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Ravna, Rabenmädchen. So nennen die Leute das schwarzhaarige Mädchen, das, gemieden von den Leuten am Wikingerhof, völlig auf sich allein gestellt in der Wildnis lebt; ein Schwarm Raben sind ihre einzigen Gefährten. Doch da ist Sigurd, der Sohn des Wikingerfürsten, mit dem sich Ravna seltsam verbunden fühlt. Aber wer ist Ravna wirklich? Wohin gehört sie? Sie ist eine Auserwählte, so jedenfalls hat es die Wahrsagerin verkündet. Als sie nach vielen Abenteuern als anerkannte Heilkundige an den Wikingerhof zurückkehrt, erfährt sie endlich, wer sie wirklich ist.
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Seitenzahl: 286
Veröffentlichungsjahr: 2015
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»Die Wahrsagerin kommt! Da kommt die Wahrsagerin!«
Eine häßliche alte Frau mühte sich zum Jarlshof hinauf. Ihr Gesicht war bleich wie der Tod selbst, die Augen lagen wie glühende Kohlestücke in den tiefen Höhlen, das Haar hing ihr in wirren Fransen in die Stirn. Sie war in einen knöchellangen Umhang aus Katzenfellen gehüllt; Katzenköpfe mit fauchenden Mäulern bildeten den Kragen. In einer Tasche um den Leib trug sie Knochen von neun verschiedenen Tieren, neun Sorten giftiger Pflanzen und neun Arten von Stürmen und Unwettern.
Alles an ihr war häßlich und abstoßend.
Trotzdem riefen sie sich auf dem großen Jarlshof von überall her zu, daß die Wahrsagerin gekommen sei. Hatten sie vor ihr auch Furcht und fast soviel Angst wie vor der Todesgöttin Hel, so war doch niemand so klug wie diese häßliche Alte. Eine Hellseherin, die in die Zukunft schauen konnte, und nur sie wußte, wie das Schicksal jedes einzelnen aussehen würde. Die Leute strömten aus den Häusern, ob Bauersleute, Krieger oder Sklaven. »Die Wahrsagerin kommt!« Sie wanderte durch das ganze Reich von Hof zu Hof, und nur einmal im Jahr kam sie auf den Jarlssitz.
Die alte Weissagerin blieb auf dem Hofplatz stehen und atmete schwer. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann starrte sie auf die Menschen ringsum, und die meisten wichen zurück, denn es war, als schösse sie mit ihren durchdringenden Blicken glühende Pfeile ab. Sie schaute die starken Krieger und jungen Mädchen an, die alten Sklaven und die Kinder, die ihre neugierigen, schmutzigen Gesichter hervorstreckten. Es gab niemanden, der sich traute, etwas laut zu sagen. Trotzdem begann ein leises Flüstern: »Sag uns die Zukunft voraus! Sage uns unser Schicksal! Wie wird das nächste Jahr werden? Gibt es Krieg oder Frieden, Glück oder Unglück?«
Aber die Alte blieb nicht lange stehen. Sie ergriff mit ihrer knochigen, gelben Hand den Stock. Die Tür zur Halle des Jarls war offen. Dort drinnen sollte sie ein Gastmahl bekommen und anschließend Zeichen und Warnungen deuten, die im Dampf, der aus dem Topf stieg, sichtbar wurden.
Doch plötzlich, kurz bevor sie über die Türschwelle treten wollte, hielt sie inne. Eine Sklavin stand dort, und direkt hinter ihr versuchte sich ein Mädchen zu verstecken. Die Wahrsagerin streckte die Hand aus und bedeutete dem Kind, hervorzukommen.
Das Mädchen zog ein Bein nach. Sein Körper war schief, und es war in Lumpen gehüllt. Aber seine Augen waren groß und glänzend, und sein Haar schwarz wie die Nacht. Ängstlich ging es zu der Wahrsagerin, sah sie aber mit klarem, festem Blick an.
»Ich sage dir voraus, daß du ein merkwürdiges Schicksal haben wirst, mein Kind«, krächzte die Alte mit heiserer Stimme. »Du bist nicht wie die anderen. Die Götter haben dich für etwas Großes ausersehen.«
Sie sagte das so leise, daß keiner der Umstehenden es hören konnte, und danach beugte sie sich zu der Sklavin und flüsterte ihr ins Ohr: »Sorge dafür, daß das Mädchen fortkommt. Hier ist es nicht sicher. Es wehen kalte Winde auf dem Sitz des Jarls.«
Dann ging die Wahrsagerin in die Halle.
Das schwarzhaarige Mädchen würde sich immer an diese Begebenheit erinnern, obwohl es nur sieben Winter alt war und noch am Rockzipfel der alten Sklavin Kumba hing.
»Die Wahrsagerin hat recht«, murmelte Kumba und drückte das Mädchen an sich. »Du kannst hier nicht auf dem Jarlshof bleiben. Wenn der Frühling kommt, werde ich Haavard bitten, dich fortzuführen. Ganz oben am Ende des bewohnten Gebietes liegt ein Hof. Dort bist du sicher. In seiner Nähe lebt niemand außer den schwarzen Raben, die in den Bergspalten umherflattern.«
Seitdem waren drei Jahre vergangen.
Jetzt war sie fast elf Winter alt und lebte auf dem einsamen Rabenhof.
Sie hörte die Vögel schreien und den Wind in den Felsspalten heulen. Aus der Ferne konnte sie das Rauschen des Flusses und weiter weg das Brausen des Meeres hören.
Nur ab und zu stieg sie den Hang hinunter und dann meistens, um nach dem blaugekleideten Jungen Ausschau zu halten.
Er kam immer zur gleichen Stelle: in den Wald, wo es eine Lichtung mit einer großen Eiche gab. Die Eiche spiegelte sich in einem kleinen See.
Sie setzte sich an sein Ufer und wartete, daß der Junge kam. Immer hoffte sie es.
Aber gleichzeitig spürte sie eine Angst, die sie erbeben ließ.
Sie beugte sich über das Wasser. Das schwarze Haar fiel ihr über die Schultern. Ihr Gesicht schien bleich von unten herauf. Es leuchtete ihr wie eine erfrorene Seerose entgegen.
»Bin ich ein Vogel oder ein Mensch?«
Ein zartes Kräuseln durchzog das Wasser, sie wartete, bis die Oberfläche wieder glatt wie ein Spiegel war. Nun sah sie deutlich den schmalen Mund, die Nase und die leicht hervorstehenden Wangenknochen. Für einen Augenblick erschienen ihr auch die Augen nachtschwarz, tief im Wasser. Die schiefen Schultern ließen den Körper vogelartig erscheinen. Die Arme spreizten sich wie unbeholfene Flügel vom schmächtigen Körper.
»Ja, ich sehe wie ein Rabe aus«, flüsterte sie. »So nennen sie mich ja auch: Rabenmädchen.«
Sie wußte von keinem anderen Namen, Rabenmädchen oder nur Ravna war der Name, den sie gehört hatte, soweit sie sich zurückerinnern konnte. Der Rabe war ein stolzer Vogel – und ein kluger Vogel. Aber er war auch ein wilder Raubvogel, der sich in den dunklen Spalten tief im Felsen aufhielt.
Fast drei Jahre lang hatte sie allein gelebt.
Jetzt fing ein neuer Winter an.
Die Luft war weißgrau und voller Frost. Erste Schneeflocken fegten über das Land. Sie wurden vom Wind getrieben und setzten sich wie winzig kleine Sterne in ihrem schwarzen Haar fest. Sie band ein paar Zweige, die sie gesammelt hatte, mit einem Riemen zusammen, stand auf, zog ihren Umhang fester um den Körper und warf sich das Bündel auf den Rücken. Ihre Hände waren rot von der Kälte, und der Atem stob wie eine Wolke aus ihrem Mund. Sie warf den Kopf zurück und gab einen leisen Pfeifton von sich. Schon sauste es in der Luft, ein Vogel mit gezackten Flügeln und kräftigem Schnabel umkreiste sie ein paarmal, bevor er sich auf ihre Schulter niederließ. Dort blieb er sitzen, während sie weiterging. Der Wind nahm zu, immer mehr Schneekörner wirbelten den Berg hinunter. Sie ging mit gesenktem Kopf und zog ein Bein nach. Der Winter war gekommen. Der Winter war hart. Einmal würden die Kälte und die Einsamkeit es schaffen, sie zu zerbrechen.
»Ein häßlicher, angeschossener Vogel, so sehen sie mich«, flüsterte sie. »Sie haben Angst vor mir, dort unten im Dorf.
Muß ich mich deshalb auf dem windigen Rabenhof hoch in den Bergen aufhalten?«
Sie legte ihr Bündel ab und holte tief Luft, bevor sie die schroffe Steigung zum Hof erkletterte. Dort hinauf mußte sie, wo das Häßliche Gebirge sich mit seinen mächtigen Gipfeln erhob und schneeschwere Wolken sich durch die Gebirgsspalten wälzten.
Da hörte sie das Geräusch von Pferdehufen auf dem gefrorenen Boden.
Ihr Herz klopfte. War es möglich ... Ja, das mußte er sein. Es war lange her, daß sie ihn gesehen hatte. Seit dem frühen Herbst, als das Schiff des Jarls zurückgekommen war, nicht mehr. Er war immer allein, genau wie sie. Er war in ihrem Alter. Und merkwürdigerweise freute sie sich jedesmal, wenn sie ihn sah.
Kurz darauf erschien der Junge zwischen den Bäumen. Ein Ritter in weitem, blauem Umhang. Er ritt einen Falben mit gelbweißer Mähne. Sein Haar war hellblond, über den Ohren und im Nacken geschnitten, und um die Stirn trug er ein Goldband. Die Silberplatten am Gürtel rasselten, und an einer Kette um den Hals hing ein glänzendes Odinszeichen. Der Junge brachte das Pferd zum Stehen und saß aufrecht im Sattel, nicht weiter als einen Pfeilschuß von ihr entfernt.
Sie wußte, was er sagen würde.
Er kniff die Augen zusammen und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Er spuckte aus. Sein Mund zog sich zu einem Strich zusammen. »Pfui!« rief er. »Verschwinde, du Unhold!«
Dann zerrte er an den Zügeln und jagte wieder in den Wald. Noch lange sah sie seinen Umhang wie einen blauen Wirbelwind leuchten.
*
Das Rabenmädchen begann schneller zu gehen. Ihr wurde warm, und der Schweiß brach ihr aus. Das Bein zog sie nach. Jetzt nach oben! Nach oben! Sie mußte den Jungen noch einmal sehen, mußte ihn unbedingt sehen, bevor er verschwand.
Als sie den ersten Gipfel erreicht hatte, flog der Vogel von ihrer Schulter und mischte sich unter eine Schar anderer, die unterhalb des Rabenberges schwebten. Mit heiserem Schrei begrüßten sie den Neuankömmling. Dann flogen sie unter einen Vorsprung, um sich vor dem Wetter zu schützen. Endlich erklomm das Rabenmädchen den mächtigen Stein, der wie der Fuß eines Riesen aus dem Berg hervorragte. Dort hielt sie an. Es schneite jetzt so dicht, daß sie kaum das Tal unter sich erkennen konnte. Nur der Fjord schnitt sich wie eine graublaue Zunge ins Land, und an dessen Ende lag das weite, offene Meer, auf dem jeden Frühling und Sommer Drachenschiffe hinaussegelten. Auch jetzt konnte sie dort draußen Schiffe erkennen, aber die steuerten dem Land zu. Den Strand entlang kauerten sich Bootshäuser, und die Höfe lagen weit verstreut, wie schlafende Tiere.
Der blaugekleidete Junge ... Da war er wieder! Er spielte alleine und ritt in vollem Trab die Hügel hinauf und hinunter, ließ die Zügel schleifen und focht mit den Fäusten durch die Luft, als kämpfte er mit den wirbelnden Schneeflocken. Plötzlich zuckte er zusammen. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken, zielte und schoß. Aber der Hase in seiner weißen Winterkleidung konnte rasch entfliehen.
»Schwarze Todesgöttin Hel!« Der Ruf hallte durch den Wald. Mit einem Satz war der Junge unten, um den Pfeil wiederzuholen. Dann preschte er aus dem Dickicht und ritt zum Hofplatz des mächtigsten Gutes in der Umgebung. Der Sitz des Jarls! Er lag über allen anderen wie ein triumphierendes Adlernest: am äußersten Rand des Berghanges, stolz und mächtig, an allen Seiten von steilen Felsen gut geschützt. Nur der Rabenhof lag noch höher im Gebirge.
Die Häuser des Jarlssitzes bestanden aus geteerten Holzstämmen, genauso schwer wie die Steine in der Erde. Niemand wußte, wie alt der Hof war. Die Halle mußten wohl die Götter selbst erbaut haben, irgendwann am Morgen der Zeit. Das Geschlecht des Jarls saß seit undenklichen Zeiten dort. Fackeln leuchteten draußen, ein paar wolfsähnliche Hunde waren vor der Eichentür festgebunden, und Wachen gingen mit dem Speer in der Faust auf und ab. Schnee wirbelte in der Luft und legte sich weiß auf das Feld und alle Dächer.
Sobald der blaugekleidete Junge angeritten kam, lief ihm einer der Knechte entgegen, ergriff das Halfter und führte sein Pferd davon. Mit stolzem Schritt ging der Junge zur Halle. Dort kam ihm ein anderer Knecht entgegen, nahm ihm den Umhang von den Schultern und schüttelte den Schnee ab. Dann schlossen sich die Türen vor dem schlechten Wetter. Der blaugekleidete Junge ging in die Wärme der großen Halle. Er war der Sohn des Jarls.
Das Rabenmädchen holte tief Luft und zitterte.
Vor langer, langer Zeit hatten die beiden zusammen gespielt, sie und Sigurd, der Jarlssohn. Sie hatte es niemals vergessen können, dieses Bild eines hellen und warmen Sommers, und bewahrte es wie einen Traum.
Ravna blieb auf dem Riesenstein stehen, bis sie merkte, daß ihre Finger gefühllos wie Holzstücke wurden und der eisige Wind sie in die Wangen biß. Dann kletterte sie weiter zu dem kleinen Hof hinauf, der jetzt im Schneetreiben kaum zu sehen war. Sie ging ins Haus und warf das Reisigbündel von sich.
Das Rabenmädchen stand in einem Raum mit Boden aus festgetretener Erde und Bänken an den Wänden. Mitten im Raum war die Feuerstelle, ihr Holz, fast niedergebrannt, glühte unter einem rußigen Kessel. An den Dachbalken hingen Bündel von Pflanzen und getrockneten Blumen, die süßlichen, starken Kräuterduft verströmten. In der einen Ecke stand die Kiste aus dicken Eichenbrettern mit ihren wenigen Habseligkeiten, in der anderen ein breites Bett mit braunen und weißen Schaffellen.
Das war ihr Reich.
Und abgesehen von den schwarzen Hausvögeln, die sich ab und zu von ihrem Schwarm lösten, um ihr zu folgen, war sie auf dem Hof hier oben unter den Felsen ganz allein.
*
Das Rabenmädchen schlief wachsam wie ein wildes Tier. Immer vollständig angezogen, warf sie sich nur ein Fell über. Ein scharfes Messer lag dicht neben ihr, und Pfeil und Bogen standen am Bettpfosten bereit. Die Tür war mit einem Eisenriegel versperrt.
Dunkelheit barg viele Geräusche, und oft lag Ravna lange wach, ehe sie einschlafen konnte. Der Wind fegte übers Dach, manchmal so stark, daß sie sicher war, den einäugigen Odin zu hören, wie er mit seinem Totenheer angefahren kam. In stillen Nächten heulten die Wölfe unter dem einsamen Berghimmel. Hu, wie unheimlich und wild das klang! Und weit entfernt war das Tosen des mächtigen Wasserfalls, der sich in den Abgrund des Bergriesen ergoß.
Manchmal kamen auch Menschen vorbei, und vor ihren Geräuschen hatte sie mehr Angst als vor allen anderen Lauten.
Ravna fürchtete nicht die Hirten, die in ihren leichten Feldschuhen kamen und verirrte Schafe hoch oben im Gebirge suchten. Sie fürchtete nicht die Jäger, die steile Pfade herunterstiegen, das Wild über den Schultern, oder die armen Leute, auf ihrer Suche nach Schneehühnern in ihren Fallen. Nein, was sie fürchtete, war das Klirren von hartem Metall und Pferde, die unter dem Gewicht schwerer Kriegerausrüstung schnaubten. Der Rabenhof lag zwischen zwei verfeindeten Höfen. Dem Jarlssitz, wo Jarl Haakon herrschte, und dem Fürstenhof von Ottar Illuge nördlich des Häßlichen Gebirges. Die beiden Geschlechter bekämpften einander wie Bestien und waren Feinde auf Leben und Tod. Die Leute des Jarls hielten am nächsten Wegzeichen beim Rabenberg Wache, so nahe, daß Ravna Pferdewiehern hören konnte, wenn eine neue Mannschaft die Böschung heraufgeritten kam. Die Illuger bewachten eine steile Felsenkluft, die zum Häßlichen Gebirge hinaufführte. Jeden Abend, wenn die Sicht klar war, konnte man sie sehen, am besten, wenn der Mond schien. Die beiden feindlichen Gruppen trafen oben in den Bergen und ab und zu auch auf dem Fjord im Kampf aufeinander. Die Blutrache hatte vor neun Jahren in einer klaren Vollmondnacht begonnen, als die Illuger den ältesten Jarlssohn Eirik mit dem Schwert getroffen hatten und ihm den Todesstoß gaben. Der Jarl rächte sich fürchterlich, indem er zwölf von Ottar Illuges besten Männern bei lebendigem Leibe verbrannte.
Als Ravna noch ganz klein war, hatte sie einmal Kumba gefragt, warum es zwischen den beiden mächtigsten Familien im Land immer Kampf gab. Damals lebte sie noch unten auf dem Jarlssitz. Sie saß eng an die alte Sklavin geschmiegt und spürte, wie ein Zittern durch deren Körper ging. Weit draußen auf dem Fjord war der Lichtschein eines brennenden Schiffes zu sehen.
»So ist es immer gewesen«, sagte Kumba. »So wird es immer sein. Das Menschengeschlecht hat zu allen Zeiten nach Blut gedürstet.«
»Kommen sie hierher?«
Kumba hieß sie leise sein. »Bleib ruhig, kleine Ravna. Sie kommen nicht hierher. Dieses Mal nicht.«
Kumba hielt sie in ihren Armen. Noch immer zitterte sie. Ravna hörte heisere Schreie und den Schlag schwerer Waffen. Sie konnte Männer erkennen, die wie lebende Fackeln vom brennenden Schiff sprangen, bevor sie in der Meerestiefe verschwanden. Der Rauch stieg wie eine Säule gegen den bleichen Nachthimmel.
»Mach die Augen zu«, sagte Kumba. »Hör dir lieber eine schöne Sage aus meiner Heimat, dem Frankenland, an. Aber bald muß ich gehen, denn Kumba ist nie Herrin ihrer Zeit.«
Sie tat, wie Kumba ihr gesagt hatte, und lauschte der Sage. Die handelte von einem mutigen Helden, der die fränkische Königstochter davor rettete, Beute eines Drachen zu werden. Kumba summte und sang in ihrer eigenen Sprache. Das Rabenmädchen versuchte die Augen zu schließen, schaffte es aber nicht. Draußen auf dem Fjord sank das brennende Schiff. Kalte Schauer durchzogen sie, denn wenn es das Schiff der Illuger war, das brannte, würden diese eines Tages wiederkommen und Rache fordern.
*
Das Mädchen mit den rabenschwarzen Haaren stand mit der Sonne auf. Sie legte ein paar Zweige auf die Feuerstelle und brachte das Feuer wieder zum Brennen. Sie kaute langsam ein wenig Brot und kippte ein Gebräu in sich hinein, das aus Brennesseln und Wurzeln gekocht war. Dann zog sie warme Kleidung an. Zuerst eine Jacke aus Wolle, dann Beinkleider, eng geschnürt, darunter Birkenrinde. Ihre Stiefel waren aus Rentierleder, der Umhang ein leichtes, weiches Luchsfell mit Kapuze. Eine Wollmütze bedeckte fast ihr ganzes Gesicht. Sie hängte sich den Pfeilköcher über den Rücken, band den Gürtel mit dem scharfen Messer um und ging aus der Tür.
Bereits seit sie sieben Winter alt war, konnte Ravna gut jagen. Sie war ein Meisterschütze mit Pfeil und Bogen, ihre Augen waren scharf wie die eines Wildvogels. Schon weit entfernt entdeckte sie ihre Beute, schoß Hasen, Füchse und anderes Kleinwild und traf fast immer. Es kam vor, daß sie auf Rentiere oder Hirsche traf. Auch die wären mit einem schnellen Pfeil niederzustrecken gewesen, aber sie ließ die Tiere laufen. Eine so große Beute war nicht allein zu tragen. Außerdem hatte sie Angst, daß Wölfe kommen würden, sobald sie das Blut eines großen Wildes röchen. Das Rabenmädchen mühte sich vorwärts. Der Schnee hatte noch keine großen Wehen gebildet, bisher lag nur eine leichte Decke auf dem Boden. Wie oft schon verfluchte sie die Götter, daß sie es mit ihrem Körper so schwer hatte. Schultern und Rücken waren schief, und das eine Bein wollte ihr nicht immer gehorchen. Unterwegs blieb sie oft stehen. Der Wind heulte und wirbelte den Schnee in wilden Böen auf. Bis ganz dort hinten, zu dem feuchtkalten Wasser am Fuß des Berges, mußte sie gehen. In den Fallen waren drei Schneehühner, schon in der Farbe des Winters. Ravna hatte gehofft, daß es mehr wären. Schnell spannte sie mit Hilfe von Stöcken und Sehnen drei neue Fallen. Die Vögel warf sie sich gebündelt über den Rücken und ging dann zum Bergsee, auf die schmale Halbinsel, wo sie Schnüre gesetzt hatte. Sieben blanke Forellen lagen da, alle nur klein. Ravna befestigte sie am Bündel mit den Vögeln. Das war nicht viel zu essen. Wenn Schnee und Wind zunahmen, war sie bald auf dem Rabenhof eingesperrt.
Während sie so im Gebirge umherging, flog der zahme Vogel über ihrem Kopf. Sie nannte ihn nur Rabe. Mit wachsamem Blick verfolgte er alles, was geschah. Wenn sich weit entfernt auf der Hochebene etwas bewegte, nahm der Rabe es mit seinen scharfen Augen wahr. Dann kam aus seiner Kehle ein spitzer Schrei: »Paß auf!«
Schon oft hatte der Vogel Bären oder Wölfe entdeckt, so daß sie sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Er stieß seinen Warnruf auch aus, wenn fremde Reiter über das Gebirge ritten. Bei solchen Leuten saß der Pfeil oft locker auf der Bogensehne, und sie hielten nach allem, was sich bewegte, Ausschau; da war es am besten, sich in den Bergspalten zu verstecken. Der Rabe hatte sie schon oft gewarnt. Wie ein Blitz schoß er aus der Luft auf ihre Schulter herab. Das Mädchen besaß ihn, seit sie auf dem Rabenhof lebte. Die großen, schwarzen Vögel waren Raubgetier, das in weiten Kreisen unter dem Himmel segelte. Sie hielten sich in Höhlen und Spalten auf, nur selten erreicht von Sonne und Mondlicht. Dort waren ihre Nester, dort verbargen sie sich vor Tieren und Menschen. Nur sie kannten die Geheimnisse des dunklen Berges. Die Raben waren Odins Vögel, Vögel der Zauberwelt. Sie konnten alles und wußten alles und besaßen den Verstand von sieben Männern. Aber ab und zu nahm ihre Wildheit überhand, und dann krächzten sie so laut, daß ein Echo in den Felswänden widerhallte. Direkt unter dem Bergvorsprung lagen große Knochenhaufen: Tiere, von den Raben gefressen. Sie stürzten sich mit ihren spitzen Schnäbeln und scharfen Krallen auf ihre Beute. Ganze Schwärme schwarzer Raubvögel kreisten über den blutigen, aufgerissenen Körpern und schrien unheimlich.
Eines Tages hatte Ravna ein kleines, verletztes Rabenjunges am Eingang zu der tiefen Bergspalte, die Drachenhöhle genannt wurde, gefunden. Der Vogel hatte einen Flügel geöffnet und flatterte und hüpfte herum, wobei er hilflos und verletzt piepste.
»Komm, kleiner Rabe«, lockte sie.
»Komm!« Es war nicht leicht, ihn zu fassen, denn der Vogel war verschreckt und wehrte sich, so gut er konnte. Zum Schluß fing das Mädchen ihn in ihrem Umhang und trug ihn nach Hause auf den Rabenhof. Sie versuchte, den Flügel zu schienen, und es dauerte lange, bis der Vogel wieder gesund wurde. Aber in der Zwischenzeit war er so zahm geworden, daß er nicht weiter als eine Speerlänge von ihr wich. Erst als erwachsenes Tier schloß er sich wieder seinem Schwarm an. Doch oft saß er auf dem Dachfirst oder auf dem Hügel nahe beim Hof. Manchmal geschah es sogar, daß er durch die Dachluke ins Haus flatterte und bei ihr saß, und dann sprach er mit ihr in seiner eigenen Sprache. Saß da, lauschte und blinzelte mit seinen glänzenden schwarzen Augen. Ravna fühlte gern die warmen Federn an ihrer Haut. Sie strich ihm über den Kopf und legte ihre Wange an den Vogel.
»Wer bin ich, Rabe«, flüsterte sie. Niemals konnte sie vollkommen zur Ruhe kommen. Immer waren es die gleichen Fragen, die auftauchten.
*
Die Leute sagten, sie sei in dem Jahr geboren, als der Fluß über seine Ufer getreten war, in dem Jahr, als man um den Mond herum einen Blutkranz sah, in dem Jahr, als es einen harten, kalten Winter gab.
Mehr wußte sie nicht.
Aber warum hatte sie keine Verwandten wie die anderen in der Umgebung?
Es schien, als wäre alles in einem geheimnisvollen Nebelhauch verborgen. Niemand konnte sich auf Dauer allein behelfen, das wußte sie. Wer aus einem Familiengeschlecht stammte, war mächtig. Wer kein solches Geschlecht hinter sich hatte, war schwach und wehrlos. Am ärmsten aber war, wer auf den ausgetretenen Pfaden herumwanderte, von Hof zu Hof ging, von Ortschaft zu Ortschaft, und nicht einmal die kleinste Hütte besaß, in die er hätte kriechen können.
Vielleicht würde ihr das auch geschehen. Als einzige sorgten Kumba und Haavard für sie. Die alte Sklavin zeigte ihr, welche starken Zauberkräfte sich in Pflanzen und Wurzeln befanden. Haavard hatte ihr das Jagen und Fallenstellen im Gebirge beigebracht. Und von ihm erfuhr das Mädchen etwas über die Runenkunst. Die kannten nur von den Göttern Auserwählte, prahlte er.
Aber Kumba und auch Haavard waren beide alt, und sie konnte nicht für immer mit ihnen rechnen.
»Rabe«, wiederholte sie. »Gehöre ich nirgends hin? Gibt es niemanden, der etwas von mir wissen will? Was soll mit mir hier oben auf dem einsamen Rabenhof unter dem Berg geschehen?«
Manchmal tauchte ein helles Bild vor Ravna auf. Aus der allerersten Zeit, an die sie sich erinnern konnte. Sie ging auf einer Wiese, die von Sommertau glitzerte, und war ganz klein, nicht größer als die längsten Gräser. Kumba lief dicht neben ihr, und manchmal reichte sie die verläßliche Hand, damit Ravna über die großen Grasbüschel steigen konnte.
Kumba hatte ein Messer im Gürtel und ging, um Kräuter zu schneiden. Zwischen den Steinen der Halde pflückte sie Heide, Wacholder und Beeren, und hinten, wo der Bach plätscherte und gluckste, holte sie einige dicke, zähe Blätter, die voll Wasser gesogen waren. Sie sammelte all das in einem groben Stück Stoff, das an ihrem Gürtel befestigt war, summte und flüsterte die Namen der Pflanzen. Sie sollten die Menschen gesund machen; Kumba besaß eine große heilende Kraft. Aber manchmal kamen auch Leute zu ihr, die an unglücklicher Liebe litten. Diese wollten dann am liebsten Blumen von Sonnenscheinwiesen haben, und sie mußten gepflückt werden, während der Tau noch von den Blättern perlte.
Kumba lachte und befestigte einen ganzen Kranz roter Blumen im Haar des Rabenmädchens.
»So, nun kannst du tanzen, meine Kleine. So muß die Liebesgöttin Freya selbst ausgesehen haben, als sie ein Kind war!«
Kumba trug ihr Bündel zu einer flachen Felsplatte, um die Pflanzen zu sortieren und zusammenzubinden. Es duftete süß, ein leichter Wind fuhr durch die Bäume, die Sonne tropfte golden auf Steine und Felsen.
Da kam die Sklavin Edda heran; sie hatte einen hellhäutigen Jungen an der Hand. Er war in einen blauen Kittel mit glänzendem Gürtel um die Taille gekleidet, darin war ein kleines Holzschwert, das fast ebenso aussah wie das erwachsener Männer. Plötzlich ließ er die Hand der Sklavin los und lief davon, die Arme vor sich ausgestreckt. Eine Hummel brummte und sauste über die Wiese.
Edda rief: »Paß auf, Sigurd!«
Aber Sigurd ergriff sein Schwert und schwang es in der Luft herum. Er verfolgte die Hummel, die weitersurrte, und mit einem Mal stand er vor dem Rabenmädchen. Die Hummel hatte sich auf dem Kranz, den sie auf dem Kopf trug, niedergelassen. Ravna schloß die Augen und hielt die Hände vors Gesicht, gewiß, daß der wilde Junge ihr den Kopf abschlagen wollte. Es sauste in der Luft, aber dann hörte sie, wie er lachte. Als sie den Kopf hob, stand er vor ihr, den Kranz auf der Schwertschneide, triumphierend, seine Augen waren so hell, daß sie den ganzen Sommerhimmel widerspiegelten. Die Hummel summte und ähnelte einem winzigen Braunbären, wie sie ihr Hinterteil in die Luft streckte und tief im Blumenkopf den Nektar trank, aber plötzlich hob sie ab und surrte davon. Der Junge lief erneut los, warf den Kranz fort und verfolgte sie über die Wiese. Aber jetzt wollte Ravna auch mitmachen, wollte die Hummel fangen! Sie liefen hintereinanderher und jauchzten vor Freude, sie stolperten, krabbelten und kullerten zwischen den Blumen und Gräsern übereinander.
So war dieser helle Sommer. Jeden Tag war sie mit Kumba gegangen, um auf der Wiese Kräuter zu sammeln. Jeden Tag kam Edda mit Sigurd an der Hand. Und jeden Tag, der verging, stiegen das Lachen und die Sonne höher am Himmel hinauf. Der Tau glitzerte, die Insekten umschwirrten sie mit ihren durchsichtigen Flügeln. Und ab und zu saß Haavard da, an einen Birkenstamm gelehnt, und spielte auf seiner Flöte stille Melodien.
Aber eines Tages hörte das Rabenmädchen es im Gras rauschen. Ein Geräusch, das sie nie zuvor gehört hatte. Es raschelte kühl in feinem Stoff. Sie erspähte ein Paar Kalbslederschuhe, die unter dem Saum eines weißen Seidenrockes hervorlugten, und als sie ihren Kopf hob, stand eine hochgewachsene Frau vor ihr, mit kreideweißem Kopfleinen und Gold auf der Brust.
Die Frau öffnete den Mund und rief so scharf, daß es schien, als werde eine Messerschneide durch die Luft geschleudert: »Edda, habe ich dir nicht befohlen, auf den Sohn des Jarls aufzupassen!«
Die Sklavin kam mit dem Blondschopf herangelaufen. Sie kroch unter den Worten der mächtigen Ehefrau des Jarls Haakon zusammen.
Die Jarlsherrin hob die Hand und zeigte auf Ravna: »Woher kommt dieses Mädchen?«
»Es ist eins der Sklavenkinder, Herrin«, antwortete Kumba, die inzwischen hinzugetreten war.
»Es sieht aus wie ein häßlicher Raubvogel.« Die Jarlsfrau spuckte aus. »Ich kann nicht verstehen, warum es überleben durfte.«
Die Augen in dem blassen Gesicht wurden zu schmalen Schlitzen. »Es hat Gesichtszüge, die mir bekannt vorkommen. Dieses Mädchen, es erinnert mich an jemanden ...« Das Rabenmädchen wand sich unruhig hin und her. Der Blick der Herrin stach wie spitze Pfeile.
»Wer ist ihre Mutter?«
Kumba stotterte leicht, als sie antwortete: »Sie war schon immer bei uns, Herrin. Es gibt so viele junge Sklavinnen, die hier auf dem Jarlshof kommen und gehen. Die mächtige Herrin weiß selbst, wie schwer es ist, all die Jungen zu beaufsichtigen. Aber selbst wenn ihr Körper nicht so schnell ist, so kann die Kleine doch flink arbeiten. Sie ist mir eine große Hilfe, wenn ich meine Heilkräuter sammle.«
Die Frau des Jarls unterbrach sie mit lauter Stimme: »Ich verbiete, daß der Jarlssohn sich unter das Sklavenpack mischt. Wenn du meinen Worten nicht gehorchst, werde ich den Wikinger Orm die Peitsche auf deinem Rücken tanzen lassen.«
Der Junge weinte. Er wollte zurück und spielen. Aber die Mutter zog ihn mit sich, und Edda folgte ihr, den Kopf eingezogen.
Das Rabenmädchen sah ihnen nach, bis sie hinter der Tür zur großen Halle verschwunden waren.
Danach hat sie nie wieder mit dem hellblonden Jarlssohn gespielt. Aber die Erinnerung an die Sonne, die Sommerwiese und das Hummelsummen blieb noch lange in ihr. Noch lange. Später sah sie ihn nur von weitem. Dann schaute er zu ihr hinüber, ab und zu lächelte er. Aber je älter er wurde, um so mehr verschloß sich sein Gesicht. Bald sah sie nichts als Verachtung darin, vielleicht auch Angst.
Einmal kam seine vornehme Mutter in die Türöffnung.
»Hexenmädchen«, rief sie und spuckte aus. Dann schloß sie die Tür.
Aber Kumba hatte es gesehen und zischte hinter ihr her:
»Schlangenbrut!«
»Was meinst du damit, Kumba?«
»Die Kinder des Jarlsgeschlechts sind doch nur die Brut, die das Geschlecht weiterführen soll.«
»Sigurd auch?«
»Sigurd ist wie die anderen Jarlssöhne«, sagte Kumba und kniff die Lippen fest zusammen.
*
Während sie über die Hochebene ging, dachte das Rabenmädchen an diesen vergangenen Sommer. Das Bündel mit den Fischen und Vögeln schlug ihr gegen den Rücken. Sie sammelte alle kleinen Zweige, die der Wind auf den Weg zum Rabenhof geweht hatte. Wenn es ernst mit der Kälte wurde, mußte sie das Feuer auf der Feuerstatt Tag und Nacht am Leben erhalten, und oft genug war nur wenig Holz zum Verbrennen vorhanden.
Mit einem Mal ließ Ravna alles aus den Händen fallen. Dort hinter dem großen Stein bewegte sich etwas! Schnell nahm sie den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil an die Sehne. Lautlos schlich sie näher. Nur einen Augenblick später surrte die Bogensehne. Ein Hase lag leblos auf dem Hügel. »Siehst du, Rabe!« Sie hob ihre Beute in die Luft. »Jetzt habe ich für noch ein paar Tage mehr etwas zu essen!«
Sie war jetzt dicht unter den Rabenberg gekommen. Der Vogel flog von ihrer Schulter. Er krähte und flatterte zu den tiefen Felsspalten dort oben, mischte sich unter die vielen anderen Vögel, die in großen, kreisenden Bewegungen herumflogen.
Das Rabenmädchen wußte, wo sie sich aufhielten: Tief in der Drachenhöhle. Von dieser Höhle erzählten die Leute, daß einst Räuber und Mörder darin überwintern wollten, um sich dort zu verstecken.
Aber dann hatte eine Lawine den Eingang verschüttet, und alle kamen um. Sie waren immer tiefer in die Höhle gegangen, um zu sehen, ob es einen Weg nach draußen gab. Aber ganz im Innersten hatte ein riesiger, giftsprühender Drache gewartet, der einen großen Goldschatz bewachte.
Das Rabenmädchen fror. Sie ging zu der dunklen Felshöhle und machte im Eingang ein Feuer. Dort saß sie eine Weile und wärmte sich auf.
Sie schaute in den leicht glänzenden Berg. Es war dunkel, aber von weit drinnen sickerte bläuliches Licht hervor. Ravna war nie bis zu diesem Licht hineingegangen, doch hatte sie vorn in der Höhle einige schöne Steine gefunden, durchsichtig und klar wie der Tag, wie gefrorenes Wasser. Die Steine erschienen ihr als ein Zeichen der Götter, und so verbarg Ravna sie an ihrer Brust. Niemals wollte sie auch nur einen davon eintauschen. Es waren ihre eigenen heimlichen Zaubersteine.
Das Rabenmädchen wärmte sich die Hände am Feuer, fror aber immer noch. Der Frosthauch stand ihr wie eine weiße Wolke vor dem Mund. Außerdem war sie hier nicht ganz sicher. Sie hatte das Gefühl, daß es in der Höhle klagte und seufzte, und glaubte ein tiefes, fauchendes Geräusch zu hören.
Schnell stand sie auf und ging zum Rabenhof hinunter.
*
Hexenmädchen ... so wurde sie genannt. Ja, sie war ein Hexenmädchen!
»Hör zu, was ich dir sage«, hatte Kumba gesagt. »Merke dir jedes Wort! All die Jahre war ich nur eine Sklavin hier auf dem Jarlshof, und als Sklavin habe ich nicht viel zu sagen. Aber alle achten meine Zauberkünste. Ich habe der Göttin Eir gedient und weiß mehr als die meisten über Leben und Tod. Deshalb sollst auch du diese Künste erlernen. Wer nicht reich an Gut und Gold ist, muß statt dessen viel lernen, damit er klug und mächtig wird.«
Von den lebenspendenden Blumen, die im Sonnenschein wuchsen, machte Kumba ein rotes Pulver, aus dem man einen guten Trank brauen konnte. Darin war jeder Tropfen voller Stärke und Heilkraft, und selbst die Schwerkranken konnten wieder gesund und kräftig werden. Das Rabenmädchen selbst hatte das Getränk oft probiert. Kumba gab ihr eine dampfende Schale mit etwas Honig darin, und sie fühlte sich jedesmal stärker. Es war, als würden Arme und Beine ihres schwachen Körpers mit Sonnenkraft gefüllt, bis in die Fingerspitzen und Zehen.
Aber Ravna kannte auch das weiße Pulver. Das unheimliche weiße Pulver.
»Komm«, sagte Kumba geheimnisvoll, und sie nahm sie mit sich in den Wald, tief ins Innere, bis zum See. Dort stand ein Kranz schimmernder, weißer Kerzen und spiegelte sich im Wasser. Sie wuchsen auf dünnen, schmierigen Stengeln und verströmten einen Übelkeit erregenden Duft. Das waren die Pflanzen des Todes, sie wuchsen direkt aus dem Reich der Todesgöttin Hel hervor. Kumba trocknete die Blumen und verbarg sie in ihrem Beutel.
Und noch tiefer im Waldesinneren, dort, wo es nach feuchtem, verrottetem Moos roch, gab es einen Fleck, den nur Kumba und sie kannten. Dort stand ein Nebelschleier in der Luft, und sie mußte sich an Kumbas Hemd festhalten, um keine Angst zu bekommen. Auf dem feuchten Moosgrund unter den Bäumen wuchs ein Ring kleiner, blauweißer Hauben.
»Schau«, flüsterte Kumba. »Böse Mächte! – Zauberei! – Die Geister des Waldes haben sie hier gepflanzt.«
Die Alte murmelte Beschwörungen und schnitt sich schnell einige der Pilze ab. Dabei achtete sie genau darauf, den Kreis nicht zu zerstören. Anschließend trocknete und zerstampfte sie die Gewächse, um sie dann mit den Blütenblättern zu einem weißen Pulver zu mischen.
Nichts war giftiger als dieses Pulver, das Kumba in ihrem Beutel trug, eingenäht in eine verborgene Tasche.
Nie, niemals wollte sie es benutzen. Aber es gab ihr Sicherheit.
»Und es müssen noch mehr Dinge in so einen Zauberbeutel«, sagte sie. »Hör zu und merke es dir gut, denn ich bin jetzt alt. Bald wird Kumba keine Heilpflanze mehr von einer giftigen unterscheiden können, und alle Zaubersprüche werden aus meinem Gedächtnis rinnen wie der Sand aus einem Sack ... Hör zu!« wiederholte sie streng. »Und merke dir: Schlangenhaut muß es sein. Paß auf, wenn die Kreuzotter sich im Sonnenschein häutet. Trockne und mahle die Haut.
Totengebein gehört dazu. Die alte Wahrsagerin, die von Hof zu Hof geht, kann dir gemahlene Knochen von Bösewichten beschaffen, die vor neun Generationen im Streit gefallen sind.
Eisen von einer Todeswaffe soll dabeisein.« Sie zeigte dem Rabenmädchen ein altes Schwert, von dem die Leute sagten, daß es neun Menschen getötet hatte, kratzte den Rost vom Schwert und verbarg ihn in ihrem Beutel.
Danach führte Kumba das Rabenmädchen durch die niedrige Tür ins Sklavenhaus. Und dort drinnen, im Dampf, der sich unterm Dach der dunklen Stube fing, lauschte sie den Worten, die Kumba über dem Kessel murmelte und sang:
»Nachtsonne und dunkle Sterne,
Neun Vögel mit Fischschwanz,
Taufeuchtes Feuer und Funken im Meer,
Wolfsrachen im Lammkörper,
Helle Gewitterwolken, Feuerregen,
Schnee, so schwarz wie der Meeresschaum.