damit hat es sein Bewenden. Aber was hat es für einen Sinn, belanglose Bilder hervorzubringen?«

Früher mal hatte Clauser sich das selbst gefragt. Nun nicht mehr. Diese Romanfigur war Anfang zwanzig, aber mit sechzig wusste man doch, ob man als Künstler gescheitert war. Die Maler an der Strandpromenade von Los Cristianos fielen ihm ein, sie hielten Blätter mit Sonnenuntergängen, Palmen, Segeln und hübschen Mädchen feil. Gelackter Kitsch, wie es ihn überall gab, auch daheim in Cumin. Immerhin, sie lebten davon, und nicht mal das war ihm geglückt. »Der Künstler empfängt einen bestimmten Eindruck«, las er, »und fühlt sich gedrängt, ihn in Farben und Linien wiederzugeben. Es ist etwas Zwangsläufiges, man malt für sich selbst, sonst würde man Selbstmord begehen ... Wir malen die Dinge, wie sie sich in unserem Inneren spiegeln. Was danach mit unserer Arbeit geschieht, ist unwichtig.« Ihm glitt das Buch aus der Hand.

Später träumte er erstmals wieder von dem Versteck, einem Wandschrank voll meisterlicher Gemälde, Skizzenbücher und Skulpturen. Die alte Mühle, der Schifferfriedhof, das Cuminer Holz und die Schafswiese am Steilufer von Paul Müller-Kaempf oder Carl Malchin. Ein gesichtsloses Weib riss, energisch wie Hermine, die Mauer ein, hinter der diese Schätze steckten. Dazu spickte sie sein Hemd mit Rosen und rief: »Na los, Hans, nur keine Angst! In Ihnen steckt noch unser deutscher Respekt vor der Obrigkeit.«

Clauser fuhr hoch, er hörte die Brandung klatschen. Nein, es gab kein Entrinnen. Der Albtraum war ihm wie seine Wehmut bis hierher gefolgt. Und darauf hatte er gewartet ... Darauf, dass er leiden würde.

Für drei Tage nahm er sich ein Auto, kaum hundertdreißig Mark betrug die Kaution; ganz sacht verfiel die spanische Währung. Es war ein weißer, hochbeiniger Marbella, dem kleinsten Fiat ähnlich. Clauser saß darin unbequem, ein Kettenschloss hinderte ihn daran, den Sitz zurückzuschieben. War der Tank fast voll oder ziemlich leer? Mit all den Hebeln beschäftigt, hatte er nicht mal gefragt, wo das Reserverad zu finden sei.

Sein Ziel war der Nationalpark im Kern der Insel, das enorme Lavafeld mit der Seilbahn zum Gipfel. Bei dem Bergnest La Escalona wurden die Serpentinen beklemmend steil. Das Auto nahm sie nur im ersten Gang, heulend kroch es aufwärts, bis hinter ihm jemand hupte. Da hielt Clauser an, in Furcht, überholt und abgedrängt zu werden, womöglich in die Schlucht.

Er stieg aus und sah sich auf gleicher Höhe mit dem Tafelberg Roque del Conde; tief unten lag wie flüssiges Blei das Meer. Der Fahrer, dem er den Weg versperrte, war ein Deutscher von Ende dreißig, verschmitzte Augen unter flachsblondem

Haar. »Ihr Tank ist gleich leer«, sagte er nach einem Blick auf das Armaturenbrett. »Und Sie haben den Choke nicht reingedrückt, kein Wunder, dass er streikt.«

Beschämt sah Clauser zu, wie der Landsmann die fünf Liter des eigenen Reservetanks dem Auto eintrichterte. Das Geld jedoch wies er zurück. »In Vilaflor ist eine Tankstelle, Super sin plomo nehmen!« Der hilfreiche Mensch wartete, bis der Marbella ansprang, und quetschte sich winkend an ihm vorbei.

Jetzt zog der Wagen viel besser, es machte Spaß, die Kurven zu nehmen. Oberhalb von Vilaflor begann ein feenhafter Wald aus langnadligen Kiefern, gefolgt von der Mondlandschaft des ungeheuren Urvulkans, die an utopische Filme erinnerte. Mit seinen 3718 Metern stieg der Teide als höchster Berg Spaniens aus dem Trümmerfeld. Die Seilbahn pendelte, doch war der Andrang so stark, dass Clauser nicht mal einen Parkplatz fand.

Langsam durchstreifte er die Kraterwüste, zwölf Kilometer schauriges Gestein, manchmal schimmernd überzogen von glasähnlichem Obsidian. Die Lavabarrieren und der Farbwechsel von Gelb und Rotbraun zu dem Anthrazit des Erdinneren faszinierten ihn. Nach einer Mahlzeit im Gasthaus der Canadas kehrte er, stolz auf sein Abenteuer, über Granadilla heim.

Hinter San Miguel stieg er aus und genoss den Rundblick über das Tal von San Lorenzo mit seinen Bimssteinfeldern und Orangenhainen bis hin zu dem Roten Berg am Flugplatz. Vor vier Wochen war er dort gelandet, und was hatten sie ihm beschert? Ein bisschen Spanisch; es half immerhin, den Text zu entschlüsseln, der dort auf den Roque de Jama gesprüht worden war: »Schnell leben, jung sterben und ein hübscher Leichnam sein.«

Bonito cadáver. Clauser fühlte seine Stimmung kippen. Wie empfindsam er doch war, eigentlich kaum lebenstüchtig. Da genügte ein dummer Zynismus der Motorradjugend, ihm Angst einzuflößen, die verkappte Sinnlosigkeit seines Daseins bloßzulegen ... Er wusste nicht mehr, woran er mit sich selber war. Siechtum und Tod, weshalb setzte dieser Spruch ihm solche Bilder in den Kopf?

Am nächsten Abend sah er seinen Helfer wieder. Der saß allein an einem Außentisch des Restaurants Abora und erspähte ihn auf der Strandpromenade. Ein nettes Lokal, Clauser war dort schon Gast gewesen; zögernd setzte er sich. Sie hatten beide gespeist, er zu Haus, der andere hier - eine Seezunge, deren Gräte auf dem Teller lag. Für tausend Pesetas spendierte Clauser nun ihm und sich selbst einen »Teide«, wie der größte Eisbecher hieß. Ungern blieb er wem etwas schuldig.

Ein Akzent verriet ihm, sein Retter kam aus dem Osten. Das stiftete Solidarität. Der flachsblonde Mann hielt es für angebracht, sich vorzustellen: Zelter. Das Eis wurde serviert, gekrönt von Schlagsahne und einer halben Banane, in der - wegen des Feuer speienden Vulkans - eine Wunderkerze spießte, vom Kellner flugs entzündet. Im Funkenregen blinzelten sie sich zu, und Zelter gestand mit verblüffender Offenheit, er sei ein kleines Licht bei der Rostocker Stasi gewesen. Danach habe er sich im Gebrauchtwagenhandel versucht und sei gescheitert, als in den neuen Ländern der erste Kaufrausch verflog.

Ein Stasimann, nicht sehr angenehm. Clauser hatte nicht die geringste Lust, wieder in den Alltag vor der Wende einzutauchen. Er verschwieg, dass er im Konflikt mit dem Staat gelebt und jetzt Akteneinsicht beantragt hatte. »Sie erholen sich hier von dem Schlag?«

»Für mich ist noch kein Urlaub drin. Ich bin in der Branche geblieben: Objekt- und Personenschutz.« Zelter gab an, er bewache im Wechsel mit einem zweiten Mann das Haus und die Jacht eines Kieler Reeders. Nahe der Avenida Maritima, wo genau, das blieb offen. Konnte es die ummauerte Villa an der alten U-Boot-Bucht sein? Kopfschütteln, ein ganz leichtes Lächeln. Clauser begriff, der Kern dieses Jobs war Stillschweigen.

Es war Zelters freier Abend. Beim Aufbruch schlug er einen Bummel durch den Nachbarort Playa de las Américas vor, wo mehr los sei. Um das Taxi zu sparen, liefen sie zu Clausers Leihwagen am Cristianmar. Zelter setzte sich ans Lenkrad, geschickt nahm er die Rampe.

Erst fünf Tage vor Ort, fand er sich gut zurecht. Auch in der wüstenhaften Öde hinter dem Kleinen Berg und dann im Neongeflacker von Playa blieb er erstaunlich souverän. »Gelernt ist gelernt«, sagte er, als Clauser seinen Orientierungssinn lobte. Unüberhörbar der Anflug von Eitelkeit.

Gegenüber dem Palm Beach war eine Parklücke. In der bunten Menge strolchten sie zum Meer, das träg an die Molen schlug. Die schützten den künstlich aufgespülten, mit Palmstrohschirmen gespickten Sand der Strände. Ringsum viel ältliches, betuchtes Publikum; manchmal auch Gitarrenspieler, langhaarige Sänger und Rucksacktouristen. Blütengesäumt lief ein romantischer Uferweg treppauf, treppab durch Gärten und Schwimmbäder, vorbei an Cafes, Boutiquen, Schnellrestaurants und dröhnenden Diskotheken, überragt von Hoteltürmen. Man schob ihnen Handzettel des Klubs La Florita zu, der zweisprachig »Lovely Girls«, »Erotic Massage« und »Máxima Discreción« versprach. Die Atmosphäre war halb elegant und mondän, halb schäbig, grell und vulgär wie auf St. Pauli.

Das Durcheinander von Arm und Reich stieß Clauser ab. Es hatte wenig mit ihm, mit seinem Menschsein zu tun. Zwar sah er darin die Kraft des Systems, das den Sozialismus (oder was so genannt worden war) besiegt hatte. Doch am Ende des anstrengenden Tages nervte ihn der ganze Rummel bloß. Sie gingen in die Bar des Hotels Jardin Tropical; mit der maurischen Silhouette, all den Spiegeln und dem polierten Marmor glich es einem Kalifenschloss. Gegen seinen Einspruch bestellte Zelter Scotch, er nannte den Barkeeper »Sergio«; hatten ihm fünf Tage genügt, mit dem bekannt zu werden? Selber hieß er Hilmar und schlug vor, dass man überging zum Du. Clauser begann sich zu fragen, was denn Zelter an ihm, dem soviel älteren und kaum unterhaltsamen Mann, eigentlich fand. Es gab kein Motiv, eine Zufallsbegegnung! Nur ein Schiffbruch, der Untergang ihres Landes, schien sie zu verbinden. Wind, Strömung und Reibung an anderem Treibgut bestimmten den Kurs eines führerlos driftenden Boots. Er hatte keinen Kompass mehr und glitt still dahin, einzig darauf bedacht, traurig nur für sich allein zu sein und nicht zum Unglück auch für andere zu werden. Im Hinblick auf Gabi wäre das ein Stück Verrat gewesen.

Hilmar Zelter ließ ihn nicht Trübsal blasen. Der trank, rosig aufblühend, schon das dritte Glas Whisky. Er selber hielt sich am zweiten fest, obgleich es ihm schwerfiel, bloß zuzuschauen. »Manch einer hat's ja gepackt«, hörte er Zelter sagen. »Zum Beispiel mein Weib war auch bei der Firma, als Schreibkraft nur. Da flog sie gerade noch rechtzeitig raus, wegen ihrer Quatscherei, und heute sitzt sie weich in der Bausparkasse von Lübeck, wo keiner sie kennt.«

»Meine hat ein Klubhaus geleitet dort an der See. Nach dem Studium, Kulturwissenschaften. Heute jobbt sie bei einem Schulfreund, der ihr mal nahestand. Na, und ich? Arbeitslos, Vorruhegeld.«

»So ist das, Hans. Mach doch nicht so ein Gesicht! Auf andere ging ein warmer Regen nieder. Mancher zog sogar das große Los.«

»Ja, wer in die Politik gegangen ist.«

»Meine Tante in Westberlin, denk mal, die hat ihr Haus am Griebnitzsee zurückgekriegt. Dort hatte sie Wertsachen versteckt vor der Flucht, Gold und Klunkern, ihr Mann ist Juwelier gewesen. Und stell dir vor, das Zeug war noch da - aber hallo! Enorm im Wert gestiegen.«

»Wo denn versteckt, im Keller etwa?«

»Keller ist nicht, bei dem Grundwasser. Einfach so unter den Dielen! Ihr Glück war, der Vorbesitzer hat kaum was machen lassen. Er hätte sich ja Parkett legen können.«

Clauser horchte auf. Frappierend, wie genau jeder von ihnen im Wesen des anderen die geringste Veränderung wahrnahm. Irgendetwas warnte ihn, Zelters Tonfall oder dessen Blick. Es klang ja wie eine Anspielung auf die vermauerten Kunstwerke in der Villa Hildegard, wie das Cuminer Klubhaus vormals - und heute wieder - nach der Gattin des Erbauers hieß. Erzählte der Mann das absichtlich? War die Story auf ihn gemünzt, sollte sie ihn dazu bringen, den eigenen Fund zu erwähnen? Dann freilich hatten die Erben des Ehepaars Neumann ihm diesen Zelter nachgeschickt! Um ihm das

Geständnis abzulisten, er sei es gewesen, der bei den Dacharbeiten vom Sommer 88 jene Schätze gefunden hatte, im Schrank der Abseite hinter einer schlecht verputzten Ziegelwand.

Sah er da Gespenster? Clauser wusste es nicht. Instinktiv wich er dem Thema aus. Es war mit ihnen schon so weit gekommen, dass sie kaum noch etwas voreinander verbergen konnten. Lag das am Alkohol oder an Zelters Tricks, der Technik eines Profis? Er musste jetzt sehr vorsichtig sein. Aber der andere war es anscheinend auch. Weder animierte der ihn zum Trinken, noch nahm er den Faden wieder auf. Das Thema war passé ... Durch das brausende Nachtleben kehrten sie heim zum Cristianmar und verabredeten sich erst für den übernächsten Tag. Polternd stieg Zelter die Stahltreppe zur Promenade hoch und tauchte zwischen die Palmen am Weg zum Comodoro.

Im Fach 213 der Portiersloge fand Clauser einen Brief von seiner Frau. Sie schrieb ihm, dass er ihr fehle, obschon alles Okay sei; nach dem frühen Winterbeginn habe Tauwetter eingesetzt. Könne er denn ein wenig malen? Vor Silvester gebe es ein Klassentreffen des Jahrgangs 42 ... Die Einladung harte sie beigefügt. »Personen: Die Ehemaligen mit ihren Damen und Herren«, hieß es da. O Gott!

Vom Balkon aus sah er durch Palmwedel das blaue Licht des Strandlokals, dessen Tanzmusik ihn manchmal störte. Eben wehte ein Song aus den späten Fünfzigern herauf: When my little girl is smiling. Eine der einschmeichelnden Melodien, die Millionen von Liebespaaren begleitet haben. Das Quartett der zehnten Klasse hatte den Titel auch gespielt, als Combo nach Schulschluss, mit Tommy Prill am Klavier. Dessen lange bleiche Finger brachten Töne hervor, die wehmütig stimmten und Mädchenherzen brachen.

Keine Spur mehr von Zelter. Was trieb der in Los Cristianos, wen bewachte er? Es war, als habe das blaue Licht ihn verschluckt. Er konnte ihm, Clauser, am Vortag durchaus im Auto gefolgt sein und das heutige Treffen bewusst angestrebt haben - falls er auf ihn angesetzt war und gemerkt hatte, dass er öfter im Abora aß. Gab es das wirklich, einen Stasimann mit reicher Verwandtschaft im Westen? Wenn der jedweden Kontakt abgebrochen hatte, dann vielleicht. Es pochte in seinen Schläfen. Ratlos stand er vor seinen Ängsten, Skrupeln und Vermutungen. Ein Detektiv im Dienste der Erben? Um überhaupt einzuschlafen, riss er eine Büchse Bier auf. Doch auch der Bruch des Versprechens, abstinent zu sein, legte sich ihm aufs Gemüt; wie die Bilder, die der Spruch an dem Felsen freigesetzt hatte. Bonito cadáver ... Wer jung stirbt, der mag tatsächlich unschuldig sein; dem blieb keine Zeit für die Fehler und Lebenslügen, die man das Äterwerden unausweichlich macht.

Beim Erwachen war ihm herrlich leicht zumute, an der Schwelle eines Tages, der ihm keinen Zwang auferlegte. Man konnte damit anfangen, was immer man wollte, etwa das Aquarell vom Hafen fertigstellen. Aber es war noch finster, als er auf den Balkon trat; unter der seidigen Morgenluft wirkten das Meer tot und die leere Strandpromenade abweisend auf ihn. Dazu stieg ähnlich einer vagen Furcht das Gefühl in ihm auf, etwas Wichtiges versäumt zu haben, ohne sich erinnern zu können, was es war. Sicherlich gab es Wege, das herauszufinden. Oder es fiel ihm von selber ein. Nach dem Frühstück machte er eine verwirrende Entdeckung. Beim Betasten des Wandschranks, dessen unterste Schublade klemmte, sprang ein verborgenes Fach heraus, das offenbar Prills Notgroschen enthielt: eine Rolle südafrikanischer Goldmünzen im Wert von vielleicht sechs- oder achttausend Mark. Soviel Geld! Und als Clauser weitergrub, überlief es ihn kalt. Plötzlich hatte er den Eindruck, dass sein Fund vom Sommer 88 sich hier farcenhaft wiederhole.

Denn unter dem Gold lag, in Seidenpapier gehüllt, ein Stoß erotischer Fotografien, teils schon vergilbt und sehr persönlicher Natur. Da sah man die schöne Jutta Fischbeck verträumt Geige spielen, und bis auf das Instrument, das die linke Brust verdeckte, war ihr Oberkörper nackt. Es folgten an die drei Dutzend Mädchen in oft skurriler Haltung, mal mit Herrenhüten oder Schlipsen, mal in fließendem Tüll, der wenig verbarg. Ein Modell hob wie zum Jux das blanke Gesäß vor die Linse. Auch Clausers spätere Frau war dabei, damals vor dreiunddreißig Jahren, wenn auch gewiss unfreiwillig. Gabi schlief mit schwellenden Lippen und leicht geöffnetem Mund, ihr seidiges Haar lag zerzaust auf dem Kissen. Prill hatte sie heimlich aufgenommen, weil ihre christliche Erziehung jedes Posieren ausschloss. Zuvor hatte er die Decke entfernt und seine Freundin restlos entblößt.

Selbst nach so langer Zeit gab das Clauser einen Stich. In dieser Sekunde hasste er seinen Gönner. Der hatte Gabi ein Kind gemacht, dabei liebte er sie gar nicht. Sie war nie so schön und erfolgreich wie Jutta gewesen; er musste einfach jede haben, auf die sein Blick fiel. Und hier nun das Sammelsurium, die Blütenlese seiner Triumphe! Tommy Prills Puppenspiel, sein Marionettentheater, das Verzeichnis der Eroberungen ... Kein Empfinden dafür, dass es die Frauen herabwürdigte, wenn sie ihm in solcher Zahl clownhaft oder schamlos zappelnd buchstäblich zu Füßen lagen. Immerhin, meist wirkten die Bilder noch dezent, weiche Linien im Gegenlicht, kaum Details, manchmal stilisiert wie eine Skulptur von Barlach. Zur Entlastung ließ sich außerdem sagen, Prill habe versucht, auf diese Weise seine Besessenheit loszuwerden.

Das allerdings war ihm missglückt. Mit der Zeit verflog sein künstlerischer Ehrgeiz, er gab die Zurückhaltung der Jugend auf. Ein späteres Bild, mit dem Selbstauslöser gefertigt, zeigte ihn mit wohl fünfzig Jahren beim Paarungsakt. Hatten sich je zwei Menschen hemmungsloser ineinander verkrallt, wie in verzweifelter Wut? Der Mädchenkörper schien verrenkt zu sein, das Gesicht blieb unsichtbar. Man konnte es sich kaum anders als süchtig oder schmerzverzerrt denken.

Eben diese junge Frau hätte Clauser gern erkannt. Beschämend, die voyeurhafte Gier, zu der sein Eingriff in fremde Intimsphären da führte - doch dies schien ja Beatrice Moll zu sein, Prills momentaner Stern. Nicht jene Frau Moll, die kühl und selbstsicher die feinste Boutique der Kreisstadt leitete; sondern eine, die nicht zögerte, sich vor der Kamera mit einem Sexbesessenen zu paaren. Die Figur auf dem Foto entsprach exakt der auf zwei gerahmten Collagen, mit denen die Sammlung schloss - lasziv, fast pornografisch.

Auf der ersten trug die Unbekannte Goldschmuck am bloßen Oberkörper, goldene Handschellen und eine Goldmaske vorm Gesicht: beides kunstvoll auf das Foto appliziert. Beim letzten, rötlich getönten Bild fehlte der Kopf, dafür umspannte ein kupferner Keuschheitsgürtel den Unterleib, und Kupferringe kniffen in die Brustspitzen. Für Clausers Geschmack ging das zu weit. Es sprach für einen Hang zur Grausamkeit, den an Prill zu bemerken ihm peinlich war.

Nach all dem schaffte er es nicht, sein Aquarell vom Hafen zu vollenden. Von dem befremdlichen Fund verstört und zu einer längeren Tour unfähig, fuhr er entlang der Costa Silencio südlich des Flughafens zu dem kleinen Seebad El Médano. Denn die Automiete war ja auch für den dritten Tag im Voraus bezahlt.

El Médano hieß »die Düne«. Der Sand war wirklich goldgelb, die Bucht aber schwach besucht. Er schloss seine Sachen in dem Marbella ein und schwamm durch salzige Brecher weit hinaus. Lang rollten die Wellen an, sie hatten dreimal mehr Wucht als die der Ostsee. Beim Durchtauchen ihrer Gischt drückten sie ihn mehrmals an den Grund, doch seine Schwimmkunst siegte immer wieder.

Als er aus dem Wasser kam, wurde ihm kalt. Fluglärm schrillte von Tenerife Sur her, Triebwerke kreischten höhnisch. Längst war es Mittag, Wolken warfen Schatten felder, der Nordostpassat frischte auf. Die Küste lag voll im Seegang, und ringsum, zwischen buschig bewachsenen Höckern, entstand ein Düseneffekt. Sandfahnen beizten ihm die Haut, und sein Autoschlüssel war weg! Er hatte ihn beim rechten Hinterrad unter einem Stein versteckt, der jetzt verweht war, und geriet schier in Panik. Ohne Werkzeug ließ sich die Wagentür nicht öffnen. Wie heimkommen in der Badehose, zwanzig Kilometer weit? Zähneklappernd durchwühlte er den Sand und wurde endlich fündig - am Vorderrad; wie ging das zu?

Einerlei, er zog sich an, startete den Motor und fuhr um die Buschinseln des jäh leer gefegten Strands auf den Roten Berg los, dessen Dreiecksform an den Felsen von Gibraltar denken ließ. Über ihm setzte ein Flugzeug zur Landung an, ein zweites hob gerade ab. In einer Regung von Heimweh sah er der aufsteigenden Maschine nach - wäre er doch darin! achtete nicht auf den Weg und saß in einer Vertiefung fest. Der Rückwärtsgang ließ sich schwer einlegen, mehrfach starb ihm der Motor weg. Als es ihm schließlich gelang, freizukommen, bebte er am ganzen Leib.

Scheußlich das alles. Dieser Tag war nicht sein Tag. Fröstelnd langte er in Los Cristianos an und gab sogleich das Auto ab. Die Leihfrist war noch nicht um, doch er wollte es lossein. Auf dem Paseo Maritimo sprach ihn inmitten von Passanten eine junge, schwarzhaarige Frau an. Sie drängte ihm ein paar Nelken auf und wollte dafür nur ganz wenig Geld. Zögernd zog Clauser, behindert vom Badezeug, seine Börse. Schattenhaft kam ihm die Alte am Kriegerdenkmal von Santa Cruz in den Sinn. Er hielt der Frau nur das Münzfach hin und sah darauf, dass kein Schein hervorlugte.

Daheim merkte er mit Entsetzen, in seiner Geldbörse fehlte die ganze Kaution für den Leihwagen: zwei Banknoten zu fünftausend Pesetas; die hatte man ihm vorhin erst zurückgezahlt! Schlagartig begriff er, erneut geschröpft worden zu sein. Wiederum bestohlen, mit demselben dreisten Trick und der Fingerfertigkeit von Hexen, die Dinge an sich bringen können, ohne dass es einer merkt ... Für ihn jedoch kein Trost, im Gegenteil - zweimal konnte das bloß dem passieren, der ein Trottel, ein Versager, ein wehrloses Opfer war. Und dem ein Dieb, ein Profi, vielleicht auch jedermann, das ansah.

Der geborene Verlierer. Clauser stöhnte auf. Nelken diesmal statt der Rosen, das war der ganze Unterschied. Beides Zigeunerrinnen natürlich. Um insgesamt sechzehntausend Pesetas hatten sie ihn gebracht, rund zweihundert Mark. Er versuchte, sich einzureden, dass dies läppisch sei, verglichen mit der Beute eines Einbruchs oder Raubüberfalls. Man hätte ihm leicht das ganze Auto stehlen können dort am Strand. Und war der Verlust nicht bedeutungslos, verglichen mit dem, was Deutsche den Zigeunern angetan hatten, damals unter Hitler, im letzten Krieg?

Wie auch immer, das war zu viel. Es brachte sein Selbstwertgefühl auf Null. In diesem Zustand war er keinem Zelter mehr gewachsen; ein drittes Treffen durfte es nicht geben! Es galt, sich diesem Mann schleunigst zu entziehen. Er rief das Reisebüro an und buchte, die teuersten Nelken der Insel im Blick, einen Billigflug - last minute - nach Hamburg oder nach Berlin.

Dann tastete er die 07 ein, wartete das Freizeichen ab und ließ die elfstellige Nummer der Kanzlei folgen. Erleichtert merkte er, seine Frau ging nicht an den Apparat und konnte ihm nicht widersprechen, als er ihr die Gründe der vorzeitigen Heimkehr (man bestehle und verfolge ihn) in stammelnder Hast auf das Tonband des Anrufbeantworters sprach.

2. Kapitel

Wenn der Chef durch die alten Bundesländer fuhr, war er oft schwer erreichbar. Im Hotel Vier Jahreszeiten, wo Gabi Clauser für ihn gebucht hatte, hob niemand ab; auch sein Autotelefon blieb stumm. Erst als Thomas Prill sich selbst mit einer Anweisung meldete, wurde sie ihre Nachricht los. »Na gut«, sagte er ganz neutral, »übers Fest ist man gern zu Haus.«

»Das ist nicht der Grund, Thomas. Weihnachten hat ihn nie gekümmert. Ihn bedrückt was anderes dort unten.«

»Ach, Hans will endgültig heim?«

»So hört es sich jedenfalls an.«

»Red ihm das mal aus!«

Sie spürte sein Befremden. »Er geht nicht ans Telefon.«

»Mit dem Geld kommt er doch hin? Hat er nicht Schecks für Barclays, an der Plaza del Carmen? Oder ist das Konto leer?«

»Nein, wieso sollte es?« Sie wusste, Prill hasste Gegenfragen. Doch was sie an ihm störte, war seine Art, im Geld den Lebensnerv zu sehen. »Du kennst seine Sparsamkeit.«

»Und seinen Durst, von Zeit zu Zeit.«

»Sei nicht unfair, Hans ist trocken.«

Prill sagte: »Whisky hat dreiundvierzig Prozent, die Bank gibt ihm bloß vier.«

Gabi überhörte dies. Es hatte keinen Sinn, den Respekt vor Prill gegen das Gefühl einzutauschen, sich billig vorzukommen.

»Er soll nur nicht glauben, ihn belaste irgendwas«, fuhr er fort. »Erinnere ihn daran, alles lief korrekt. Besser noch, komm ihm zuvor. Flieg selber hin! Nimm dir zwei Wochen frei, bis Montag, den 3. Januar.«

»Und wer macht den Jahresabschluss hier?«

»Weise Andreas ein, und mach dich auf in den Süden.« Das Gespräch war vorbei. Gabi hielt noch den Hörer, perplex wie so oft, wenn Prill sie überrumpelt hatte. Weihnachten im Atlantik, wunderbar, Hans war dort noch einsamer als sie. Zwar fiel dann das Klassentreffen weg, doch auf wen freute sie sich mehr, auf die Bande von damals oder auf ihren Mann? Was man ihm auch vorwerfen mochte, er blieb der verlässliche Freund und sanfte Liebhaber; der beste, den es je für sie gegeben hatte.

Aber als sie wegen des Tickets herumtelefonierte, ging ihr auf, dass kurzfristig nichts mehr lief. Sämtliche Flüge vorm Fest waren ausgebucht. Viel eher als sie würde Hans einen Platz erwischen! Die Kanaren schienen diesmal ein Traumziel der Deutschen zu sein.

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Das Flugzeug traf, um zwei Stunden verspätet, erst gegen Mitternacht ein. Wie Gabi erfuhr, war es die letzte Landung auf Berlin-Tegel überhaupt. Das Personal schien nicht mehr komplett zu sein, die Gepäckausgabe zog sich hin. Einmal tauchte Hans bei der Passkontrolle auf, er winkte ihr zu, hatte aber den Koffer noch nicht und drängte gegen den Einspruch eines Beamten zurück ans Fließband. Das stand immer wieder still, um neu anzurucken und die spärliche Fracht darzubieten.

Als er endlich auf sie zukam, fand sie ihn unter der Sonnenbräune vor Erschöpfung ganz grau. Wie ein Flüchtling wirkte er, seine Stirn zuckte beim Sprechen, mehrfach kniff er die Augen zu. Und sie begriff, mit ihm kehrten die Schwermut und Nervosität wieder - all das, was nach dem Verlust seiner Arbeit in ihm aufgebrochen war.

»Man hat mich reinlegen wollen«, teilte er ihr mit.

»Bist du dir wirklich sicher?«

»Aber ja, das wurde mir bald klar. Und es wundert mich auch nicht. Das ist immer so gewesen. Wie es schon bei Goethe heißt: Übers Niederträchtige niemand sich beklage, denn es ist das Mächtige, was man dir auch sage.«

Im Auto beschrieb er ihr die Vorfälle auf Teneriffa. Für sie klang es so, als seien sich dort zwei Männer begegnet, die sich im neuen Leben schwer zurechtfanden; weshalb sie einander gestützt, aber sich auch belauert hatten. Hans war noch empfindlicher, noch argwöhnischer geworden, und sie fand, mit Logik kam man ihm nicht bei.

Eine vage Depression stieg in ihr auf, während sie durch den Regen nordwärts zum Berliner Ring fuhr. Eine beklemmende Empfindung, sie bekam das immer in den Griff. Aber jetzt, als sie seinen Atem roch - er musste an Bord getrunken haben -, wurde ihr angst. Was, wenn es ihr nicht gelang, seine unsinnigen Befürchtungen zu zerstreuen?

Vor Wittstock, wo die Autobahn nach Hamburg abzweigt, sagte er: »Übrigens will ich Thomas sprechen, möglichst bald.«

»Muss das sein? Du, er ist ständig unterwegs.«

»Vielleicht kommt er ja zum Klassentreffen.«

»Nach Rügen? Willst du da etwa hin? Du wärst der einzige Lehrer. Die anderen sind unauffindbar, meist bereits tot.«

»Bis auf mich, Gabi. Und ich finde, das verpflichtet.«

»Hör mal, Thomas mag keinen Schnee von gestern.«

»Er mag mich nicht. Er mag nur Leute, die er über den Haufen rennen kann.«

»Hans, jetzt bist du ungerecht.«

»Können wir später darüber reden?«

»Ja, aber wir können's auch gleich tun.« Sie spürte, dass sie Oberhand gewann; aber nicht durch Überzeugung, nur dank ihrer besseren Nerven. Er war ganz erledigt am Ende dieses Urlaubs, der ihn hatte stärken sollen.

»Ich frage mich, wo sind die Bilder geblieben?«

»Das weißt du doch, im Rostocker Museum, Hans.«

»Da hängt aber kein einziges.«

»Weil sie erst restauriert werden müssen.«

»Fünf Jahre soll das dauern?«

»Wenn's an Geld fehlt, an Fachleuten und die Wende noch dazwischenkam ...« Ihr war, als rede sie zu viel. Je mehr sie ihm erklärte, desto skeptischer wurde er. »Kein Kulturhistorisches Museum zeigt ständig alles, was es im Fundus hat.«

»Im Depot«, sagte er. »Im Magazin. Oder im Besitz ... Fundus heißt es beim Theater.«

Der Schulmeister in ihm regte sich; ein schlechtes Zeichen. Nun schwieg er, wohl um seine Zweifel in sie einsinken zu lassen. Und in dieser Stille hatte sie die Vision eines Meeres, so schwarz und bedrohlich wie die nasse Dezembernacht draußen. Das hatte nichts mit den Kunstobjekten aus der Villa Hildegard oder den Erben zu tun, die konnten ihr gestohlen sein. Ringsum tauchten ständig Leute aus dem Westen auf und forderten alten - oft bloß vermeintlichen - Besitz zurück. Nein, es ging um ihr Leben, sie sorgte sich um Hans. Ihr wurde klar, dass alles keinen Sinn, keine Bedeutung mehr hatte, wenn sie ihn, so oder so, eines Tages verlor. Er war sehr verletzlich, neun Jahre älter als sie und hatte so wenig Abwehrkraft, dass er's nicht aushielt dort im Süden und auch sein Versprechen, abstinent zu sein, ohne Weiteres brach.

Gabi hatte Angst. Ihr Sohn Andreas war seit Langem aus dem Haus. Wenn sie allein blieb, weil Hans unterging, für wen lebte sie dann weiter? Ihr war, als blicke sie auf viele leere Jahre. Sie nahm das Gas weg und bog, ein warmes Sausen in den Ohren, in die Spur zum nächsten Parkplatz ein.

»Lass mich ran«, sagte er. »Komm, ich löse dich ab.«

Gabi schüttelte den Kopf. Das fehlte gerade noch. Sie konnte nicht mehr und er noch viel weniger. Für beide schien der Punkt da, wo es bedenklich wird. Sie war gar nicht überrascht, als Hans sie an sich zog und begann, sie so zärtlich wie einst zu küssen. Seine Lippen waren kalt, doch nach den fünf Wochen genoss sie die Berührung. Eine Zeit lang umarmten sie sich in dem kleinen Auto, auf das der Regen fiel. Drei Jahrzehnte, dachte sie, für ihn das halbe Leben, für mich noch mehr. Und ihr war, als durchflute sie eine Musik, so wie damals im Quartett, wenn sie Mozarts Kleine Nachtmusik oder das Menuett von Boccherini gespielt hatten, er am Bass und sie das Cello; ihre klassischen Glanznummern. Heimlich und in anderer Besetzung dann auch Tanzmusik, nicht ganz so perfekt, mehr improvisiert.

Es war ihre schönste Zeit gewesen, und manchmal tauchte etwas davon klar und lebendig in ihr auf. Das Landheim zum Beispiel, wo sie sich Hals über Kopf in Tommy verliebte, obwohl der noch an Jutta hing. Während Hans sie scheu umschlich, was ihn das Amt kosten konnte. Völlig eins war sie mit der Musik gewesen. Klänge, die was in ihr bewegten, waren für sie Narkotika, schmerzstillend wie Endorphin, auch heute noch. Und kein anderer als Hans konnte sie so verzaubern ... Jetzt küsste er sie wieder, zum ersten Mal in dieser Nacht nicht mehr mit dieser Begierde, die aus der Verzweiflung kam, sondern ganz sanft. Mit einer Zärtlichkeit, die sie alles Hässliche vergessen ließ: den Untergang des Landes, die Enttäuschung, das Älterwerden und Abstumpfen, wenn die Lebensbahn sich neigt und man in trüben Stunden glaubt, dass nur noch der dunkle Rest des Wegs vor einem liegt.

Î

Weihnachten in der Villa Hildegard. Der Kulturbund, so erledigt wie das Land, hatte das ehemalige Klubhaus für die Erben des Fabrikanten Neumann geräumt, deren Ferienhäuser auf Sylt und in der Toscana standen. Nur uns, dachte Gabi, kann man nicht einfach vor die Tür setzen nach zweiundzwanzig Jahren. Die Räumungsklage, dreist begründet mit dem Eigenbedarf der Erben und einer früheren Staatsnähe der Vermieter, hatte Prill abgeblockt.

Hübsch sah das Wohnzimmer aus im Schmuck der Kerzen und des Tannenbaums, unter dem die Geschenke lagen. Die Traube aus Amethysten, die Hans ihr mitgebracht hatte. Der schöne Pullover im Muster der dreißiger Jahre (Pierre Cardin, Paris), sorgsam für ihn ausgesucht. Dazu das Armband, die Bildbände, Pralinen, Parfümfläschchen und leider auch der Whisky in goldumsponnener Flasche - das, womit Andreas gestern angekommen war, um sie zu erfreuen. Die Zeichen seines Erfolgs, der Tatkraft eines Jungunternehmers, wie Hans lächelnd bemerkt hatte. Er ging ungezwungen mit Andreas um, die Distanz blieb dennoch spürbar. Trotz seiner

Spottlust stand der zwölfjährige Grants Royal nicht mehr ungeöffnet da. Behutsam hatte er sich darüber hergemacht. Gabi klopfte bei Andreas an. Keine Antwort. Sie betrat das kleine Zimmer, das er bewohnte, wenn er herkam. Es roch nach seinen Zigaretten; immerhin war er so rücksichtsvoll, nur hier zu rauchen oder im Freien. Die Schlafcouch stand unter zwei Ölgemälden aus dem 19. Jahrhundert, geerbt von ihren Eltern. Die Bilder, prunkvoll eingefasst, zeigten fromme Motive mit viel Purpur, Gold und geheimnisvollem Blau; das kleinere war rund, auf Holz gemalt. Altarbilder eigentlich, die Farbgebung sprach sie merkwürdig an, weckte Kindheitserinnerungen. Aber sie hatte sich der religiösen Kunst doch geschämt und sie in diese Kammer mit der schrägen Wand verbannt, wo man sie nicht gerade im besten Licht, dafür allerdings doppelt sah. Denn gegenüber hing der hohe Spiegel, gerahmt im Jugendstil, die Politur war längst blind und das Glas nicht mehr klar ... Ausrangierte Stücke, eher aus Pietät bewahrt; neuerdings wurden sie wieder wertvoll.

Andreas kam pfeifend herein, gehüllt in Badeduft und Heiterkeit. »Hallo, Gabi«, rief er. »Nichts zu tun für dich, das Bett ist gemacht, ruh dich mal lieber aus!«

Von klein auf hatte sie ihn dazu erzogen, selbstständig zu sein. Er war dreißig, noch ledig, nicht sehr groß, dafür schlank und sportlich; ein Prachtkerl, ihr Sohn. Sie setzte sich mit ihm hin, die Kammer war so niedrig, dass es komisch war, wenn man zu zweit darin stand. Er sah sie aufmerksam an, es schien ihm klar zu sein, es gab da etwas; er hatte schon als Kind viel Gespür entwickelt. Seine Augen waren groß und graugrün, wie bei Thomas traten sie leicht hervor und sahen alles. Das freute Gabi, fühlte sie selbst sich doch durchaus nicht immer hellwach. Jetzt aber schüchterte es sie auch ein. Es war der durchdringende Blick, das Zupackende seines Vaters. Etwas Ernsthaftes lag ihm um Augen und Stirn, so als sehe er in Hans und ihr seine Eltern, obgleich er seit dem neunten Lebensjahr wusste, dass Hans nicht sein leiblicher Vater war. Sie schaffte es nicht, mit dem zu beginnen, um das es ihr ging. »Was hast du eigentlich auf Usedom gemacht?«

»Dasselbe wie vorher auf Rügen - versucht, Grundstücke zu pachten oder zu kaufen.«

»Im Auftrag unserer Kanzlei?«

»Für einen Klienten, den sie vertritt. Nicht immer hat's geklappt. Reichlich verminter Boden.«

Vermint? Das war kaum wörtlich gemeint. Er sah sie amüsiert und liebevoll an. Immobilienhandel, davon verstand sie nichts. Das Geschäftsleben hatte eherne Gesetze, seinen eigenen Kreislauf wie die Natur, und was sie störte, war nur ihr Gefühl, ziemlich draußen zu sein. Obwohl sie Thomas' Vertraute war, verschloss er dies vor ihr, sodass sie manches, was ihm wichtig war, gar nicht wahrnahm. Geld verschwindet nicht, pflegte er zu sagen, es wechselt bloß den Besitzer ... »Wieder mal Filetstücke, nehme ich an.«

»So ist es, Mütterchen. Ein paar Villen zwischen Ahlbeck und Kölpinsee, erst mal gepachtet. Zum Zuge kommt der Investor erst, wenn die Ansprüche der Alteigentümer geklärt sind. Dann allerdings hat ihm Schwerin das Vorkaufsrecht eingeräumt.«

»Wieso denn das?«

»Nun, er ist unerhört seriös, hat beste Referenzen und zahlt auch immer gleich. Dafür kommt ihm das Finanzministerium entgegen.«

»Thomas hat einen Draht dorthin?«

Sie musste gar nicht bohren, die Antwort kam prompt und aufrichtig. »Mehr als das. Einen kennst du auch: den zu Jutta Fischbeck aus eurem Quartett.«

»Die sitzt beim Umweltminister, was kann sie für euch tun?«

»Einiges schon.« Wenn Andreas lächelte, zeigten sich bei ihm Grübchen, die ihr stets gefallen hatten. »Vergiss nicht Dr. Jungblut, den Staatssekretär. Dem verdankt sie ja den aparten Doppelnamen.«

Es stimmte, die schöne Jutta, das gefragteste Mädchen der Klasse, war Bindestrichdame und Amtsperson geworden. Sie hat die Kurve gekriegt, dachte Gabi, fährt im Dienstwagen und sitzt an einer Schaltstelle im Schweriner Schloss! Ihr fiel ein, dass man in der Kanzlei Juttas Doppelnamen zu »Fischblut« verkürzte. Das klang, auf eine Ministerialdirigentin gemünzt, unangemessen salopp.

Andreas sagte: »Es sind astreine Immobiliengeschäfte.«