Das Rätsel der villa rustica - Kerstin Saure - E-Book

Das Rätsel der villa rustica E-Book

Kerstin Saure

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Beschreibung

Auf Zeitreise im Römischen Reich befinden sich die zwölfjährige Laeti und ihr Zwillingsbruder Felix, die ein Lateininternat im rheinischen Urfurt besuchen. Durch Zufall fällt ihnen und ihren Freunden Lene und Tom ein Tagebuch aus preußischer Zeit in die Hände. Darin finden sich Hinweise auf einen verschollenen Schatz aus der römischen Spätantike. Die Spuren führen zur villa rustica, dem rekonstruierten Römerhof in Urfurt. Gelingt es den Kindern, den Schatz zu finden? Oder wird "Das Rätsel der villa rustica" für immer ungelöst bleiben? Jugendroman mit historischem Hintergrund (11+) - Informatives rund um das Römische Reich - Wörterverzeichnis im Anhang

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Seitenzahl: 161

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Kerstin Saure, Jahrgang 1959, studierte in Köln Betriebswirtschaft und Wirtschaftspädagogik. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern im Rheinland und ist als Lehrerin tätig.

Dies ist ihr zweites Kinder- und Jugendbuch.

(bei BoD bereits erschienen: Geheimauftrag im Schattenreich – Ein mystischer Jugendroman)

Für Uli, Benedikt und Daria

Inhaltsverzeichnis

PRAEFATIO - Vorwort

PROLOGUS - Prolog

CAPUT PRIMUM - Kapitel 1

CAPUT ALTERUM - Kapitel 2

CAPUT TERTIUM - Kapitel 3

CAPUT QUARTUM - Kapitel 4

CAPUT QUINTUM - Kapitel 5

CAPUT SEXTUM - Kapitel 6

CAPUT SEPTIMUM - Kapitel 7

CAPUT OCTAVUM - Kapitel 8

CAPUT NONUM - Kapitel 9

CAPUT DECIMUM - Kapitel 10

CAPUT UNDECIMUM - Kapitel 11

EPILOGUS - Epilog

Tabulae - Wörterverzeichnis

Proverbia - Lateinische Sprichwörter

PRAEFATIO

Vorwort

Ca. 50 vor Christus haben die Römer unter ihrem Feldherrn Julius Cäsar das linksrheinische Germanengebiet erobert und in die beiden römischen Provinzen Nieder- und Obergermanien unterteilt. Der Flussverlauf des Rheins bildet die Grenze zwischen dem linksrheinischen Römischen Reich und dem nur bedingt kontrollierten rechtsrheinischen Gebiet mit den unbeugsamen Germanen. Die Herrschaft der Römer am Rhein soll fast 500 Jahre dauern.

Wir schreiben das Jahr 388 und befinden uns – historisch betrachtet – im Zeitabschnitt der Spätantike. In der Provinz Niedergermanien, zwischen der römischen Stadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium (dem heutigen Köln) und der römischen Grenzbefestigungsanlage castrum Bonna (dem heutigen Bonn) gelegen, steht ein altes Herrenhaus am Ufer des Rheins, nahe der Stelle, wo in sehr heißen Sommermonaten eine kleine Sandbank entsteht. Über diese Furt gelangt man auf die andere Seite des Flusses zum castellum inferior (dem heutigen Niederkassel). Das Herrenhaus, um welches sich die folgende Erzählung rankt, ist das Haupthaus einer villa rustica, eines Landgutes, wo Soldaten des Römischen Reiches vor Ort mit ländlichen Produkten versorgt werden. Gutsherr ist der Veteran Titus Romanius Avidus, der dort mit seiner familia wohnt.

Nach Beginn der Völkerwanderung häufen sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts Übergriffe durch germanische „Barbaren“. Wegen der unübersichtlichen Ufer können die Römer ihre Flussgrenzen nur schwer kontrollieren und sichern. Der germanische Volksstamm der Franken durchbricht an vielen Stellen die Grenzen des Imperiums, um unzulänglich befestigte römische Landgüter, Dörfer und Städte zu überfallen. Die bedrohten Bewohner fliehen und vergraben oft die ganze Habe. Irgendwann fallen die Verteidigungslinien der Römer in sich zusammen. Im 5. Jahrhundert bricht für das Weströmische Reich das Ende an. Die Franken vertreiben die letzten Römer von ihren Gutshöfen in Germanien, und das Europa der Spätantike geht langsam in eine neue Epoche – das Frühmittelalter – über.

Dies ist der grobe geschichtliche Zeitrahmen, in dem gegen Ende des 4. Jahrhunderts ein römischer Schatz in den Wirren der damaligen Zeit verloren geht: der Schatz des dominus. Erst viele Jahre später tauchen Spuren auf, die auf seine Fährte führen. Die Handlung dieses Jugendromans ist fiktiv und die Personen sind frei erdacht. Der historische Hintergrund aber basiert im Wesentlichen auf den geschichtlichen Gegebenheiten – bis auf einen kleinen Stilbruch: Um dem jungen Leser den Zauber der römischen Wohnkultur nahe zu bringen, habe ich für meine Romanerzählung ein herrschaftliches Haus mit atrium und peristylum gewählt. Römische Gutshäuser, die man damals auf dem Lande antraf, waren jedoch eher schlicht gehalten und entsprachen meist dem ländlichen Gebäudetyp.

Kerstin Saure

PROLOGUS

Prolog

„Finger weg!“ Entrüstet stemmte die germanische Magd die Arme in die ausladenden Hüften.

Zu spät! Schon hatte der zwölfjährige Marcus eines der frisch gebackenen Honigküchlein aus der kleinen Küche stibitzt. Flink wie ein Wiesel verzog er sich mit der Beute. Während sich der diebische Römerjunge noch genüsslich die honigverschmierten Finger ableckte, ging er bereits auf Suche nach der zehnjährigen Schwester Romania. Gut gelaunt betrat er das atrium, welches dem Herrenhaus als Empfangshalle diente. Das Schrägdach der Halle war nach oben offen. Unter der Öffnung stand ein großes Becken, um Regenwasser aufzufangen, mit dem das liebevoll angelegte Gärtchen bewässert wurde. In der Luft hing zarter Blumenduft. Lucia, die Mutter, saß mit geschlossenen Augen auf einer Steinbank und streckte das Gesicht den ersten Sonnenstrahlen des jungen Sommertages entgegen. Um den schlanken Hals trug sie eine Kette mit einem Amulett, das Unheil abwehren sollte. Es war aus purem Gold. Das gelbe Metall glitzerte in der Sonne.

„Guten Morgen, mater“, begrüßte er die Mutter. „Wo ist Romania?“

Die Hausherrin öffnete langsam die Augen und blinzelte im hellen Licht der Sonne.

„Wenn sie schläft, werde ich sie wecken“, verkündete Marcus entschlossen.

Er wartete die Antwort der Mutter nicht ab, sondern stiefelte sofort los. Rings um das atrium lagen die Schlafkammern. Er stürmte in das Räumchen der Schwester, die dort friedlich in tiefem Schlaf lag und rüttelte sie ungestüm: „Sie kommen! Wach auf, Romania, sie kommen!“

Das Mädchen schreckte hoch und schlug verwirrt die Augen auf. „Wer kommt?“, murmelte es schlaftrunken.

„Unser Besuch aus der colonia: Tante Julia und Vetter Gnaeus!“

Tante Julia war die Halbschwester der Mutter. Solange die Kinder zurückdenken konnten, entfloh die Tante in den Sommermonaten der nahe gelegenen Colonia Claudia Ara Agrippinensium. Julia zog es vor, die heiße Jahreszeit bei den Verwandten auf dem Lande zu verbringen, denn dort ließ sich die Gluthitze des Sommers wesentlich angenehmer ertragen als in der stinkenden und stickigen Römerstadt. Sehr zur Freude von Marcus und Romania sollte sie ihr Sohn Gnaeus wieder begleiten. Die beiden Vettern waren etwa im gleichen Alter. Auf dem römischen Landgut, der villa rustica, hatten die Kinder schon viele Sommer zusammen verbracht und im Wäldchen neben dem Römerhof gespielt. Mit von der Partie war auch Barbara, das elfjährige elternlose Sklavenmädchen aus dem fernen Gallien. Auch sie gehörte zur familia des dominus Titus Romanius Avidus und war die beste Freundin von Romania. Im wohlhabenden Haushalt des Gutsherrn wurde Barbara wie eine Tochter des Hauses behandelt und es fehlte ihr an nichts. Sie durfte sogar am Unterricht des griechischen Hauslehrers Diogenes teilnehmen, wenn dieser die beiden Kinder des dominus in Schreiben und Rechnen unterrichtete. Als Gegenleistung musste Barbara ab und an der alten Magd in der Küche zur Hand gehen. Was zu ertragen war.

Die Tante war da! Romania streifte die Müdigkeit ab wie eine tunica. Was Tante Julia wohl diesmal aus der großen Stadt für sie mitgebracht hatte? Vielleicht Seidenstoffe aus dem fernen China? Für einen neuen Kapuzenumhang? Das römische Mädchen sprang in Windeseile vom Bettlager auf, öffnete die Kleidertruhe und ergriff wahllos irgendein Kleidungsstück. Rasch schlüpfte sie in ihre Alltagskleidung und eilte dem Bruder nach, der bereits draußen vor dem Eingang stand und ungeduldig Ausschau hielt. Seine Hand zeigte auf eine große Staubwolke, die sich dem Herrenhaus rasch näherte.

„Das sind sie“, schrie er aufgeregt.

Bald schon erblickten die Kinder den hölzernen Reisewagen, der von zwei Eselchen gezogen wurde. Vorne auf dem Kutschbock saß Rufus, der germanische Haussklave von Tante Julia. Sein feuerrotes Haar war nicht zu verkennen. Hinten im Wagen sah man die Tante und den Vetter. Wie immer führten sie großes Gepäck mit sich. Fröhlich winkten ihnen die Kinder zu. Jetzt traten auch der Vater und die Mutter aus dem Haus, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

Während Rufus die erschöpften Maultiere mit Wasser versorgte und sie dann zu einer Wiese führte, gingen Tante Julia und Gnaeus mit den anderen ins Haus. Bei einem leichten Frühstück aus Brotfladen, Obst und Milch erzählte ihnen die Tante das Neueste aus der riesigen colonia. Neben dem üblichen Klatsch und Tratsch, den alle Römer gerne erzählten, berichtete sie aber auch, dass die unbesiegten Barbaren aus dem rechtsrheinischen Germanengebiet wieder verstärkt die Stadtmauern der Römerkolonie angriffen und auch vor den römischen Gehöften rund um die colonia nicht Halt machten. Bestürzt hörten ihr Titus und Lucia zu.

Um die Kinder von dem gefährlichen Geschehen abzulenken, sagte die Mutter zu ihnen: „Sucht Rufus! Schickt ihn zur ancilla in die Küche, damit er sich etwas zu essen besorgt. Wenn ihr mögt, könnt ihr danach mit Barbara zu den Stallungen gehen. Eine der Stuten hat heute Nacht ein Junges bekommen.“

Wie süß, ein Fohlen! Begeistert stoben die drei Kinder davon.

Als sie fort waren, seufzte Lucia: „Wie sicher ist die Provinz Niedergermanien für uns Römer noch? Wie lange wird es dauern, bis auch diese villa rustica einem Überfall zum Opfer fällt?“ Die Angst sprang ihr förmlich aus dem Gesicht und traf ihren Mann Titus mitten ins Herz.

Der Hausherr zögerte kurz, bevor er antwortete. „Fürchte dich nicht, Weib! Im nahe gelegenen castrum Bonna und auch im castellum inferior auf der anderen Rheinseite sind so viele Legionäre stationiert – das sollte die frechen Barbaren wahrlich abhalten, Hand an unser Landgut zu legen.“

Er blickte zuversichtlich drein, um den nur halbherzig gesprochenen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Seine Frau befingerte unwillkürlich die Halskette mit dem goldenen Amulett. Dabei wechselte sie einen Blick mit der Schwester. In den Augen der beiden Frauen spiegelte sich tiefe Angst.

„Unsere römischen Truppen können nicht überall sein“, erwiderte Julia dem Schwager mit tonloser Stimme.

Eine Zeitlang sagte niemand etwas.

Währenddessen hatten die Kinder den Sklaven Rufus zur Küche begleitet und trafen dort Barbara, die Bohnenkerne enthülste. Als das Sklavenmädchen hörte, dass sie mit den anderen zu den Pferdeställen gehen durfte, sprang sie freudig von dem Schemelchen auf. Bautz! fiel die Schüssel von ihrem Schoß herunter. Dicke, weiße Bohnen kullerten träge über die festgestampfte Erde. Der strafende Blick der germanischen Magd folgte dem kleinen Küchenmädchen, das wie der Blitz mit den anderen durch die Tür verschwand. Grummelnd bückte sich die alte ancilla, um die Hülsenfrüchte vom Fußboden aufzuklauben.

„Tss, tss, diese Kinder“, murmelte sie entrüstet.

„Folgt mir, ich kenne eine Abkürzung“, raunte Marcus. Die vier Kinder schlichen die schmale Holztreppe hinunter, die in die Unterkellerung des Herrenhauses führte. Dort, unter der Küche, befand sich der Vorratskeller. Kaum jemandem war bekannt, dass dieses Räumchen einen unterirdischen Gang besaß, der aus dem Gebäude hinausführte. Wie der Sohn des dominus wusste, hatte der pater den Geheimgang im letzten Jahr heimlich anlegen lassen, um bei einem Überfall durch germanische Barbaren eine Fluchtmöglichkeit für die familia offen zu halten. Der Tunnel führte direkt zu den Pferdeställen. Als sie sich unter dem Heuhaufen im Stall hervorgewühlt hatten, musste der Unglücksvogel Gnaeus plötzlich laut niesen. Bestürzt hielt er sich den Mund zu. Die beiden Mädchen glucksten belustigt.

„Psssst!“, mahnte Marcus erschrocken. „Leise!“

Denn schließlich bleibt ein Geheimgang nur so lange geheim, wie ihn keiner kennt. Rasch richteten sie alles wieder so her, dass niemand einen Tunnel unter dem Strohballen vermuten konnte. Keine Sekunde zu früh, denn auf einmal stand Flavus, der blonde Sklavenaufseher, vor ihnen. Er starrte die Kinder verwirrt an, denn er hatte sie nicht hereinkommen sehen.

„Wo kommt ihr denn so plötzlich her?“, fragte er erstaunt.

Die vier antworteten nicht, sondern kicherten nur verstohlen und liefen zu dem jungen Fohlen, das gerade Milch bei seiner Mutter trank. Staksig stand es auf dünnen, wackeligen Beinchen.

„Wie niedlich“, sagte Barbara und streichelte dem Tierchen behutsam über das samtweiche Fell. Sofort schnaubte die Stute beunruhigt, bleckte verteidigungsbereit die Vorderzähne. Vorsichtig streckte ihr Romania eine Karotte entgegen, die sie in der Küche stibitzt hatte. Das Muttertier beruhigte sich und öffnete weit die Nüstern, um neugierig zu schnuppern. Dann begannen lange Zähne, vorsichtig nach der Leckerei zu greifen.

Zufrieden gingen die Kinder zum Herrenhaus zurück. Diesmal benutzten sie den herkömmlichen Weg über das Außengelände. Flavus kratzte sich am Kopf und sah den vieren nachdenklich hinterher. Im atrium brachten sie den Schutzgöttern der Familie umgehend ein Weihrauchopfer am Hausaltar dar, um das Wohlwollen der Götter für das kleine Fohlen zu sichern.

Plötzlich gellte ein entsetzter Aufschrei durch das römische Herrenhaus: „Barbari ante portam! Rette sich, wer kann!“

CAPUT PRIMUM

Kapitel 1

Erbarmungslos knallte die heiße Augustsonne vom Himmel auf die Straße herab. Der Asphalt kochte. Drinnen im klimatisierten Wagen von Familie Danzer ließ es sich jedoch durchaus aushalten.

Trotzdem rutschte der zwölfjährige Felix auf der Rückbank des väterlichen Autos unruhig hin und her. „Vati, wann sind wir da?“, fragte er immer wieder ungeduldig. Oh, wie er lange Autofahrten hasste! Und nun waren sie bereits mehr als vier Stunden auf der Autobahn unterwegs.

Die Zwillinge Felix und Laeti hatten aufgrund guter Schulnoten ein Stipendium gewonnen und durften deshalb ein Lateininternat im rheinischen Urfurt besuchen. Dort sollten sie im Turbotempo – in nur einem Schuljahr – das Latinum, eine Ergänzungsprüfung im Lateinischen, ablegen. Laeti war sehr aufgeregt und auch ein bisschen besorgt. Hoffentlich sind die Lehrer und die anderen Schüler an der Urfurter Schule nett, dachte sie. Wie ihr Bruder hatte auch sie lockige, braune Haare, grüne Augen, eine kecke Stupsnase und jede Menge Sommersprossen im Gesicht.

„Wie gut, dass du mitkommst, Felix“, sagte sie leise zu ihrem Zwilling. Der schien weitaus weniger aufgewühlt als seine Schwester zu sein. Er grummelte etwas Unverständliches und beschäftigte sich weiterhin unbeirrt mit dem spannenden Elektronikspiel auf seinem Handy.

Geistesabwesend blätterte Laeti in dem kleinen Reiseführer, der aufgeschlagen auf den Knien lag. Die Gedanken wanderten in die Zukunft und ein tiefer Seufzer entwich ihrer Brust. Ein ganzes Jahr werde ich jetzt von zu Hause weg sein, dachte sie voller Bangen, ich wünsche mir so sehr, dass ich an der neuen Schule nette Freunde finde! Ja, es stimmte: Sie fürchtete sich ein bisschen vor dem, was sie in Urfurt erwarten mochte. Und natürlich war da auch die Angst, im fernen Rheinland Heimweh nach den Eltern und den Freunden in Stralsund zu bekommen. Wie tröstlich, dass wenigstens Felix immer an ihrer Seite sein würde.

Als hätte Frau Danzer die düsteren Gedanken der Tochter erraten, drehte sie sich zu ihr um: „Ich weiß, dass es euch beiden im Internat gefallen wird, Laeti. Ihr werdet schon sehen: Die Schule dort ist etwas Besonderes; sie ist sogar einzigartig auf der ganzen Welt.“

Wie geheimnisvoll und vielversprechend das klang! Laetis Neugierde war geweckt und ließ sie für einen Augenblick ihre Ängste vergessen.

„Einzigartig auf der ganzen Welt?“, echote Felix und schaute verwundert von seinem Spiel auf. „Was kann denn an einer Schule so besonders sein?“ Laeti sah in den grünen Augen des Bruders ein erstes Interesse aufblitzen.

„Lasst euch überraschen“, mischte sich jetzt der Vater ins Gespräch ein. Sonst sagte er nichts.

„Warum unterrichtet man an den Schulen immer noch Latein, Vati? Eine tote Sprache, die heute niemand mehr spricht ...“

„Latein ist die Mutter aller Sprachen, Felix. Mit den Kenntnissen, die ihr in Urfurt erwerben werdet, lernt ihr verwandte Sprachen wie zum Beispiel Französisch, Spanisch oder Italienisch leichter und schneller. Romanische Sprachen spricht man heute in so vielen Ländern der Welt. Eine Menge Fremdwörter und sogar sehr viele von den Wörtern, die wir täglich verwenden, kommen direkt aus dem Lateinischen, der Ursprache der alten Römer. Nein, als tot kann man sie wirklich nicht bezeichnen!“

Felix brummelte etwas vor sich hin und befasste sich wieder mit seinem Handy.

Am frühen Nachmittag kamen sie in Urfurt an. Sie waren froh, als das Auto endlich auf dem für Besucher reservierten Parkplatz stand. Sofort sprangen die Geschwister aus dem Auto und liefen auf das große Eingangstor zu, das das Schulgelände zur Straße abgrenzte.

„Der Weg zum Internat ist ausgeschildert. Hier geht’s lang, durch das Wäldchen“, rief Felix und winkte die anderen ungeduldig heran.

Zu Fuß folgten sie dem schmalen Pflasterpfad, der durch ein kleines Waldstück führte. Die Eltern zogen die großen Rollkoffer der Zwillinge hinter sich her; Laeti und ihr Bruder trugen jeder einen Rucksack. Neugierig lief Felix ein Stückchen vor. Auch er war jetzt sehr gespannt auf die neue Schule. Zudem hatte ihn der Ehrgeiz gepackt, sie zuerst zu erblicken und deshalb hielt er angestrengt zwischen den Bäumen Ausschau. Ein kleiner Fußweg knickte vom Hauptweg nach rechts ab. Der Junge folgte ihm flink mit den Augen. Und stutzte.

„Oha, was ist das? Das komische Ding da drüben?“, schrie er verblüfft und winkte die anderen heran.

Jetzt kam auch der Rest der Familie näher. Zwischen den Bäumen schimmerte ein großes Bauwerk aus gemauerten Steinen durch. Rote Tonziegel bedeckten das abgeschrägte Dach.

Voll merkwürdig, dachte auch Laeti, was ist das? So ein ungewöhnliches Gebäude hatte sie noch nie gesehen.

Aus der Ferne wirkte der schmucklose Bau mit den winzigen Fenstern wie ein großer, rechteckiger Klotz. Von der Straße aus hatte man das seltsame Gebilde nicht sehen können, denn eine hohe Steinmauer schirmte es von außen vor neugierigen Blicken ab.

„Irgendwie unheimlich!“, meinte Laeti verwirrt. „Seht ihr, wie schmal die Fensterchen sind? Wie dunkel und stickig muss es drinnen sein! Wer da wohl wohnt?“

Die Eltern lächelten sich verschmitzt an und schwiegen, obwohl sie hierauf sehr wohl eine Antwort hätten geben können.

Kurz darauf stand die Familie vor dem Gebäudekomplex der Schule. Non scholae, sed vitae discimus, stand über dcm Eingang der Schule geschrieben.

„Was heißt das?“ Felix runzelte misstrauisch die Stirn.

„Dies ist ein ganz bekannter Spruch“, sagte der Vater, der aus der Schulzeit noch ein paar Brocken Latein behalten hatte und sich nun mutig an die Übersetzung wagte: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“.

„Hmpfff“, schnaubte der Sohn argwöhnisch. Aufgrund langjähriger Schulerfahrung bezweifelte Felix den Wahrheitsgehalt dieser Aussage sehr.

Auf den Eingangsstufen zur Schule eilte ihnen ein graubärtiger Mann mit Brille entgegen.

„Ernst Piper“, stellte er sich vor. „Ich bin der Rektor an der Lateinschule und freue mich, Sie und Ihre Kinder bei uns begrüßen zu dürfen. Hoffentlich hatten Sie eine gute Anreise?“

Die Eltern nickten höflich.

Der Rektor wandte sich nun den Geschwistern zu: „Und ihr beiden, ihr müsst Laetitia und Felix Danzer sein, die Zwillinge aus Stralsund, richtig?“

„Stimmt!“ Laeti fand den bärtigen Rektor auf Anhieb sympathisch.

„Schön, dass ihr da seid. Kommt mit!“

Gemeinsam mit den Eltern folgten sie Herrn Piper nach der Begrüßung in das Schulgebäude. In der Eingangshalle herrschte reges Leben – und unbeschreibliches Chaos. Aufgeregte Schüler wieselten im Gebäude herum und überall standen Koffer im Wege. Neugierig warfen Felix und Laeti einen Blick in die offen stehenden Klassenräume, die um die Eingangshalle verteilt lagen.

„Die sehen aus wie alle Klassenzimmer dieser Welt“, stellte Felix enttäuscht fest, der sich an die geheimnisvollen Worte der Mutter erinnerte. Seine Augenbraue schoss vorwurfsvoll in die Höhe: „Und das hier soll etwas Besonders sein?“, raunte er leise.

„Abwarten“, meinte Frau Danzer. Ein tiefgründiges Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Unsere Hausmutter Mathilda wird Laetitia und Felix nachher die anderen Räumlichkeiten zeigen. Das Internatsgebäude und die Mensa liegen gleich neben der Schule.“

Laetis fragender Blick sprach Bände.

„Die Mensa ist unser Speisesaal“, erklärte ihr der Rektor.

„Eure Eltern“, und damit wandte er sich wieder an das Ehepaar Danzer, „können in der Zwischenzeit an der Kaffeebar einen Kaffee trinken oder im Römerwäldchen – das ist das kleine Waldstück, das Sie eben durchquert haben – spazieren gehen. Um fünf Uhr darf ich alle auf das Grundstück nebenan bitten, zum Empfang in das historische Herrenhaus aus der Römerzeit. Bis später!“

Historisches Herrenhaus? Noch ehe Laeti nachhaken konnte, verschwand Herr Piper wieder in der Menschenmenge, um die nächsten Neuankömmlinge zu begrüßen.

„Aus der Römerzeit?“, flüsterte Felix beeindruckt. „Wie cool! Dann muss es ziemlich alt sein. Ob er das komische Haus meint, das wir eben gesehen haben?“

Die Eltern erwiderten nichts, schmunzelten aber.

„Hallo! Sind Sie die Familie Danzer?“ Mit einer Liste in der Hand eilte eine apfelrunde Frau auf die kleine Gruppe zu. Sie reichte allen die Hand. „Mein Name ist Mathilda. Mathilda Mager.“

Die macht ihrem Namen nicht so wirklich Ehre, dachte Felix frech.